Blutiger Verrat
Alice stand vor dem riesigen Fabrikgebäude und gönnte sich einen letzten Moment der Ruhe. Durch ihrer schwarzen Kleidung verschmolz sie förmlich mit der Dunkelheit, die heute Nacht ihr bester Freund sein würde. Nein, nicht nur heute. Auf die Schatten war immer verlass, sie verborgen einen, schützen vor Blicken und sorgten dafür, dass Alice fast jedes ihrer Ziele erreichte.
Natürlich hüllten sie auch die Leute und andere Dinge ein, die Alice nicht bemerken sollten, doch dies machte das ganze Abenteuer nur noch aufregender, sympathischer. Die Gewissheit, dass sie nicht treu waren, dass verband die Dunkelheit mit ihr.
Allerdings gab es eine Ausnahme. Nur einer Sache war Alice treu, ob sie wollte oder nicht. Der Mafia. Ihrer Familie. Sie tat alles für sie, ob es Stehlen oder sogar Töten war.
Ja, deshalb war Alice Fathergoel hier. Sie sollte Töten. Sie war nicht umsonst die beste Auftragsmörderin in der gesamten Organisation. Mit elf Jahren brachte sie den ersten Menschen um.
Es war ihr erster Auftrag gewesen und sie hatte es sich reichlich schwer gemacht. Dabei war es doch so einfach einem betrunkenem Kerl etwas Gift ins Glas zu gießen, während dieser sich an einem vergreift. Alice dachte daran zurück. Damals hatte sie die ganze Nacht geweint. Die lüsternen Blicke des Mannes waren ihr immer wieder im Traum erschienen, doch mit dem Alter kam die Reife und mit der Reife, die Gewissheit, dass sie ihm schon lange das gegeben hatte, was er verdient hat. Es war dennoch hart und dieser Albtraum hatte dazu geführt, dass Alice die Mafia öfter in Frage gestellt hatte, als ihr lieb war.
Doch trotzdem war die hier, zwölf Jahre später. Dieser Auftrag war nur einer von vielen. Kein besonderer. Es ging um einen einfachen Firmenboss, den sie töten sollte, da er seine Schulden nicht beglich. Routine also.
Alice ging noch einmal ihre Waffen durch. Zwei Pistolen, ein Messer und ein paar weitere Wurfwaffen. Dazu hatte sie noch die einfache Ausrüstung dabei, die bei keinem Auftrag fehlen durfte.
Sie schloss noch einmal die Augen, atmete ein und griff nach ihrer Kette, die ihr um den Hals hing. Es war ein Andenken an ihren Vater. Nicht ihr richtiger, den kannte Alice gar nicht. Sie wurde von einem Mitglied der Mafia adoptiert und ihm hatte sie es zu verdanken nun Teil von dieser Familie zu sein. Er war bei einem Auftrag ums Leben gekommen und sie hatte nur eine Kette als Andenken behalten. Das war drei Jahre her und seitdem hatte Alice den Anhänger an dieser, der aus silbernen Ranken bestand, die ein Kreuz bildeten, mit allem verstärkt was ihr einfiel.
In ihm floss Gift, eine Seite war spitzer als jedes Messer und die Silberkette, an der er hing, konnte man ebenfalls als Waffe benutzen. Die Liebe zu ihrem Vater, war ihre stärkste Waffe, ob im mentalem oder im physischem Sinne.
Sie öffnete die Augen und schritt entschlossen auf die Eingangstür zu.
Das Schloss zu knacken war nicht schwer und den halb schlafenden Wächter zu überwältigen, dauerte nicht mal eine halbe Minute. Alice schlich sich gekonnt die dunklen Gänge entlang. Soweit sie wusste befand sich der Chef dieser Fabrik im dritten Stockwerk. Dort lebte und arbeitete er, um ja nichts zu verpassen.
Vermutlich fühlte er sich auch sicherer an diesem Ort. Dumm von ihm, er sollte wissen, dass es keinen Ort gab, den Alice oder die Mafia nicht erreichen konnten.
Sie sprintete leise die Treppen hinauf und befand sich schon bald vor der Tür zu dem Schlafzimmer des Bosses.
Sie war verschlossen. Alice hatte des erwartet, warum sollte auch irgendwer, der mit der Mafia Geschäfte machte und die Regeln nicht einhielt, auch nur eine Tür nicht zuschließen. Aber auch noch so viele Riegel konnten den Schuldner jetzt nicht mehr retten.
Er würde mit dem Tod bezahlen. Dies deckte zwar nicht annähernd die Schulden die er hatte, aber vielleicht hatten die Oberhäupter der Mafia schon etwas mit seiner Fabrik geplant.
Sie öffnete leise das Schloss, die Tür schwang auf und Alice suchte mit wenigen Blicken das ganze Zimmer ab. Ihre Sinne waren während der Jahre immer schärfer geworden und mit der Kraft, die sie durch die unterschiedlichsten Aufträge bekommen hatte, war sie schneller und stärker geworden, als jeder normale Mensch. Kräfte, die durch Blut, Tod und Verbrechen gewachsen und genährt wurden.
Schon war sie beim Bett. Der Mann lag da, atmete leise, unwissend, dass dies das letzte war, was er tun würde.
Alice zog eine Pistole und stoß sie ihm unsanft an den Kopf. Der Schuldner erwachte sofort, richtete sich verwirrt auf und bevor er irgendetwas sagen konnte, spürte er das kalte Metall auf seiner Haut.
„Hallo“, hauchte Alice ihm sanft in sein Ohr. „Und guten Morgen, oder sollte ich dir lieber schon gute Nacht wünschen?“
„Wer sind sie?!“, der Mann saß verwirrt da, total schutzlos. Ausgeliefert, wie ein Kind.
„Ihr schlimmster Albtraum.“, sie kicherte. Es brachte Spaß mit den Opfern zu spielen, egal wie unmenschlich es war, Angst hatte etwas magisches, etwas süchtig machendes .
„Bi...bitt...bitte lassen sie mich, ähm, erklären...!“, seine Augen hatten sich zu einer unmenschlichen Größe geweitet. Er wusste genau worum es ging. Überraschend, dass er dennoch hier geschlafen hatte. Oder einfach nur dumm.
„Oh, das musst du gar nicht. Ich weiß über alles Bescheid. Deshalb wurde ich ja geschickt, aber danke für das Angebot.“
Sie wollte gerade auf den Abzug drücken, als sie die Stimme hörte, die sie doch nie wieder hören wollte.
„Immer noch so lustig wie damals. So kenne ich meine Alice.“
Die Worte erschütterten sie in Mark und Bein. Sie kamen aus einer Ecke des Zimmers die in tiefer Dunkelheit lag. Sie kannte diese Stimme. Sie würde sie niemals vergessen.
Bilder tauchten vor ihr auf. Verschwommen, ohne Zusammenhang, aber sie stachen ihr trotzdem so tief ins Herz, brachten so viel Schmerz mit sich, wie sie es zuletzt gespürt hatte, als sie von dem Tod ihres geliebten Vaters benachrichtigt wurde.
Der Mann trat aus den Schatten hinaus, als ob er aus ihnen geboren werden würde. Sein Blondes Haar, die grünen Augen, sein großer muskulöser Körper. Es hab keinen Zweifel: Es war George.
Plötzlich wurde alles klar. Die Bilder reihten sich aneinander und ergaben Sinn. Sie wurde brutal zu dem Tag zurück gerissen, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, an dem sie ihr Herz an ihn verloren hatte und es bis heute ganz zurück bekommen hatte. Er hatte sie ausgenutzt, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung ohne Skrupel benutzt, um all seine Ziele zu erreichen und sie in der kalten und einsamen Nacht zurück gelassen.
Sie hatte ihn geliebt, obwohl er ebenfalls ein Auftragskiller war und dazu noch einer anderen Mafia angehörte. Sie war blind gewesen und dazu auch noch taub und stumm, hatte alles über sich ergehen lassen, alles getan, was er verlangte.
„Was ist los? So überrascht?“, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Lächeln und er musterte Alice mit dem selben Blick wie vor vielen Jahren.
Sie versuchte sich zusammen zu reißen, die alte Alice war Vergangenheit, die neue zählte. Sie hatte ihr Herz schon fast wieder zurück und würde nicht zulassen, dass er wieder ihren Verstand verseuchte. Sie antwortete schwer und etwas zu leise: „George. Was machst du hier?“
„Nicht sehr originell, meine Liebe.“, er ging ein paar Schritte auf sie zu und gestikulierte gelassen mit seinen Händen. “Ich wollte dich nicht stören, also tue erst mal das, was getan werden muss.“
Er zwinkerte ihr zu und sein Blick viel auf den Mann, der noch immer in seinem Bett saß und bis jetzt stumm zugehört hatte. Sie hatte ihn schon fast vergessen und schämte sich dafür. Dazu kam auch noch, dass sie die Pistole sinken gelassen hatte. Das vergessen eines Auftrages war ein Zeichen von Schwäche, und wenn er misslingt und man keine ordentliche Entschuldigung hatte, konnte diese Schwäche schreckliche Folgen für den Mörder haben, ob durch seine Gegner oder von seiner eigenen Seite. Schwäche war in der Mafia nicht gerne gesehen.
Sie wagte es nicht den Blick von George abzuwenden und hob ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken die Waffe.
Grade als die abdrücken wollte erhob dieser wieder das Wort: „Ich bin gekommen, um dich zu sehen.“
Der Schuss zerriss die Dunkelheit der Nacht. Was hatte er da grade gesagt? Geschockt starrte Alice ihn an, während ihr Opfer über die Bettkante zu Boden viel und dort mit einem dumpfen Geräusch aufkam.
Wie konnte er so etwas sagten? Nach all der Zeit, nach allem was er getan hatte?
Wieder floss Verunsicherung in Alice Gedanken, vernebelte ihre Sinne und überschwemmte alles, was ihr bis grade eben noch an Selbstbeherrschung geblieben war, wie das Blut, was leise aus der Kopfwunde der Leiche neben ihr hervor trat.
Rot färbte sich der Boden um sie herum, formte einen schützenden Graben, zwischen ihr und dem Mann, den sie gleichzeitig liebte und hasste.
„Ich hatte gehofft, dass du es dir auch wünscht.“, fügte er leise und unglaublich charmant hinzu.
Das habe ich, antwortete sie in ihren Gedanken und als ob er es gehört hatte, kam er näher, überstieg die Pfütze aus Blut und nahm ihre Hand.
„Ich wollte mich für alles entschuldigen...“
Wie Gift waren diese Worte, wie wundervolles, schmerzlinderndes Gift und Alice gab sich diesem vollkommen hin. Sie konnte nichts tun außer ihm zu verfallen und sich seinem Kuss hinzugeben, Die Pistole viel ihr aus der Hand und nachdem sich ihre Lippen von einander gelöst hatten flüsterte sie: „Entschuldigung angenommen.“
Sie wusste tief in ihr, dass es viel zu überstürzt war, dass sie ihn hassen und misstrauisch sein musste, aber sie konnte nicht, denn sie spürte nach so langer Zeit wieder richtiges Glück.
Sie liebte ihn noch immer.
Die Sonne weckte Alice am nächsten Morgen sanft aus ihrem Schlaf. Sie öffnete die Augen und war einen Moment lang geblendet. Dann richtete sie sich auf. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer und lang in ihrem Bett. Nackt.
Auf einmal drangen alle Erinnerungen wieder auf sie ein: Die Fabrik, das Blut, George.
Die Nacht wurde klar vor ihren Augen und sie ging sie noch einmal durch.
Nach dem Kuss hatte er sie in seinem Auto in eine Bar gefahren, dort hatten sie etwas getrunken und dann... Alice hatte einen Kloß im Hals: Dann waren sie zu ihr gefahren.
Ihr Blick schnellte zu der anderen Bettseite hinüber. Sie Decke war zurückgeschlagen und als sie ihre Hand auf das Lacken legte, spürte sie noch die Wärme eines anderen Menschen, der dort gelegen hatte.
Was hatte sie getan?
Schnell stieg sie aus dem Bett, zog sich etwas über und bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Es war unordentlich. All ihre Schubladen waren aufgerissen und es lagen überall Papiere und Akten herum. George hatte ihre Wohnung auseinander genommen. Er hatte etwas gesucht und als Alice in die Küche kam, wusste sie, dass er es gefunden hatte.
Auf dem Tisch lag ein kleiner Zettel, auf dem in geschickter und einfacher Schrift ein Wort stand: „Danke“
Alice Welt zersprang in dem Moment in tausend Stücke, als sie das Wort realisierte. Er hatte sie wieder ausgenutzt, sie benutzt um seine dreckigen Ziele zu erreichen, doch was noch schlimmer war: Sie war das Ziel gewesen. Sie hatte ihn in ihre Wohnung gelassen und ihm so Zutritt zu allen Geheimnissen von sich und ihrer Mafia verschafft. Er könnte alles wissen, einfach alles. Er würde seiner Organisation alles verraten und sie hatte die folgen zu verantworten.
Sie raufte sich die Haare, begann zu weinen und wünschte sich einfach nur noch in die Arme ihres Vaters. Sie hatte nichts mehr. Alles war fort, zerstört in nur einer Nacht. Durch nur eine einzige Person. Wenn die Bosse der Mafia das herausfinden würden, würde sie ehe sie sich versehen konnte am Galgen hängen.
Sie könnte weglaufen, sich ein neues Leben aufbauen, irgendwas tun. Aber noch während sie versuchte nach irgendwelchen Auswegen zu suchen, wurde ihr klar, dass es keinen gab.
Die Mafia konnte jeden Ort erreichen, dass wusste sie doch am besten.
Der Aufzug fuhr Alice Meinung nach viel zu schnell nach unten. Er brachte sie jeden Moment näher zu ihrem Boss. Zu ihrem Richter. Zu ihrem Henker.
Sie hatte sie Unterlagen alle wieder eingesammelt, hatte sie ganze Zeit auf ein Wunder gehofft, doch am Ende wurde ihr klar, dass wichtige Informationen fehlten. Informationen, die zum Fall ihrer Mafia und somit zum Untergang ihrer Familie führen könnten.
Ihr wurde ganz schwindelig, als die Tür sich öffnete und den Blick auf den schneeweißen Gang freilegte. Ihr Kopf sträubte sich, aber ihre Füße führten sie automatisch durch all die Sicherheitseinrichtungen zu dem Büro des Bosses. Sie war dieses Weg so oft gegangen, aber meistens in Erwartung auf Ruhm und Geld, jetzt erwartete sie der Tod.
Sie klopfte gegen die Bürotür, hörte ein leises Brummen von innen und im nächstem Moment kam ein Augenlaser zum Vorschein. Sie hielt ihre Augen vor die dunkle Fläche und der Laser scannte sie ab. Ein Piepen ertönte und die Tür öffnete sich. Der Boss war immer äußerst vorsichtig und überließ nichts dem Zufall.
Alice trat ein.
Der Boss, Petro Hoartoini, der hinter dem Schreibtisch saß, würdigte ihr keinen Blick. Er studierte die Dokumente auf seinem Schreibtisch und schien Alice Anwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben. Oder bemerken zu wollen.
Grade als sie sich räuspern wollte, begann er zu sprechen: „ Die Arbeiter aus den Kupfermienen machen wieder Ärger. Es wird wahrscheinlich bald wieder zu einem Aufstand kommen...“ Noch immer blickte er nicht zu Alice auf und sie war erleichtert. Er hatte also noch nichts erfahren. Gut, dann hatte sie die Möglichkeit noch ein paar weitere Details in die Geschichte einzufügen, um sich doch noch zu rechtfertigen.
„Aber das ist nicht unser geringstes Problem, oder Alice?“, sagte der Mann und schaute auf. Ihre eben gewonnene Hoffnung zerbrach sofort unter seinem eiskaltem Blick. Aus irgendeinem Grund schaffte es dieser Mann einem jeden Mut auszutreiben, den man hatte und so wirkte er unglaublich mächtig.
Er war der erste Boss, der nicht der Ursprungsfamilie angehörte. Den Posten hatte er bekommen, als vor zehn Jahren der letzte Anführer auf mysteriöse Weise umgekommen war. Alle dachten das Gleiche, aber keiner hatte sich je getraut Petro anzuprangern. Außerdem war er ein wirklich gutes Oberhaupt.
Und nun würde auch Alice ein Opfer dieses Mannes werden. Auf die Weise wie er sie ansah, konnte sie sich nur zu gut vorstellen, wie er sich grade ausmalte, wie er sie umbringen wollte. Vielleicht würde sie am Galgen hängen, gekreuzigt werden oder geköpft, dass alles hatte sie schon einmal gehört. Hinrichtungen waren beliebt um Anhänger zu verängstigen und sie so gefügig zu machen.
„ Ich..... Ich kann das-“, stotterte Alice, bevor sie kein Wort mehr raus bekam.
Er musterte sie fragend und sie senkte ihren Kopf. Dass hatte doch alles gar keinen Sinn.
„Ich bin enttäuscht. Du hast zwar deinen Auftrag erfüllt, dafür haben wir aber etwas äußerst wichtiges verloren. Dir ist doch bewusst, was es bedeutet, wenn andere solche Informationen über uns bekommen?“
Alice wollte im Boden versinken, jetzt und hier. Sie wollte das doch alles gar nicht. Es war ein Versehen. Bevor sie auch nur ein Wort rausbekam, redete Petro weiter: „ Ich kann so etwas nicht durchgehen lassen, dass verstehst du sicher.“
Sie nickte. Jetzt würde es bald vorbei sein. Ihr Leben, ihre Träume, ihr Glück, falls man das Ganze hier als Glück bezeichnen konnte.
Der Boss stand auf und ging auf ein Bild an der Wand zu.
„Schau auf den Tisch. Dort liegt ein Stück Papier für dich.“
Sie trat auf den Tisch zu und ihr viel sofort das Blatt auf. Beim näherem Hinsehen erkannte sie Umrisse. Eine Karte.
„Was...?“, fragte sie verwirrt.
„Du bist zu wichtig. Ich kann dich nicht einfach gehen lassen. Ich will, dass du alles wieder bereinigst.“
Sie wusste sofort wohin sie die Karte führen würde.
„Bist du dazu bereit?“, er schaute noch immer auf das Bild, als ob er sich nach einer anderen Welt sehnen würde.
Sie brauchte nicht viel nachzudenken. Normalerweise wäre sie längst tot, aber ihre Familie hatte ihr verziehen und wenn sie jetzt alles Richtig machte, würde sie wieder eine von ihnen sein.
Ihre Familie.
„Ja.“, antwortete Alice und ihre Stimme klang überraschend stark.
Sie sah wie sich die Mundwinkel des Mannes leicht hoben. Nahm sie Karte in die Hand und ließ ihren Blick genauer darüber streichen.
„Gut, dann geh.“, sagte er ohne jede Emotion, seine Aufmerksamkeit galt den Vögeln, die auf dem Gemälde miteinander spielten. „ Komm erst wieder, wenn du deine Schuld beglichen hast.“
Sie drehte sich um, ging im Geiste schon die Dinge durch, die sie brauchen würde und dachte sich einen brauchbaren Plan aus.
„Und Alice!“, sie drehte sich um und sah, dass der Petro Hoartoini sie nun anschaute. „Wenn du schon einmal da drin bist... Du weißt, was du zu tun hast.“
Sie nickte. Nun würde sie George besuchen.
Es war überraschend einfach gewesen, in das Geheimversteck von den Feinden zu kommen. Alice hatte einfach nur ein paar Türen geknackt und war dann durch einen Lüftungsschacht in einen der Hauptflure gerobbt. Ihr kurzes, schwarzes Haar hatte sie zurück gesteckt und sie war, wie so oft, ganz in dunklen Farben gekleidet.
Sie tastete sich langsam voran, solche Missionen hatte sie schon oft durchgeführt, doch diesmal war alles anders. Sie hatte kein Team an ihrer Seite, aber dafür war sie flexibler. Das was ihr wirklich sorgen machte war, dass George hier irgendwo sein musste. Sie könnte sich selber eine Ohrfeige geben, weil sie immer noch so einfach von ihm überlistet werden konnte.
Das würde sich jetzt ändern. Spätestens, wenn er tot war.
In den Fluren war alles still. Niemand war hier und diese Tatsache verunsicherte sie nur noch mehr.
Sie schlich sich um die nächste Ecke, ihre Waffe in der Hand, bereit sofort zu schießen, wenn es sein musste. Doch auch hier nichts.
Grade als sie weitergehen wollte, ertönte aus einem Zimmer ein Geräusch. Die Tür war etwas weiter den Gang hoch und sie würde an ihr vorbei müssen, um den Sicherheitsraum dieses Gebäudes zu erreichen. Dort müssten theoretisch die Dokumente sein.
Langsam ging sie näher heran, auf alles vorbereitet. Jetzt war es in dem Zimmer ruhig und Alice hatte das Verlangen nachzusehen. Es war so leer, so ruhig. Ihr lief ein Schauer über den Rücke. Sie stieß mit ihrem Fuß die Tür auf, verschanzte sich an der angrenzenden Wand und wartete angespannt. Nichts.
Schritt für Schritt ging Alice in den Raum. Ihre Pistole ständig bereit, all ihre Sinne geschärft.
Der Raum war leer, sie war allein.
Sie ließ die Waffe sinken, atmete tief aus und hatte das Bedürfnis sich irgendwo auszuruhen.
Dann fielen die Gestalten auf sie herab und schlugen Alice nieder.
Sie erwachte in einem Raum. Keine Fesseln hielten sie gefangen, doch schon bald bemerkte sie die beiden Männer, die hinter ihr standen. Beide waren bewaffnet und sahen nicht grade freundlich aus.
Toll Alice, dachte sie genervt, jetzt hast du es geschafft, du wirst trotzdem sterben.
Ihr Blick schweifte durch den Raum. Sie konnte mehrere Türen sehen und hinten auf einem Tisch lagen Waffen. Ihre Waffen.
Ihr Herz wurde noch schwerer. Sie schaute an sich herab und nach knapp zwei Minuten hatte sie sich überzeugt, dass alle ihre Verteidigungsmittel weg waren. Außer ihre Kette.
„Du bist aufgewacht!“, der Mann war urplötzlich aufgetaucht und stand wenige Meter vor ihr.
Alice hatte nur einen Fluch für George übrig, dieses Mal würde sie nicht so leicht zu hintergehen sein. Ob es überhaupt noch nötig war, war eine andere Frage.
„Aber, aber, Alice. Hat dir die Nacht nicht auch gefallen? Es war schön. Nun ja, der Morgen war allerdings die Krönung, richtig?“, sagte George und begann auf eine merkwürdige Art zu lachen. „Und jetzt bist du hier, wer hätte das gedacht?!“
Die Erkenntnis traf sie wie ein Stein. Natürlich hatte George damit gerechnet, dass jemand eindringen würde, um sich zu rächen und die Papiere zurück zu holen. Sie war viel zu naiv gewesen. Plötzlich ergab alles einen Sinn: die leeren Gänge, das leichte Eindringen.
„Du verdammtes Schwein! Wie konntest du nur? Mistkerl!“, schrie sie, denn mehr hatte sie grade nicht im Kopf und schon während sie es rief, bemerkte sie, wie hilflos es klingen musste.
George zog eine Augenbraue hoch und Alice musste für einen Moment ihre Augen schließen, um sich zu beruhigen.
„Ich finde es übrigens sehr süß, dass du mich immer noch liebst. Aber so muss es wohl sein, wenn man keine Familie hat.“, zwitscherte er förmlich und schien sich innerlich schon als Sieger zu fühlen.
Wieder zerbrach alles in Alice, doch dieses mal war es der Hass, der ihr Kraft gab.
„Ich liebe dich nicht mehr und ich habe eine Familie. Egal was du tust, egal was du sagst: ich werde zu ihr zurückkehren.“
„Och, wie schön. Dann wird es dich jetzt sicher hart treffen, wenn ich dir verrate, dass es bald deine kleine Wunschfamilie gar nicht mehr geben wird.“
Sie fletschte die Zähne. Das würde sie nicht zulassen, niemals!
„Du!“, ihre Stimme war so laut und spitz, dass sogar die Wächter einen Moment zurückschreckten.
Doch dieser eine Moment reichte.
Alice sprang auf und trat dem erstem in den Bauch. Dieser taumelte zurück, stolperte und sein Kopf kam mit einem lauten, dumpfen Geräusch auf dem harten Boden auf.
Sie wirbelte herum und ließ ihre Faust in Richtung ihres anderen Gegners schnellen, dieser aber war schneller als sein Partner und wich ihr aus. Er zog seine Waffe und schoss. Alice konnte den Luftdruck der Kugel spüren, die nur ein paar Zentimeter an ihrem rechtem Ohr vorbei flog.
Sie schnellte nach vorne, griff nach dem Mann und drehte ihm mit Geschick seinen Hals um.
Noch während er fiel trat ihm Alice die Waffe aus den Fingern, fing sie auf und richtete sie gekonnt auf George.
Dieser stand da, beobachtete das Mädchen, wie sie nun zwischen zwei Leichen eine Waffe auf ihn richtete und Rache fordere.
Alice atmete schwer und einen kurzen Moment drehte sich die Welt.
George lächelte. Das Lächeln was sie früher noch geliebt hatte, ekelte sie nun an. Sie wollte es ihm austreiben, ein für alle mal.
Sie drückte ab, aber nichts passierte. Verwirrt versuchte sie es nochmal. Waren die Kugeln alle?
„Nett.“, sagte er mit einer Selbstgefälligkeit, für die sie ihm so gerne in die Hölle verband hätte. „Leider funktionieren unsere Waffen nur mit Fingersensoren. Neuste Ware von den chinesischen Waffenentwicklern.“
Alice wurde schlecht. Wie konnte das sein? Warum musste so was immer passieren, wenn sie dem so nahe war?
Bevor sie weglaufen konnte war er bei ihr, zog seine Waffe, stieß sie zu Boden und ließ sich auf sie fallen.
„Es war schön mit dir, Alice, aber alles hat ein Ende. Neben an bereiten sich Soldaten darauf vor deiner Mafia ein Ende zu bereiten und dein Vater hat seines schon erlebt...“, sagte er in seiner verführerischen Stimme und ließ seine Pistole durch ihre Haaren bis zu ihrer Schläfe wandern. Ihr Herz blieb stehen, so nahe war sie dem Tod noch nie gewesen und genau diese Erfahrung sorgte für mehr Adrenalin in ihrem Blut, als jemals zuvor.
„Dies hier ist deines.“, flüsterte er und sie glaubte fast etwas Traurigkeit zu hören.
Alice schloss die Augen und vor ihr erschien ihr Vater. Ruhig stand er da, lächelte sie an.
Auf einmal wusste Alice alles.
„Nein.“, sie riss die Augen auf, griff nach ihrem Anhänger und rammte ihm diesen in die Brust.
„Es ist deines.“, sagte sie und spürte, wie dass Gift sich in Gregors Blut verteilte.
Dieser schaute an sich hinab, dann wieder in ihr Gesicht. Das Gift war stark und da es ihm so nahe am Herzen verabreicht wurde, setzten sie Lähmungen schon jetzt ein.
Alice drückte ihn weg, zog die Kette aus seinem Körper und ging ruhig zu dem Tisch mit ihren Waffen. Hinter ihr hörte sie Georges Röcheln und seine verzweifelten Hilferufe.
Sie nahm alles an sich und zu ihrer Erleichterung war das Sortiment vollständig. Dann schaute sie auf ihre Karte, erkannte den Raum, in dem sie sich befanden und ging auf eine der Türen zu.
Kurz bevor die Tür zufiel erstarben die Geräusche. George würde nie wieder jemanden betrügen.
Sie lief durch die Gänge Richtung Ausgang und platzierte ihre Bomben in gleichmäßigen Abständen. Sie sollte diesem Ort und den Leuten, die dort lebten, ein Ende machen, dass hatte ihr Petro Hoartoini befohlen und nun, da sie wusste, wer sich gerade in einem dieser unzähligen Räume bereit machte, um ihr Leben zu zerstören, wünschte sie es sich auch von ganzem Herzen.
Sie verließ das Gebäude und hielt mit zügigem Schritt auf das Eingangstor zu.
Niemals wieder würde sie versagen, niemals wieder würde sie sich belügen lassen und niemals wieder würde ihr jemand damit drohen ihr ihre Familie, das einzige, das sie noch hatte, zu nehmen.
Sie gehörte zu ihnen, ob sie wollte oder nicht und jetzt wurde ihr bewusst, dass es ihr Schicksal war, die zu sein, die sie war. Je länger sie drüber nachdachte, desto klarer wurde ihr jedoch eins: Sie würde nach Hause zurück kehren. Nach Hause.
Hinter ihr ging die Welt in Flammen auf und verzehrte ihre Vergangenheit.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2011
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