Stimmen hallten mir nach, als ich das Dorf hinter mir lasse. Ein leiser werdender Sprechreim, dessen Inhalt über Jahre nicht in Vergessenheit geraten wird und dessen Sinn uns allen seit unserer Geburt bekannt war. Uns stets an unsere Pflicht erinnerte, so gottlos sie auch sein mochte.
"Alle fünf Jahre, eine Seele so rein,soll ein dankbares Opfer ihm sein.
Wir schicken sie alle mit großem Stolz, in die grausamen Fänge des Unterholz."
Es wiederholte sich. Angst, Ehrfurcht und Hoffnung schwang in diesen Worten mit. Die Angst vor dem was sie tun würden, Ehrfurcht vor dem Begünstigten diesen Handels und Hoffnung das der Kelch an einem selbst vorüber zog.
Kleine Wolken stiegen vor mir auf, als mein schneller Atem sich mit der kalten Luft vermischte. Meine kleinen Arme drückten ein kleines Bündel an meinen Körper, welcher kaum Schutz vor dem frisch gefallenen Schnee fand. Ein dünnes weißes Nachthemd umflatterte meine Beine wie ein feiner Schleier.
Ich hatte nicht viel Zeit, also beeilte ich mich bevor es zu spät war. Ein Ast knackte unter meinem nackten Fuß, begleitet von dem Knirschen des frischen Schnees. Ich spürte weder den Kratzer den das raue Holz in meiner Haut hinterließ, noch die Kälte. Nur das unerwartete Geräusch ließ mich kurz zusammenzucken und mich fast mein kleines Bündel verlieren.
Dieses wertvolle kleine Etwas.
Ich würde es in dieser Nacht zum letzten Mal in den Armen halten, auch wenn ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste. Denn noch bevor der Mond seinen roten Schimmer in dieser Nacht verlieren würde, würde mein neugeborener, kleiner Bruder tot sein.
Ich blinzelte, während die Schemen meines vergangenen Traumes noch für einen kurzen Augenblick greifbar waren. Gleich würden sie sich auflösen wie ein schwacher Nebel. Ich versuchte sie zu fassen, einen kleinen Fetzen zu erhaschen, der etwas Klarheit brachte.
Doch am Ende griffen meine Finger nur ins Leere. Bilder verblassten, verloren ihren Sinn, fast als hätten sie niemals existiert. Nur um in einer anderen Nacht zurückzukehren, mich erinnern und gleichzeitig wieder vergessen zu lassen.
Müde drehte sich mein Kopf auf dem Kissen. Es war ein mit Stroh gefüllter Leinenbezug und bei jeder noch so kleinen Bewegung gab er ein verräterisches Rascheln von sich. Ein Seufzen kam mir über die Lippen.
Mein Reich befand sich in einer Kammer nahe des Dachbodens. Ein kleiner Raum, durchzogen von den dicken, knarzenden Balken des Daches. Ein Fenster mit einem dicken Holzrahmen, bot einen Ausblick zum Wald und wenn man sich etwas hinauslehnte konnte man sogar das Dorf sehen.
Fahles Licht fiel gerade hindurch, während die letzten Schatten der Nacht ihren Rückzug antraten. Bald würde das Leben an diesen einsamen Ort zurückkehren, den Tag mit Farbe füllen und die Geheimnisse dieses Ortes mit falscher Fröhlichkeit verdecken.
Widerwillig setzte ich mich auf und meine Finger versuchten den Schlaf aus meinen Augen zu reiben. Erfolglos. Eine gewisse Grundmüdigkeit blieb mir erhalten. Meine Nächte waren in den letzten Wochen unruhiger und fernab jeglicher Erholung gewesen.
Es war immer so, wenn sich die Zeit des roten Mondes näherte. Der Hauptgrund für meine Erschöpfung und meinen Körper der sich jeden Abend regelrecht nach meinem Strohbett verzehrte. Ich wollte mich verkriechen, am liebsten der Welt da draußen entgehen.
Dicke schwarze Haarsträhnen fielen mir wirr ins Gesicht, während ich schlaftrunken in den stillen Morgen hinein lauschte. Ich war mir sicher, dass ich gerade ein sehr seltsames Bild abgeben musste, doch dies waren schon immer meine liebsten Stunden.
Die ruhigen Momente in denen das Dorf friedlich schlief. Die leisen Geräusche des Waldes. Die ersten Vögel die es wagten mit ihren Stimmen die Stille zu zerreißen. All das gehörten mir und ich kostete jede Minute davon aus, bevor der Alltag und die damit verbundene Unruhe nach mir griff.
Als ich es dann jedoch endlich über mich brachte aufzustehen, berührten meine Füße den kühlen Holzboden des Zimmers. Es ließ mich frösteln und meine Augenbrauen zogen sich mürrisch zusammen. Der Herbst stand vor der Tür. Die Tage wurden kürzer und kühler, ebenso wie die Nächte.
Ich musste mir eingestehen, dass es dumm von mir gewesen war das Feuer am Vortag zu vernachlässigen. Doch damit war ich offensichtlich nicht allein. Ich vermute, dass auch meine Mutter sich heute Nacht nicht mehr darum gekümmert hatte. Ein Umstand der mich wirklich nicht überraschte. Bei der Ruhe im Haus, deutete alles darauf hin, dass sie es bereits verlassen oder garnicht erst hierher zurückgekehrt war. Man konnte fast denken, dass sie versuchte mich zu meiden.
Ein weiteres Seufzen verließ meine Lippen. Die Kälte würde mir zumindest helfen schneller wach zu werden. Die Kälte und das Wasser aus meiner Waschschüssel. Sie stand neben dem Fenster auf einer kleinen staubigen Kommode. Mein Vater hatte sie vor Jahren selbst gebaut, doch wie ich selbst wurde sie irgendwann auf den Dachboden verbannt.
Es kostete mich Überwindung, doch bald schon begann ich damit mich frisch zu machen. Die Gänsehaut die sich fast sofort auf meinem Körper ausbreitete ignorierte ich. Stattdessen fiel mein Blick aus dem Fenster.
Unser Haus befand sich am Rand des Waldes, dem schwarzen Wald, wie man ihn hier nannte, weil er so dicht war und kaum ein Lichtstrahl durch die Bäume zu dringen vermochte. Selbst im Herbst änderte er seine Farben nicht, da er zum Großteil aus kargen Nadelbäumen bestand. Er verbreitete eine abweisende und gefährliche Atmosphäre und nur eine Handvoll Dorfbewohner trauten sich überhaupt hinein.
Ich kämpfte noch einen Augenblick mit meinen störrischen Haaren, kleidete mich an und begab mich auf den Weg in die Küche, wo ich mir ein Stück Brot und einen Zipfel Wurst in den Mund schob. Ein karges Frühstück, doch vorerst würde es reichen. Überhaupt etwas vorzufinden grenzte an ein Wunder.
Meine Hand griff fast automatisch nach einem Korb, mit dem ich nach draußen in unseren Garten verschwand. Wie viele andere im Dorf bauten wir unser Gemüse selbst an, lagerten das meiste ein und hofften auf eine gute Ernte, damit der Winter einigermaßen erträglich wurde. Doch zumindest in einer Hinsicht hatten sie Glück. Ein großer Apfelbaum stand in der Nähe des Beetes und bereits jetzt trug er viele Früchte.
Hier im Dorf hatte man für alles eine Verwendung. Aus Äpfeln machte man Kuchen, Konfitüre, Bratäpfel und Apfelwein. Oder man lagerte sie ein, um im nahenden Winter ein paar Vitamine auf Vorrat zu haben. Einen Vorrat mit dem man im Winter um andere Nahrungsmittel feilschen konnte.
Ein Lächeln lag auf meinen Lippen als sich meine Finger um die erste Frucht schlossen und sie vorsichtig in den Korb beförderten. In diesem Jahr würde es eine gute Ernte geben. Glaubte man aber dem alten Bauern Oak, so folgte auf eine gute Ernte stets ein harter Winter.
Mir selbst schien es jedoch, als wäre jeder Winter bisher ein besonders harter Winter gewesen. Und jeder Winter war angeblich schlimmer als der vorangegangene. Wenn die Tage kürzer wurden und die Dunkelheit des Waldes diese kleine Gemeinde immer mehr zu verschlucken schien, versank das Dorf jedes Mal aufs neue, noch vor Neujahr im tiefsten Schnee.
Schon jetzt sah ich die beiden Zwillingstöchter des Pfarrers vor mir, wie sie ihre kalten Hände rieben, die Nase rümpften und ihre Röcke rafften, um keinen Schneematsch mit in die Kirche zu tragen. Ob man es mir ansah, wenn ich es in diesen Augenblicken vermied genervt die Augen zu verdrehen?
Oftmals fragte ich mich selbst, wie ich wohl auf meine Mitmenschen wirken musste. Es war ein offenes Geheimnis, dass man mir misstraute und ich konnte ihnen wohl keinen Vorwurf deshalb machen.
Ich schüttelte kurz meinen Kopf, fast so als könne es meine aufkommenden Gedanken verdrängen. Mein Korb hatte sich schnell gefüllt, ohne das ich es wirklich wahrgenommen hatte und die Zeit schritt voran. Weitere Trödelei konnte ich mir wirklich nicht erlauben, wenn ich es vermeiden wollte erneut eine Strafpredigt zu erhalten.
Eilig, sofern es durch das Gewicht meines Korbes möglich war, trugen mich meine Füße aus dem Garten, über den ausgetretenen Weg, der an der Hütte des Jägers am Rande des Waldes vorbeiführte, in die Richtung des Dorfes. Umringt von hohen Bäumen lag es friedlich vor mir.
Alte Häuser mit teilweise schiefen Dächern, welche seit Generationen von den gleichen Familien bewohnt wurden. Der Marktplatz mit der Kirche bildeten das Zentrum, während die Häuser einen Ring um den Platz schlossen. Große Feste oder Versammlungen wurden dort abgehalten, auch wenn es dafür nur selten Gelegenheiten gab.
Etwas außerhalb erkannte man die Felder der Oaks und das Farmhaus, welches sie mit ihrer kinderreichen Familie bewohnten. Es war etwas baufällig und sie schienen jedes Jahr damit beschäftigt zu sein Dächer, Scheunen oder Weidezäune zu reparieren, während Bauer Oak über das schlechte Holz fluchte, sich aber trotzdem nicht tiefer in den Wald hineintraute um besseres zu schlagen.
Dies war kein Ort des Reichtums. Sie alle waren bodenständig, kamen mit wenig aus und machten das Beste aus allem was die Natur ihnen gab. Und auch wenn man dieses Leben als idyllisch und geregelt empfinden konnte, sie alle hatten eigentlich keine andere Wahl. Denn sie alle würden diesen Ort niemals verlassen.
„Na endlich, du Faulpelz!!"
Ein Fauchen holte mich aus meinen Gedanken, während mein Blick fast gleichzeitig in das zornige Gesicht einer kräftigen Frau sahen. Sie stemmte ihre Hände in die Seiten, stampfte mit dem Fuß auf, um ihre Wut besonders zu betonen und atmete tief durch.
„Schon wieder zu spät! Glaubst du die Böden schrubben sich von allein? Jeden verdammtem Morgen, Moira! Ich könnte auch eines der Birch Mädchen anstellen, aber nein! Ich entschied mich gnädig zu sein. Entschied mich deiner Mutter einen Gefallen zu tun! Und was habe ich davon?"
Ich neigte meinen Kopf, während ich meinen aufkommenden Kommentar herunterschluckte. Die Birch Mädchen wären sich viel zu fein für die Arbeit in einem Wirtshaus. Eher würden sie sich beide Hände abhacken, als einen der Lumpen zu berühren, die ich jeden Tag bei meiner Arbeit benutzte.
„Ich habe Äpfel mitgebracht." presste ich zwischen den Lippen hervor, auch wenn ich ahnte welche Reaktion es hervorrufen würde.
„Äpfel!" Ruth Pine verdrehte die Augen, ehe sie theatralisch Seufzte und die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
„Wenn du mir einen Schinken mitgebracht hättest, wäre es als Ausrede durchgegangen. Noch mehr Äpfel, bei Gott!"
Sie schüttelte nur den Kopf, wandte sich um und ließ mich mit meinem Korb stehen. Zumindest sah sie davon ab mir diverse Sonderaufgaben aufzuerlegen, um mich für mein regelmäßiges Verspäten zu bestrafen. Ich atmete tief durch und startete in einen neuen Tag.
Meine Hände schmerzten. Wenn ich heute morgen noch geglaubt habe, ich würde einer Bestrafung entgehen, so hatte ich mich gehörig getäuscht. Ruth nutzte die Gelegenheit um mir die Bedeutung harter Arbeit näher zu bringen.
Sie trug mir deutlich mehr auf als sonst. Angefangen mit den undankbarsten Aufgaben. Als Frau des Wirtes hatte sie wohl einem Ruf zu verlieren. Oder sie genoss es einfach mich herum zu scheuchen. Sie konnte damit den anderen Frauen imponieren. Ihnen zeigen wie man einem Mädchen wie mir ein paar Manieren beibrachte. Und insgeheim würde sie sicher Beifall dafür ernten.
Innerlich schüttelte ich darüber leicht den Kopf und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Die Hauptaufgabe in diesem Wirtshaus bestand darin alles für den Abend vorzubereiten. Für die Stunden wenn die müden Männer von ihrer Arbeit heimkehrten. Sich nach etwas Gemütlichkeit, Gerüchten, einer deftigen Mahlzeit und einem wärmenden Getränk sehnten. Und da es nicht viel Auswahl gab, war die Gaststube jeden Abend gut besucht.
Oft schickte man mich zu den Oaks, um frisches Gemüse oder Fleisch zu besorgen. Jeremiah und Elisabeth Oak beäugtem mich stets etwas misstrauisch, gaben am Ende jedoch alles heraus, aus Angst ein gutes Geschäft zu verpassen. Trotz ihres Verhaltens war es mir immer eine willkommene Gelegenheit, um der alltäglichen schlechten Laune der Wirtin für einen kurzen Moment zu entgehen. Generell war ich lieber allein, als in der Gesellschaft der anderen.
Dieses Mal jedoch verbrachte ich meinen Morgen vorrangig auf den Knien. Energisch ich schrubbte den steinernen Boden des Gastraumes mit einer groben Bürste. Schon jetzt waren meine Hände wund davon, denn es brauchte viel Kraft um den groben Dreck von den Steinen zu lösen.
Ich machte eine kurze Pause und besah mir den Boden. Die Hälfte stand mir noch bevor. Ich biss mir genervt auf die Unterlippe. Es wäre einfacher, wenn die Männer sich zumindest den Dreck von den Stiefeln klopfen würden, bevor sie eintraten. Ich griff nach einem Krug. Er lag versteckt unter einem Tisch, wo er wohl den Boden mit seinem Inhalt getränkt hatte.
Der Geruch von Alkohol hing in der Luft, obwohl ich bereits vor einer halben Stunde die Fenster geöffnet hatte. Sicher war dies nicht der einzige verschüttete Krug. Und dieser Geruch mischte sich mit anderen Gerüchen deren Herkunft ich in meinem Kopf nicht weiter ergründen wollte.
Als junge Frau entdeckte man viel zu viele Abgründe, wenn man die Abende damit verbachte den Männern im Dorf zu ihrem Bier zu verhelfen. Abgründe die sich die Birch–Zwillinge wohl nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen ausmalen konnten. Jede Frau die in den wenigen Kandidaten dieses Ortes einen potentiellen Ehemann sah, würde sich nach einem Abend in der Schenke unter Umständen überlegen als alte Jungfer zu sterben.
Wenn es nicht die Gesprächsthemen waren, dann höchstwahrscheinlich die abschreckenden männlichen Verhaltensweisen die man hier an den Tag legte wenn keine oder nur wenige Frauen zugegen waren. Komischerweise schien ich nicht zu den Frauen zu gehören vor denen man sich benehmen wollte,.
„Du wirst von Tag zu Tag langsamer."
Ich brauchte mich nicht umzusehen, um die tiefe Stimme zu erkennen. Der spöttische Unterton zwischen den Worten verriet mir alles was ich wissen musste. Ein hochgewachsener, junger Mann etwa in meinem Alter, stieg die Treppe zum Gastraum herab. Er hatte eine schlanke Gestalt, die er sicher nicht von seinem Vater geerbt hatte.
„Wahrscheinlich werde ich alt." antwortete ich ihm nur, denn mit fast 25 Jahren neigten sich meine Jugendjahre langsam dem Ende zu. Um meine Hände zu beschäftigen griff ich erneut nach der Bürste.
Der junge Mann war inzwischen am Fuß der Treppe angekommen, wo er sich entspannt auf eine der Stufen setzte. Seine Haare waren Blond, fast wie der Weizen auf den Feldern. Die Augen in dem hellen grau-blau, welche auch seine Mutter besaß. Ebenmäßige Gesichtszüge gaben ihm einen jungenhaften, frechen Charme mit dem er wahrscheinlich nicht nur hier alles erreichen konnte was er wollte. Doch bei mir hatte es noch nie wirken wollen. Dafür kannte ich diesen selbstverliebten Kerl schon viel zu lange.
„Du wirst als alte Jungfer sterben, wenn du so weitermachst. Verschwendest deine Jugend indem du Böden schrubbst." Ertönte es provozierend.
Noch immer lag sein Blick auf mir. Frech, abwartend, hungrig nach einer wütenden Reaktion. Er hatte es schon immer genossen mich zu piesacken. Doch irgendwie war ich froh, dass überhaupt jemand mit mir sprach. Zumindest wenn es keine Zuhörer gab.
„Oder willst du eine alte Hexe werden wie deine Mutter? Das Aussehen hättest du schon und das Alter kommt von ganz allein." Er zeigte mir ein schelmisches Grinsen.
„Bist du nur heruntergekommen um mich zu beleidigen, Victor?" Meine Stimme blieb ruhig, was ihn wohl enttäuschen würde. Wie schon so oft musste ich mich in meinem Inneren für meine Geduld loben. Es war schwer jeglicher Provokation ruhig gegenüber zu stehen, während es in mir brodelte. Doch langsam wurde ich wirklich gut darin.
Zufrieden strich ich mir eine meiner dicken Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich hatte mir die Haare locker hochgesteckt, damit sie mir während der Arbeit nicht im Wege waren. Doch mein dickes Haar mit seinen leichten Locken, ließ sich nur schwer bändigen. Wie so oft musste ich einen schrecklich unordentlichen Eindruck auf meine Mitmenschen machen, doch ihre Meinung war mir die meiste Zeit relativ egal.
Ich schien nicht besonders attraktiv zu sein, denn die Männer des Dorfes hatten nie versucht mir näher zu kommen. Sie warfen mir Blicke zu, manche waren so kühn mich anzusprechen. Doch nie übertraten sie diese Grenze und auf mehr hatte ich es auch nie angelegt.
„Es ist dein Problem wenn du es als Beleidigung empfindest in die Fußstapfen deiner Mutter zu treten. Doch viele andere Möglichkeiten werden dir hier wohl nicht offen stehen."
Victor zuckte mit den Schultern, tat so als wäre es ihm egal. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich so war. Er ließ sich nur noch selten zu einem Gespräch mit mir herab. Meist nur dann wenn ihn etwas lange Zeit beschäftigt hatte.
„Machst du dir etwa Sorgen um meine Zukunft?" Ich hielt inne, wandte ihm den Blick zu und konnte ein provozierendes Lächeln nicht unterdrücken. Es war eine Reaktion die ihn stocken ließ.
„Wieso sollte ich?" kam es etwas zu schnell über seine Lippen und seine Stimmlage war recht mürrisch. Es sorgte dafür das sich meine Mundwinkel amüsiert noch etwas weiter hoben, besonders als der junge Mann etwas zu schnell von seiner Treppenstufe aufstand.
„Hier hat jeder seinen Platz. Glaube also nicht das meine Eltern dich ewig hier arbeiten lassen, nur weil deine Mutter ihnen einmal geholfen hat." kam es gereizt von ihm. Seine Arme verschränkten sich stur vor seiner Brust. Ich hingegen war gezwungen zu ihm aufzusehen, da ich immernoch den Boden mit meiner Bürste bearbeitete.
„Hätte sie es nicht getan, würdest du mich jetzt nicht mit deiner Gesellschaft erfreuen. Ein Grund mehr wieso du ihr etwas mehr Respekt entgegenbringen könntest." Ich blieb auch weiterhin ruhig. Doch auch wenn meine Worte es vermuten ließen, ich wollte ihn nicht tadeln. Ich konnte die Abneigung meiner Mutter gegenüber verstehen.
Der Blondhaarige schnaubte fast augenblicklich voller Verachtung, während sich sein Blick von mir abwandte. Seine dünnen Lippen pressten sich kurz angestrengt aufeinander und einige Gedanken schienen ihm durch den Kopf zu gehen, während er seine Arme fest vor der Brust verschränkte.
„Vielleicht hätte sie mir einen Gefallen getan, wenn sie es nicht getan hätte." Mein eigenes Lächeln erstarb bei seiner Ernsthaftigkeit. Der nahende Winter nagte nagte auch an seinen Nerven.
„Es ist wie du sagst, wir alle haben unseren Platz. Du bist hier weil es so sein sollte." Ich erhob mich, um ihm zumindest ein bisschen auf Augenhöhe begegnen zu können, doch an Victors Körpergröße kam ich einfach nicht heran. Der Blick den er mir schenkte war kalt. Das was folgen würde, würde mir sicher nicht gefallen.
„Und andere sind nicht hier." spuckte er mir seine Worte regelrecht ins Gesicht und für einem langen Augenblick sahen wir uns schweigend an. Es war ein indirekter Vorwurf in meine Richtung.
„Du hast Recht." brach ich die Stille irgendwann. „Doch niemand von uns kann etwas daran ändern."
Ich konnte seine Augenringe erkennen. Sie waren kaum sichtbar, aber trotzdem vorhanden. Er sorgte sich, doch sein Stolz oder seine Sturheit ließen es nicht zu darüber zu reden. Jeder von ihnen hatte einen Verlust erlitten und die Erinnerung daran kam zurück, sobald sich der Schnee alle fünf Jahre rot färbte.
Ich hob meine Hand, um sie ihm auf die Schulter zu legen, doch wie aus einem Reflex heraus schubste er mich kraftvoll gegen einen der Tische. Ich stieß dabei meinen Eimer um, welcher laut scheppernd zur Seite viel. Das ganze dreckige Wasser verteilte sich über den Boden, noch während ich mich wieder aufrappelte und mir meine schmerzende Seite hielt. Ich hatte die Tischkante gestreift, rechnete schon jetzt mit einem großen blauen Fleck.
„Glaube bloß nicht das wir gleich sind. Oder ein Gespräch mit dir irgendetwas bedeutet." Hörte ich Victor sagen, der nun einen Schritt auf mich zuging. Er war aufgebracht. Sein schönes Gesicht vor Wut gerötet. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, öffnete sich donnernd die Küchentür. Wir hatten wohl gerade einen schlafenden Drachen geweckt.
„Was ist hier los!?" Ruth trat in den Gastraum, musterte das Bild das wir abgeben musste und schnaubte. Ich hatte schon immer das Gefühl das es ihr nicht gefiel, wenn ich und ihr Sohn irgendwo alleine herumstanden. Es schien sie jedoch zu beruhigen, weil wir stritten und nicht anderes taten. Die Vorstellung ihr Goldjunge könnte sich für mich interessieren, schien zu Ruths schlimmsten Alpträumen zu gehören.
„Victor! Raus! Und Moira! Räum dieses Chaos auf! Egal worum es ging, tragt es woanders aus!" Ich senkte fast augenblicklich den Blick, auch wenn mir eine biestige Antwort auf der Zunge lag.
Ich konnte nichts für die schlechten Manieren ihres Sohnes. Doch ich hatte es mir abgewöhnt meine Meinung kund zu tun. Es brachte mich nur in Schwierigkeiten. Der Blondhaarige murmelte eine leise Entschuldigung, ehe er das Wirtshaus durch die Haupteingangstür verließ. Ruth selbst ließ mich, nach einem weiteren kühlen Blick einfach mit dem Chaos im Schankraum allein. Sie würde mich sicher spüren lassen, dass sie heute mehr als genug von mir hatte.
Lautes Lachen drang bis in den Keller des Wirtshauses. Es war bereits spät, die Stimmung ausgelassen und die Männer durstig. Sie scheuchten mich und Alice Willow, das zweite Schankmädchen, ordentlich herum, wobei sie es dieses mal Mal eher auf das zierliche, hellhäutige Mädchen mit den rotbraunen Haaren abgesehen hatten. Sie war noch neu und recht schüchtern.
Die raue Art der Männer erwischte sie unvorbereitet. Aus Nervosität und Scham hatte sie bereits den ein oder anderen Krug umgeworfen oder war errötet wenn einer der Männer sie ansprach. Ein Verhalten, welches Sie anscheinend nur noch anziehender machte.
Victor hatte sich an diesem Abend selbst im Schankraum eingefunden, gefolgt von seinen etwa gleichaltrigen Oak-Cousins Gabriel, Sam und Finn. Da alle Junggesellen waren, schienen sie es zu genießen eine der potentiellen Kandidatinnen aufzuziehen. Und sie trieben es so weit, dass sich das arme Mädchen kaum noch in den Schankraum hineintraute.
Ich hatte gerade meinen letzten Krug befüllt, als ich ein Poltern hinter mir hörte. Fast schon reflexartig sprang ich vor und verhinderte gerade so, dass sich Alice auf der schmalen Treppe das Genick brach. Sie war anscheinend in ihrer Eile umgeknickt und hatte auf der schmalen Treppe ihr Gleichgewicht verloren. Ich konnte sie am Arm greifen und verhinderte das ihr Kopf auf dem harten Steinboden aufschlug.
Das junge Mädchen schnappte erschrocken nach Luft. Sie brauchte wohl einen Augenblick um zu begreifen was geschehen war. Ich nutzte den Moment um sich zu mustern. Ihre Wangen waren gerötet. Tränen glänzten in ihren Augen und ihre dunklen Rehaugen schienen vor Schreck geweitet zu sein. Da sie kein Tablett mit sich trug hatte ihre Flucht in den Keller wohl andere Gründe.
Langsam regte sich sich wieder. Der Schock schien zu verschwinden, während sich ihre Augen langsam auf mich richteten. Und der Schrecken der darin lag ließ mich innerlich zusammenzucken. Alice wand sich so schnell aus meinem Griff, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Füße brachten etwas Abstand zwischen uns, wobei sie mich nicht aus den Augen ließ.
Ich öffnete meinen Mund, um sie zu fragen, ob es ihr gut ging, ließ es dann aber doch. Ich wollte sie nicht noch mehr ängstigen. Wortlos nahm ich also mein Tablett, stieg die engen Stufen hinauf und ließ das rothaarige Mädchen mit seinen Gedanken im Keller allein.
Im Schankraum stieß mir erneut eine Welle an Lärm entgegen. Die Männer amüsierten sich ausgiebig. Harold schien heute gute Laune zu haben oder er wollte beweisen welch guter Wirt er war. Er versprach ihnen eine Runde aufs Haus, erntete Jubel und lachte aus vollen Halse über seine eigenen Witze oder Geschichten. Ruth schüttelte darüber in der Küche nur ihren Kopf.
Ich wanderte an den Tischen vorbei, verteilte die Krüge und bemühte mich um ein neutrales Gesicht. Anfangs hatte man mich provozieren wollen. Ähnlich wie Alice hatte es mich aufgewühlt, nur waren die Kommentare die man mir entgegenbrachte hämischer und nicht von heiratswilliger Natur.
Mein Blick wanderte zu Victor und unsere Blicken trafen sich für einen Augenblick. Er schien mich immer zu beobachten, doch im Beisein seiner Cousins ließ er sich nicht dazu verführen, ein Gespräch zu beginnen. Außer es diente ihm vor den anderen anzugeben. Er wandte zuerst den Blick wieder ab und ich sah zu dem letzten Krug.
Ich wusste wer ihn bestellt hatte und alles in mir sträubte sich. Doch hatte ich eine Wahl? Langsam trat ich auf die dunkelste Nische des Raumes zu. Die arme Alice hatte doch ein bisschen Glück. Das schlimmste blieb ihr erspart. Vielleicht hatte Ruth es auch mit Absicht darauf angelegt, dass ich es war die Phelan entgegentreten musste.
Ich roch ihn schon bevor ich ihn sah. Der Geruch von Dreck und Alkohol. Er war vor sechs Jahren ins Dorf gekommen. Einer der wenigen die alle Schwierigkeiten des Waldes überwunden und das Dorf erreicht hatten. Ein Sonderling der sich nicht anpasste und es auch garnicht wollte. Das hatten sie wohl gemeinsam.
Sie alle nannten ihn nur Phelan. Es bedeutete Wolf und ein passenderer Name war hier nie vergeben worden. An seinen richtigen Namen konnte er sich nicht erinnern, doch sein wildes Erscheinungsbild, sein Verhalten und die Tatsache das er ein Einzelgänger war, taten ihr übriges. Und so mancher hier schien sich darüber zu amüsieren.
Die ansässigen Familien waren alle nach Bäumen benannt. Doch niemand hätte einem Fremdling eine solche Ehre erwiesen. Sarah Oak erwähnte einmal, dass jeder Wald auch seinen Wolf benötigte. Sie hatte viel Zustimmung dafür geerntet.
Und was diesen Wolf betraf: Er war groß. Kräftig. Unter seiner Kleidung ließen sich Muskeln erahnen. Die Männer erzählten sich, dass er einem Hirsch gnadenlos und ohne Probleme das Genick brechen konnte. Das er den Wald durchstreifte ohne jegliche Angst. Und allein dies hatte ihm viel Respekt eingebracht.
Ich selbst musterte ihn kurz. Er saß an seinem üblichen Platz. Entspannt, aber wachsam. Seine Kleidung voller Dreck. Besonders seine Stiefel, was mich innerlich schnauben ließ. Seine Hände waren groß wie die Pranken eines Bären. Sein Gesicht kantig und markant, jedoch verlor sich das meiste davon in einem dichten ungepflegten Bart und verdreckten langen Haaren. Man erkannte nicht ob es braun oder schwarz war.
Nicht einmal sein Alter konnte man gut einschätzen, sodass die meisten auf Ende 30 tippten. Er wirkte auf das ganze Dorf einschüchternd. Unberechenbar. Selbst ich hatte meine Probleme mit ihm umzugehen, obwohl er mir nie etwas getan hatte.
All meinen Mut zusammennehmend stellte ich also den Krug auf dem Holztisch ab, in der Hoffnung schnell weiterzuziehen . Etwas zu energisch, wie mir schien, denn Phelan hob augenblicklich seinen Blick. Seine Augen waren eisblau, durchdringend. Sie schienen einem Menschen direkt in die Seele zu blicken. Es war ein Eindruck der mich erschaudern ließ.
Stolz wie ich war hielt ich dem Blick stand und etwas an seinen Augen verwirrte mich. Obwohl er schon diverse Krüge geleert hatte, war sein Blick klar. Keine Anzeichen von Trunkenheit, keine roten Äderchen, keine tränenden Augen. Er wirkte vollkommen nüchtern. Und gefährlich.
„Sag deiner Mutter, ich brauche mehr von ihrer Wundsalbe." knurrte er mir dann irgendwann ohne Vorwarnung kaum hörbar entgegen. Es war das erste Mal das er überhaupt mit mir sprach, doch seine Worte brachten mich innerlich zum brodeln. Was hatte er mit meiner Mutter zu schaffen? War sie schon derart verzweifelt das sie mit ihm...!?
Ekel machte sich in mir breit, wenn ich daran dachte das wir in der letzten Zeit deutlich mehr Fleisch auf unseren Tellern gehabt hatten, als sonst. Sich mit dem Jäger gut zu stellen war sicher nicht dumm, doch diesen Mann auch nur zu berühren war unvorstellbar. Ich vermied es die Nase zu rümpfen und mein Blick wurde deutlich kühler, ebenso wie mein Inneres.
„Sag es ihr selbst. Und es ist sicher nicht IHRE Wundsalbe." Ich erkannte Sturheit und Wut in meiner eigenen Stimme.
Meine Mutter kümmerte sich schon seit Jahren nicht mehr um derlei Dinge. Und jetzt brüstete sie sich auch noch mit meinen Fähigkeiten. Phelans Augen schienen bei diesen Worten zu glühen, denn ich hatte anscheinend etwas gesagt das ihn sehr amüsierte oder sehr ärgerte.
Was genau es war konnte man anhand seines Gesichtes nicht herauslesen. Er sagte jedoch nichts weiter dazu. Mit einer Kopfbewegung deutete er mir jedoch an, dass ich nun verschwinden sollte. Eine Aufforderung der ich nur zu gerne folgte.
Meine Schicht endete tief in der Nacht, als nur noch die letzten hartnäckigen Trinker den Schankraum besetzten. Harold würde alleine mit ihnen fertig werden und Alice war bereits vor mir gegangen.
Ich nahm mir meinen Korb und durchquerte die Küche, welche Ruth bereits aufgeräumt hatte. Die Tage hatten ihren festen Ablauf. Wieso auch nicht, denn es gab selten viel Abwechslung an diesem Ort.
Auf dem Weg zum Ausgang griff ich mir noch ein paar Reste des Tages. Etwas Brot, Gemüse und trockener Kuchen die niemand vermissen würde. Vieles davon landete eh im Trog der Schweine und aus den Gemüseresten konnte ich noch wunderbar eine Suppe kochen.
Zufrieden mit der heutigen Ausbeute schloss ich die Tür des Wirtshauses hinter mir und fröstelte, bei den ersten Schritten. Ich musste dringend wärmere Kleider besorgen. Aber alles was mir aktuell zur Verfügung stand waren die Lumpen die ich am Körper trug. Ein altes Kleid das von meiner Arbeit besudelt worden war.
Mit schnellen Schritten wanderte ich über den verlassenen Marktplatz, ohne mich umzuschauen. Natürlich war mir bisher noch nie etwas passiert, doch je näher der Winter kam, desto mehr schienen die Emotionen hochzukochen. Und ich war stets im Zentrum dieser meist negativen Emotionen.
Ein leichter Wind wehte mir ins Gesicht und zerzauste meine Haare. Ich ließ das Dorf schnell hinter mir, folgte dem Weg zu unserem abgelegenen Haus. Ausnahmsweise brannte Licht in den Fenstern.
Es war dieser Umstand der mich dazu brachte stehenzubleiben. War ich bereit für diese Begegnung? Mein Innerstes spannte sich deutlich an, während ich meine Nerven zusammensammelte. Hätte ich eine andere Unterkunft gehabt, hätte ich diese sofort aufgesucht.
Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Schnell wandte ich mich in dessen Richtung, erblickte jedoch nur tiefste Dunkelheit. Es kam aus dem Wald, der Klang eines knackenden Astes. Mehr nicht. So glaubte ich zumindest im ersten Moment. Doch spürte ich nicht einen Blick auf mir?
Rastlos wanderten meine Augen umher, doch alles was ich sah waren Bäume und Dunkelheit. Ich lauschte, doch kein weiteres Geräusch drang an meine Ohren. Wahrscheinlich wurde ich langsam wirklich alt, so wie Victor es behauptete. Ich bildete mir schon Dinge ein.
Noch ein weiterer Blick, ehe ich meinen Weg fortsetzte und einem sehr unangenehmen Treffen entgegensteuerte. Hätte ich mir mehr Zeit für meine Umgebung genommen, hätte ich die eisblauen Augen vielleicht bemerkt, welche meiner Gestalt in der Dunkelheit folgten. Und vielleicht hätte ich wahrgenommen, wie sie kurz darauf regelrecht mit dem Wald verschmolz.
Die Tür knarzte verräterisch, als ich in den Flur unseres alten Hauses trat. Es war warm und ein Lichtschein fiel aus der Küche in den Flur. Ich spürte Anspannung in mir aufsteigen, während ich den Korb in eine Ecke des Flures stellte. Es war mir lieber meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, doch immer ließ es sich nicht vermeiden.
So lautlos wie möglich trat ich an die Küchentür heran. Keine Stimmen drangen hervor, also war sie wohl alleine. Es beruhigte mich, denn ich wollte jeglicher neuen Eroberung nicht begegnen.
Meine Hand schob die Tür auf. Einige Kerzen standen auf dem Holztisch, was den Lichtschein im Flur erklärte. Und neben ihnen eine halbleere Flasche Wein. Natürlich. Ich wollte nicht wissen woher sie diese nun wieder hatte.
Meine Mutter saß auf einem Stuhl und beschäftigte ihre Finger, indem sie ungeduldig Kräuter auf dem Tisch sortierte. Ich erkannte Bilsenkraut, Tollkirschen, und Stechapfel. Wollte sie jemanden vergiften? Natürlich waren diese Zutaten anteilig in so mancher Medizin enthalten, doch diese Menge kam mir ungewöhnlich vor.
Es war ein unerwarteter Anblick, denn inzwischen hatte sie meine Mutter wahrlich andere Vorlieben. Sicher gab es einen vorrangig männlichen Grund für ihr plötzliches Interesse an der Kräuterkunde.
Im ersten Augenblick schien sie mich auch garnicht zu bemerken. Ich versuchte also das ungewohnte Bild auf mich wirken zu lassen. Eine Frau. Attraktiv, aber bereits gezeichnet von den ersten Anzeichen des Alters. Leichte Falten zeichneten sich in ihrem Gesicht ab, nahmen ihm aber nicht die Schönheit. Evelyne Beech war stets eine begehrte Frau gewesen, trotz ihrer Berufung, zur Hebamme und Engelmacherin.
Sie war nicht groß, doch ihre kurvige, weibliche Gestalt, das wilde, lockig schwarze Haar, welches meinem so ähnelte, durchzogen von den ersten grauen Strähnen, gaben ihr eine geheimnisvolle Ausstrahlung . Sie trug noch ihren dunkelgrünen Umhang und ein graues Kleid, welches ihre Figur besser betonte, als es mein eigenes Kleid an mir tat.
In dieser Hinsicht unterschieden wir uns. Ich fand keinen Gefallen daran mich für die Männer des Dorfes herauszuputzen. Ich wollte ihre Blicke nicht auf mich ziehen, denn alles was sie mir entgegenbrachten war Hohn oder Feindseeligkeit. Wolllust sollte nicht auch noch hinzukommen.
Fast schon wollte ich mich einfach von ihr abwenden, so tun als wäre ich garnicht da, doch da legten sich die dunkelbraunen Augen bereits auf mich. Ich sah wie sich ihre Brauen augenblicklich ungehalten zusammenzogen, sich dann aber schnell wieder entspannten.
„Du bist spät heute." Ein beiläufiger Kommentar, bevor sie sich wieder den Kräutern zuwendete. Seltsamerweise schwang neben ihrem Desinteresse auch ein gewisser Ärger in ihrer Stimme mit. Hatte sie etwa gehofft mich früher anzutreffen?
„Ich bin immer spät." antwortete ich genauso desinteressiert. Sie war nie da, also wusste sie auch nichts von meinem Alltag, obwohl er uns beide ernährte. „Das erklärt aber nicht wieso du so spät in der Küche sitzt und Kräuter sortierst."
Ich entschied mich, direkt anzusprechen, was mir seltsam vorkam. Und meine Befürchtungen wurden bestätigt. Sie wollte irgendetwas von mir. Denn meine Mutter wandte sich mir zu. Ihr aufkommendes Lächeln so süß wie Honig.
„Moira, ist es so verdächtig, wenn deine geliebte Mutter ihre Arbeiten im Haus verrichtet?" Mein Nicken ließ sie kalt. Stattdessen seufzte sie theatralisch.
„Was muss ich nur tun, damit meine sture Tochter sich über etwas gemeinsame Zeit freut?" Ich ging zum Tisch, nahm einige der Kräuter und betrachtete sie kritisch.
„Vielleicht solltest du weniger trinken, öfter hier sein und den Leuten im Dorf weniger Stoff für Gerüchte bieten. Wer war es dieses Mal? Ein Linde? Ein Elm? Oder gar ein Oak? Oder war es....." Ich konnte mir ein wütendes Schnauben nicht verkneifen. „...dieser verlauste Jäger?"
Sofort bemerkte ich die Bestürzung in ihrem Gesicht, welche mich nur noch wütender machte.
„Du solltest wirklich nicht so über Phelan sprechen. Dank ihm haben wir immer etwas Fleisch auf dem Tisch."
Wütend warf ich die Kräuter zurück auf den Tisch, als sie wagte derartiges zu behaupten.
„Dank mir haben wir Fleisch auf dem Tisch! Und ich lege mich dafür nicht auf den Rücken!" Meine Stimme war gereizter als ich es beabsichtigte, doch etwas in mir konnte nicht anders.
Ich arbeitete hart für ein paar Reste, für etwas Fleisch. Und wieso? Weil sie bei den Oaks versagt hatte und man sich weigerte uns Fleisch vom Hof zu überlassen. Weil sie sich nicht um ihre Pflichten scherte und weil ich und mein Leben hier ihr vollkommen egal waren seit....Nein. Darüber wollte ich jetzt wirklich nicht nachdenken.
„Ach...diese Küchenabfälle?" Sie rümpfte die Nase, fast so als wäre sie etwas besseres. Es war ein Verhalten das mir bekannt vorkam. Kein Wunder. Ich wusste ja mit welcher Familie wir verwandt waren, auch wenn eben jene Familie nur voller Verachtung auf uns herabblickte. Ich verbiss mir einen weiteren Kommentar und drehte mich wieder zur Küchentür. Mir stand nicht der Sinn nach Streit.
„Sei nicht so schnell eingeschnappt. Jetzt wo du hier bist, kannst du mir einen Gefallen tun." Und da war es. Ich hörte wie sie aufstand, Dinge zusammensuchte und leise fluchte weil sie irgendwas nicht fand.
„Mutter.....ich bin müde. Was auch immer es ist, es wird warten müssen." Doch als Antwort wurde mir ein Kleiner Korb in die Hand gedrückt, zusammen mit einer Laterne. Anscheinend verstand sie kein Nein.
„Es kann nicht warten!" Ihre Worte waren energisch. Mit einem Ruck drehte sie mich um, zog ihren Umhand aus und legte ihn um mich.
„Tu mir diesen Gefallen. Es geht nur heute, bei Vollmond."
Mit einer genervten Bewegung meiner Schultern ließ ich den Umhang zu Boden fallen, welchen meine Mutter fast sofort wieder aufhob.
„Was auch immer es ist, kümmere dich selbst darum." Ich hatte wirklich keine Lust mich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Das sie mich überhaupt darum bat war seltsam. Doch unberührt von meinen Worten, legte sie mir erneut den Umhang um.
Ausnahmsweise sah sie mir direkt in die Augen, sodass ich den beginnenden Grauschleier sehen konnte, der sich darin breit machte.
„Ich kann nicht. In dieser Dunkelheit, selbst mit dem Mondlicht, werde ich mich nicht zurechtfinden können." Dies entsprach der Wahrheit. Ihre Sicht war schlechter geworden und es wog schwer auf ihr. Also seufzte ich und sie wusste sofort das sie gewonnen hatte.
„Was genau soll ich suchen?" gab ich mich geschlagen von mir. Ich war mir sicher, dass es nichts alltägliches wäre. Und ich wollte einfach nur meine Ruhe.
„Oh nichts allzu kompliziertes." Ich bemerkte die aufgehellte Stimmung dieser schrecklichen Frau, während sie um den heißen Brei herumredete. Sie verknotete den Umhang und betrachtete mich dann ausgiebig.
„Ich benötige eine Alraune. Man erntet sie nahe der Flussläufe. Gelbe Früchte, violette Blüten und dichtes rundes Blätterwerk. Und die Wurzel...." Ich unterbrach sie.
„....sieht aus wie ein Mensch." Meine Lippen pressten sich fest zusammen. Dies konnte einfach nicht ihr Ernst sein.
„Und wie soll ich sie ernten? Dir ist bewusst was man über sie sagt?"Für einen Augenblick sah ich in ein ungläubiges Gesicht und dann ertönte ein glockenhelles Lachen.
„Oh Liebes, glaubst du wirklich an solchen Unsinn? Das ihr Schrei dich tötet, wenn du sie aus der Erde ziehst? Wenn es so wäre, dann wäre ich schon vor vielen Jahren gestorben. Also los! Bevor die Nacht um ist!" trieb sie mich an.
Und ich hatte wohl keine Wahl, wenn ich endlich meine Ruhe haben wollte. Vielleicht erwartete sie aber auch noch Besuch und wollte mich mit dieser Bitte einfach aus dem Haus heraushaben.
Meine Finger umfassten die Laterne und zum zweiten Mal trat ich in die Kälte. Im Dorf würde man sich jetzt zur Ruhe betten. Doch nicht ich. Meine eigene Mutter schickte mich alleine in die Nacht, in die Nähe des Waldes. Eine junge, schutzlose Frau, die nur eine Metalllaterne hatte um sich zu verteidigen. Es war nicht das erste Mal.
Und um ehrlich zu sein, bisher störte es mich nicht. Anders als alle anderen, empfand ich den Wald mit seinen dunklen Bäumen, der unnatürlichen Ruhe und all seinen wilden Tieren nicht als Gefahr. Man musste sich nur einfügen, die Regeln dort akzeptieren. Und das tat ich.
Ich kannte die zugänglichen Wege, wusste wo ich die besten Kräuter fand und war auf meiner Suche immer ungestört. Niemand hier würde auf die Idee kommen nachts umherzustreifen. Niemand außer mir selbst.
Ich schlug den Weg in Richtung der Oak-Farm ein, da sie sich nahe des Flusses befand. Über mir ein riesiger Vollmond, der die Laterne fast schon überflüssig machte.
Wieso hatte ich mich nur wieder überreden lassen? Für einen kurzen Augenblick schlossen sich müde meine Augen. Es war ein Wunder das ich nicht im stehen einschlief.
Ich hatte keine Ahnung wie spät es bereits war, als ich den Fluss erreichte. Er schlängelte sich an den Feldern der Oaks vorbei und führte direkt in den Wald. Würde ich hier finden was ich suchte?
In meinen Büchern hieß es eine Alraune wuchs am Fuße eines Galgens. Man fand sie aber auch an Flussläufen. Es gab zudem die unterschiedlichsten und seltsamsten Wege um sie zu ernten.
Glaubte man den alten Geschichten, gab die menschenähnliche Wurzel einen markerschütternden Schrei von sich, sobald man sie aus der Erde zog. Wie ein Baby das seiner Mutter entrissen wurde. Der Ausgräber war dem Tode geweiht sobald dieser Schrei an seine Ohren drang. Gefahren die meine Mutter nicht ernst nahm.
Ich ließ den Lichtschein der Laterne über das Flussufer wandern, in der Hoffnung das mich niemand dabei sah. Schon jetzt hielt man meine Mutter und mich für Hexen, also wollte ich den Gerüchten nicht noch mehr Grundlage geben. Eine Hexenverbrennung würde Pfarrer Birch sicher sehr gefallen. Besonders so kurz vor dem nächsten Blutmond.
Meine Füße trugen mich weiter, bis ich den Rand des Waldes erreicht hatte. Keine Alraunen. Natürlich, ich hätte es mir denken können.
Erneut suchte ich den Boden ab und seufzte schwer. Würde ich meiner Mutter nun mit leeren Händen entgegentreten müssen? Ihr Gezeter klang mir jetzt schon in den Ohren. Beschwerden darüber, dass mir nicht einmal so eine leichte Aufgabe zu gelingen schien.
Energisch wandte ich mich dem Wald zu, welcher dunkel vor mir aufragte wie ein riesiger Schlund. Ich könnte hineingehen. Nur ein kleines Stück, in der Hoffnung dort eine Pflanze mit violetten Blüten oder gelben Früchten zu finden.
Mir war nicht bewusst wie lange ich vor mich hin überlegte, doch ein frischer Windhauch erinnerte mich daran, dass ich nicht ewig hier stehen wollte. Ich gab mir also einen Ruck. Es waren nur Bäume und etwas Dunkelheit.
Äste und vertrocknete Nadeln knirschten unter meinen Füßen, als ich die ersten Schritte tiefer hineinwagte. Das Mondlicht drang nicht ins dichte Unterholz und so hielt ich meine Laterne etwas mehr in die Höhe, während ich einem unsichtbaren Pfad, den Fluss entlang folgte.
Die Tatsache in der Nähe des Wassers zu bleiben, gab mir Sicherheit und das Gefühl zurückfinden zu können. Und ich wollte bald zurück. Meine Wangen brannten bereits von der Kälte und ich war mir sicher, dass sie bereits rötlich waren, ebenso wie meine Nasenspitze.
Fröstelnd zog ich die Kapuze etwas tiefer in mein Gesicht, damit sie meine Ohren vor dem Wind schützte, der ab und zu durch die Bäume fegte. Abgesehen von meinen Schritten und dem Wasser, gab es kein Geräusch, was mir seltsam vorkam. Man sollte sich vor Orten hüten, wenn selbst die Tiere sie mieden. Ich sollte mich also beeilen.
Mein Zeitgefühl war schon komplett verloren, als der Schein meiner Laterne endlich auf eine Ansammlung von Blättern fiel. In ihrer Mitte violette Blüten. Ich konnte hören, wie ich erleichtert aufatmete, während ich mich auf den Boden kniete und die Erde zur Seite schob.
Es war wirklich eine Alraune. Doch es war die einzige weit und breit. Meine Hoffnung einen kleinen Vorrat anlegen zu können schien sich in Luft aufzulösen.
Meine Hände stellten die Laterne zur Seite, jedoch nicht ohne vorher etwas Wachs von der darin enthaltenen Kerze abzukratzen. Es war weich und meine Finger formten es zu zwei Kugeln, die ich mir fest in die Ohren drückte.
Meine Mutter mochte nicht an all die Geschichten glauben, doch ich war vorsichtig. Besonders an diesem Ort. Außerhalb des Waldes mochte keine Magie herrschen, doch in seinem Inneren war ich mir nicht so sicher.
Langsam schob ich weitere Erde zur Seite, strengte mich an behutsam und geduldig zu sein, bis ich eine große Wurzel sah, welche wie ein Kopf aus der Erde ragte, gefolgt von einer menschenartigen Gestalt. Mit einem letzten beherzten Ruck zog ich die Wurzel aus der Erde.
Es war der Augenblick vor dem ich mich fürchtete, denn dies war der Moment in dem ich laut den Geschichten tot umfallen musste. Wenn sie schrie, so hörte ich es nicht.
Doch mir war, als würde das menschenartige Ding in meinen Händen leicht und unregelmäßig vibrieren. Fast so wie ein Baby, das zwischen seinen Schreien Luft holen musste. Verunsichert starrte ich die Wurzel an. Wenn man viel Fantasie besaß konnte man sogar ein kleines verquollenes Gesicht erkennen.
Vorsichtig strich ich die Erde von der Wurzel und spürte wie die Bewegung schwächer wurde. „Pscht......" kam es leise über meine Lippen, auch wenn ich mich dumm dabei fühlte.
Ich fürchtete mich vor einer Wurzel. Hielt sie für etwas lebendiges. Doch war nicht jede Pflanze in irgendeiner Form lebendig? Ich bettete die Wurzel in den Korb, deckte sie mit einem Tuch zu und erhob mich wieder mit meiner Laterne. Es wurde Zeit heimzukehren.
Es war wahrscheinlich eine Stunde vergangen und noch immer glaubte ich gleich das Ende des Waldes ohne Hilfe erreichen zu können. Ich war dem Flusslauf gefolgt, mit dem Gefühl mich auszukennen.
So lange bis ich über einen dieser elenden Baumstümpfe stolperte, die überall aus dem Boden herausragten. Meine Laterne fiel mir aus der Hand, wobei die darin enthaltene Kerze erlosch und mir so meine einzige Lichtquelle nahm. Ich selbst landete unsanft auf dem Waldboden, streifte mit meinem Kopf irgendetwas hartes.
Es entlockte mir einen Schmerzlaub, während mein Kopf auf ein Kissen aus nassem Moos fiel. Ich hatte mich übernommen. Hatte mir mehr vorgenommen als ich an einem Tag bewältigen konnte. Müde blieb ich für einen Augenblick auf dem Waldboden liegen, doch meine Gedanken rasten. Meine Frustration über das Ganze war kaum in Worte zu fassen und erneut verfluchte ich meine Mutter für ihre Bitten, die ich nie abschlagen konnte.
Ich rappelte mich nach einer gefühlten Ewigkeit auf, rutschte dabei kurz mit dem Fuß auf etwas weicher Erde aus und setzte recht benommen meinen Weg fort. Doch so sehr ich versuchte in der Nähe des Flusses zu bleiben, irgendwann war ich in der Dunkelheit doch vom Weg abgekommen.
Meine Füße stolperten vor sich hin, während ich meinem eigenen schneller werdenden Atem lauschte. Ich war panisch, weil ich die Gefahr unterschätzt hatte. Wenn mir nun ein hungriger Wolf oder ein Bär auflauerte, konnte ich nichts tun, um mich zu verteidigen. Wenn ich nicht vorher erfror, denn die Luft schien mit jedem Schritt kälter zu werden. Als wäre der Wald nicht mehr als ein eisiges Grab.
Jeder Ast der ein lautes Knacken von sich gab, ließ mich zusammenzucken. Wie töricht von mir, zu glauben ich könne mich hier allein zurechtfinden. Ich war nur ein Mädchen aus dem Dorf, das sich auf seine wenigen Kräuterkenntnisse etwas eingebildet hatte.
Und noch etwas beunruhigte mich. Ich fühlte mich zunehmend beobachtet. Anfangs war ich mir sicher es mir nur einzubilden, doch je länger ich im Wald war desto unsicherer wurde ich mir.
Ich war hier nicht allein. Sollte ich in die Stille rufen und meinem Verfolger somit verraten, dass ich ihn bemerkt hatte? Nein. Wahrscheinlich war es einfach nur eine Eule, die mich wie einen unwillkommenen Eindringling anstarrte. Mein Körper verlange nach einer Pause. Vielleicht würde es bald dämmern und sich ein Weg vor mir auftun. Unglaublich das ich überhaupt so weit gekommen war.
Die Männer aus dem Dorf erzählten sich, dass man nicht weit in den Wald hineinwandern konnte. Je weiter man ging, desto dichter wurde das Unterholz. Es baute sich auf wie eine Mauer, die niemand überwinden konnte. Mir kam es jedoch so vor, als würde es mich bereitwillig hindurch lassen. Kein Ast streifte mein Gesicht. Keine Wurzel stand mir mehr im Weg.
Doch vielleicht war all dies auch nur ein Traum. Vielleicht lag ich frierend und schlafend im Unterholz, würde bald neben meiner Laterne aufwachen und den Weg nachhause finden. Und fast so als wären meine Hoffnungen wahr geworden, sah ich zwischen den Bäumen einen Lichtschein.
Meine inzwischen sehr kalten Füße bewegten sich fast schon automatisch darauf zu, bevor ich überhaupt bewusst eine Entscheidung getroffen hatte. Die Hoffnung dieser Dunkelheit zu entkommen, ließ mich alle Vorsicht vergessen.
Mein erster Trugschluss war der Gedanke, es könne sich um das Dorf handeln. Der zweite das noch eine andere Person mit einer Laterne unterwegs sein könnte. Doch der Lichtschein entpuppte sich als ein zerbrochenes, spärlich beleuchtetes Fenster.
Es gehörte zu einem zerfallenen, mit Moos bewachsenen Haus, welches eher einer Ruine glich und sich direkt neben einem alten, umgestürzten Baum befand. Die Zeit hatte ihre Spuren in Holz und Stein hinterlassen. Die Natur sich ihren Platz zurückerobert. Überall war Efeu. Käfer krabbelten über das morsche Holz. Und dieses einzige intakte Fenster wirkte so unwirklich wie die Kerze die darin stand.
Mit einer gewissen Enttäuschung blieb ich davor stehen und fühlte mich einmal mehr wie eine Traumwanderin. Hatte ich ernsthaft geglaubt zum Dorf zurückzufinden? Meine Sinne waren benebelt und ich schien keinen klaren Gedanken fassen zu können. Doch alles in mir trieb mich auf dieses Haus zu.
Ich bekam kaum mit wie ich mich weiterbewegte, sah meine eigene Hand wie sie eine alte, kaputte Tür aufschob, nur um dahinter einen kleinen, kargen Raum vorzufinden. Er war ebenso zerfallen wie das gesamte Haus, beherrscht von dem Geruch nach Wald. Nass und modrig. Und doch spürte ich etwas reales, etwas lebendiges an diesem Ort.
„Du solltest eintreten ,Kind." Eine Stimme ließ mich abermals an diesem Abend zusammenzucken, während sich die Tür hinter mir wie von Geisterhand schloss.
In einer Ecke des Raumes im Halbdunkel sah ich sie. Eine weibliche Gestalt, alt, mit weißen, strähnigen Haaren und blinden Augen, die mich doch zu sehen schienen. Ihre Haut war faltig, rissig und erinnerte mich an die Rinde eines Baumes. Und so unbewegt wie die alte Frau vor mir saß, hätte man sie schnell für einen Baum halten können, fast so als wäre sie mit dem Holzbalken in der Wand verwachsen. Ich zögerte, weil die Furcht in mir um sich schlug. Wieder hatte ich das Gefühl nicht ich selbst zu sein.
„Wo bin ich hier? Und wer bist du?" Meine Stimme klang fremd und am Ende ließ ich mich doch auf einen Holzstuhl sinken, weil meine Beine plötzlich nachgaben, als wolle mich irgendetwas zwingen hier Platz zu nehmen.
Alles hier wirkte so als hätte man mich erwartet. Als wäre diese Frau nur wegen mir hier. Denn im Gegensatz zu mir war sie ruhig und fixierte mich mich wie ein seltenes Artefakt, welches sie am liebsten in ihren eigenen knöchernen Händen halten wollte. Wie lange musste sie hier schon kauern?
„Es dir zu erklären würde uns beide zu viel Zeit kosten. Und davon haben wir nicht viel."
Ich hatte das Gefühl eine dumme Frage gestellt zu haben, denn die alte Frau schnalzte ungehalten mit der Zunge.
„Mein Name ist Badria. Doch mach dir keine Mühe ihn dir zu merken. All das hier, ist längst zu Staub zerfallen wenn du deinen Weg aus dem Wald herausfindest."
Ein kehliges Lachen kam über ihre Lippen, gefolgt von einem Husten und dem Geräusch knackender Äste, als sie sich vorlehnte. Irgendetwas hier stimmte ganz und garnicht. War diese Frau wirklich real? Denn je genauer ich hinsah, desto mehr wirkte sie wie ein alter, kranker Baum. Wie ein surreales Wesen, das eine menschliche Hülle angelegt hatte. Und es bescherte mir eine Gänsehaut.
„Also werde ich aus dem Wald herausfinden?" Ein Hoffnungsschimmer wuchs in mir. Doch wieder schien es eine dumme Frage zu sein und die blinden Augen schienen sich zu verengen.
Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, während meine Augen durch den Raum wanderten. Waren diese Schränke eben schon da gewesen? Ich sah Kräuter, Bücher, Mörser, ein totes Huhn, welches Kopfüber von der Decke hing.
Es gab Gläser mit seltsamen Inhalten und erst jetzt stieg mir der Geruch von Räucherwerk in die Nase, welches Badria gerade entzündet haben musste. Es ließ meine Augen tränen und ich strengte mich an, meine restlichen Sinne zu behalten.
„Gewiss." antwortete sie mir und mit einem knarzenden Geräusch hob sich ihr Arm, damit sie auf meinen Korb zeigen konnte.
„Du trägst ein Kind des Waldes mit dir. Und der Wald wird seinesgleichen nichts antun. Eine Alraune ist eine Pflanze die einst, ein Mensch sein wollte. Sie passte sich an und versteckt sich nun unter der Erde, wo sie ihren Träumen nachhängt, bis man sie weckt. Und wenn sie erwacht, erkennt sie, dass sie nichts weiter als eine Pflanze ist und weint bis ihr die Stimme versagt."
Mein Blick senkte sich auf den Korb, der in meinem Schoß lag. Das Tuch schien sich zu bewegen und ich wagte nicht es zur Seite zu ziehen. Ich hatte Angst vor dem was sich darunter befinden mochte, weshalb ich regelrecht auf meinem Stuhl erstarrte.
„Ich rate dir, sie gut zu versorgen." Badrias Worte hörten sich mehr wie eine Warnung, als ein Rat an. Ich entschied mich, besser nicht zu erwähnen das meine Mutter die Alraune in kleine Stückchen schneiden wollte.
„Ich verstehe all das hier nicht." murmelte ich, während ich meine müden Augen schloss. Es kam mir so vor als würde mein Bewusstsein schwinden.
„Das musst du auch nicht. Der Weg in diesen Wald öffnet sich nur für wenige Seelen. Und bald wirst du verstehen, dass deine Rolle wichtiger ist, als die der anderen." Ich hörte wie die Frau aufstand und erneut machte sich Unbehagen in mir breit.
„Doch du hast nicht mehr viel Zeit, um deinen Verstand zu öffnen. Um zu verstehen was verstanden werden muss."
Ich konnte meine Augen einen Spalt weit öffnen, sah wie die blinde Frau eine Schale nahm und ihre Finger in eine rote Flüssigkeit tunkte.
„Was soll ich verstehen?" meine Stimme klang müde. War es dieses Räucherwerk das sie verbrannte? Ich bekam kaum Luft davon und hatte das Gefühl in einen Rausch zu verfallen.
„Das die Zeit dieses Waldes abläuft. Nichts währt ewig. Nicht das Leben, kein Fluch und auch keine Vereinbarungen mit dem Teufel selbst. Wir alle sind nur Spielfiguren, denen nur wenig Spielraum gewährt wird. Und es liegt an uns, ob wir diese Freiheiten nutzen. So wie ich, indem ich mit dir rede." Sie seufzte und ich spürte nur wie der Sog in die Dunkelheit stärker wurde.
„Wie viel Zeit bleibt uns?" Ich bekam diese Frage kaum selbst mit oder ihren Sinn. Es gab so viele andere Fragen die ich stellen wollte. Eine lange Pause folgte. Musste Badria wirklich überlegen oder hatte sie Angst mir die Wahrheit zu sagen? Doch Angst schien nicht ihre Natur zu sein.
„Noch einmal färbt sich der Schnee und dann nie wieder." Bedauern lag in ihrer Stimme. Und ich selbst konnte nicht verstehen wieso. Etwas kühles berührte meine Stirn, lief daran herab und schien meinen ganzen Körper zu erfüllen. Mein Körper fröstelte und ich schloss erneut meine Augen.
Badrias Stimme schien schwächer zu werden, doch ihre letzten Worte blieben mir im Gedächtnis. Sie brannten sich regelrecht ein, weil es das wichtigste war, das sie zu mir sagte.
„Hüte dich, Moira Beech. Denn nichts ist wie es scheint. Und sei vorsichtig wem du vertraust. Es braucht nur ein falsches Wort um einen Verdacht zu wecken. Noch viel weniger um ein Leben zu beenden."
Ich öffnete die Augen ein letztes Mal und sah sie direkt vor mir. Diese Frau, die dem Wald näher war als jedes andere Wesen. Und auf den tiefen Schnitt, welcher sich tief in ihrer hölzernen Haut befand. Direkt am Hals. Sie konnte es unmöglich überlebt haben.
„Es ist so kalt." hörte ich mich sagen und Schwärze empfing mich, während der Duft von Räucherwerk in die Ferne rückte. Ebenso wie die alte Frau, das Haus und das schwache Licht der Kerze. Meine Lungen sogen kalte Luft ein und meine Haare schienen feucht zu sein. „.....so kalt."
Ein Zittern beherrschte meine Stimme. In meiner Ohnmacht lauschte ich dem Geräusch von Wasser, spürte wie mein Oberkörper sich hob und mein Kopf kraftlos zur Seite rollte, während eine Stimme mich aus meiner Ohnmacht zu reißen versuchte.
„Moira!" Ich spürte wie man mich schüttelte. Wie sich eine große, raue, aber warme Hand erst auf meine Wange und dann auf meine Stirn legte.
„Wach auf, Mädchen!" Die Stimme wurde energischer und nur langsam erkannte ich sie anhand ihres knurrenden Untertones. Die Sorge darin kam mir jedoch sehr fremd vor.
Ich überwand mich und überquerte die letzte Schwelle zwischen Ohnmacht und Bewusstsein, um ihr zu folgen. Meine Augen blinzelten langsam gegen das fahle Licht der Dämmerung an, welches es anscheinend doch vermochte durch die Bäume zu brechen.
Man hatte mich aufgesetzt und ich erkannte diese hellen Augen, die zwischen einem dichten Bart und langen, verwildertem Haaren regelrecht hervorstachen. Zum ersten Mal sah ich im Ausdruck des Jägers so etwas wie Verwirrung und Unsicherheit. Er hatte wohl nicht damit gerechnet mich mitten im Wald anzutreffen.
Wie weit mochte ich gewandert sein? Wieso war er überhaupt hier? Hatte meine Mutter sich doch um mich gesorgt und die Männer in den Wald geschickt? Mein Herz flatterte, denn zum ersten Mal hatte ich das Gefühl das ihr vielleicht doch mehr an mir lag, als an ihren sonstigen Verpflichtungen. Mein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, doch Phelan schüttelte nur den Kopf.
„Spar deine Kräfte, Mädchen. Du hast wahrlich mehr Glück als Verstand." Die Sorge war gewichen. An ihre Stelle traten Wut und Ungläubigkeit. Ich erkannte es an seinem knurrenden Unterton, an der Art wie er es sagte. Man hatte mich natürlich nicht gesucht. Niemand würde sich für mich in den Wald wagen, was auch erklärte wieso nur der Jäger anwesend war.
Wahrscheinlich hatte meine Mutter nur ihre Weinflasche leer getrunken und schlief nun einem neuen Morgen entgegen. Und ich erkannte endlich wo ich mich befand. Neben dem Fluss am Waldesrand. Meine Laterne lag zerbrochen am Ufer, die Kerze hatte der Fluss wohl mit sich gerissen und ich selbst hatte mir wahrscheinlich den Kopf an einem Stein oder einer Wurzel angeschlagen und das Bewusstsein verloren.
Verwirrung und Scham stiegen in mir auf. Ich ärgerte mich sogar über meine eigene Dummheit, während mir heiße Tränen in die Augen stiegen. Was war ich nur für eine Närrin? Welche Dinge bildete ich mir nur ein?
Ich bemerkte, dass mein Verhalten den Jäger wohl stocken ließ. Mit meinen Tränen hatte er nicht gerechnet, wusste wohl auch nicht damit umzugehen. Natürlich nicht. Er wusste ja nicht einmal wie man sich wusch. Meine Wut richtete sich gegen ihn, ohne das ich es beeinflussen konnte.
„Spar dir deine Ratschläge und behalte deine dreckigen Hände für dich!" brach es ungehalten aus mir hervor, während ich ihn wegdrückte und mich nicht wirklich elegant auf meine wackeligen Beine kämpfte. Ich wollte weg, mich einfach nur in meinem Bett verkriechen, auch wenn mein schnelles Aufstehen von einem heftigen Schwindel begleitet wurde.
Phelan machte keine Anstalten mich aufzuhalten, denn der Weg aus dem Wald war nicht weit entfernt. Wahrscheinlich bemerkte er auch meine Abneigung und wollte mich nicht weiter bedrängen, egal wie erbärmlich ich wohl gerade wirken musste. Er war ungehalten und musste sich wohl einen bissigen Kommentar verkneifen. Wahrscheinlich hätte er so ein undankbares Weibsstück wie mich auch gerne geohrfeigt.
Doch all das war mir in diesem Augenblick egal. Meine Hände griffen zu dem viel zu leichten Korb und meine Füße trugen mich aus dem Wald, welcher den Jäger regelrecht hinter mir verschluckte. Ich dankte ihm nicht, sah mich auf dem Rückweg auch nicht nach ihm um.
Der Schock und die Verwirrung saßen tief in mir. Ebenso wie Badrias Worte, die ich nicht so einfach als Einbildung abstempeln konnte.Mir war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst was mein Besuch im Wald auslösen würde. Welche Räder sich dadurch in Bewegung setzten und wie viele Leben es am Ende kosten würde.
Noch nie war mir mein Kissen so weich vorgekommen und das Rascheln des Strohs so einladend. Mein Körper schien sich schon in einem tiefen Schlaf zu befinden, bevor mein durchgefrorener Körper überhaupt das Bett berührte.
Mein Bett das mein Vater vor vielen Jahren für mich gebaut hatte. Ich erinnerte mich noch gut an ihn. Ein hochgewachsener Mann. Ein Waldarbeiter und Schreiner, der einige Häuser und Möbel innerhalb des Dorfes gebaut hatte. Ich hatte ihn als einen sehr geselligen Menschen in Erinnerung. Als eine Person die um Rat gefragt wurde, wenn schwierige Entscheidungen anstanden.
Sein ruhiges Blut schien das perfekte Gegenteil zur wilden Natur meiner Mutter gewesen zu sein. Meiner Mutter die in den frühen Jahren meiner Kindheit weniger egoistisch und deutlich mitfühlender gewesen zu sein schien. Wenn man über ihre Eitelkeit und ihren Ansprüchen an meinen Vater hinweg sah.
In früheren Zeiten war man ihnen gegenüber nicht mit einem derartigen Misstrauen begegnet. Man hatte sie mit offenen Armen im Dorf empfangen. Gespräche gesucht. Um Gefallen gebeten. Doch ein einziger Abend und weitere fünf Jahre konnten ein einst harmonisches Leben schneller zerstören, als es einem lieb war.
Was mir selbst blieb war die Erinnerung an die Abende wenn er aus dem Wald kam. Die Art wie er sich das Gesicht wusch, wenn ich ihm eine Waschschüssel nach draußen brachte. Die Tage an denen er zusammen mit Jeremiah Oak und Samuel Elm lachend auf ihrer Veranda saß, während sie mit einem Krug Bier auf einen anstrengenden Nachmittag anstießen.
Oft hatte ich mich zu ihnen gesellt, mich auf eine der Werkzeugkisten gesetzt und ihren Geschichten gelauscht. Wenn es nach mir ging hätten diese Zeiten andauern dürfen. Und sie hätten es wohl, wenn ich selbst nie geboren wäre.
Es war später Mittag, als mich das Knarzen der hölzernen Treppenstufen weckte, gefolgt von dem lauten Knall meiner Tür. Sie wurde heftig aufgestoßen und krachte gegen den hölzernen Schrank, der sich direkt dahinter befand. Mein Zimmer war nicht besonders groß. Die Möbel waren daher in den Raum gequetscht worden und ließen der Tür nicht viel Spielraum.
„Moira! Raus aus dem Bett und erklär mir das!" Die aufgebrachte Gestalt meiner Mutter ließ mir keine Zeit, um wach zu werden. Stattdessen warf sie den Korb auf mein Bett und nur ein Tuch fiel heraus. Es war der Korb den ich für die Suche nach der Alraune genutzt hatte. Ich hatte am Abend nicht noch einmal hineingeschaut. Ihn nur auf den Tisch gestellt, in der Hoffnung meine Aufgabe erfüllt zu haben.
Meine Müdigkeit verdrängend hob ich das Tuch hoch, blinzelte durch meine langen Wimpern.
„Er ist leer?" Mehr eine Feststellung, als eine Frage. Keine Alraune. Keine hässliche kleine Wurzel die aussah wie ein verquollener kleiner Mensch.
„Ich bitte dich ein einziges Mal um einen Gefallen und so dankst du es mir? Und dann wagst du es den ganzen Tag im Bett zu liegen?" Meine Mutter war rot vor Zorn, ihr Haar umrahmte ungestüm ihr Gesicht und sie verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Wenn es einen Weg gäbe sie zu besänftigen, so fiel er mir gerade nicht ein.
„Ich hatte eine. Ich verstehe nicht wieso sie nicht hier ist." Ich hatte das gruselige Ding doch selbst ausgegraben. Langsam drehte ich meine Hände und entdeckte Erde unter meinen Fingernägeln. Ein Beweis! Oder stammte es noch von meinem Sturz? Hatte ich sie vielleicht verloren?
„Vielleicht ist sie ja aufgestanden und aus deinem Korb gesprungen?" Der Ton meiner Mutter wurde sarkastischer. Ich wagte es nicht darauf etwas zu erwiedern, denn der Gedanke an die leichten Bewegungen, die ich am Vorabend unter dem Tuch vernommen hatte, ließen mich abermals erstarren. Erklärungen würden hier nichts nützen. Sie würden nur die Wut meiner Mutter schüren.
„Wie auch immer. Es lässt sich wohl nicht ändern. Mach das du aus dem Bett kommst. Du wirst ein paar Dinge für mich erledigen, bevor du heute zur Arbeit gehst. Und wasch dir gefälligst dein Gesicht! Du bist ganz dreckig. Die Leute sollen nicht auch noch denken, wir hätten kein Wasser!" Aufgebracht fegte sie aus dem Raum und zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie sich nicht vielleicht doch darum kümmerte, was die Leute hier über uns dachten.
Ich erhob mich, wobei jeder Muskel in meinem Körper aufzuschreien schien. Die Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Doch wie schlimm es war erkannte ich kurz darauf, als ich einen Blick in meinen kleinen Spiegel warf, welcher an der Innenseite meiner Schranktür befestigt worden war. Mein dichtes, dickes Haar war zerzaust. Wie jeden Morgen. Meine grünen Augen leicht gerötet.
Ich konnte nicht erkennen, ob die Flecken auf meinem Gesicht zu meinen Sommersprossen oder zum Dreck des Waldes gehörten. Hier und da ein kleiner Kratzer auf meiner hellen Haut, die heute etwas bleich wirkte.
Victor hatte Recht. Ich hatte das Aussehen einer Hexe, zumindest in ein paar Jahren und wenn ich mich weiterhin so gehen ließ. Bei diesem Gedanken hatte ich plötzlich Badrias Anblick vor Augen. Wie sie aufstand, sich auf eine seltsame, ungelenke Art und Weise bewegte, während ihre langen Finger mit ihren ungepflegten Händen nach einer kleinen Schale griffen.
Schockiert weiteten sich meine Augen, was ich dank des Spiegels selbst mit ansehen konnte. Meine Hand schob mein dunkles Haar aus der Stirn. Unter ihnen verbarg sich ein bereits verlassendes, rotes Zeichen. Es war rund und hatte drei Ausläufer die zu Spiralen wurden.
Ich hatte das Gefühl es schon einmal gesehen zu haben, doch die Bedeutung oder sein Name wollten mir einfach nicht einfallen. Eine Erkenntnis machte sich in mir breit, schnürte mir regelrecht den Hals zu. Wenn ich einen Beweis für die Geschehnisse in der vorherigen Nacht gesucht hatte, so hatte ich ihn nun gefunden. Doch wollte ich wirklich einen Beweis? Mir wurde übel und energisch versuchte ich mir das Mal von der Haut zu reiben. Es verschwand nur sehr widerwillig.
Von dieser seltsamen, alten Frau berührt zu werden, zu wissen das derartiges im Wald lebte erschreckte mich. Zum ersten Mal empfand ich meine Leichtsinnigkeit als Fluch. Wer wusste schon was diese Person mir sonst noch angetan hatte und woran ich mich nun nicht mehr erinnern konnte.
Mein Blick fiel zum Fenster. Direkt zum Wald. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich die Furcht der anderen nachempfinden. Beneidete mich fast schon um die Naivität die ich bis gestern als normal empfunden hatte.
Meine Mutter trug mir später als Rache für mein Versagen einige undankbare Aufgaben auf. Sie selbst saß im Kräuterkeller des Hauses und suchte anscheinend nach einer Alternative für die verlorene Alraune. Ich fragte mich erneut woher diese seltsame Motivation kam.
Sie wollte mir auch nicht sagen, welches Mittel sie eigentlich herstellen wollte. Diese eine Zutat nicht zu haben, machte sie anscheinend rasend. Anscheinend weil sie Pläne verfolgte die nun unverhofft scheiterten und große Nachteile für sie bereithielten.
Ich schüttelte nur den Kopf darüber, während ich unsere mageren Hühner versorgte, die Küche aufräumte und das Gemüse des Vortages auskochte. Meine Mutter hielt nicht viel von Hausarbeit oder der Verwertung von Resten. Es war wohl einfach nicht ihre Natur.
Wie sie es mir aufgetragen hatte, brachte ich neues Feuerholz ins Haus. Wir hatten es in der Nähe unseres Gartens gestapelt und auf dem Weg fiel mein Blick auf Phelans Hütte.
Nach einer Runde Schlaf musste selbst ich mir eingestehen, dass mein Verhalten recht unfreundlich gewesen war. Anscheinend hatte er mir nur helfen wollen, doch ich hatte ihn in meinem verletzten Stolz beleidigt. Und noch etwas hatte ich in meinem Anfall von Stolz übersehen. Er hatte mich berührt und dies sogar freiwillig.
Natürlich hatte Badria dies ebenfalls getan, doch ich bezweifelte das mein Unglück auf sie abfärben würde. Sie war anders. In mir jedoch sah man eine Dienerin des Todes. Die Hand des Unglücks. Vielleicht sogar ein schlechtes Omen.Und sie hatten allen Grund es zu glauben, gerade vor dem Blutmond. Die Vergangenheit ließ sich nicht schön reden.
Doch entweder kümmerte sich Phelan nicht um derartiges oder er hatte meinen schlechten Ruf kurz vergessen. Was auch immer es war, er hatte mich zumindest nicht so weggestoßen wie Victor oder war zurückgewichen wie Alice. Und ich entschied mich ein bisschen gnädiger zu sein wenn es um ihn ging. Sofern es mir bei seiner Beziehung zu meiner Mutter möglich war.
Die Arbeit im Haus nahm noch weitere zwei Stunden in Anspruch, bevor ich mir mein Wolltuch nehmen und mich auf den Weg ins Dorf machen konnte. Der Himmel färbte sich bereits dunkler und ich war froh heute nur eine späte Schicht zu haben, weil Ruth die Rothaarige in die täglichen Abläufe einweisen wollte. Wahrscheinlich war sie froh, nicht nur mich um sich herum zu haben.
Doch bevor ich mich zur Arbeit einfand, trugen mich meine Füße zu einem anderen Haus. Ein Haus das einen ebenso zweifelhaften Ruf hatte wie ich. Nicht aufgrund des Inhaltes, eher aufgrund des seltsamen Besitzers.
Langsam schoben meine Hände die schwere Tür zur Seite und mein Körper schob sich durch einen engen Spalt ins Innere. Diese Tür war nie verschlossen und wenn man anklopfte würde es wahrscheinlich niemand hören.
Ich zögerte kurz, während ich die staubige Luft tief einatmete. Der Geruch nach altem Papier und Moder lag in der Luft. Lange Regalreihen führten durch den Raum, deren Bretter sich langsam durch das Gewicht diverser Bücher nach unten wölbten. Dieser zweifelhafte Ort war die Bibliothek des Ortes, vielleicht auch das Kuriositätenkabinett.
Pater Birch bezeichnete es oft als Ort der Sünde. Als Geburtsstätte ungläubiger Tätigkeiten. Eine Verachtung der Kirche. Wenn es nach ihm ging würde wohl alles hier brennen. Einschließlich mir selbst.
Die meisten Dokumente stammten aus der Zeit der Gründung und ich hatte schon immer den Verdacht, dass dieses Haus einen geheimen Zugang zum Kirchengewölbe besaß, wo die ältesten Dokumente gelagert wurden. Anders konnte ich mir das Wissen gewisser Personen nicht erklären. Und eben jene gewisse Person räusperte sich im staubigen Halbdunkel, während er gleichzeitig eine der zahllosen Kerzen des Hauses entzündete.
„Beehrst du mich auch wieder mit deinem Besuch?" Ich hörte einen Tadel aus der Stimme heraus und wandte mich um, während meine Wangen verräterisch glühten. Ich hatte gehofft ihm dieses Mal nicht derart unvorbereitet entgegen zu treten.
„Ich hatte viel zu tun." Es war ein halbherziger Versuch mich zu verteidigen, doch das Lächeln meines Gegenübers verriet mir, dass er mir kein Wort glaubte. Ich verstand mich selbst nicht, wenn ich diesen Ort besuchte. Oft brauchte ich auch eine Weile um mein aufgewühltes Inneres wieder zu beruhigen. Letzten Endes war ich wohl auch nur eine Frau die sich leicht aus dem Konzept bringen ließ.
„Man könnte fast meinen du würdest mich und mein bescheidenes Heim meiden. Habe ich deinen schlechten Ruf etwa bereits übertroffen?" Er nahm mir meine Abwesenheit zum Glück nicht übel und ich versuchte das Flattern in meiner Brust zu bekämpfen. Der Bewohner dieses Hauses war ebenso ein Fremdling wie Phelan, doch konnten sie unterschiedlicher nicht sein.
Moran Corvin war vier Jahre vor dem Jäger hier eingetroffen. Zusammen mit einem riesigen Wagen voller seltsamer Gerätschaften. Man vermutete er wäre ein reisender Händler gewesen, der vom Weg abkam und unglücklicherweise an diesem verfluchten Ort gelandet war. Für mich selbst ein Segen. Er war etwas über 30 Jahre alt, konnte sich aber wie alle Fremdlinge nicht an sein richtiges Alter oder seinen Namen erinnern. Der Wald schien diese Erinnerungen zu verschlucken, sobald ein Mensch zu tief und zu lange hinein geriet.
Im Gegensatz zu Phelan pflegte er sich, schien sogar ein bisschen eitel zu sein. Er war immer rasiert, sein Haar immer perfekt zurückgekämmt. Und sein Haar war es das die meisten hier faszinierte. Es war hellgrau, nahm Moran jedoch nichts von seiner Jugend. Seine Augen hingegen hatten einen sehr dunklen braunen Farbton, der in der Dunkelheit fast schon schwarz wirkte.
Seine Kleidung hob ihn von den meisten hier ab. Sie war stets elegant, sauber und faltenfrei. Keine Kleidung mit der man auf ein Feld ging oder schwere Arbeiten verrichtete. Nein, er war ein Mann der Bildung. Ein Mensch mit anderen Ansichten. Ansichten die ihm schon den ein oder anderen Streit eingebracht hatten. Vielleicht war dies der Grund für meine Faszination. Dies und anderes das ich mir noch nicht eingestehen wollte.
Locker lehnte sich der selbsternannte Bibliothekar und Wissenschaftler an eines der Regale, während er mich ohne jegliche Scheu musterte. „Also sag mir, was ist der Grund für deinen Besuch. Du willst mir sicher nicht nur einen guten Abend wünschen." Seine Worte rissen mich erneut aus meiner Faszination und sein Blick machte mich verlegen, auch wenn er nichts bedeutete.
„Ich möchte etwas über ein seltsames Zeichen wissen." fing ich an und hatte sofort seine volle Aufmerksamkeit. Eine Tatsache die ich genoss, denn mir hörte selten jemand aufmerksam zu.
„Ein seltsames Zeichen? Welcher Art?" Sein Ton zeigte mir eine Spur Neugier, was mich nicht verwunderte. Dieser Mann schien sich für alles zu interessieren und er hatte auf das meiste auch eine Antwort. Er schlug das meiste nicht einmal nach.
„Ein altes Zeichen glaube ich. Ich kann es schwer erklären." Der Grauhaarige Mann stieß sich von dem Regal ab und deutete mir mit einer Handbewegung an,dass ich ihm folgen sollte. Er führte mich an einigen Regalen vorbei bis zu einem alten Schreibtisch aus dunklem Holz. Es herrschte ein ziemliches Chaos an diesem Ort und es wunderte mich nicht, dass Moran einige Zeit suchen musste, bis er ein Blatt Papier und eine Feder mit Tinte auf den Tisch stellte.
„Zeichne es auf. Vielleicht kann ich dir dann mehr darüber sagen." Ich nickte fast schon zu automatisch und ermahnte mich innerlich zur Vernunft. Ich hätte zu allem Ja gesagt, was aus diesem Munde kam. Und diese Tatsache verstörte mich etwas. Nicht die Herrin meiner Sinne zu sein gefiel mir nicht. Es übertrug sich auf die Feder, welche ich kurz in meinen Fingern drehte, um die Nervosität herunter zu kämpfen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich ein Schmunzeln auf diesen vollen Lippen, die mich schon wieder in ihren Bann ziehen wollten. Hatte er auf alle Frauen diese Wirkung? Erneut ermahnte ich mich zur Konzentration. Ich zeichnete das Symbol auf.
Die Feder bewegte sich kratzend über das Papier, hinterließ hier und da einen Tintenfleck und ich hielt die Luft an, als sich Moran dicht neben mir über das Papier beugte. Er begutachtete meine unsaubere Zeichnung ohne etwas dazu zu sagen. Unsere Schultern berührten sich kurz und ich spürte wie mir fast schon schwindelig wurde vor Aufregung.
„Eine Triskele, auch Dreifuß genannt." Die nachdenkliche Stimme des Mannes holte mich aus meinen Tagträumen in die Realität zurück.
„Ein keltisches Symbol. Es dient dem Schutz gegen böse Mächte und steht für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft oder auch für die Geburt, das Leben und den Tod. Kurz gesagt: Für das Schicksal." Es schien ihn kurz zu amüsieren, denn sein Lächeln wurde etwas deutlicher.
„Ein ziemlicher Zufall, Ist dies nicht auch die Bedeutung deines Namens?" Mein Blick richtete sich recht verständnislos an ihn, denn nie hatte man mir erklärt was mein Name bedeutete. Und mein verwirrtes Gesicht schien Moran noch mehr zu amüsieren, denn es war eine Chance mit seinem Wissen zu glänzen.
„In der griechischen Mythologie..." begann er und ich fühlte mich ziemlich ungebildet. „...nannte man die Schicksalsgöttinnen Moiren. Sie sahen das Schicksal voraus und durchtrennten die Lebensfäden der Menschen wenn ihre Zeit gekommen war. Ein passender Name für dich, wenn man bedenkt, dass man dir nachsagt den Tod vorauszusehen und ihn mit einer Berührung sogar einzuladen."
Ich sagte nichts dazu, starrte stattdessen das Symbol lange an und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Passte dies alles nicht zu gut zusammen? Wie ein Puzzle das sich zusammenfügte. Hatte Badria mehr gewusst als sie zugab?
Ich traute mich nicht zu fragen was genau ‚griechisch' bedeutete. Dieser Mann sprach oft über Dinge die ich nicht verstand. Auch wenn er vergessen hatte wer er war, so schien er sich einen gewissen Fundus an Wissen bewahrt zu haben. Wissen das mir oft unglaublich und fremd vorkam.
„Wie kommst du überhaupt auf derlei? Mir war nicht bekannt das man an diesem entlegenen Ort sehr viel mit den Kelten zu tun haben könnte." Interesse schlug mir entgegen. Hatte ich dieses Symbol zu lange betrachtet? Sah man mir mein besonderes Interesse und all das was mich beschäftigte an? Ich wollte den Mund öffnen und diesem Mann ohne Zurückhaltung von den Erlebnissen des Vortages erzählen.
Eigentlich wollte ich ihm alles erzählen was in mir vorging. Jedes Geheimnis, jedes Gefühl, alles was mich beschäftigte. Doch etwas hielt mich davon ab. Der Punkt an dem Badria mit ihren Fingern die glatte Haut meiner Stirn berührt hatte fühlte sich heiß an. Wie ein entzündeter Stich, der sich brennend bemerkbar machte. Ich unterdrückte den Drang darüber zu streichen.
„Ich sah es in einem alten Buch. Eines dieser staubigen Dinger, die seit langer Zeit in Familienbesitz sind. Mutter nutzt sie für allerhand Kräutermischungen." Ich konnte selbst kaum glauben was ich gerade tat. Die Lügen kamen so automatisch und so fließend über meine Lippen, glaubhaft und neutral, fast so als hätte ich in meinem ganzen Leben kaum etwas anderes getan.
„Ich wollte sie nach der Bedeutung fragen, doch wie immer stand ihr nicht der Sinn danach." Das Flattern in meiner Brust verschwand plötzlich, fast so als wäre es nie da gewesen. Etwas veränderte sich an Morans Haltung. Ich hatte das Gefühl das sie augenblicklich abweisender wurde. Fast so als wäre er mit meiner Antwort nicht zufrieden.
„Die Kräuterheilkunst geht auf alte Überlieferungen zurück. Ich hätte mir denken können, dass du es nur irgendwo aufgeschnappt hast." Das schmeichelhafte Interesse schien zu abzuebben, ebenso wie die Wärme in seiner Stimme. Mir fiel auf, dass er in diesem Licht deutlich älter wirkte.
„Vielleicht solltest du das nächste Mal mit deiner Mutter darüber sprechen. Ihr Wissen ist in dieser Hinsicht ausgeprägter als das meine. Wenn ihr der Sinn danach nicht steht, dann solltest du einen Weg finden ihren Sinn zu wecken." Ich blinzelte verwundert, denn diese Reaktion konnte ich mir einfach nicht erklären. Wollte er mich jetzt tadeln? Weil ich seine Zeit gestohlen hatte? War mein Anliegen unter seinem Niveau?
Mit einem Mal hatte ich mich von der Frau der er Aufmerksamkeit schenkte, zu einem jungen, dummen Mädchen das seine Zeit stahl gewandelt. Ich schnaubte wütend und erntete dafür einen verwunderten Blick. Unzufriedenheit kannte dieser Mann von mir nicht. Und seinen nicht besonders hilfreichen Rat konnte er für sich behalten.
„Ich bin nicht männlich genug um ihren Sinn zu wecken. Entschuldige, wenn meine Frage zu einfach war, um deine langweiligen Tage mit Aufregung zu füllen." Ich ließ ihn beim Schreibtisch stehen. Ich wollte mich hier wirklich niemandem aufdrängen. Abweisung kannte ich immerhin schon zur Genüge. Ich wollte mir nicht sagen lassen das ich andere auch noch langweilte.
Der Staub zwischen den Regalen ließ mich kurz husten, während ich schnellen Schrittes zur Eingangstür des Hauses ging. Ebenso schnelle Schritte hinter mir und ein beherzter Griff nach meinem Arm brachten mich jedoch kurz davor zum stehen.
„Wenn ich dich beleidigt habe, so tut es mir Leid." Seine Stimme war nun samtweich.
„Ich hatte mir wirklich etwas Aufregung erhofft. An diesem Ort ist ein wacher Geist eingesperrt. Bis auf den Tratsch im Dorf, etwas Besuch und das was der Wald ausspuckt gibt es kaum etwas das mich fordert." Widerwillig drehte ich mich zu ihm um. Ich konnte ihn verstehen, doch die Tatsache das alles hier nur ein Zeitvertreib für ihn war schmerzte ein bisschen. Es waren nicht die Worte die ich am liebsten von ihm gehört hätte.
„Es ist der Käfig in dem wir alle sitzen. Wenn du etwas Aufregung willst, dann geh doch in den Wald." Und ich bereute diese Worte sobald ich sie ausgesprochen hatte. Denn das Interesse kam augenblicklich zurück. Und noch etwas. Misstrauen.
„Gibt es denn etwas aufregendes im Wald zu sehen?" Ich spürte wie der Griff um meinen Arm fester wurde.
„Und wenn ja, wie könntest du davon wissen? Dir ist sicherlich bewusst das eine junge Frau sich keinen Gefahren aussetzen sollte. Du wärst nicht die erste die bei einer unbedachten Wanderschaft verschwunden und in Fetzen wieder aufgetaucht wäre." Ich versuchte mich loszureißen, doch mein Gegenüber hatte mehr Kraft als ich es erwartet hatte.
Er sah mich nur an, mit verhärteten Gesichtszügen, auf eine Antwort wartend.
„Ich kenne die Geschichten. Wie jeder hier!" Meine Stimme glich einem Fauchen und ich bemerkte wie Moran kurz zurückschreckte, weil er diese Reaktion ebenfalls nicht erwartet hatte. Er sah eine unterwürfige junge Frau in mir, welche herumgeschubst wurde und die tat was man ihr auftrug. Eine Frau die ihn anhimmelte und sich deshalb seine Launen gefallen lassen musste.
Woher nur kam all meine Wut? Kam es davon das selbst er mit mir umging, als wäre ich ein nerviges Insekt? Zum erstem Mal sah ich neben meinen Gefühlen die Arroganz die er ausstrahlte. Er hielt sich für etwas besseres, weil er mehr wusste, weil er sich besser kleidete. Er gehörte in ein ganz anderes Leben, welches der Wald ihm genommen hatte.
„Wenn es dir in der Sicherheit des Dorfes zu langweilig ist, dann hör auf dich zu beschweren und geh in den Wald! Erkunde ihn! Wenn dies interessanter ist als der Besuch aus dem Dorf, dann hält dich niemand davon ab dein Glück zu versuchen." Es verschaffte mir etwas Genugtuung, dass er seine Worte nicht so schnell wiederfand.
„Und wage es nicht, mir erklären zu wollen, wie man sich als Frau verhält! Du tust mir weh, Moran! Also verhalte dich wie ein Mann mit Manieren und lass mich los!" Ein Argument das ihn wohl mehr traf als alles andere. Sein Griff löste sich und ich bemerkte eine gewisse Scham an ihm. Er hatte sich selbst und seine Manieren wohl kurz aus den Augen verloren.
„Du hattest anscheinend eine schlechte Nacht. Es ist das erste Mal, dass ich dich derart kratzbürstig erlebe. Der nahende Blutmond zehrt wohl an uns allen. Ich stehe die bei Fragen natürlich weiterhin immer gerne zur Seite, Moira." Es war für mich ein recht halbherziger Versuch sich zu entschuldigen oder mein Verhalten zu erklären. Ich nickte ihm kurz zu, ehe ich dann sein Haus verließ. Der Kontakt zu anderen Menschen endete bei mir anscheinend meist in einem Streit. Selbst bei denen die ich von mir überzeugen wollte.
Frustriert ging ich ins Wirtshaus, wo ich meinen heutigen Dienst antrat. Alice war bereits dort. Sie wurde von Ruth herum gescheucht. Vor lauter Hektik hatten sich ihre Wangen erneut gerötet und als ich eintrat warf sie nur einen kurzen Blick auf mich. Ihre gestrige Reaktion war mir noch gut in Erinnerung, weshalb ich ihr nur kurz zur Begrüßung zunickte. Eine Geste die sie vorsichtig erwiderte.
Der Schankraum schien schon gut gefüllt zu sein. Ich band mir meine Schürze um, rührte im Eintopf für den Abend und bemerkte wie Ruth aus dem Keller kam. Sie trug einen Sack Kartoffeln und fluchte über die faulen Männer in ihrer eigenen Familie. Als sie mich sah seufzte sie jedoch nur. „ Du bist wieder zu spät." Und sie hatte Recht damit. Wie immer entschuldigte ich mich und erntete dafür einen schlecht gelaunten Blick.
„Aber es ist gut das du da bist. Alice wird noch etwas Zeit benötigen um alles aus eigener Kraft zu schaffen. Sie ist wirklich ein süßes Ding, aber manchmal habe ich Angst sie könnte unter dem Gewicht ihres Tabletts zusammenbrechen." Ich musste mir ein leises Lachen bei diesen Worten verkneifen, während ich meine Hände damit beschäftigte einige Kartoffeln zu schälen.
„Sieht so aus als wären heute viele Leute hier. Gibt es dafür einen besonderen Grund?" Es war wirklich ungewöhnlich, denn die meisten trafen erst einige Stunden später ein. Meist gab es besondere Gründe für eine derartige Menschenansammlung. Geburtstage, Taufen oder anderes. Doch mir war kein derartiges Ereignis bekannt.
„Phelan hat einen Hirsch erlegt. Die meisten hier sind froh, wenn sie einmal etwas anderes als Huhn, Schwein oder Rind auf ihrem Teller sehen. Wenn sie überhaupt ein Stück Fleisch von den Oaks bekommen. Jonas wird immer geiziger wenn es darum geht. Ohne einen guten Vorteil lässt er sich kaum noch auf einen Handel ein. Welch Geizhals. Als hätten sie nicht schon genug!." Ich hielt kurz inne bei diesen Worten.
„Das klingt fast so als wäre Phelan großzügiger." Mein Ton sollte unauffällig wirken und anscheinend hatte es bei Ruth Erfolg.
„Weitaus großzügiger! Alles was er dafür verlangt ist eine warme Mahlzeit und etwas Bier. Andere sollten sich wirklich eine Scheibe von ihm abschneiden." Es waren Worte die mir zu denken gaben. Ich erinnerte mich an den Vortag. An meine harten Worte und daran ihm nicht gedankt zu haben.
Stur starrte ich auf die Kartoffel in meinen Händen. Auch wenn es mir nicht gefiel, ich schuldete diesem Mann etwas.
„Beeil dich mit den Kartoffeln. Sie kochen sich immerhin nicht von alleine," Der strenge Ton der Wirtin holte mich in die Gegenwart zurück und ich beeilte mich mit den Kartoffeln, während sie die ersten Bestellungen entgegennahm.
Einige Stunden später tauschte ich meinen Platz mit Alice. Sie wirkte ziemlich erschöpft und ließ sich auf einem der Stühle nieder, während ich mir eines der Tabletts nahm. Ich rechnete nicht damit das sie jemals noch einmal ein Wort an mich richten würde, doch in diesem Fall täuschte ich mich. Ich war kurz davor den Schankraum zu betreten, als ich ihre nervöse Stimme hörte.
„Warte kurz." Es war genug damit sich mich zu dem blassen Mädchen umdrehte, welches nur noch nervöser wurde.
„Ich möchte mich entschuldigen. Ich....." Sie unterbrach ihre Worte, als ich meine Hand hob und den Kopf schüttelte.
„ Du bist vorsichtig. Ich mache dir deshalb keinen Vorwurf." Ich bemerkte das meine Worte sie wohl nur noch mehr beschämten.
Unruhig rutschte Alice auf dem Stuhl herum, während ihre Finger an ihrem Ärmel zupften.
„Es war trotzdem nicht richtig. Du hast mich aufgefangen, obwohl wir deine Familie meiden. Du musst uns alle doch eigentlich hassen." Ich hob eine Augenbraue und bemerkte das die Rothaarige wohl viel darüber nachgedacht hatte. Sie war wirklich ein liebes Mädchen. Reiner als so manch andere hier. Denn ihr schlechtes Gewissen schien ehrlichen Ursprungs zu sein.
„Du meinst also ich sollte wütend sein und euch allen etwas schlechtes wünschen?" Meine Worte ließen sie zusammenzucken und sie suchte anscheinend nach Worten. Vielleicht war ich etwas zu direkt, doch ich hasste es um den heißen Brei herumzureden.
„Das wäre eine nachvollziehbare Reaktion." Ihre Stimme glich einem Flüstern und seltsamerweise musste ich lächeln. Vielleicht behielt dieser Tag doch noch ein Gespräch bereit welches nicht in einem Streit endete. Es hob meine Stimmung ein bisschen.
„Ich bin mit euch allen aufgewachsen. Ich weiß wie hart das Leben hier ist und das sich jeder vor dem fürchtet was uns allen alle 5 Jahre bevorsteht. Schlimmer als das ist nur der Nusskuchen den Rose Elm jedes Jahr zu Weihnachten backt." Ich bemerkte wie sich das Gesicht der Rothaarigen entspannte. Sie versuchte ein Kichern zu unterdrücken, während sie zustimmend nickte. Die Kochkünste einer Rose Elm waren gefürchtet und niemand der noch bei Sinnen war, würde freiwillig etwas davon kosten.
Ich beließ es bei diesen Worten und öffnete schnell die Tür zum Schankraum, bevor Ruth mich ermahnte endlich meinen Aufgaben nachzugehen. Rauch und Lärm schlugen mir entgegen. Gefolgt von lautem Lachen und den Rufen nach Bier. Die Stimmung war ausgelassen, was wohl an dem Eintopf lag, der sich schon jetzt dem Ende neigte.
Ich ging an den Tischen vorbei, brachte den Männern etwas Bier und blickte verstohlen zu der dunklen Nische die noch keine Bestellung aufgegeben hatte. Es wäre mir ganz Recht einen Grund zu haben den Jäger aufzusuchen. Doch im Verlauf den Abends musste ich feststellen, dass er heute wohl nicht seinen Weg hierher gefunden hatte. Es war seltsam, denn normalerweise schien ihn nichts vom Alkohol fernhalten zu können. Zumindest zu meiner Schicht schien er normalerweise immer anwesend zu sein.
Ich zerbrach mir den ganzen restlichen Abend den Kopf darüber. Selbst als ich einige Zeit später auf dem Heimweg war, fiel mein Blick unbewusst zur unbeleuchteten Hütte des Jägers. Nach meinem Ausflug in den Wald kam es mir seltsam vor, dass dieser Mann freiwillig so oft darin verschwand. War ihm noch nie etwas erschreckendes oder schlechtes darin widerfahren? Vielleicht war er einfach mutiger als ich.
Unser eigenes Haus war ebenso unbeleuchtet wie seine Hütte und ein Seufzen kam über meine Lippen. Meine Mutter war also wieder nicht dort. Ihre Anwesenheit am Vorabend war also doch nur ein Vorwand gewesen, um mich um einen Gefallen zu bitten.
Schweigend trat ich in unseren kalten Flur, nur um direkt danach in mein Zimmer zu verschwinden. Ich dachte an das kurze Gespräch mit Alice. Es stimmte mich glücklich, dass es immernoch Menschen gab, die mir vielleicht eine Chance geben würden. Vielleicht war der Gedanke in diesem Dorf einen besseren Stand zu erreichen, doch kein allzu unerfüllbares Ziel.
Ich entzündete eine Kerze, bevor ich mit entkleidete und in mein Nachthemd schlüpfte. Mein freier Tag stand bevor und ich würde ihn nutzen, um ein langes warmes Bad in unserem Badebottich zu nehmen. Leise summend kämmte ich meine Haare, bevor ich sie zu einem lockeren Zopf zusammenband.
Es war so wie ich es Alice gesagt hatte. Man musste sich mit den kleinen guten Dingen zufriedengeben, damit die finsteren Gedanken keine Oberhand nahmen. Und mit diesem aufmunternden Gedanken legte mich mich bald darauf schlafen.
~Der modrige Geruch nach feuchter Luft lag in der Luft. Blätter raschelten leise im Wind, während eine weibliche Gestalt den Boden absuchte. Ihre schwindende Sicht machte es ihr zunehmend schwer. Ich fühlte ihre Gedanken und es machte mich unruhig. Von dem was sie suchte versprach sie sich ein besseres Leben. Einen besseren Stand an diesem alten, verfluchten Ort.
Ich betrachtete ihre Hände. Ihre Haut zeigte mir die ersten Anzeichen des Alters. Falten. Adern. Altersflecken. Eine Tatsache die sie selbst anekelte. Sie konnte noch so viel Balsam auftragen, doch die Zeichen der Zeit schienen die Oberhand zu gewinnen.
Einst folgten die Blicke der Männer ihr. Und nun bemerkte sie wie sie sich immer mehr ihrer Tochter zuwandten. Einer verbotenen Frucht. Der süßesten Frucht von allen. Sie waren alle wie Tiere.
Ich ließ meinen Blick schweifen. Musterte die Lichtung, die mir selbst noch allzu bekannt war. Und ich wusste was diese Frau suchte. Doch um uns herum war der Wald. Und er sah uns zu. Beobachtete jede Bewegung. Lauerte uns auf wie ein riesiges Raubtier.
Ich wollte sie warnen, diese mir nur zu bekannte Gestalt. Doch aus meinem Mund schien kein Ton kommen zu wollen. Ich hatte keinen Mund. Ich war garnicht anwesend. Ich war wie der Wald. Ein Beobachter. Unfähig etwas zu tun. Unfähig etwas zu verhindern.
Ich sah wie ihre Finger endlich etwas ertasteten. Ich sah den Ausdruck von Freude in ihren Augen. Eine Bewegung die etwas aus dem Boden zog. Die Geräusche des Waldes erstarben fast augenblicklich, während ich wieder dieses seltsame Gefühl verspürte nicht mehr die Herrin meiner Sinne zu sein. Ein Schrei, markerschütternd und schrill, erfüllte die Dunkelheit.
Er bohrte sich in meinen Kopf, verursachte einen brennenden Schmerz in meiner Stirn. Vor mir sah ich wie meine Mutter eine Wurzel von sich warf. Ihre Augen vor Schreck geweitet. Ihre Hände legten sich auf ihre Ohren und sie stolperte zurück in die Dunkelheit.
Solange bis sie sich plötzlich umdrehte, aufgeschreckt von etwas anderem. Die Alraune überdeckte ihren eigenen Schrei, als sie von etwas gepackt und in die Tiefen des Waldes gerissen wurde.~
Meine Stirn fühlte sich an, als hätte man ein glühendes Stück Kohle darauf ausgedrückt. Es war dieser Schmerz der mich aus meinem Alptraum riss. Der Schmerz der diese schrecklichen Bilder verblassen ließ. Schweißgebadet setzte ich mich auf, versuchte verzweifelt meinen schnellen Atem zu beruhigen.
Jeder Atemzug schien zu stechen, als wäre ich gerannt ohne auf meine erschöpften Lungen Rücksicht zu nehmen. Mit den Fingern fuhr ich mir über meine verschwitzte Stirn, kniff die Augen zusammen, um den aufkommenden Kopfschmerz zu unterdrücken. Doch alles was ich erhielt war zusätzlicher Schwindel. Ich schaffte es eine Kerze zu entzünden und der warme Schein der Kerze und die Tatsache allein in meinem Zimmer zu sein beruhigten mich sehr. Obwohl allein nicht das richtige Wort war.
Am Ende meines Bettes saß eine kleine Gestalt. Unbewegt, als wäre es genau der Platz an dem sie sein wollte. Meine Alraune. Und ausnahmsweise erkannte man, wenn man genau hinsah, ein kleines Lächeln, auf ihrem verquollenen, wurzelartigen Gesicht.
Eisern starrte ich auf die Stelle vor meinen Augen. Versuchte meinem Gesicht keine Regung anmerken zu lassen. Noch immer hatte mein Bewusstsein die Ereignisse nicht verarbeitet. Ich selbst noch keinen Halt für mein Selbst gefunden.
Es war die Hand von Pater Birch die mich dazu brachte aufzusehen. In all diese neugierigen Gesichter, die ich seit Jahren kannte und die mir mit der Zeit doch so fremd geworden waren. Mir wurde langsam klar das sie irgendetwas von mir erwarteten. Etwas das ich in meiner Erstarrung nicht mitbekommen hatte.
Eine kleine hölzerne Schaufel befand sich in meiner Hand. Wie sie dorthin gelangt war, war mir selbst schleierhaft. Doch langsam verstand ich welche unausgesprochene Erwartung man an mich hatte. Wortlos nahm ich etwas Erde mit ihr auf, nur um sie anschließend in das Loch vor mir rieseln zu lassen. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie leise auf einem unscheinbaren Holzsarg, doch ich selbst achtete kaum darauf.
Erneut wanderten meine Gedanken zu den letzten Tage zurück, ohne das Geschehene wirklich zu begreifen. Ich erinnerte mich daran, wie ich die Wurzel angestarrt hatte. Daran wie sie mir mit einem verquollenen, wissenden Lächeln entgegen starrte. Auch wenn sie keine Augen besaß. Keinen Mund. All das entsprang meiner Fantasie. In der restlichen Nacht hatte ich keinen weiteren Schlaf gefunden. In den nachfolgenden Nächten ebenso wenig.
Als der Morgen anbrach, hatte ich mein Bad genommen, während die Bilder der Nacht nicht verschwinden wollten. Ich versuchte sie zu verdrängen, sie als Einbildung abzustempeln. Doch ein Teil in mir zweifelte. Lange hatte ich im tröstend warmen Wasser des hölzernen Badezubers gelegen, während die Stelle auf meiner Stirn verräterisch pochte. Fast so als wolle sie mich immer wieder an das Vergangene erinnern.
Lange hatte ich mir einreden wollen das meine Mutter in den nächsten Stunden zur Tür hereinkommen würde. Lange hatte ich wirklich daran geglaubt und in meinem Inneren über mich selbst gelacht. Sie würde sich wie immer über den Dreck beschweren. Oder über mich.
Sie würde über die Frauen im Dorf herziehen. Betrunken durch den Hausflur fallen. Oder mich einfach mit ihrer nervtötenden Art und Weise in den Wahnsinn treiben. Seltsamerweise wäre es mir dieses Mal willkommen. Denn es würde meine schreckliche Gewissheit als Unfug entlarven.
Doch aus den Stunden wurden Tage. Und mit jedem Tag wurde ich nervöser. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie tagelang nicht heim kam. Es war nicht ungewöhnlich, dass niemand wusste wo sie war. Doch konnte ich das Gefühl nicht loswerden, dass irgendetwas dieses Mal nicht stimmte. Zumindest für mich und das flaue Gefühl in meiner Magengegend.
Offensichtlich merkte man mir meine zunehmende Sorge an, denn Ruth fragte mich mehr als einmal, ob alles mit mir in Ordnung sei. Besonders nachdem ich mich ziemlich ungeschickt und vergesslich bei meinen Aufgaben zeigte. Doch stur wie ich war schob ich es auf den nahenden Blutmond. Wie alle es hier taten, wenn sie ihre wahren Gründe verbergen wollten.
Gewissheit bekam ich etwa eine Woche nach meinem Alptraum. Spät in der Nacht klopfte es an meiner Tür und drei mir gut bekannte Männer statteten mir einen Besuch ab. Pater Joseph Birch, Trunkenbold John Linde und Jeremiah Oak, der stets das inoffizielle Oberhaupt des Dorfes zu sein schien und bei allen wichtigen Entscheidungen einbezogen wurde.
Sie entschuldigten sich knapp für die späte Störung, nachdem sie sich selbst eingeladen und in der Küche Platz genommen hatten. Mir entging nicht, wie ihre Augen umherwanderten. Unsere Behausung schien ihnen nicht zu gefallen. Doch was erwarteten sie? Giftige Pflanzen und Tierschädel? Es gab hier beides, jedoch befand sich das meiste davon im Kräuterkeller. Unser Ruf war kein Geheimnis. Doch trotzdem empfand ich ihr Starren als Beleidigung.
„Vielleicht solltest du dich setzen.“ Pater Birch hatte sich geräuspert, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Niemand hier schien das erste Wort an mich richten zu wollen. Sie alle wirkten so, als wäre dieser Besuch eher eine schreckliche Bürde. Ihre Stimmung machte mich zunehmend nervös. Vielleicht lag es aber auch daran, dass diese Männer selten mit mir gesprochen hatten und ich nicht wusste wie ich am besten mit ihnen umgehen sollte.
„Ich stehe lieber.“ hatte ich misstrauisch geantwortet, bevor ein eisiger Blick mich traf. Natürlich. Eine Frau hatte sich zu fügen.
„Setz dich.“ Es war die kühle Stimme von Jeremiah. Er hielt nicht viel von mir. Man könnte fast schon sagen, er stand mir feindseelig gegenüber, obwohl er sich vor vielen Jahren im engsten Kreise meiner Familie bewegte. Mich bereits als Kind gekannt und in meinem Vater so etwas wie einen Bruder gesehen hatte.
Ich beschloss seiner kühlen Aufforderung zu folgen. Alleine mit diesen drei Männern zu sein behagte mir wirklich nicht und ich wollte sie nicht unnötig reizen. Hätten sie mir verkündet, dass ich beim nächsten Blutmond auf einem Scheiterhaufen brennen würde, so hätte es mich wieklich nicht überrascht. Die Art und Weise wie meine Mutter und ich lebten war ihnen ein Dorn im Auge. Zwei Frauen, ohne einen Mann, der ihren Haushalt in die richtigen Bahnen lenkte. Zwei Frauen die ihre Zunge nicht hüteten.
„Moira. Dies zu sagen fällt mir sehr schwer.“ begann Pater Birch. „Wir würden es dir auch gerne ersparen.“ Wieder ein Schweigen und ich ahnte welche Nachricht mir bevorstand. Mein Herz schien kurz für einige Schläge auszusetzen, während ich den folgenden Worten lauschte.
„Thomas ging heute Morgen in den Wald um weiteres Holz für den nahenden Winter zu schlagen. Die Oaks haben ihm ein Gebiet nahe ihrer Farm zugeteilt.“
Ich hörte ein Schnauben von Jeremiah, der sich wohl bei diesen Worten zusammenreißen musste. Der Pater traf wohl einen wunden Punkt.
„Rede nicht so, als würde uns das Gebiet oder der Wald gehören. Dieser verfluchte Ort fällt nicht in unsere Zuständigkeit. Von mir aus kann Thomas sein elendes Holz überall schlagen. Von mir aus darf er den ganzen Wald fällen!“ Ein Seufzen seitens Pater Birch, der bei diesen Worten nur den Kopf schüttelte. Dies war nicht der passende Augenblick für derlei Diskussionen.
Mein Blick fiel auf John Linde, der sich ruhig verhielt und Löcher in die Luft zu starren schien. Er war ledig, weil er mit seiner Art wohl bisher keine Frau von sich überzeugen konnte. Kein Wunder auch, denn er hatte nicht viel zu bieten. Er war ein kleiner, dicklicher Mann mit dünner werdenden Haaren. Oft erinnerte er an eine kleine verschüchterte Maus. Es gab diesen Hauch von Traurigkeit der ihn immer umgab und er suchte seine fehlende Freude laut meiner eigenen Erfahrung stets eifrig am Boden von Bierkrügen.
„Wie auch immer.“ fuhr Pater Birch fort. „Thomas ging etwas tiefer hinein als üblich, weil er Blutspuren sah. Er dachte es handle sich um ein verletztes Tier. Doch das was er am Ende fand war.....“ Die Männer tauschten verunsicherte Blicke und ich selbst spannte mich deutlich an. „...deine Mutter, Moira.“ Ich hörte wie Jeremiah noch leise zu sich selbst murmelte: „...oder zumindest das was von ihr übrig ist.“
Der Schock traf mich wie eine Welle kalten Wassers und es dauerte lange bis die Wärme in meinen Körper zurückkehrte. Ab diesem Punkt schien meine Erinnerung zu verschwimmen und die folgenden Tage in einem dunklen Nebel zu versinken. Mir war bewusst, dass die Männer an diesem Abend noch lange mit mir geredet hatten. Zumindest Pater Birch, der all das recht neutral zu betrachten schien, obwohl es ihn mehr betraf als alle anderen. Immerhin handelte es sich bei Evelyne Beech um seine eigene von der Familie verstoßene Cousine.
Hatte er überhaupt eine einzige Träne vergossen? Ich selbst hatte es getan. Viel später, als der Schock von mir abließ und ich wieder alleine war. Als ich realisierte, dass mein Traum kein Traum gewesen war und das schreckliche Schicksal meiner Mutter der Wahrheit entsprach. Es war eine Erkenntnis die mir schwer auf der Seele lag.
Hätte ich sie retten können, wenn ich ihr in den Wald gefolgt wäre? Hätte es einen Unterschied gemacht meinem Gefühl zu folgen? Es waren Fragen auf die ich keine Antwort finden würde, doch eines wusste ich. Ich würde meine Mutter nie wieder sehen. Ich hatte die Chance vertan mich mit ihr zu vertragen und sie so vieles zu fragen. Und diese Erkenntnis wog schlimmer als alles andere. Schlimmer als ich es jemals erwartet hatte.
Ich spürte wie Pater Birch mich vom Grab wegschob, während die Dorfbewohner nach und nach weitere Erde ins Grab fallen ließen. Es waren mehr Leute anwesend als erwartet. Ich vermutete, dass sie sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Meine Mutter war nicht besonders beliebt gewesen. Doch immerhin bot diese Beerdigung einige Möglichkeiten, um neue Gerüchte in die Welt zu setzen. Viele Rätsel die es zu ergründen galt.
Ich sah die Birches, die als entfernte Angehörige anwesend sein mussten, um nicht ihr hochnäsiges Gesicht zu verlieren. Die Pines, die mit ernster Miene am Grab standen und deren Sohn Victor mir nur stumm zunickte, um sein Beileid auszudrücken. Einige Willows, unter anderem Alice, die mir mehrfach mit glasigen Augen ihr Beileid ausdrückte. Beerdigungen schienen ihr sehr nah zu gehen. Jeremiah Oak, der mit verkniffener Miene neben dem Grab stand. Er schien der einzige Vertreter seiner großen Familie zu sein.
Ich sah John Linde, der als Bestatter für den Ablauf zuständig war. Wahrscheinlich war auch sein Beruf ein Grund für sein einsames Leben. Phelan der sich deutlich im Hintergrund hielt und mich wie ein Raubtier anstarrte ohne irgendein Wort des Beileids von sich zu geben. Moran Corvin der sich sichtlich bedrückt gab und mir anbot da zu sein, wenn ich über irgendetwas sprechen wollte. Wie alle anderen vermied er es, mich in irgendeiner Form zu berühren.
Da war Winston Cedar, der dem schweigsamen Thomas Elm tröstend eine Hand auf die Schulter legte. Letzterer hatte sich in den letzten Tagen sehr zurückgezogen. Er wirkte blass und verstört vom seinem Fund, dessen genaue Details man mir erspart hatte. Sein Bruder Samuel hingegen stand recht gelangweilt neben ihm und schien generell nur wegen seines Bruders anwesend zu sein.
Auf dem Weg zur Kirche wünschten mit die Maples viel Kraft, während Roland Cypress mir nur einen finsteren Blick schenkte und sich hinter meinem Rücken möglichst unauffällig bekreuzigte. Mir entging nicht, dass sie alle mich beobachteten und es war mir unangenehm im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Ich fühlte mich wie ein Kaninchen umzingelt von Wölfen. Und es brauchte nur einen kleinen Fehler, bis sie mich gnadenlos zerrissen.
„Mir scheint dein Stammbaum steht unter keinem guten Stern.“ seufzte Pater Birch und es brachte mich in die Gegenwart zurück. Meine Augen blickten unauffällig aus den Augenwinkeln zu ihm. Er war ein dünner Mann mit grauen Haaren und einem falschen Lächeln. Sorgenfalten zierten sein Gesicht, doch es waren Sorgen die nicht mir galten. Alles was ihn interessierte war das Überleben seines Blutes. Ich bemerkte wie seine Finger ruhelos mit dem Rosenkranz in seiner Hand beschäftigt waren und ich hätte ihm diesen gerne aus der Hand geschlagen.
„Bedenke bitte, dass wir den gleichen Stammbaum teilen.“ Meine ehrliche Antwort schien ihn zu verärgern. Und da wir uns außerhalb der Hörweite der anderen befanden, schien er seine Fassade des sorgenden Paters recht schnell abzulegen.
„Und du solltest bedenken, dass du kein Teil meiner Familie bist oder jemals sein wirst. Egal welches verdorbene Blut in deinen Adern fließt. Komm nicht einmal auf den Gedanken irgendwelche Ansprüche an uns zu stellen.“
Ich schüttelte nur leicht den Kopf, bei diesem beispiellosen Anflug von Nächstenliebe. Ich hatte nie irgendetwas von ihm oder den anderen gefordert und würde es auch jetzt nicht tun. Mein eigener Stolz würde es nicht zulassen vor ihm zu kriechen oder zu betteln.
„Keine Angst. Ich komme auch ohne die Güte der Familie Birch zurecht. Mir steht nicht der Sinn nach Streit und ich möchte niemandem hier Unbehagen bereiten.“ Alles was ich wollte war meine Ruhe. Ich wollte diese ganze Farce hinter mich bringen. Dieses schwarze Kleid ausziehen und mich auf meinem Dachboden verkriechen.
„Allein deine Anwesenheit bereitet Unbehagen. Von Anfang an. Die gottlose Verbindung deiner Mutter mit deinem Vater war nie vorgesehen. Und du siehst wie der Allmächtige es straft. Dein Vater erschlagen von einem Baum. Deine Mutter von den Tieren zerrissen im Wald. Dein Bruder....“ Es war mein eisiger Blick, der ihn zum Schweigen brachte. Dieses Thema schien selbst ihm unangenehm zu sein.
„Ich möchte dir damit nur eines sagen: Deine Familie stirbt aus, weil der Allmächtige es will und eure Sünden straft. Du bist die letzte Beech. Ein absterbender Ast einer schwachen Familie. Und vielleicht solltest du es dabei belassen und dein Schicksal akzeptieren, um nicht noch mehr Unheil für uns alle heraufzubeschwören.“ Mir wurde schnell bewusst was er mir damit sagen wollte. Wut breitete sich fast augenblicklich in mir aus. Und Scham. Wieso wagte er es, sich an diesem Tag ein solches Urteil zu erlauben?
„Du rätst mir von einer Ehe ab?“ kam es trocken von mir und ich wusste sofort das ich damit Recht hatte. Der alte Mann neben mir machte ein ernstes Gesicht und seine folgenden Worte waren ein harter Schlag für meinen Stolz.
„Ich bezweifle das du dafür überhaupt einen Kandidaten finden würdest. Doch eine ehrenhafte vor Gott geschlossene Ehe ist zur reinen Fortpflanzung nicht nötig. Die Sünde ist selbst an diesem Ort allgegenwärtig, wie es uns deine Mutter oft bewiesen hat. Ich möchte dir nur raten einen anderen besseren Weg zu beschreiten.“ Er blickte mich dabei nicht an. Sein Rat war selbstsüchtig und nicht gut gemeint.
Meine Wangen röteten sich vor Zorn. Sollte ich jetzt eine Nonne werden? War es so absurd, dass ein Mann Gefallen an mir finden konnte? So viel das er sogar die Ehe mit mir erwog? Plötzlich fühlte ich mich fürchterlich schmutzig und unattraktiv. Mit einem leichten Nicken wandte ich mich von Pater Birch ab. Ich hatte genug von seinen weisen Ratschlägen und an diesem Tag keine Kraft für Diskussionen über Gott und seinen Willen.
Ich ertrug den Leichenschmaus, der netterweise von den Oaks und den Pines gestellt wurde. Nicht weil sie mich besonders mochten, sondern weil sie sich als große Gönner aufspielen wollten. Weil sie zeigen wollten, dass sie für die Gemeinschaft da waren. Besonders in derart schweren Zeiten. Harold Pine nutzte die Gelegenheit um die Menschen nach dem Essen in seine Schenke zu locken und ich selbst verschwand irgendwann ohne das es überhaupt irgendjemand zu bemerken schien.
Mir stand der Sinn nach etwas Ruhe und noch immer war mein Inneres aufgewühlt. Ich trauerte um meine Mutter, auch wenn ich dies nie für möglich gehalten hatte. Neben all ihren Eigenarten war sie doch meine einzige Familie gewesen. Doch nun war ich vollkommen allein. Allein in diesem alten Haus und allein mit all meinen Sorgen. Und vor allem alleine mit diesen Menschen.
Ich schloss die Tür meines Heimes hinter mir, während ich tief durchatmete. Mir schwirrte der Kopf. Mein Körper schrie nach Schlaf. Doch der Gedanke in mein Zimmer zu gehen, wo diese Wurzel auf mich lauerte, ließ mich plötzlich erschaudern. Noch immer saß sie am Ende meines Bettes. Zumindest ging ich davon aus.
Jedes Mal wenn ich nicht hinsah, schien sich diese Pflanze zu bewegen. Manchmal war es das verquollene Gesicht, manchmal der kleine wurzelige Arm, der in einem anderen Winkel abstand. Sie einfach zu verbrennen wagte ich nicht. Noch immer hatte ich Badrias ernste Worte im Sinn, die mir rieten das Pflänzchen gut zu versorgen. Doch wie kümmerte man sich um eine gruselige Wurzel die ein Mensch sein wollte?
Ein kräftiges Klopfen an der Tür ließ mich abrupt zusammenzucken. Vollkommen überrumpelt stand ich da und starrte das Holz der Tür an, fast so als hätte es sich ebenso wie die Alraune verselbstständigt. Ein zweites, energischeres Klopfen folgte, während meine Abneigung die Tür zu öffnen wuchs. Waren nicht alle im Wirtshaus und taten so als wäre meine Mutter ein großer Verlust?
Langsam näherte ich mich der Tür, die ich langsam und mit einem gewissen Misstrauen öffnete. Ich sah bereits wie die Person davor ausholte um ein drittes Mal, mit sicherlich deutlich mehr Kraft anzuklopfen. Es war fraglich, ob die Tür einem dritten Schlag dieser großen Hand standgehalten hätte. Bei meinem Anblick erstarrte sie jedoch augenblicklich in der Luft. Ich erkannte sofort wer mein ungebetener Besucher war und meine Laune stürzte ebenso schnell ins Bodenlose.
„Das nächste Mal, öffnest du gefälligst beim ersten Klopfen.“ knurrte mir der bärtige Jäger entgegen und erntete dafür sofort meinen finstersten Blick. Was bildete er sich ein? Wieso sollte ich seine Befehle befolgen?
Wütend wollte ich die Tür einfach wieder zuschlagen, doch ich hatte nicht mit der Reaktionsgeschwindigkeit des kräftigen Mannes gerechnet. Er schob seine Hand schnell in den Spalt der Tür, nur um sie anschließend ohne große Mühe wieder aufzudrücken.
„Verschwinde!“ fauchte ich ihm wütend entgegen und spürte erneut diese heftige Abneigung gegen ihn. Phelan jedoch ignorierte mich und schubste mich ohne Zurückhaltung grob ins Innere des Hauses zurück. Er selbst trat einfach ungefragt ein, während er die Tür hinter sich zuschlug.
„Wir müssen reden, Mädchen.“ drohte er mir finster und erneut spürte ich Widerspenstigkeit in mir. Wütend stellte ich mich ihm in den Weg, vergas kurz all meine trüben Gedanken und schnaubte leise wie ein wildgewordenes Pferd.
„Ich denke nicht, dass wir irgendetwas zu bereden haben!“ Ich legte so viel Abweisung wie möglich in meine Worte und fühlte mich mutiger denn je.
Ich bemerkte, wie groß der Jäger eigentlich war, als ich versuchte mich vor ihm aufzubauen. Ich musste dabei zu ihm aufsehen, während er mit seinen hellen, stechenden Augen zu mir herabsah. Er wirkte einschüchternd, doch in meiner Wut ließ ich mich davon ausnahmsweise nicht beeindrucken. Und wieder schien den dunkelhaarigen Mann irgendetwas an mir zu amüsieren.
Ich erkannte es an einem kurzen Zucken seines dichten Bartes und an dem kühlen Grinsen das er wohl schnell wieder zu unterdrücken versuchte. Noch immer konnte ich diese Gesten nicht deuten.
„Mehr als du denkst.“ Dies war seine einzige Antwort auf meine Gegenwehr.
Er ging unbeeindruckt an mir vorbei, in die Küche, wo er sich wie jeder ungebetene Besuch, einfach auf einen der Stühle setzte. Erneut spürte ich eine Welle der Wut in mir hochkochen. War ich jetzt nicht einmal mehr die Herrin meines eigenen Hauses?
Ich folgte ihm. Doch Gegensatz zu ihm setzte ich mich nicht auf einen Stuhl.
Stattdessen lehnte ich mich gegen einen der Küchenschränke und griff unauffällig nach einem Messer, welches sich hinter mir befand. Ich traute diesem Mann einfach nicht und eine Waffe in der Hand zu halten gab mir etwas mehr Mut.
Phelans Blick lag wachsam auf mir und ich bemerkte das seine Hände ausnahmsweise sauber waren. Ebenso wie der Rest von ihm. Ein Fortschritt. Doch vielleicht lag es nur daran, dass man auf Beerdigungen einer verstorbenen Person etwas Respekt zollte. Abwartend sahen wir uns an und ich wartete darauf, dass er mir endlich sagte was er hier wollte.
„Ich sollte dir wohl mein Beileid bekunden.“ murmelte er grimmig und ich antwortete ihm nicht. Die meisten Beileidbekundungen schienen mir recht verlogen zu sein. Er konnte diese Worte also genauso gut für sich behalten.
„Und ich gebe zu es ist aufrichtig, wenn man bedenkt welche Folgen es für dich haben wird.“ Meine Augenbraue hob sich bei diesen Worten. Was kümmerten ihn die Folgen?
„Und welche sollten das wohl sein?“ Meine Worte klangen finster. Ich hatte mir über all das noch keine Gedanken gemacht und Phelan sah es mir wohl an. Was sollte sich groß an meinem Leben verändern? Meine Mutter hatte sich meist um andere mir nicht bekannte Dinge gekümmert.
„Eine junge Frau, alleine in einem abgeschiedenen Haus. Ich sollte dir nicht erklären müssen, welche Gefahren es beinhaltet.“ Verachtung schlug mir entgegen. Meine Unwissenheit schien ihn zu ärgern. Noch immer verstand ich nicht, was es ihn überhaupt anging.
„Ich komme gut alleine zurecht.“ erwiderte ich kalt. „Ich kann mich selbst versorgen und die Tiere aus dem Wald bleiben dem Haus in den meisten Fällen fern. Wovor soll ich mich also fürchten? Das einzige bedrohliche Wesen steht gerade ohne jegliche Einladung in meiner Küche.“ Er glaubte wohl ich würde mich ängstlich verkriechen, ohne meine Mutter.
Phelan stand augenblicklich auf und ich umfasste den Griff des Messers instinktiv etwas fester. Wenn er mir zu nah kam, würde ich mich wehren.
„Vor den Tieren im Dorf.“ antwortete er mir ruhig, auch wenn er sich wohl dazu zwingen musste. Und erneut verwirrte er mich mit seinen Worten.
„Welche Tiere?“ Ich dachte an Kühe, Schafe oder den alten Hund der Oaks. Was sollte an denen gefährlich sein? Erneut schien meine Verwirrung den kräftigen Mann zu verärgern und seine Augen glühten vor Zorn, weil er wohl glaubte ich würde ihn zum Narren halten.
„Die Männer, du dummes Ding.“ knurrte er mir entgegen, während sich seine Hände kurz zu Fäusten ballten.
„Weshalb sollte ich mich vor ihnen fürchten?“ Ich dachte an Victor. Er hatte eine große Klappe, doch mehr auch nicht. Ich dachte an Moran der mir nie etwas antun würde. An die Söhne der Oaks die mich nur beobachteten wie ein exotisches, giftiges Tier.
„Ich kenne sie alle seit Jahren. Wieso sollten sie für mich gefährlich sein?“
Ein ungläubiges Zischen ertönte und Phelan schüttelte den Kopf während er einen Schritt auf mich zutrat.
„Bist du derart naiv?“ fragte er mich und ich fasste es als Beleidigung auf. Er hielt mich nicht für naiv sondern für dumm!
„Was glaubst du? Weshalb hat man euch in den letzten Jahren in Ruhe gelassen? Zwei Frauen, ungeschützt, nahe des Waldes?“ Ich hatte so schnell keine Antwort darauf und biss mir stur auf meine Unterlippe.
„Weil deine Mutter einen großen Nutzen hatte. Man konnte es sich nicht erlauben sie zu verärgern.“ erklärte er mir. Der Jäger trat noch einen weiteren Schritt auf mich zu, während er mich sichtlich genervt musterte.
„Sie war eine intelligente und scharfsinnige Frau, wenn auch schwach in ihren Begierden. Sie hatte die Bewohner des Dorfes in der Hand, spielte ihre Karten klug aus ohne einen Nachteil daraus zu ziehen. Etwas das sie dir wohl voraus hatte.“ Zorn wallte bei diesen Worten in mir auf und ich musste mich zurückhalten, um meine Selbstbeherrschng nicht zu verlieren. Ich zwang mich tief durchzuatmen.
„Sag mir, Moira. Wer wird jetzt die Hebamme sein? Oder die Engelmacherin? Oder die Person die man anspricht, wenn es um die Heilung diverser Gebrechen geht. Wohin gehen die Oaks wenn ihre Tiere krank werden? Es ist eine Situation die du nutzen solltest, bevor man dir einen anderen Nutzen gibt.“ Er musterte mich vielsagend. Musste ich mir diese Belehrungen wirklich gefallen lassen?
„Ich arbeite bei den Pines. Wieso sollte ich die Aufgaben meiner Mutter übernehmen, wenn ich ein anderes lohnenderes Auskommen habe? Sie hat für ihre Arbeit wenig Dank erhalten. Viel mehr war es Abscheu. Ihre Verdienste reichten nicht einmal ansatzweise für uns beide.“ Ich erhielt etwas mehr Selbstbewusstsein durch diese Worte von deren Wahrheitsgehalt ich mehr als überzeugt war. Doch Phelans Schnauben machte es fast sofort wieder zunichte.
„Und du glaubst, dass es nach den Ereignissen so bleiben wird? Du hörst nicht was sie reden und siehst nicht welche Auswirkungen es hat. Denkst du Ruth wird das Mädchen bei sich behalten, dass ihrer Mutter derartiges Unheil gebracht hat? Glaubst du Harold akzeptiert es, dass du deine Kundschaft vertreibst?“ Seine gnadenlose Ehrlichkeit machte mir zu schaffen. Erneut biss ich mir wütend auf die Unterlippe bis ich Blut schmeckte.
„Sie würde niemals....“ setzte ich an, doch er schnitt mir das Wort ab.
„Jeder hier denkt an sein eigenes Überleben. Ruth, Harold und auch alle anderen. Sie sind wie Tiere. Und die Männer hier gehören zu den gefährlichsten Raubtieren die du im gesamten Wald finden wirst. Sie solltest du in deiner Lage fürchten. Nicht das Gerede oder einen leeren Magen. Du meinst sie alle zu kennen, doch glaube mir, ich verstehe ihr Wesen besser als du.“ Noch einen weiteren Schritt trat er an mich heran und ich verspürte eine gewisse Angst in mir aufsteigen.
„Wir sind wie Jäger. Manche von uns bevorzugen eine gute Jagd und eine Trophäe mit der wir ein Leben lang angeben können. Andere jedoch, mögen leichte Beute. Verbotene Früchte die sich niemand zu pflücken traut. Oder sie sehnen sich nach Abwechslung, weil der alte Hirsch auf dem sie seit Jahren herum kauen fad geworden ist.“
Ich wich instinktiv einen Schritt zurück und versteckte das Messer weiterhin hinter meinem Rücken. Etwas an seinen Worten verunsicherte mich und ich fragte mich plötzlich zu welcher dieser Jäger-Kategorien mein Gegenüber gehörte.
„Selbst wenn etwas Wahres an deinen Worten ist. Sie werden wissen, dass ich ihnen helfen kann. Und ich bin durchaus in der Lage mich gegen sie zu behaupten, wenn sie es überhaupt wagen sollten mich bei meinem Ruf zu berühren. Ich bin.....“ Und in diesem Augenblick reagierte er schneller als ich.
Mit einer fließenden Bewegung hatte er mich gepackt und mich an die nächstbeste Wand gedrückt. Seine große, kräftige Hand drehte meine beiden Arme in einem schmerzhaften Winkel nach oben und er zwang mich so das Messer fallen zu lassen.
Ich hörte wie ein zischender Laut über meine Lippen kam, als stechende Schmerzen durch meine Arme fuhren. Der Griff des Jägers war so fest, dass ich mich nicht daraus befreien konnte und mit seinem Körper fixierte er mich so, dass ich nicht einmal nach ihm treten konnte. Ich saß in der Falle. Wegen meiner eigenen Unachtsamkeit für die ich mich gerade verfluchte.
Wütend sah ich in seine hellen Augen und wieder schlug mir dieser amüsierte Ausdruck entgegen. Langsam wurde mir klar was er bedeutete. Und es verbesserte mein inneres Brodeln nicht. Er machte sich über mich lustig. Noch schlimmer, er hatte jeden Grund dazu. Schamesröte stieg mir in die Wangen, als mir bewusst wurde das ich mich wie ein übermütiges Kind aufführte.
„...nur eine schwache Frau mit einem sehr losen Mundwerk.“ beendete er meinen Satz. „Niemand hier kennt deinen Wert bis zu ihn bewiesen und gut verkauft hast. Und du wirst dich nicht einmal gegen den Schwächsten von ihnen behaupten können.“ Seine Stimme klang plötzlich deutlich rauer.
Ich spürte mit einem Mal, wie sich seine freie Hand bewegte. In eine Richtung die mir wirklich nicht gefiel. Ich bemerkte wie er meinen Rock raffte und sich eben jene Hand anschließend unter den dunklen Stoff schob. Erschrocken hielt ich die Luft an, als ich seine Berührung auf der nackten Haut meines Oberschenkels spürte. Spürte wie sie ohne zu zögern höher wanderte. Der heftige Schock darüber ließ mich augenblicklich erstarren.
„Wie auch die Tiere folgen wir unserer Natur. Und auch dein Ruf und das Unheil das du angeblich bringst, wird dir dabei wenig helfen. Ebenso wie das hier....“ Ich spürte wie er etwas aus dem Stoff meines Unterkleides zog und klirrend zu Boden fallen ließ. Es war ein weiteres kleines Messer, welches ich dort verborgen hatte. Nur zur Sicherheit.
„Doch vielleicht bist du dir der Gefahr doch mehr bewusst, als du mich glauben machen willst.“ Phelan ließ unbeeindruckt von mir ab und trat einen Schritt zurück. Die Demonstration seiner Kraft und meiner Schwäche war beendet. Ein Sieg den er sichtlich auskosten wollte. Er öffnete bereits den Mund, um erneut das Wort an mich zu richten, doch ausnahmsweise kam ich ihm zuvor.
Man hörte das Klatschen wahrscheinlich bis in den Flur und auch wenn sich meine Hand anschließend so anfühlte, als hätte ich sie mit voller Wucht gegen einen Felsen geschlagen, so genoß ich gleichzeitig den Ausdruck der Verwunderung in den Augen des Jägers. Meine Ohrfeige hatte ihn kalt erwischt. Es beraubte ihn sogar kurzzeitig seiner kühlen Fassade. Seltsamerweise ließ ihn dieser Ausdruck wesentlich jünger wirken.
Hatte er wirklich geglaubt ich würde mich einfach so von ihm anfassen lassen? Ich wusste nun wer das gefährlichste Raubtier in diesem Dorf war. Mit einer schnellen Bewegung zog ich meinen Rock zurecht, nur um fast gleichzeitig einen deutlichen Sicherheitsabstand zwischen uns zu bringen. Meine Wangen glühten wie Feuer und zumindest eine von seinen hatte eine ähnliche Farbe angenommen.
Phelan brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen. Ich sah wie er die Augen schloss und sich eine Falte zwischen seinen Augen bildete, als würde er angestrengt nachdenken. Sein Gesicht war angespannt vor Wut. Überlegte er ob er zurückschlagen sollte? Meine Augen wanderten kurz zu den Messern am Boden, doch leider befanden sie sich außerhalb meiner Reichweite.
„Welch kratzbürstiges Weibstück du doch bist.“ kam es irgendwann bebend über seine Lippen.
Zumindest nannte er mich nicht mehr ‚Mädchen‘ und ich bildete mir ein er würde mich jetzt etwas ernster nehmen.
„So wie du dich zierst könnte man meinen, derartige Berührungen seien dir fremd.“ Er schien etwas zu begreifen, während er diese Worte aussprach und sein Blick richtete sich fast augenblicklich ungläubig auf mich.
Etwas an diesem Blick beschämte mich, auch wenn ich meine Vorsicht beibehielt. Ich ertappte mich dabei wie ich zum ersten Mal seinen hellen Augen auswich, während ich am liebsten im Boden versunken wäre. Was dachte dieser Mann von mir? Das ich das Bett mit allen möglichen Männern teilte, so wie meine Mutter? Etwas an meiner Reaktion schien ihn sichtlich zu verunsichern.
„Kein Wunder, dass du blind bist für die Gefahren hier.“ Ich hörte Frustration aus seiner Stimme heraus.
„Das ein Mädchen sich in diesem Alter und bei so einer Mutter die eigene Tugend bewahren konnte...ich frage mich was derart abschreckend auf die Männer hier gewirkt hat.“ Gnadenlose Ehrlichkeit. Erneut. Er streute noch mehr Salz in meine offene Wunde und ohne über die Folgen nachzudenken, griff ich in meinem verletzten Stolz nach dem erst besten Objekt.
Es entpuppte sich als Kartoffel, die seinen Kopf knapp verfehlte und an der Wand hinter ihm abprallte. Es ließ den Jäger zumindest kurz zusammenzucken, ehe sich wütende Augen auf mich richteten. Derartige Angriffe würde er sich kein drittes Mal gefallen lassen. Da war ich mir sicher. Doch wie ein verletztes, in die Enge getriebenes Tier fuhr ich meine Stacheln aus.
„Es reicht mir! Verschwinde endlich! Ich habe genug von deinen Beleidigungen! Ich muss mir von einem ungepflegten Jäger nicht sagen lassen, dass ich zu abschreckend bin, um einem Mann zu gefallen.“ Wut brannte in mir und Zornestränen stiegen langsam in meine Augen. Mein Maß war voll. Der Jäger schien zu bemerken, dass er es wohl übertrieben hatte, doch eine Entschuldigung kam ihm trotzdem nicht über die Lippen.
Er hob abwehrend seine Arme, auch wenn seine ganze Haltung weiterhin grimmig und stur wirkte. „Ich habe nichts dergleichen gemeint.“ knurrte er verteidigend. Doch es reichte mir nicht. Er glaubte mir überlegen zu sein, mischte sich in Dinge ein die ihn nichts angingen und beleidigte mich unentwegt.
Meine Hand griff bereits nach dem nächsten Gegenstand und dieses Mal würde es ein Steinmörser für Kräuter sein. Ich bemerkte das es dieses Mal der Jäger war der zurückwich. „Hör dir gefälligst an, weshalb ich hier bin.“ zischte er mir wütend entgegen, doch meine Geduld war aufgebraucht.
„Du hattest genug Zeit um dich zu erklären. Ich habe nicht vor deine Dirne zu werden, so wie es meine Mutter war!“ Erneut schien er überrumpelt zu sein, doch der steinerne Mörser flog so schnell auf ihn zu, dass er nicht antworten konnte. Mit einer schnellen Bewegung fing der das Objekt in der Luft auf, nur um es anschließend mit einem lauten Knall auf den Holztisch zu stellen.
„Was für ein Irrsinn. Ich bin hier, um dir zu helfen.“ Doch als ich bereits nach dem nächsten Gegenstand tastete, schien er sein Vorhaben zu überdenken. Er beobachtete meine Bewegungen und ich konnte sehen, wie er nach den passenden Worten suchte. „Doch anscheinend bist du sehr undankbar, wenn es darum geht Hilfe anzunehmen.“
Ich bemerkte wie sich seine großen Hände zu Fäusten ballten. Vielleicht bemerkte er gerade, dass er mein Vertrauen mit seiner unsittlichen Berührung verspielt hatte. Und ich bemerkte das dieser Mann offensichtlich keine Ahnung hatte wie man mit Frauen umging. Er schien in dem Gespräch mit mir sein Bestes zu versuchen und scheiterte an seiner eigenen ungehobelten Art.
„Wir werden sehen, ob du bei deinem Standpunkt bleibst!“ drohte er mir, bevor er sich plötzlich einfach abwandte. Ich hatte es wohl geschafft ihn endlich zu vertreiben. Wie auch immer ich dies angestellt hatte. Phelans schwere, wütende Schritte im Flur und das Knallen der Haustür verrieten mir kurze Zeit später, dass ich endlich allein sein würde.
Für einen langen Augenblick blieb ich in der Küche zurück. Starrte auf die Stelle an der mein ungebetener Gast gestanden hatte, ehe meine Beine unter mir wegsacken wollten. Ich hatte es geschafft mich in seiner Gegenwart nicht einschüchtern zu lassen, doch nun gab mein Körper nach.
Ich fühlte mich, als hätte ich für mehrere Minuten einem riesigen, zähnefletschenden Wolf gegenüber gestanden, der unschlüssig war ob er mich beißen oder wütend besteigen sollte. Ein Gedanke den ich so schnell wie möglich wieder verdrängte.
Ich zog mich schnell auf einen Stuhl, wo ich mein Gesicht in den Händen vergrub und tief durchatmete. All das war zu viel für mich, doch eingestehen konnte ich es mir noch nicht. Und ich ahnte noch nicht, wie schnell ich dazu gezwungen sein würde Phelans Hilfe anzunehmen.
Meine Nacht verlief unruhig. Ich hatte nach Phelans Besuch alle Türen doppelt verriegelt und mich vergewissert, dass niemand um mein Haus herumschlich. Es war nicht so das ich seine Worte glaubte, aber vorsichtig zu sein schadete sicher nicht.
Anders als die anderen sah ich vor mir, wie meine Mutter in die Dunkelheit gerissen wurde. Hörte das Reißen von Fleisch und sah Blut das den Waldboden bedeckte.
Oder zumindest hatte ich diesen Teil des Traumes verdrängt, der mir bereits schon lange vorher verraten hatte, was genau mit meiner Mutter geschehen war. Man dachte ein Rudel Wölfe hätte sie überfallen, doch in meinem Traum schien es im Höchstfall einer gewesen zu sein. Ein riesiges Untier das nicht viel von ihr übrig gelassen hatte.
Ich lag in der Dunkelheit, während ich die dicken Balken anstarrte, die mein Zimmer durchzogen. Ich hätte natürlich in das Zimmer meiner Mutter umziehen können, fühlte mich mich dazu aber noch nicht in der Lage. In ihren Sachen zu wühlen fühlte sich falsch an. Doch vielleicht sollte ich es nicht zu lange aufschieben, wenn ich Antworten auf meine Fragen erhalten wollte.
Mein Kopf hob sich und ich sah zum Ende meines Bettes. Die Alraune war verschwunden. Sie saß stattdessen auf meiner Kommode und sorgte erneut für einen eiskalten Schauer in meinem ganzen Körper. Ich hatte sie nicht dorthin gesetzt. Generell vermied ich es dieses Ding zu berühren. Ich musste wissen, wieso meine Mutter so viel für diese Pflanze aufs Spiel gesetzt hatte. Musste wissen, ob es dieses Risiko wert gewesen war.
Natürlich waren mir die vielseitigen Anwendungen dieser Pflanze gut bekannt. Sie wirkte schmerzstillend. Beruhigend. In höheren Mengen sogar berauschend. Vielleicht stand eine Geburt bevor und ihre Mutter hatte sie deshalb benötigt. Doch neben den positiven Effekten konnte eine Alraune auch toxisch wirken.
Ich erinnerte mich an die Kräuter auf unserem Küchentisch. Giftige Kräuter. Nicht unüblich für eine Hebamme. In der Kombination mit einer Alraune wirkten sie aber abtreibend. Nicht unüblich für eine Engelmacherin. Doch für derlei gab es auch andere Mixturen. Ich musste also in Erfahrung bringen, wem meine Mutter aktuell bei gewissen Beschwerden half.
Unruhig setzte ich mich auf und kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Die Puzzleteile wollten sich einfach nicht zu einem Bild zusammensetzen lassen. Ich hatte die lange Abwesenheit meiner Mutter nie hinterfragt. Immer gedacht sie würde ihre Nächte in den Betten diverser Männer verbringen. Doch hatte sie vielleicht andere Dinge getan?
Phelans Worte kamen mir in den Sinn. Der Ratschlag in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten. Hatten ihre Dienste eine derartige Bedeutung? Wenn ich genau darüber nachdachte, hatte ich nie hinterfragt welchen Stellenwert wir für die anderen hatten. Ich hatte nie hinterfragt woher all das Misstrauen kam. Vielleicht war es die Tatsache, dass man auf Frauen wie uns angewiesen war.
Der abnehmende Mond warf sein Licht in meinen kleinen Raum. Es ließ Schatten über die Wände tanzen, während meine Finger über diese eine Stelle an meiner Stirn strichen. All das Unheil hatte mit meinem Besuch im Wald begonnen. Mit dem Besuch bei dieser altem Hexe. Auch dies musste ich in Erfahrung bringen. Wer war Badria?
Erneut sah ich zu der Alraune, deren Kopf sich etwas schief gelegt zu haben schien, fast so als würde sie versuchen meinen Gedanken zu folgen. Langsam hob sich meine Hand zu ihr und es kostete mich einige Überwindung, die wurzelige Gestalt zu berühren. Noch immer ging von ihr ein erdiger Waldgeruch aus. Wie ein Haarschopf standen Blätter und violette Blüten von ihr ab.
„Ich habe nicht vor dich für meine Salben oder Mixturen zu verwenden. Also behalte dein Unglück für dich.“ flüsterte ich der Wurzel zu. Seltsamerweise tat es gut einen Gesprächspartner zu haben. Und wenn ich die Dinge die mich beschäftigen laut aussprach, so fand ich vielleicht eine offensichtliche Antwort auf meine Fragen. Oder ich wurde einfach verrückt.
„Badria sagte ich solle mich gut um dich kümmern, doch ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung was dies bedeuten könnte.“ Das kleine verquollene Gesicht war ausdruckslos und ich begann damit die Wurzel im Mondlicht zu drehen.
„Sie sagte auch du willst ein Mensch sein. Was du daran findest verstehe ich jedoch nicht. Es wird dir nur Kummer bringen.“Keine Reaktion. Frustriert legte ich die Wurzel wieder auf meine Kommode und schüttelte über mich selbst den Kopf.
Es war das Geräusch brechenden Holzes, welches mich aus meinen Gedanken riss. Es war leise, jedoch ahnte ich woher es kam. Meine Hand griff zu dem alten Kerzenleuchter, welcher ebenfalls auf der Kommode stand. Ein Gedanke ließ mich jedoch inne halten.
‚Das wäre dumm.‘ Verwirrt blinzelte ich, ohne zu wissen woher dieser seltsam logisch klingende Eindruck kam.
Ein weiteres Geräusch ließ mich aufschrecken. Mit einer schnellen Bewegung stieg ich aus meinem Bett, um aus dem Fenster zu sehen. Auf dieser Seite des Hauses war nichts zu erkennen. Langsam und in vollkommener Dunkelheit verborgen, verließ ich mein Zimmer und stieg ich die Treppen des Hauses herab. Meine Füße mieden dabei die einzelnen verräterisch, knarzenden Stufen.
Ich war gerade im Hausflur, der zum Glück dunkel und verlassen vor mir lag, als ich ein Rütteln an der Vorder- und anschließend an der Hintertür vernahm. Irgendjemand versuchte wohl ins Haus zu gelangen. Oder prüfte zumindest ob ich so töricht war die Türen nicht zu verschließen. Das Herz in meiner Brust schien kurz auszusetzen, als ein Schatten vor dem Fenster erschien.
Mein Körper drängte sich fast automatisch in die schützende Dunkelheit zurück, während mir das Blut in den Adern gefror. Im fahlen Mondlicht erkannte ich eine Gestalt, die eine hölzerne Maske trug. Ich kannte diese Masken, denn sie wurden vor jedem roten Mond geschnitzt und während dem großen Feuer verbrannt.
Was mir entgegen starrte war eine Wolfsmaske. Bedrohlich mit gefletschten Zähnen. Der Träger bewegte sich am Fenster, versuchte es zu öffnen und starrte lange ins Innere des Hauses. Irgendwann gab er seine Versuche wohl vorerst auf, weil ihn etwas anderes abzulenken schien. Zum Glück hatte ich keine Kerze dabei, die meinen Standort verraten hätte und ich dankte meiner inneren Eingebung dafür.
Die Person verschwand wieder von dem Fenster und als ich mir sicher war, das mir keine neugierigen Augen folgten, trat ich langsam wieder vor, um geduckt durch den dünnen Schlitz der Hintertür zu sehen. Ich war sehr froh mich derart eingeschlossen zu haben, denn wenn ich die Geräusche draußen richtig einordnete hatte ich nicht nur einen Besucher.
Meine Augen versuchten etwas zu erkennen, doch auch die anderen Gestalten waren in der Dunkelheit kaum erkennbar. Ich meinte eine Fuchs- und eine Bärenmaske zu sehen. Bemerkte das ihre Bewegungen etwas ungelenk waren, fast so als wären sie berauscht. Waren es die Jungen der Oaks, die sich einen Scherz mit mir erlaubten? Oder Victor mit ein paar anderen Männern?
Wut breitete sich in mir aus. Wer nur wagte es mich derart zu erschrecken und auf meinem Grundstück herum zu wüten? Gerade an diesem Tag? Meine Angst wandelte sich brodelnden Zorn, denn ich nie zu kontrollieren wusste. Alles was ich wollte war etwas Ruhe. Doch dies war mir erneut nicht vergönnt.
Ich griff nach dem Besen, der in einer Ecke des Flures stand, ehe ich entschlossen auf die Hintertür zutrat. Wer auch immer es war, ich würde mich so gut wehren wie es mir möglich war. Ich würde jedem hier beweisen, dass ich keine dumme, schwache Frau war. Kein Fußabtreter für jeden der hier zufällig vorbeikam. Es war mein Grundstück und ich würde es verteidigen.
'Das was du gerade versuchen willst, ist das dümmste was du gerade tun könntest.‘ Wieder hatte ich fremde, kritische Worte im Sinn, doch ich schob sie zur Seite. Selbstzweifel waren jetzt nicht angebracht. Ich brauchte meinen gesamten Mut für das Folgende, denn erneut hörte ich brechendes Holz und das erste Kreischen meiner armen, verängstigten Hühner.
Meine freie Hand legte sich auf den Knauf der Tür. Meine Finger umschlossen entschlossen das kühle, kalte Metall. Tief atmete ich ein, während mein Herz hart gegen meine Rippen schlug und ich in meinem weißen Nachthemd stark fröstelte. Ich drehte den Knauf und dann wurde alles schwarz.
...
Leises Zwitschern drang in mein Bewusstsein, ebenso wie ein stechender Kopfschmerz. Mein Körper fühlte sich zerschlagen an, denn der harte Holzboden unter mir war kein besonders erholsames Nachtlager gewesen. Ich lag auf dem Rücken. Der Stiel eines Besens in meiner Nähe. Ein kühler Luftzug drang durch den Spalt einer leicht geöffneten Tür und erstes Tageslicht brannte in meinen müden Augen.
Im ersten Moment war die Welt verschwommen. Verständnislos blinzelte ich durch eine dicke, dunkle Haarsträhne hindurch, die mir im Gesicht lag. Meine Hand zu heben, um sie zur Seite zu streichen, kam mir wie ein gewaltiger Kraftakt vor. Ebenso wie das anschließende Aufsetzen. Anscheinend war ich ohnmächtig geworden. Schon wieder. Und so langsam bereitete es mir Sorgen.
Dieses Mal gab es keinen Jäger der mir aufhalf. Dieses Mal lag ich in meinem eigenen Hausflur. Spärlich bekleidet mit einem Nachthemd und mit wirren, zerzaustem dunklen Haar. Hatte ich so wirklich hinausgehen wollen? Meine Hand stieß gegen einen Gegenstand und als ich ihn hochhob entpuppte er sich als eine gewisse, gruselige Wurzel. Ich erinnerte mich nicht daran sie mitgenommen zu haben.
Mein Kopf wollte sich gerade keine Gedanken darum machen. Etwas anderes kam mir viel wichtiger vor. So wichtig, dass ich mich schwankend auf meine Beine kämpfte, mir eine der Decken griff, um mich zu bedecken und barfuß nach draußen trat. Mein Atem stieg in kleinen Wolken vor mir auf. Kaltes, nasses Gras berührte meine Knöchel. Doch meine Schritte waren hastig.
Schon nach ein paar Metern sah ich die ersten Bretter. Zerbrochen lagen sie überall herum. Sie gehörten zu unserem Hühnerstall, doch die Sorge das ich jedes einzelne Huhn einfangen musste, wurde mir schnell genommen. Ich verstand es noch bevor ich die ersten rötlichen Spuren im Gras sah. Verstand es weil das morgendliche Krähen an diesem Morgen ausgeblieben war. Totenstill lag mein Garten vor mir.
Was sich vor mir auftat war ein kleines Schlachtfeld. Ein Hühnerstall mit einem großen Loch in einer Seite. Zerbrochene Zäune. Blut und Federn überall. Vorsichtig stieg ich über die Trümmer hinweg, um mir das genaue Ausmaß anzusehen. Im Inneren sah es nicht besser aus. Die Brutkästen waren heruntergerissen worden. Die Eier zertreten und alle Hühner tot.
Manchen wurde das Genick gebrochen. Andere regelrecht zerrissen, so wie es wohl ein Fuchs tun würde, wenn er den Weg ins Innere fand. Doch dies war nicht die Tat eines Waldbewohners. Es war die Tat eines viel gefährlicheren Tieres. Drei gefährlicheren Tieren.
Ich kam aus dem Hühnerstall, während mein Blick finster umher wanderte. Vielleicht beobachteten mich die Übeltäter bereits. Ich konnte mir denken das all dies nur ein Streich war den mir die jungen Männer aus dem Dorf spielten, doch lachen konnte ich darüber nicht. Noch nie hatte man eine derartige Tat auf unserem Grundstück verübt.
Ich kehrte kurz ins Haus zurück, wo ich mich ankleidete und einen Korb holte. Ich sammelte die toten Hühner ein und musste das wenige das mir geblieben war irgendwie zu verwerten. Ich hatte nicht die Möglichkeit neue Tiere zu beschaffen. Auch Eier würde es in der nächsten Zeit nicht mehr geben. Wenn Ruth gnädig war tauschte sie vielleicht etwas gegen das Fleisch ein.
Ich hatte bereits das meiste der Zerstörung beseitigt, als ich unverhofften Besuch bekam. Seltsamerweise schienen sich in der letzten Zeit sehr viele Menschen hierher zu verirren.
„Um Gottes Willen!“ Die leise Stimme hinter mir schnappte plötzlich nach Luft. Mich umzudrehen war dabei unnötig, denn ich erkannte sie sofort.
Am Rande meines Gartens stand Alice und beobachtete wie ich das letzte tote Huhn in den Korb fallen ließ. Meine Finger waren blutig, ebenso wie meine Schürze, wenn man von den restlichen Dreckflecken absah. Sicher wirkte ich wie eine Schlächterin auf sie. Oder wie eine Hexe die ihr nächstes großes Ritual vorbereitete.
„Solltest du für deine Familie ein Huhn benötigen, so ist dies deine Chance ein Geschäft fernab der Oaks zu machen.“ Kam es über meine Lippen, ehe ich zum Zaun trat. Das Gesicht der jungen Frau war bleich und bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrem roten Haar, welches sie unter einer Haube verbarg. Oder es zumindest versuchte. Eine Locke fand hier und da doch einen Weg heraus.
Ich musste zugeben, dass ich mein Gegenüber bewunderte. Sie war jung, schön und würde innerhalb des Dorfes sicher eine gute Heirat erwirken. Die Willows waren eine bodenständige Familie, meist Schneider oder Weber. Wenn man etwas von ihnen brauchte waren sie auch stets freundlich, selbst wenn ihre Gedanken es nicht sein sollten.
„Was ist hier geschehen?“ Langsam schien sie den Blick von den Blutspuren abzuwenden. Stattdessen betrachtete sie den zerstörten Hühnerstall.
„Ich weiß es nicht.“ Log ich ohne zu zögern. Es war besser wenn ich vorerst verschwieg wie viel ich gesehen hatte. Einen Trumpf musste ich mir einfach behalten. Zudem wusste ich ja nicht wer sich unter den Masken verborgen hatte.
„Es war anscheinend kein Fuchs. Vielleicht ein Bär?“ Stellte ich mich dumm und sah wie Alice entsetzt den Kopf schüttelte. Ich ahnte das sie dabei an meine Mutter dachte. Würde es bald Gerüchte über ein Monster im Wald geben? Eines das Menschen fraß und Hühner tötete?
„Was auch immer es war, ich werde den Schaden so gut es geht beheben. Aber was führt dich hier her? Die meisten Leute bleiben in der Nähe des Dorfes und finden selten den Weg zu unserem...meinem Haus.“ Ich versuchte von dieser Situation abzulenken, denn irgendwie war mir all das unangenehm. Alice war die erste Person seit langem die freiwillig mit mir sprach. Und bereits jetzt musste ich sie sehr verschreckt haben.
„Ich habe mehrfach an die Haustür geklopft und mich schon gewundert wieso niemand öffnet.“ antwortete sie mir atemlos. Dies jedenfalls waren Worte die mich verwunderten. Ich hatte geglaubt Alice wäre zufällig hier, doch anscheinend war es nicht der Fall. Sie hatte mich so früh am Morgen besuchen wollen und erst jetzt bemerkte ich den Korb in ihren Händen.
Verlegen folgte sie meinem Blick. Trat nervös auf der Stelle herum und schien sich kurz umzublicken, in der Hoffnung das sie niemand sah.
„Meine Mutter hat mich hergeschickt. Ich soll dir ein paar Dinge bringen und dich auch um einen Gefallen bitten.“ Sie sah mir nicht in die Augen, weil es ihr wohl unangenehm war. Das in dem Korb war kein Geschenk sondern eine Bezahlung.
Ich hob eine Augenbraue und versuchte all das einzuordnen. Noch immer schien Alice sich daran zu stören, dass man uns zusammen sehen könnte. Ich ergriff also meinen Korb, um in die Richtung des Hauses zu gehen, während sie mir zögernd folgte.
„Welchen Gefallen erwartet sie von mir?“ Meine Stimme war deutlich kühler geworden. Ich war eine Närrin wenn ich glaubte Alice wäre aus purer Nächstenliebe hergekommen. Es nagte mehr an mir, als ich es mir eingestehen wollte.
„Wir wollten erst deine Mutter fragen, doch sie schien beschäftigt zu sein. Sie wollte bei Gelegenheit bei uns vorbeikommen, tat es aber nie.“ Alice druckste herum und verbarg sich so gut wie es ging hinter einer Hecke, als wir das Haus erreichten. Ich hätte sie hineinbitten können, doch wahrscheinlich hätte sie sich sofort bekreuzigt und wäre geflüchtet. Sie fühlte sich schon unwohl genug.
„Und nun ist sie leider tot und du stehst vor mir. Ihr müsst sehr verzweifelt sein, wenn ihr diesen Weg wählt.“ In meinen Gedanken machte ich einen Haken an die Willows. Meine Mutter hatte also nicht mit ihnen gehandelt. Sie brauchte die Alraune also für eine andere Person. Oder ein anderes Mittel.
„Das sind wir auch. Diese Angelegenheit spaltet aktuell unsere ganze Familie.“ Die Rothaarige spannte sich etwas an und ich musterte sie etwas eingehender. Etwas stimmte nicht, denn ich sah wie das schlechte Gewissen in Alice brannte.
„Bist du wirklich hier, weil deine Mutter es dir aufgetragen hat?“ Ich bemerkte wie sich rote Flecken auf der Haut der jungen Frau abzeichneten. Hektische Flecken, die manche Leute bekamen wenn sie besonders aufgeregt waren. Zum ersten Mal sah sie mir genau in die Augen und eine gewisse Stelle an meiner Stirn pochte kurz.
Ich hatte das Gefühl das Alice auf eigene Faust handelte. Tun wollte was das Beste war, auch wenn andere sich dem entgegenstellten. Ich spürte mehr Sturheit als ich es von dieser zarten Person erwartet hatte. Den Drang alles zusammenzuhalten. Doch woher kam das alles?
Ich wandte den Blick von ihr ab, um meine Hände in einem Eimer mit Wasser zu waschen. Ich wusste nun weshalb sie hier war.
„Gut, es soll mir egal sein. Worum genau geht es. Ich werde tun was ich kann.“Erleichterung schlug mir entgegen, als Alice hörbar ausatmete. Natürlich würde sie mir nicht alles verraten.
„Ein Ärgernis muss aus der Welt geschafft werden.“ sagte sie leise, als wäre es ein fauler Apfel den man schnell pflücken musste bevor er die Welt verseuchte. Meine Hände zogen derweil an der Schleife meiner Schürze. Es würde lange dauern diese elenden Blutflecken aus dem Stoff zu entfernen.
„Nennen wir es doch beim Namen. Ihr wollt das ich aus dem Ärgernis einen Engel mache.“ Ich bemühte mich um eine neutrale Stimmlage, auch wenn ich diesen Teil mehr hasste als alles andere. Man gab einer grässlichem Tat eine schöne Bezeichnung, doch dies machte es nicht besser. Engel zu schaffen, hatte uns Gott nie näher gebracht. Im Gegenteil. Uns blieb der Trost der Kirche verwehrt.
Meine Mutter die Engelmacherin. Eine Hebamme und Kräuterfrau die ungewollte Ungeborene tötete. Es kam öfter vor, als man es hier vermuten würde. Entweder mit Mixturen oder aber mit anderen Eingriffen. Doch letzteres würde ich nicht über mich bringen. Besonders nicht mit dieser Genugtuung die meine Mutter dabei immer gezeigt hatte. Fast so als würde es ihr etwas geben, obwohl sie selbst eine Mutter war.
„Du musst mir nicht sagen was es bedeutet.“ zischte Alice mir entgegen. Ich hatte wohl einen sehr empfindlichen Nerv getroffen. Kein Wunder. Die Willows waren sehr gläubig. Noch ein Grund der mich davon überzeugte, dass ich mir mit dieser Tat eher ihrem Zorn zuziehen würde.
„Gut, dann bist du dir ja über die Risiken im Klaren.“ Ich glaubte nicht das es so war und legte mir meine Decke wieder um die Schultern, da mir langsam kalt wurde. Ich hatte in den letzten Tagen kaum auf meine eigene Gesundheit geachtet. Mein Hals kratzte bereits unangenehm, was ich stur verdrängen wollte.
„Es ist nicht für mich!“ Alice verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte nur noch mehr wie ein stures Kleinkind. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie ihrer Mutter noch sehr viel Kummer bereiten würde.
„Es ist für meine Tante Molly.“ Zähneknirschend hatte sie es ausgesprochen, während sie zu Boden sah.
Molly also. Ein Seufzen kam über meine Lippen. Es gab niemandem dem ich diese Demütigung mehr ersparen wollte. Die Demütigung einen Bastard zu gebären, so wie es Iris Cedar getan hatte. Ich hoffte nur das Molly nicht dem gleichen Mann nachgegeben hatte.
Molly Willow war eine recht kräftig gebaute Frau. Wie alle Familienmitglieder hatte sie rotes Haar und Sommersprossen die ihr rundliches Gesicht vollkommen einzunehmen schienen. Mit Anfang 30 hatte sie wahrscheinlich schon jegliche Hoffnung auf eine Ehe begraben. Trotzdem war sie stets fröhlich, hatte einen Witz auf den Lippen und ein Lachen das immer anstecken konnte. Niemals würde so eine Frau ihr eigenes Kind töten. Ein Kind das sie sich sehnlichst wünschte.
„Was ist mit dem Vater? Wird er es nicht anerkennen und deine Tante ehelichen?“ Ich versuchte mein Interesse daran zu verstecken. Meine Mutter hätte es wahrscheinlich nicht hinterfragt. Evelyne Beech hätte sich wahrscheinlich lieber darüber lustig gemacht.
„Moira...glaubst du wirklich die Männer hier sind ehrenhaft?“ Alice blickte zum Hühnerstall, fast so als wisse sie doch mehr darüber als ich. Ein Gefühl sagte mir, dass sie so eine Ahnung hatte wer meine Besucher am Vortag gewesen waren.
„Ich habe Molly die gleichen Fragen gestellt. Sie glaubt daran bald zu heiraten, doch ihre Hoffnung ist vergebens. Diese Familie hat keine Ehre im Leib. Das er meine Schwester derart ausgenutzt hat, zeigt doch schon alles. Zum Glück sieht man ihr den Zustand nicht an. Doch was sollen wir tun, wenn das Kind auf die Welt kommt?“ Alice ballte ihre Hände zu Fäusten. „Hilfst du mir nun oder nicht?“
Ja, dies war die große Frage. Ich hatte die Mittel, doch wollte ich sie auch einsetzen?
„Hör zu Alice. Wenn der Zustand schon weit fortgeschritten ist, dann wird meine Mixtur wahrscheinlich nicht anschlagen. Und selbst wenn sie es tut und sie nicht stark genug ist, dann wird das Kind vielleicht Schäden davon tragen. Was ich nicht tun werde, ist das Kind auf eine andere Art und Weise zu beseitigen. Zum einen, weil ich es nicht will und zum anderen weil ich damit Molly entweder töten oder für immer unfruchtbar machen könnte.“
Sture Augen sahen mir entgegen. Mein Reden war sinnlos. Doch mir wurde bewusst, dass sich Molly nie auf die letzte Option einlassen würde. Sie wollte das Kind. Anders als Alice, welche ihr die Mixtur irgendwie unterjubeln würde. Also seufzte ich und entschied mich, diese Angelegenheit auf meine Weise zu klären.
„Warte hier.“ Ich betrat mein Haus, während Die Rothaarige. die langsam ziemlich ungeduldig wurde, draußen wartete. Meine Hände zogen den Teppich im Flur zur Seite, der eine langgezogene Falltür im Boden verdeckte. Ich öffnete sie, um über eine breite Treppe in den Kräuterkeller und Lagerraum hinabzusteigen.
Es war wie der Eintritt in ein anderes Reich. Lange Regale begrüßten mich. Der Duft von getrockneten Kräutern erfüllte meine Sinne. Als Kind hatte ich hier immer auf einem Schemel in einer Ecke gesessen, während meine Mutter im Schein der Kerzen Salben oder Mixturen herstellte. Mir wurde früh beigebracht wie ich mein Handwerk durchzuführen hatte. Eine Tradition, die weitervererbt wurde. Nur ich würde wahrscheinlich niemanden haben der es von mir erlernen konnte.
Ich entzündete eine Kerze, ging zielsicher durch den Keller und griff nach einer Mixtur ganz am Rande des Raumes. Die Flüssigkeit in der kleinen Glasflasche schimmerte milchig braun, als ich sie im Schein der Kerze betrachtete. Es war ein starkes Abführmittel. Eine Mixtur aus Kräutern die erst zu üblen Bauchkrämpfen und Fieber führte, bevor sie ihre eigentliche Wirkung entfaltete. Jedenfalls wenn man genug davon einnahm.
Ich entschuldigte mich in meinem Inneren bei der armen Molly. Dieses Mittel würde ihr Kind nicht töten, es würde nur vorgeben es zu tun. Doch mischte ich mich nicht in Dinge ein, die mich nichts angingen? ‚Du spielst Schicksal.‘ Wieder überkam mich ein fremder Gedanke, was mich fluchen ließ. Erneut hatte dieser Gedanke Recht.
Ich spielte Schicksal. Entschied das weder Alice noch ich zu einer Mörderin werden würden. Entschied das ein unschuldiges Leben selbst entscheiden sollte ob es bis zur Geburt durchhielt oder nicht. Entschlossen umfasste ich das Fläschchen, als ich wieder nach oben stieg. Mein Blick streifte dabei die Alraune, die mit einem ihrer verquollenen Lächeln in einem der Regalfächer saß. Ich entschied mich später darüber nachzudenken, wie sie dort gelandet war.
„Fünf Tropfen, auf nüchternen Magen. Mehr nicht, außer du willst deine Tante umbringen.“ log ich wie ein listiger Dämon, als ich erneut in die Kälte trat und Alice das Fläschchen in ihre gierigen Hände fallen ließ. Sie selbst nickte mir zu, während sie mir wortlos mit dem Fuß den Korb mit meiner Bezahlung zuschob. Ich hoffte darin etwas brauchbares zu finden, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
„Ich danke dir.“ Es war wohl der Anstand der sie zu einem Dank zwang. Ich bemerkte wie sie nervös die Mixtur in ihren Fingern drehte. Alice war noch nicht davon überzeugt das Richtige zu tun. Wahrscheinlich überzeugte sie sich gerade selbst davon, dass es keinen anderen Weg gab.
„Danke mir nicht. Erstens bezahlst du mich dafür und zweitens weiß ich nicht ob es Erfolg haben wird.“ Oh doch, das wusste ich. Vielleicht verspielte ich gerade die einzige Chance auf eine Freundschaft mit Alice, doch mein Gewissen würde beruhigter sein, wenn ich meine Tätigkeit als Hebamme und Heilerin nicht gleich mit einem Kindermord beginnen würde.
„Ich hoffe dies bleibt unter uns.“ Die junge Frau sah mich erneut direkt an. Dachte sie ich wäre ein Klatschweib? Das ich mit derartigem prahlen würde? Ich war enttäuscht, denn Alice dachte noch schlechter von mir als erwartet. Nachdenklich strich ich mir eine meiner Haarsträhnen aus dem Gesicht und musterte die junge Frau vor mir erneut.
Sie war behütet aufgewachsen. Ihr Kleid war ordentlich und aus einem guten Stoff. Nicht so gut wie der von Mary und Marlot Birch, aber besser als meiner. Es war kein Kleid das man zur Hausarbeit anzog. Ein Ausgehkleid. Die Willows waren eine große Familie, achteten auf ein gewisses Maß an Bildung und anders als die Oaks gingen sie einer sauberen Arbeit nach. Natürlich war ihr das Ansehen innerhalb des Dorfes wichtig. Und ich selbst schien ein ziemlicher Kontrast zu ihrem Leben zu sein.
„Keine Angst. Niemand wird erfahren das du hier warst. Sollte dich jemand gesehen haben, sagen wir einfach du hättest mir Näharbeiten gebracht, die meine Mutter vor ihrem Tod bei euch in Auftrag gegeben hat.“ Ich zuckte mit den Schultern, innerlich schockiert darüber wie schnell mir inzwischen logisch klingende Lügen einfielen.
Meine Antwort schien die junge Frau zu beruhigen. Sie nickte mir schnell zu und verabschiedete sich, ehe sie möglichst unauffällig den Rückweg zum Dorf antrat. Alice Willow hatte mir ohne es zu wissen eine Entscheidung abgenommen. Die Entscheidung Phelans Rat in Betracht zu ziehen. Die junge Frau würde nicht die letzte Bittstellerin bleiben, da war ich mir sicher.
Der Tag schritt voran und in mir wuchs ein gewisser Tatendrang. Es gab so viele offene Fragen, deren Antworten noch so fern zu sein schienen. In meiner schwarzen Trauerkluft ging ich gegen Nachmittag zum Dorf. Ich bemerkte den ein oder anderen Blick den man mir zuwarf, ehe manch einer hinter vorgehaltener Hand etwas flüsterte. Wahrscheinlich erwartete man , dass ich mich verkroch. Mich tagelang nicht zeigte.
Mir war jedoch danach etwas zu tun. Ich war noch nie gut darin gewesen still zu sitzen. Musste immer etwas haben mit dem ich mich beschäftigen konnte. Kurz überlegte ich ob es klug wäre Moran aufzusuchen, doch schon jetzt klangen mir die eventuell entstehenden Gerüchte in den Ohren. Es sollte nicht so aussehen, als würde ich mich bei jedem kleinen Problem sofort in die Arme eines Mannes flüchten. Dies hatte meine Mutter mir wirklich nicht vererbt.
Ich ging über den großen Marktplatz und bemerkte die dicken Wolken, die bereits langsam am Himmel aufzogen. Es würde Regen geben und sicher auch bald den ersten Schnee. Kein Wunder das die Oaks immer schlechtere Laune bekamen, weil sie dringend ihre Ernte einfahren mussten.
Wer nicht gerade andere Arbeiten verfolgte, half also auf der Farm aus. Nicht gerade ohne Eigennutz. Wer mit den Oaks gut befreundet war, hatte hier im Dorf ausgesorgt und immer etwas essbares auf dem Teller. Was wohl erklärte wieso unsere Teller immer leer gewesen waren.
Es gab einen Grund dafür. Einen für den eigentlich auch meine Mutter nichts konnte. Jeremiahs Frau Elisabeth hatte erneut ein Kind erwartet. Bei einer fruchtbaren Familie wie den Oaks nichts ungewöhnliches. Doch anders als zuvor hatte es Komplikationen gegeben und das Kind hatte nicht überlebt. Elisabeth hatte seither auch nicht mehr empfangen. Es war das Ende einer langen Freundschaft und der Anfang einer heftigen Abneigung.
„Moira.“ Die samtene dunkle Stimme eines Mannes ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken fahren. Ich hatte ihn nicht bemerkt, dabei kam ich gerade an seinem Haus vorbei und wäre normalerweise mindestens einmal stehen geblieben in der Hoffnung den hellhaarigen Mann zu sehen. Er schloss gerade die Tür seines Hauses und kam mit großen Schritten auf mich zu.
Meine Gedanken schienen zu schwirren. Hatte ich es geschafft mein Haar zu bändigen, damit es als einigermaßen ordentlich durchging? Sah man mir meine Müdigkeit an? Blut schoß mir in die Wangen, als ich den musternden und besorgten Blick meines Gegenübers bemerkte.
„Du siehst müde aus. Aber im Angesicht der Geschehnisse ist es sicher kein Wunder.“ Kurz stockte mein rasendes Herz. Wusste er von den Männern in den Masken? Hatte Alice es so schnell weitererzählt? Doch bei dem mitfühlenden Blick in diesen atemberaubenden, dunklen Augen, wurde mir klar, dass er wohl die Sache mit meiner Mutter meinte.
„Ja. Es ist schwer es zu akzeptieren. Und ich hörte das auch Thomas sehr damit zu kämpfen hat.“ Ich senkte den Blick. Erneut hielt mich etwas ab. Erneut wollte ich Moran alles erzählen und hielt es dann doch für klüger es nicht zu tun.
„Ich weiß das meine Mutter kein einfacher Mensch war. Sie war manchmal sehr direkt und ihr Ruf eilte ihr stets voraus, doch sie war alles was ich hatte.“ Eine Bewegung am Rande des Marktplatzes ließ mich kurz inne halten.
Es war ein gewisser Jäger, der ein paar Hasen und einen toten Fuchs über seiner Schulter hängen hatte.Er kam wohl gerade aus dem Wald und warf einen finsteren Blick in unsere Richtung, ehe er von John Linde aufgehalten wurde. John war dafür bekannt anderen ein Gespräch aufzudrängen, wenn er bereits den ein oder anderen Krug geleert hatte.
Wenn ich seinen Gang richtig deutete, war dies bereits der Fall. Also löcherte er Phelan wohl mit Fragen.Woher hatte er die Hasen? Was machte er mit dem Fuchsfell? Was wollte er für das Fleisch?
Ich wandte den Kopf wieder Moran zu, welcher belustigt zu den beiden Männer sah.
„Vielleicht klingt es makaber, aber zumindest muss Evelyne nun keine weiteren Annäherungsversuche von John ertragen. Ich denke ihr aktuelles Ende war leichter zu ertragen als das.“ Ich spürte wie meine Mundwinkel kurz zuckten, doch ich sagte mir selbst, dass ich mich schämen sollte.
Meine Mutter war tot und darüber machte man keine Witze. Doch hier gingen die Leute anders mit dem Verlust geliebter Menschen um. Niemand von ihnen wusste wie lange sie einander haben würden. Denn spätestens alle 5 Jahre wurde immer ein Abschied gefeiert.
„Hat sie denn jemals mit John....“ begann ich und Moran schüttelte schnell den Kopf. „Glaube mir Moira, im Dorf wird viel geredet. Nicht jede Affäre die ihr nachgesagt wurde muss auch wahr sein. Sie ging bei den meisten Leuten ein und aus. Wahrscheinlich wusste sie sogar über jeden das ein oder andere. Gutes wie schlechtes.“ Ja, da hatte er Recht. Und sie hatte nur über weniges davon ein Wort verloren, außer sie wollte sich darüber amüsieren.
„Gab es jemanden den sie in der letzten Zeit auffällig oft besucht hat?“ fragte ich mehr mich selbst als ihn. Mir entging nicht wie er den Kopf schief legte und sich seine Augen etwas verengten. So wie sie es immer taten, wenn er versuchte etwas aus meinem Verhalten herauszulesen.
„Du stellst auffällig viele Fragen über sie.“ Stellte er fest und ein leises verbittertes Lachen kam über meine Lippen. Eine Reaktion die ihn dazu brachte seine Augenbraue zu heben. Wieder tat ich etwas das er nicht erwartete.
„Ich möchte nur wissen wie ihre letzten Tage verlaufen sind. Ob sie glücklich waren oder schwer. Ich weiß es muss seltsam wirken aber....aber es....“
Moran seufzte. „....spendet dir Trost?“ Beendete er meinen Satz, was mich nicken ließ. Erneut fühlte ich mich wie eine verdammte Lügnerin. Doch etwas sagte mir, dass ich es noch sehr oft sein musste.
„Ich habe es noch niemandem erzählt. Wir haben uns gestritten. An dem Tag als sie starb. Sie war wütend weil ich meine Aufgaben nicht richtig erledigt hatte und gab mir einige weitere, ehe sie sich im Kräuterkeller eingeschlossen hat. Es war das letzte Mal das ich sie gesehen habe. Und ich frage mich, ob es noch unerledigte Dinge gibt. Gefallen die sie anderen schuldet. Arbeiten die ich für sie übernehmen könnte.“
Als ich wieder zu ihm sah, spürte ich erneut ein altbekanntes Glühen meiner Wangen. Moran schenkte mir ein warmes Lächeln, dass mein Herz regelrecht zum rasen brachte. Hatte ich etwas dummes gesagt? Schnell wich ich seinem Blick aus, wobei mir erneut Phelan ins Auge fiel.
Noch immer redete John auf ihn ein, doch ich hatte das Gefühl das er mehr damit beschäftigt war mich zu beobachten, anstatt seinem Gesprächspartner zuzuhören. Ich erkannte soetwas wie Missbilligung in seinem Gesicht. Als er meinen Blick bemerkte, wandte er sich schnell ab und verließ, dicht gefolgt von John, den Marktplatz.
„Wir wissen nie wann wir einem Menschen zum letzten Mal begegnen.“ Morans Stimme fing meine Aufmerksamkeit wieder ein. Noch immer hatte er dieses Lächeln auf seinen Lippen. Nervös strich ich mit meinen Händen mein Schwarzes Kleid glatt. Einfach nur um sie zu beschäftigen. „Erinnere dich an die guten und die schlechten Zeiten, doch sieh nach vorn.“ Ich spürte einen Kloß in meinem Hals, als ich erneut nickte.
Es gab hier nur wenige Menschen die überhaupt ein längeres Gespräch mit mir führten und tröstende Worte waren nur noch seltener. Auch wenn ich versuchte nach außen hin einen stabilen Eindruck zu machen, so war mein inneres aufgewühlt und der Tod meiner Mutter sicher nich nicht vergessen.
Moran schien meine Gefühlslage zu erkennen, denn er wechselte plötzlich das Thema. Ich war ihm wirklich dankbar dafür.
„Können wir denn in Zukunft darauf zählen, dass du uns mit deinen Fähigkeiten weiterhin zur Seite stehst?“ Er lächelte und Neugier lag in seinen Augen. Es machte mich erneut recht verlegen. Dieser Mann war wirklich meine Schwachstelle.
Ich bemerkte Schritte und das wohlige Gefühl von Wärme verschwand in meinem Inneren. Über den Marktplatz schritten zwei Frauen, welche sich beieinander eingehakt hatten. Ihr Ziel war mich schon gut bekannt, denn es stand genau neben mir.
Die jungen Männer im Dorf nannten die beiden Frauen die dunklen Schwäne des Waldes. Wahrscheinlich wegen ihrer schlanken Gestalt und den feinen Gesichtszügen. Ihre Kleider waren ausladend und schimmerten in einem farbenfrohen Stoff. Das eine blau und das andere Grün. Der Mann neben mir wandte fast sofort seine Aufmerksamkeit von mir ab, was ein Stechen in meinem Herzen verursachte.
Es wurde schlimmer als er galant einen Handkuss auf zwei Hände verteilte, eine Geste die mir noch nie zuteil geworden war. Inmitten von drei so gut gekleideten Menschen mit guten Manieren war ich plötzlich zu einer Außenseiterin geworden.Doch schlimmer waren die Blicke die mir Mary und Marlot Birch zuwarfen.
„Oh! Moira! Wir hätten nicht gedacht dich so früh wieder im Dorf zu sehen.“ Marlot strich ihr braunes, glattes Haar zurück. Es war ein bisschen dunkler als das ihrer Zwillingsschwester. Und eben jene schien mich genau zu mustern.
„Du siehst doch das sie Trauer trägt.“ kam es von Mary mit einem Verweis auf mein schlichtes schwarzes Kleid.
„Sicher möchte sie nur etwas Ablenkung.“
Beide blickten zu Moran und schmunzelten. Es war gruselig, denn diese beiden mussten vieles nicht aussprechen. Sie schienen sich auch ohne Worte genau zu verstehen. Teilten oft einen Gedanken oder beendeten die Sätze der anderen.
Mary trat einen Schritt näher an Moran heran. Ihr lockiges kastanienbraunes Haar war mit Schleifen verziert. Sie war die kindlichere von beiden, aber sicher auch die gefährlichere. Verlegen blickte sie zu ihm auf und schien ihn etwas fragen zu wollen.
„Wir haben uns gefragt, ob du uns bei einem Tee Gesellschaft leistest. Niemand kennt so viele spannende Geschichten.“ Sie streichelte sein Ego und es hatte Erfolg.
Ich bemerkte sein Nicken und erneut spürte ich selbst dieses Stechen in der Brust.
„Sehr gerne. Ich habe eh noch etwas mit eurem Vater zu besprechen.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. Abwägend. Natürlich war ich nicht eingeladen, selbst wenn er es vorschlagen würde. Ich trat bereits einen Schritt zurück um mich zu verabschieden, doch der Mann mit den gellen grauen Haaren kam mir zuvor.
„Du schuldest mir noch eine Antwort.“ Seine samtweiche Stimme schlug mir fordernd entgegen. Ebenso wie zwei finstere Blicke von zwei dunklen Schwänen, die nicht wussten welche Frage mir gestellt worden war. Wenn ich jetzt antwortete, wusste morgen jeder im Dorf meine Antwort, da die Birch-Zwillinge jeden Tratsch sofort verbreiteten.
„Ich werde tun was in meiner Macht steht.“ kam es möglichst leise über meine Lippen. Ahnte er nicht wie unangenehm es mir in dieser Gesellschaft war? Oder das die Zwillinge jedes meiner Worte aufsaugten wie ein Schwamm? Oder war es pure Berechnung? Ich war schockiert über meinen letzten Gedankengang, den ich schnell abschüttelte. Moran war immer gut zu mir, also was hätte er davon?
Er schien zufrieden mit meiner Antwort zu sein und zerstreute meine Bedenken fast sofort wieder.
„Sehr gut! Ich könnte mir ein Leben in diesem Dorf ohne die Seife und den Tee aus eurem Hause kaum vorstellen!“ Der Tee. Ich wusste dieses Gespräch hatte einen tieferen Sinn und mein Herz begann erneut zu flattern, als ich das Verstehen in den Gesichtern der Zwillinge sah.
„Da hat er Recht!“ pflichtete Mary ihm schnell bei, während Marlot anscheinend in ihrem Kopf durchging, welche Produkte man noch von mir zu erwarten hatte. Sie war die scharfsinnigere und belesenere von beiden. Und auch mir wurde klar, dass sie in dieser Hinsicht abhängig von mir waren. Doch nie hatte ich mich mit dem Handel dieser Waren beschäftigt.
Ich hatte nicht hinterfragt wer unseren Kräuter- oder Früchtetee trank. Nie überlegt wer unsere Cremes benutzte oder die wohltuenden Seifen aus Schafs- oder Stutenmilch. Hatte das Handwerk erlernt, Kräuter gesammelt und Mixturen zusammengestellt ohne zu fragen wem sie dienten.
Ein riesiger Fehler. Denn mir wurde erneut klar, dass Phelan Recht hatte. Das Dorf brauchte uns und dies nicht nur wegen der Geburtshilfe. Es brauchte mehr von uns, als es ihm lieb war. Und genau dies hatte Moran gerade hervor gehoben. Er half mir indem er diese Tatsache noch einmal verbreitete. Den Leuten hier indirekt mitteilte, dass ich für den Handel offen war.
Marlot seufzte, weil sie wohl erkannte in welcher Zwickmühle sie sich befanden. Sie hatten sich sicher gewünscht ich würde nun für immer in meinem Haus verschwinden und nur beim roten Mond herauskommen. Doch nun hatte ich einen Trumpf im Ärmel, auch wenn ich nicht verstand wieso meine Mutter überhaupt mit ihnen gehandelt hatte.
„Es ist bestimmt gut, wenn du eine Aufgabe hast die dich ablenkt. Es muss einsam sein, alleine in diesem großen Haus. Und es wird nicht einfach es alleine instand zu halten.“ Zum ersten Mal bemerkte ich einen gewissen Ernst, der von der 19 jährigen ausging. Ihre Schwester Mary hingegen schien es nicht zu verstehen.
„Wieso? Im Gegensatz zu manch anderen ist sie doch nun frei. Niemand sagt ihr was sie tun soll. Das ist ein Umstand für den dich sicher viele hier beneiden. Gerade die Frauen.“ Ja. Mary verstand es wirklich nicht.
Wie ein verwöhntes Kind stand sie neben Moran und hakte sich frech bei ihm ein, was sich der Mann gefallen ließ. Er schien es zu mögen von Frauen umschwärmt zu werden. Doch auch in seinem Gesicht erkannte ich so etwas wie Sorge.
„Marlot hat Recht. So nah am Wald, das birgt einige Gefahren. Vielleicht solltest du versuchen irgendwo im Dorf unterzukommen. Vielleicht bietet Ruth dir ein Obdach. Oder aber du bietest anderen die Chance bei dir unterzukommen. Junge Paare die Nachwuchs erwarten gibt es hier dich immer wieder.“ Ich biss mir verbittert auf meine Unterlippe nach diesen Worten. Es war relativ offensichtlich, dass niemand mich hier aufnehmen oder bei mir unterkommen würde. Er selbst brachte es ja nicht über sich, mich zu berühren.
„Ich lebe schon immer am Rande des Waldes und die Farm der Oaks ist nicht weit entfernt. Das Alleinsein bereitet mir keine Sorgen und wer weiß schon, ob nicht auch irgendwann ich zu den Paaren mit Nachwuchs gehöre.“ Es war ein Seitenhieb, doch er richtete sich sofort wieder gegen mich selbst. Niemand brauchte zu antworten. Ich sah es ihnen an.
Die Birch-Zwillinge warfen sich einen amüsierten, vielsagenden Blick zu und Moran bemühte sich um ein höfliches Lächeln. Sie glaubten alle nicht daran. Und besonders seine Reaktion schmerzte.
„Wir hoffen das es so sein wird. Jeder hier würde dir eine eigene kleine Familie gönnen.“ Meine Stirn pochte und ich wusste das diese Worte eine recht eindeutige Lüge waren. Besonders nachdem Pater Joseph mir gestern noch von einer Ehe abgeraten hatte.
Erneut flaute die Welle der Verliebtheit ab, die ich sonst in Morans Gegenwart empfand. Immer wenn ich glaubte er würde mir anders gegenüberstehen, bewies er mir das er wie alle anderen war. Ein Mensch der zwar nach außen hin anders war, innerlich aber die gleichen Vorstellungen teilte. Sturheit breitete sich in mir aus. Ich brauchte sie alle nicht.
„Ich muss nun weiter. Ruth wartet sicher schon auf mich.“ Ich beschloss das Gespräch zu beenden. Ein Umstand der Mary wohl recht gelegen kam, denn sie zog den Grauhaarigen ungeduldig mit sich.
„Wir müssen auch weiter. Der Tee.“ sagte sie als wäre es das Wichtigste auf der Welt, während Moran zum Abschied und mit einem amüsierten Lächeln die Hand hob. Die junge Frau war wie ein sturer Esel, die anscheinend unbedingt ihren Willen durchsetzen wollte. Den Willen mit diesem Mann allein zu sein.
Marlot hingegen blieb noch einen Augenblick neben mir stehen und sah mich lange an. Ich hatte das Gefühl das sich seit dem Tod meiner Mutter etwas verändert hatte. Denn vorher hatte sich niemand von den Birches dazu herabgelassen überhaupt mit mir zu reden oder sich lange mit mir aufzuhalten. Gar mit mir gesehen zu werden. Und es schien Marlot gut in den Kram zu passen, dass ihre Schwester kurz abgelenkt war.
„Pass auf dich auf.“ Kam es plötzlich über ihre Lippen. So ernst und so dunkel, wie ich es noch nie von ihr vernommen hatte. Die junge Frau sah mir in die Augen und das unsichtbare Mal auf meiner Stirn brannte wie Feuer. Das Bild einer Wolfsmaske flammte direkt vor meinem inneren Auge auf, nur um schnell wieder zu verblassen.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Marlots ernster Gesichtsausdruck ließ mich verstummen. Sie wusste etwas. Eine ernstzunehmende, nicht erklärbare Gewissheit lag in diesem Gedanken.
„Niemand hier ist dein Freund, Moira.“ Es war eine Warnung. Eine die mehr Bedeutung hatte, als ich es zu diesem Zeitpunkt verstand.
Und ich konnte es nicht hinterfragen, denn Marlot wandte sich von mir ab. Mit schnellen Schritten folgte sie den anderen beiden und mir fiel auf, dass es noch eine Empfindung gab, die ich von ihr empfangen hatte. Pure Angst.
Marlots Worte gingen mir auch in den folgenden Tagen nicht aus dem Kopf. Sie war nicht die erste Person die mich vor einem Feind in meinem näheren Umfeld warnte. Ähnlich wie Badria hatte sie sich auch keine weiteren Hinweise entlocken lassen.
Stattdessen hatte sie mich ernst angeblickt und erwartet das ich diesen Rat einfach annahm. Eine junge Frau die im Gegensatz zu ihrer Schwester deutlich reifer zu sein schien und deren Worte wie ein schweres Gewicht auf meiner Seele lagen. Eine Frau die mich vorher kaum eines Blickes gewürdigt hatte.
Doch wer auch immer dieser Feind sein sollte, noch fehlten mir einige wichtige Antworten auf unausgesprochene Fragen um dieses Rätsel zu lösen. Doch wen sollte ich befragen? Gerade in dieser Zeit? Ebenso wie sich der Himmel jeden Tag schneller verdunkelte, desto schlechter wurde auch die Stimmung in meinem gesamten Umfeld. Niemand würde mit mir Reden, wenn es nicht einen wichtigen Grund dafür gab.
Ich hatte die leisen Warnungen die man mir immer wieder gab nicht ernst genommen, bis mir meine nächtlichen Besucher eine Lektion erteilt hatten. Lag es daran das ich ein Sturkopf war?
Meine Mutter hatte mir immer wieder gesagt, dass dies eine der Eigenschaften war die ich von meinem Vater geerbt hatte. Starrsinn. Ein Umstand der sie immer wieder regelrecht in den Wahnsinn getrieben hatte. Doch es würde genau dieser Starrsinn sein, der mir dabei half Antworten zu finden.
Mein Weg führte mich wieder zu meiner Arbeitsstelle, wo mich am ersten Tag nach der Beerdigung kritische Augen und böse Zungen empfangen hatten. In meiner Gegenwart riss man sich zumindest anfangs zusammen. Kaum betrat ich einen Raum schienen Stimmen zu verstummen und Blicke sich zu senken. Ein Zeichen für den Inhalt der Gespräche. Mich.
Es gefiel dem Harold nicht, was mir mit seiner wachsenden schlechten Laune immer bewusster wurde. Verstummende Gäste und eine schlechte Atmosphäre waren schlecht für Ruf und Geschäft. Doch wie auch alle anderen schien er mir in den ersten Tagen nach der Beerdigung etwas Ruhe zu gönnen. Aus welchen Gründen auch immer.
Ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich Ausschau nach Phelan hielt. Mir stand der Sinn danach ihn noch einmal für sein Verhalten in meiner Küche zu tadeln. Doch der Jäger, der sich sonst in der dunkelsten Nische des Schankraumes versteckte, schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ebenso wie so manch anderer Stammgast.
Auch die Söhne der Oaks schienen das Wirtshaus inzwischen zu meiden, was Victor dazu brachte seine Abende öfter außerhalb zu verbringen. Ich ahnte das sie sich in einer warmen Scheune oder ähnlichem trafen. Für die anderen Stammplätze im Steinbruch oder am Fluss war es bereits zu kalt geworden.
Die jugendlichen Mitglieder der Dorfgemeinschaft hatten stets nach Orten gesucht an denen sie nach ihrem Tagewerk ungestört waren. Auf harte Arbeit, die oft den Großteil des Tages in Anspruch nahm, folgte oft ein später Feierabend mit einem Abendessen und tiefen Schlaf. Die meisten Leute hier kamen in dieser Zeit ins Wirtshaus oder verbrachten die Zeit im Kreise ihrer Familie
Jüngere Kinder wurden bis zur Pubertät von Moran Corvin und Pater Birch in einem kleinen Schulhaus unterrichtet. War die Schulzeit vorbei übernahmen sie meist irgendeine Aufgabe im Dorf, um ihren Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Eine gute Anstellung und eine innige Beziehung zu den richtigen Leuten führte dann meist auch zu innigen Bekanntschaften und Ehen.
Bei dem Gedanken daran musste ich seufzen, während sich der Krug in meinen Händen schwer anfühlte. Auch ich hätte mich in dieses Gebilde einfügt, wenn unsere Familie angesehener gewesen wäre. Die letzten Jahre passten einfach nicht in das Bild der kleinen Gesellschaft hier. Es gab Regeln die von den Beeches nicht eingehalten wurden.
Selbst an einem Ort wie diesem gab es eine feine und eine niedere Gesellschaft, die zum Großteil mit dem Beitrag für das Dorf zusammenhing.
Es gab hier kein Geld, nur Tauschgeschäfte, Beiträge und Gefallen. Am oberen Ende standen die Vertreter von Glauben, Wissen und körperlichem Wohl.
Je höher der Beitrag desto angesehener die Familie. Nur eine unverzeihbare Tat die dem Allgemeinwohl schadete oder die nicht mit den Werten des Glaubens vereinbar waren, konnten eine solche Familie zu Fall bringen.
Allen voran die Birches, als geistige Oberhäupter, die den Glauben und den Willen Gottes verteidigten.
Die bodenständigen Oaks, die trotz ihres Farmlebens die Hauptversorger des Ortes waren.
Die tüchtigen Pines die den Menschen die den Menschen Speis, Trank und etwas Ablenkung brachten.
Phelan der in seiner Tätigkeit als Jäger den gefährlichen Wald um Fleisch und andere Güter beraubte, aber nie den Vorteil dieser wichtigen Tätigkeit ausgenutzt hatte.
Die begabten Hazels, die als Bäcker wahre Kunstwerke vollbringen konnten und dies immer wieder bei Festen zeigten.
Ich dachte an die anderen Familien und mein Neid wuchs, ohne das ich es mir selbst eingestehen wollte.
Ich sah die rothaarigen Willows, die sich als Weber und Schneider einen immer größeren Einfluss aufbauten.
Die Maples unsere Töpfer und Glasbläser ohne die wir sicher verloren wären.
Die Cypress, deren Familie sich nicht nur durch ihr Talent für die Gärtnerei auszeichnete, sondern auch durch ihr fast schon elfengleiches Auftreten.
Oberhäupter des Handwerks waren ohne Frage die Elms. Sie waren Holzfäller, Schreiner und arbeiteten im Bergbau oder als Steinmetze. Fehlten ihnen Männer so schienen sie immer eine helfende Hand bei anderen Familien zu finden. Besonders die Oaks schienen von Kindesbeinen an ihr Handwerk bei ihnen zu lernen.
Auf der untersten Stufe standen die Lindes, die Cedars und ich selbst, die letzte der Beeches. Die absterbenden Bäume des großen Waldes.
Während ich mit meinen Fähigkeiten sicher einen höheren Platz in der Gesellschaft hätte erreichen können, so stand mir stets mein Ansehen im Weg. Einmal mehr fragte ich mich, ob Phelan mir deshalb geraten hatte meine Fähigkeiten besser zu verkaufen.
Doch während ich zumindest Talent besaß, schienen die Lindes mit ewigen Pech gestraft zu sein.
Beth Linde, die Mutter von Alice hatte in die Familie der Willows eingeheiratet und führte ein respektables Leben, während ihr Bruder John bisher kinderlos und ohne dauerhafte Aufgabe geblieben war.
Stattdessen wand er sich dem Alkohol zu und übernahm Hilfsarbeiten, nur um allen anderen Familien wie ein treuer Hund hinterherlief, in der Hoffnung ein Zuhause zu finden.
Blieben ihm Nachkommen verwehrt die seinen Namen weitertragen konnten, würde sein Familienname ebenso wie mein eigener aussterben.
Betrachtete man seinen Stand war er leider auch die einzige Heiratsoption die ich selbst hatte und niemals in Betracht ziehen würde. Es war eine Tatsache die uns beiden bewusst war, wenn ich seien scheuen Blicke in der Schenke richtig deutete.
Doch nach einem Schoßhund ohne Rückgrat stand mir wahrlich nicht der Sinn. Ich würde niemanden heiraten der sich auch noch dafür bedankte, wenn man nach ihm trat.
Früher hatten auch die Cedars als Lehrer des Dorfes zur angesehenen Stufe gehört. Doch seit dem Fall der Familie, schien sich ihr Ansehen nur noch auf der Vergangenheit zu begründen, auch wenn sie es selbst noch nicht verstanden hatten.
Sie waren sich zu fein dafür niedere Arbeiten zu erledigen. Verhielten sich stets so als wäre ihr Skandal nur eine Intrige gegen eine alte angesehene Familie. Doch der Skandal konnte inzwischen schon laufen und sprechen und hörte auf den Namen Daisy.
Und wie auch schon Pater Birch in einer seiner flammenden Predigten betont hatte, war niemand aus diesem Dorf mit der heiligen Jungfrau Maria gleichzusetzen. Ich selbst vermied es meine eigene Meinung diesbezüglich kund zu tun.
Eben jener Fall der Familie Cedar hatte am Ende den Aufstieg einer anderen Person begünstigt.
Moran Corvin, der sich in den Reihen der angesehenen Leute so natürlich bewegte, als hätte er nie etwas anderes getan. Bedachte man sein gutes Verhältnis zu den Birches, so würde es mich nicht wundern wenn er am Ende eine der Pfarrerstöchter heiraten würde.
Sein Stand allein würde es ihm erlauben und erneut wurde mein eigenes Herz schwer, wenn ich daran dachte wie Mary sich auf dem Marktplatz an ihn geklammert hatte. Sie hatte jedes Recht dazu.
Auch Ehen folgten hier meist einem festen Muster und jemanden aus den oberen Rängen für mich einzunehmen, schien mir so gut wie unmöglich. Es wäre nicht verboten, auch wenn man darauf herabsah.
Doch welcher Mann sollte sich schon für mich erwärmen, wenn ich nichts hatte außer ein paar Kräuter und ein vorlautes Mundwerk? Doch die Regeln des Standes wurden auf andere Art und Weise verletzt, ohne das so mancher hier davon wusste.
Wenn Victor sich aus dem Haus stahl so traf er sich sicher nicht immer mit den Männern in seinem Alter. Es reichte ihm und den anderen nicht den Röcken der Frauen nur hinterher zu sehen.
Schon vor der Hochzeit hoben sie gerne den ein oder anderen an, um zu sehen was sich darunter befand. Ebenso wie es Phelan getan hatte, als er den Stoff meines Rockes hob um...
Das Klirren eines zerbrechenden Tonkrugs holte mich aus meinen eigenen Erinnerungen. Ich hatte ihn fallen lassen, als die beschämende Erinnerung an seinen Besuch vor mir aufgeflammt war.
Für einen kurzen Augenblick lauschte ich, doch Ruths schimpfende Stimme blieb mir zum Glück erspart. Der Bierkeller hatte wohl jedes Geräusch verschluckt und wurde so zu meinem stummen Komplizen, als ich die Scherben einfach hinter einem Bierfass versteckte.
Es ging hier nicht um Phelan sondern um Victor Pine und seine unmoralischen Freunde. Ich verdächtige sie alle, weil es das offensichtlichste war. Wer sonst käme auf die Idee mir einen so gruseligen Streich zu spielen?
Seit jener Nacht hatte ich meine Türen nur noch sorgfältiger verschlossen und oft stundenlang wach gelegen wenn mich ein fremdes Geräusch aufgeschreckt hatte. Doch bisher war nichts weiter geschehen. Ich wollte nicht warten, bis sie sich etwas neues ausdachten.
Mein Hals machte sich inzwischen deutlicher bemerkbar, besonders als ich aus dem eiskalten Keller des Wirtshauses hinaufstieg. Ich brütete etwas aus und war mir nicht sicher wie lange meine Kräuter diesen Zustand stabil halten würden.
Der Gedanke ans Bett gefesselt zu sein, geschwächt und vielleicht fiebrig, gefiel mir in meiner Lage ganz und garnicht. Ich würde also versuchen es geheim zu halten.
Alice hatte heute ihren freien Tag, doch trotzdem schien meine Anwesenheit jeden hier zu stören. Die Art und Weise wie Ruth in den letzten Tagen um mich herumschlich war verdächtig.
Mehr als einmal hatte ich den Versuch gewagt sie anzusprechen, doch irgendeinen Vorwand um mir aus dem Weg zu gehen fand sie immer.
Mal war es das Feuer, mal der Eintopf, mal ihr Mann der angeblich etwas dringendes mit ihr besprechen musste oder Victor der eine Strafpredigt verdiente weil er wieder mit dreckigen Schuhen durch den Schankraum gewandert war.
Ich arbeitete schweigend und möglichst unauffällig. Bis auf John Linde und Thomas Elm war an diesem Tag niemand im Schankraum. Ich glaubte nicht daran das beide besonders gute Freunde waren.
Thomas war ebenso wie sein Bruder unter anderem ein Holzfäller. Zusammen erledigten sie im Dorf auch diverse Schreier- oder Schnitzarbeiten. Arbeiten bei denen ihnen mein Vater auch immer wieder geholfen hatte.
Eine Aufgabe die seit seinem Tod auch John Linde übernahm, wenn er nicht gerade die Bestattung eines Verstorbenen organisierte oder den Boden seines Bierkruges anstarrte.
Beide saßen dicht beieinander und als ich an ihnen vorbeikam, schnappte ich nur Wortfetzen auf. John erkundigte sich anscheinend nach Samuels Wohlbefinden. Ein finsteres Schnaufen war die einzige Antwort die er bekam.
Der Jüngere der beiden Elm-Brüder schien noch immer unter den Ereignissen zu leiden und ich beschloss ihm bei Gelegenheit einen Besuch abzustatten, selbst wenn er nicht erwünscht sein sollte.
Erneut wanderte mein Blick zu der dunklen, leeren Nische in der abgelegensten Ecke des Raumes. Fast schon erwartete ich das mir helle Augen daraus entgegen starrten, doch wie auch in den letzten Tagen wurde ich enttäuscht.
Mied er mich? Wut keimte in mir auf, denn ich selbst hatte jeden Grund auf ihn wütend zu sein. Eine Wut die ich nicht an ihm auslassen konnte, wenn er sich fern hielt.
Eine Bewegung im oberen Stockwerk zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine grünen Augen blickten zur Treppe auf und ich ahnte bereits wer sich dort herumtrieb, als ich die Stufen langsam hinaufstieg. Victor hatte sich in der letzten Zeit ebenfalls von mir fern gehalten.
Vermisste ich etwa unsere Streitgespräche? Nein. Aber wenn ich schon den Jäger nicht zur Rede stellen konnte, musste eben eine andere Person für ihn herhalten. Meine Füße erreichten gerade die letzte Treppenstufe, als zwei graublaue Augen mich fixierten.
Der blonde Dorfschönling stand vor mir, als hätte ich ihn gerade bei etwas ertappt. Seine Hand lag auf dem Knauf seiner Zimmertür. Eine verzierte Holztür die er mit einem schnellen Ruck zuzog, als er mich erblickte. Anscheinend hatte er gerade hinein flüchten wollen, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden.
Eine Flucht die ich verhindert hatte. Ein blonder, lückenhafter Bart zierte das mir so bekannte Gesicht, was mich etwas verwirrte. Ein ungepflegtes Auftreten war unüblich für ihn. Oder war es einfach das Anzeichen dafür, dass er nun endlich erwachsen wurde und einen Bart trug?
„Was treibst du hier oben?" kam es finster und recht barsch über seine Lippen. Eine Frage die ich ihm eigentlich stellen wollte. Es war seltsam das er sich verkroch oder im Dorf verschwand.
Victor war ein Mensch der sonst immer gesehen und bewundert werden wollte. Jetzt wirkte er eher wie ein kleiner Junge der etwas ausgefressen hatte. Fast so als wolle er etwas vor mir oder auch anderen verbergen.
„Seit wann sind mir die oberen Stockwerke verboten? Oder benötige ich einen Putzeimer oder einen Besen, damit man mir Zutritt gewährt?"
Wie immer wurde unser Gespräch schnell zu einem Wortgefecht. So war es schon seit unserer Kindheit und es würde sich wohl nie ändern. In diesem Augenblick war ich jedoch sehr dankbar für dieses kleine Stück Normalität.
Der junge Mann verschränkte seine Arme vor der Brust. Sein Blick war misstrauisch.
„Welchen Grund hättest du ohne einen Besen oder Putzeimer herzukommen? Willst du herumschnüffeln?" Die ehrliche Feindseligkeit in seiner Stimme war mir erneut fremd. Ich war mir nun noch sicherer, dass er etwas in seinem Zimmer vor mir verbarg.
„Der Grund steht genau vor mir und dieses Verhalten deutet an, dass du irgendetwas ausgefressen hast." Auch meine Arme verschränkten sich vor der Brust und es musste ein seltsames Bild abgeben. Wie ein Spiegelbild des jeweils anderen standen wir uns gegenüber.
Der blonde Mann wirkte angespannt. Erneut zeigten sich tiefe Augenringe in seinem Gesicht, während auch seine Haare ungewohnt unordentlich waren. Hatte er bis jetzt geschlafen? Hatte er überhaupt geschlafen?
Wenn er mit seinen Freunden nachts Hühnerställe zerstörte, dann wäre sein Anblick nachvollziehbar. Ein Gefühl und ein Pochen in meiner Stirn, sagten mir jedoch das es andere Gründe gab.
Es dauerte einige Sekunden, doch am Ende wich er meinem Blick aus. Ein Sieg für mich. Er verheimlichte also wirklich irgendetwas. Dieser Kerl konnte eben noch nie überzeugend lügen.
„Dummes Weibsstück. Du bildest dir irgendwelche Dinge ein. Und was willst du überhaupt noch hier? Du hast ziemliche Nerven nach dem Tod deiner Hexenmutter hier aufzutauchen. Man könnte fast meinen es wäre dir Recht nun ohne sie zu leben." Er wollte anscheinend das Thema wechseln. Ablenken von seiner Zimmertür.
„Wäre es dir lieber ich würde dem Dorf fernbleiben?" Eine Gegenfrage die ihn wütend zischen ließ. Er gab mir keine Antwort darauf. Ich hatte mit einem Nicken oder einem Vorwurf gerechnet. Doch anscheinend war ihm diese Option nicht so recht wie er mir glauben machen wollte. Und es gab mir etwas Hoffnung für die Zukunft.
„Wenn ich nicht mehr herkomme, verliere ich die letzte Verbindung zu euch allen." Ich war mir nicht sicher, ob er meiner Erklärung überhaupt lauschen würde.
„Ob es dir gefällt oder nicht. Wir sind zusammen aufgewachsen. Es gab sogar eine Zeit in der wir befreundet waren. Wir alle. Zeiten in denen wir zusammen mit den Oaks losgezogen sind, während Mary und Marlot schon damals verwöhnte kleine Gören waren und bei jedem Fleck auf ihren Kleidern geweint haben. Es gab Zeiten in denen Rose euch allen den Kopf verdreht hat oder den Tag als du dich mit dem schwach wirkenden Vincent angelegt hast, weil dieser....."
Ich stockte, weil ein Stich sich in meine Gedanken bohrte als hätte ich ein Angel ausgeworfen und einen Fisch am Haken der unaufhörlich zappelte. Doch bevor ich ihn einziehen konnte, riss die Verbindung und ich blieb vollkommen verwirrt zurück.
Ich hatte ein Puzzleteil gefunden ohne es zu beabsichtigen. Langsam wanderte mein Blick wieder zu Victor und ich beobachtete wie sich die Hand meines Gegenübers zu einer Faust ballte.
„Willst du jetzt wirklich in alten Zeiten schwelgen?" Kam es eisig von ihm und seine Geduld schien zu schwinden. Ich musste mich also beeilen und den Faden wieder aufnehmen.
„Nicht zu sehr. Doch mit einem Mal seid ihr mir alle fremd geworden. Nach einer einzigen Nacht in der ich euch alle gebraucht hätte. Doch anstatt mit mir zu sprechen, habt ihr euch ohne Erklärung abgewandt und verlangt von mir das ich mich voller Scham auf ewig vor aller Augen verstecke. Ist wirklich so wenig von unserer Vergangenheit geblieben? So wenig das ihr mich nicht wieder aufnehmen oder mir zumindest vertrauen könnt?"
Victor schien auf Worten herum zu kauen, die er wohl nicht aussprechen wollte und nun wandte ich meinen Blick ab, weil es mich zornig machte. Zornig und traurig zugleich. Er könnte wenigstens einmal offen mit mir sprechen. War dies wirklich zu viel verlangt?
„Auch jetzt hätte ich euch gebraucht und wieder wendet ihr euch ab. Versteckt euch vor mir und fragt nicht einmal wie es mir mit allem geht. Und selbst wenn ich euch egal bin, meine Mutter hat euch viele Gefallen getan. Selbst wenn ihr es ihr verholten habt, es ändert nichts daran das sie ihren Teil beigetragen hat. Und wenn einer von euch meine Hilfe brauchen würde, so würde ich mein Möglichstes tun."
„Hast du jemals uns gefragt wie es uns geht?" Seine raue Stimme überraschte mich. Wut schwang darin mit. Ebenso wie etwas anderes das ich anfangs nicht genau einordnen konnte.
„Damals war alles friedlich. Wir waren glücklich und so hätte es bleiben können. Doch dann bist du mit deinem Bruder heimlich in den Wald verschwunden. Bis heute weiß niemand weshalb du so gehandelt hast. Ob du ihn vor der Opfernacht retten oder als Opfer darbringen wolltest. Doch wir alle wissen das du ohne ihn zurückgekommen bist. Voller Blut. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Und nicht bei Sinnen."
Victor hatte seinen Stimme gesenkt, schien zu prüfen ob ihn auch niemand hörte.
Wenn Ruth uns erneut bei einem Gespräch erwischte, würde es sicher das letzte Mal sein. Sie würde nicht dulden das sich unser Verhältnis zueinander besserte. Und der Inhalt unseres Gespräches würde sie zorniger machen als jemals zuvor.
„Du hast anscheinend bis heute nicht verstanden was es bedeutet." kam es finster von dem Mann mit den immer tiefer werdenden Augenringen.
„Wir haben das Opfer nie selbst gewählt. Der Wald hat auch nie ein freiwilliges Opfer angenommen. Wir konnten friedlich leben ohne die Regeln zu kennen, weil es jeden treffen konnte. Weil niemand es beeinflussen konnte. Wir konnten vergessen was geschehen würde, weil es nicht in unserer Macht stand das Schicksal zu verändern."
Er atmete tief durch und presste seine Lippen dabei kurz fest zusammen, als würde er um eine gewisse Selbstbeherrschung kämpfen.
„Doch dann hast du gewählt. Mehr als einmal. Und seither sehen wir jeden Tag die Schuldige die uns ein Familienmitglied, einen Freund oder einen Bekannten nimmt. Sehen dich wie du lebst ohne daran zugrunde zu gehen. Wie sollten wir jemals wieder befreundet sein? Stellen wir uns gut mit dir, werden wir vielleicht verschont. Doch was tun wir wenn dafür eines unserer Familienmitglieder stirbt? Ist es dann deine Schuld? Oder unsere?"
Ich erkannte nun was in seiner Stimme mitschwang. Er bereute es. Bereute das die Dinge sich derart entwickelt hatten. Doch auch der blonde Wirtssohn konnte nichts daran ändern. Und etwas anderes wurde klarer.
Es waren Schuldgefühle die ihm eine andere Person eingepflanzt hatte. Nicht nur ihm. Vielleicht auch anderen. Vielleicht im Rahmen einer weiteren Predigt. Einer Predigt die aussagte, dass die Familie und das Dorf wichtiger waren als alles andere. Wichtiger als das Leben einer Gefallenen.
Natürlich wusste ich all das. Ebenso wie ich wusste das er mir gerade jetzt wieder entfliehen wollte. Doch so schnell würde ich ihn nicht ziehen lassen.
„Ist das einer der Gründe wieso ihr mich überfallt? Wollt ihr umsetzen was man euch eingeredet habt?" Ich bemerkte wie Die Wut in ihm sofort wieder hochkochte. Hatte ich etwa einen empfindlichen Nerv getroffen?
„Du redest schon wieder Unsinn!" zischte Victor mir leise entgegen, während er einige Schritte auf mich zuging. Der Holzboden unter seinen Füßen knarzte verräterisch und erneut hielt er Ausschau nach Ruth. Sie würde bald misstrauisch werden. Besonders wenn John längere Zeit vor einem leeren Krug saß, was normalerweise nie der Fall war.
„Ich rede Unsinn? Ihr alle denkt eine Zehnjährige hätte bereitwillig ihren Bruder geopfert. Ihr habt Angst davor von mir berührt zu werden, weil es euch dann vielleicht genauso ergeht, trinkt aber aus Krügen die ich euch bringe. Ihr überfallt mich und wollt mir schaden, obwohl es nichts daran ändern wird was alle fünf Jahre geschieht. Niemand von uns kann es verhindern oder beeinflussen. Auch ich nicht."
Nah standen wir einander gegenüber und sahen uns in die Augen. Zum ersten Mal hatte ich meine Gedanken offen ausgesprochen. An eine Freundschaft erinnert die viele Jahre zurücklag. Ob es ihn in irgendeiner Weise beeinflusste konnte ich nicht einschätzen.
„Was willst du mit diesem Gespräch erreichen, Moira?" Er brach die Stille die zwischen uns entstanden war. Ich selbst hatte meine Hände in meine fleckige Schürze gekrallt und sah zu ihm auf wie ein bockiges Kind.
„Nichts. Ich sage dir nur wie die Dinge sind. Trotz allem war ich nie dein Feind. Ich beabsichtige es auch nicht zu werden. Alles was ich will ist ein ruhiges Leben, wenn ich schon nicht mehr auf deine Freundschaft oder dein Vertrauen zählen kann."
Ich bemerkte das er antworten wollte, doch ein Geräusch aus seinem Zimmer ließ uns beide schnell zu der verschlossenen Holztür sehen. Es war nur ein dumpfer Laut, fast so als wäre etwas auf den Holzboden gefallen.
Doch die Tatsache das sich überhaupt etwas in seinem Zimmer bewegte war verdächtig genug. Victor sagte nichts und ich tat es ihm eine Weile gleich.
Im Flur breitete sich Totenstille aus und die Atmosphäre zwischen uns wurde angespannter. Ich hatte etwas mitbekommen das nicht für meine Ohren bestimmt war. Der Blondschopf öffnete bereits seine Lippen um etwas zu sagen, doch ich hob augenblicklich meine Hand um es zu unterbinden.
„Ich werde dich nicht danach fragen." kam es recht trocken über meine Lippen.
„Denn dann kann ich anderen auch keine Antwort geben."
Mir stand nicht der Sinn danach mich noch mehr in seine Angelegenheiten einzumischen. Ich hatte genügend anderes, was mich bereits zur Genüge beschäftigte.
Victor zeigte mir ein widerwilliges Nicken. Wir waren uns also ausnahmsweise einige. Es war besser unser Gespräch zu beenden.
Ich wandte mich um und stieg langsam die Treppen herab zurück in den Schankraum. Mir entging jedoch nicht, wie der Sohn des Wirtes gleichzeitig fluchend in sein eigenes Zimmer verschwand. Vielleicht würde mir diese kleine Begegnung irgendwann von Nutzen sein.
Auch den Rest des Tages herrschte wenig Betrieb. Thomas und John verließen den Schankraum etwa eine Stunde später und nur Winston Cedar tauchte kurz auf, um ein herzhaftes Abendessen zu sich zu nehmen.
Sein Blick folgte mir misstrauisch, während ich die Tische säuberte und den Boden kehrte. Wir hatten nie ein Wort miteinander gewechselt.
Er hing mit einer gebeugten Haltung über seinem Teller. Brannte mit seinem Blick regelrecht ein Loch in seine Kartoffeln, die er immer wieder kritisch drehte als wolle er einen Makel daran finden. Ruths Essen zu kritisieren wäre ihm sicher eine willkommene Gelegenheit, um seine Meinung kund zu tun.
Winston Cedar war nicht besonders groß, strahlte jedoch eine gewisse Autorität und Strenge aus. Sein Gesicht zeigte selten ein Lächeln und wenn er einmal etwas sagte, so schien es stets ein bellender Befehl oder eine harsche Kritik an allem zu sein.
Er war ein Mann der seinen Platz eingebüßt hatte und stets zu beweisen versuchte, dass er einer der intelligentesten Menschen hier war. Besonders in der Gegenwart von Moran, der ihm in den meisten Fragen immer überlegen zu sein schien.
Dieser Mann und seine Schwester sahen auf mich herab, ebenso wie sie auf meine Mutter herabgeblickt hatten. Es brachte ihnen meinerseits nicht viel Sympathie ein und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wieso Iris die Dienste einer Evelyne Beech nie in Anspruch genommen hatte.
Die einzige Erklärung die mir einfiel war der Vater ihrer Schande. Vielleicht hatte sie sich eine Ehe erhofft wenn sie ein Kind eines einflussreichen aber bisher unbekannten Mannes austrug. Wenn es so war, so hatten sich ihre Hoffnungen wohl nicht erfüllt und ihre ganze Familie ins Elend gestürzt.
Ihr Bruder jedenfalls schien seither jedoch kaum noch ein Wort mit ihr oder allen anderen zu sprechen, außer es war ein Streitgespräch. Ein wütender Hund der nach allem schnappte was sich ihm näherte.
Er nahm wie immer seine Mahlzeit ein, wischte sich genervt den Mund ab und ging ohne groß etwas von sich zu geben. Kein Lob und kein Dank für Speis und Trank. Mich überraschte es schon lange nicht mehr, also sammelte ich sein Geschirr ein, bevor Harold mich dazu auffordern musste.
Ich seufzte schwer und trat in die Küche, wo ich eben jenen Wirt dabei erwischte wie er gerade eine der Würste verschlang die Ruth einige Stunden zuvor verstohlen für sich selbst beiseite gelegt hatte. Seine dicken Finger schoben gerade den letzten Zipfel zwischen seine Lippen, als er mich bemerkte.
Ein genervtes Brummen war der einzige Laut in der Küche, als er sich angestrengt und widerwillig zu mir umwandte. Normalerweise gingen wir uns instinktiv aus dem Weg und ebenso wie Ruth hatte er mich den ganzen Tag ignoriert. Bis jetzt. Und ausnahmsweise schien mein Arbeitgeber Redebedarf zu haben.
„Hätte dich so schnell nicht zurück erwartet." Seine Augen lagen misstrauisch auf mir und seine Hände griffen derweil nach einem Stück Brot. Ich vermied es ihn darauf hinzuweisen, dass auch dieses zu Ruths Geheimvorräten gehörte. Harold selbst war wohl sein bester Gast, was auch seine Leibesfülle erklärte.
„Ich brauchte Ablenkung und die Arbeit hier erledigt sich nicht von selbst. Ihr wart so nett eure Räume für die Trauerfeier zur Verfügung zu stellen. Ich vergelte es euch mit harter Arbeit."
Es war keine Lüge. Sie hatten mir bei dieser Angelegenheit mehr geholfen als erwartet. Selbst wenn es aus einer alten Schuld heraus geschehen war. Und aus Eigennutz.
„Das Weibsstück war Ruths Cousine. Ein fauler Apfel ohne Zweifel. Aber es hätte schlecht ausgesehen uns herauszuhalten."
Wieder ging es wohl nur um das Ansehen innerhalb des Dorfes. Nicht um meine Mutter selbst. Doch was erwartete ich? Mir selbst war es schwer gefallen ein gutes Verhältnis zu ihr aufzubauen, wie also sollten es die anderen haben?
Harolds prüfender Blick lag auf mir, doch ich erwiderte ihn ohne zu zögern. Noch immer hielt ich das dreckige Geschirr in den Händen, weil der massige Mann mir den Weg versperrte. Entweder bemerkte er es nicht oder er tat es absichtlich.
„Trotzdem danke ich euch." Es war wichtig dies zu betonen, denn der Wirt mochte es wenn man vor ihm kroch.
Dieses Mal schien es aber nicht so viel Wirkung zeigen. Seine Miene blieb steinhart, während er die Lippen fest aufeinander presste. Etwas in ihm schien zu kochen, auch wenn ich nicht verstand was es war.
„Behalt deinen Dank. Wir schulden dir uns deiner Familie nun nichts mehr, nachdem der Großteil davon unter der Erde liegt. Eine Last weniger die wir zu tragen haben."
Er schnaubte und rümpfte anschließend seine rote, knollenartige Nase. Victor musste sein gutes Aussehen und seine Figur wahrlich von seiner Mutter geerbt haben.
Was die junge Ruth damals in dem Wirt gesehen hatte mir selbst ein Rätsel, doch seine Abstammung und sein Stand innerhalb des Dorfes hatte ihn wohl als gute Partie erscheinen lassen.
„Wie soll ich das verstehen?" Die Frage kam automatisch über meine Lippen, denn meine Verwunderung war echt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas das auch Ruths Stimmung und ihre ständige Abwesenheit erklärte.
„Heute ist dein letzter Tag. Schadest meinem Geschäft. Der Schankraum ist leer. Die Leute reden, anstatt zu trinken. Über die treulose Tochter einer Metze, die vorgibt zu trauern, obwohl ihr das Ableben der selbigen gut zu passen scheint."
Die Worte waren wie Ohrfeigen. Ich konnte nur schockiert den Mund öffnen, doch Worte kamen einfach nicht heraus. Wagte er dies gerade wirklich?
„Mein Weib sagte wir sollen abwarten, weil Gras über die Sache wachsen wird. Gutgläubiges Ding. Sagte die Leute reden und würden sich beruhigen. Doch was soll ich mich mit einer unheilvollen Magd herumschlagen, die den Tod anzieht wie der Mist die Fliegen? "
Mit einem lautem Klirren ließ ich das Geschirr in meinen Händen einfach zu Boden fallen. Eine Last weniger die ich zu tragen hatte, um es in seinen Worten auszudrücken. Zorn brannte in mir und es ließ mein Gegenüber wohl kurz innehalten, der kurz davor war mich wegen dem Geschirr anzuschreien.
„Unheilvolle Magd? Erzählt man sich dies? Das ich meiner Familie dieses Schicksal eingebracht habe? Das es mir gut in den Kram passt das man die Überreste eines Familienmitgliedes noch tagelang im Wald finden wird?"
Meine Stimme war lauter als beabsichtigt, doch die Dummheit der Menschen hier machte mich wahnsinnig. Sollten es doch alle hören. Ruth, Victor oder sein geheimnisvoller Gast. Es war mir egal.
„Glaube mir Harold, mir selbst bringt all das mehr Unheil als euch allen. Und nicht einer von euch hat so viel Taktgefühl seine eigene Meinung für sich zu behalten. Nicht einmal am Tag der Beerdigung oder einen Tag danach. Jeder sagt mir das sie trotz ihres Lebenswandels ein Verlust für alle ist. Jeder lügt mir auf so eine Weise dreist ins Gesicht. Ich soll froh sein über ihren Tod? Was ist mit euch allen? Ein Schandfleck ist verschwunden. Bin ich der nächste?"
Mein Gegenüber wirkte verunsichert, fast so als hätte ich ihm den Wind aus den Segeln genommen. Eine Frau die sich gegen einen Mann auflehnte war für die meisten hier im ersten Moment schockierend.
„Was interessieren mich deine Belange?"
Auch er schien wütender zu werden, nachdem er seine Fassung wiedergefunden hatte. Ich erkannte es an dem Blut das ihm augenblicklich in den Kopf und vorallem in seine von roten Äderchen durchzogenen, fülligen Wangen schoss.
Es war Zorn, weil ich ihn maßregelte in seinem eigenen Haus. Scham, weil Gäste es hören könnten. Woher ich dies wusste? Nun ich hatte erneut keine Ahnung. Doch ich war mir dieser Dinge gewiss.
„Du machst es dir sehr leicht." Zischte ich ihm entgegen, während ich meine Schürze von mir riss, nur um sie auf den Boden zu werfen wie ein bockiges Kind.
„Richte deinen Blick nur auf dich selbst, doch erwarte nicht das ich da sein werde wenn du oder irgendjemand aus deiner Familie jemals meine Hilfe brauchen sollte!"
Und das würden sie. Sie alle. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich meine Mutter. Den Hochmut den sie empfunden haben musste. Die Abneigung gegen sie alle. Und die Genugtuung wenn sie kamen und um Hilfe baten.
Eilige Schritte verhinderten den aufkeimenden Wutausbruch des Wirtes. Ruth steckte den Kopf zur Tür hinein und wollte uns wohl eine Predigt darüber halten wie man sich in der Nähe der Gäste verhielt, selbst wenn keine anwesend waren.
Bei unserem Anblick blieben ihr aber anscheinend die Worte im Halse stecken. Stattdessen weiteten sich ihre Augen erschrocken. Was genau sah sie vor sich?
Ihr Mann, ein wuchtiger, kräftiger Mann, der seine Hände zu Fäusten ballte. Er bebte inzwischen vor Zorn, hielt sich zurück um nicht einen Stuhl nach der Person vor sich zu werfen. Er glich einem wütenden Stier, der gleich Anlauf nehmen würde, um einen zerstörerischen Angriff zu wagen.
Ihm gegenüber stand eine störrische Frau, die einer verwilderten, schwarzen Straßenkatze glich und gerade ihre Krallen ausfuhr, um ihm das eine oder auch das andere Auge auszukratzen.
Egal was geschah, ich würde angreifen, einfach nur um meinen eigenen angekratzten Stolz zu verteidigen. Die Zeiten in denen jeder nach mir treten konnte waren vorbei und ich würde mich nicht mehr ohne Gegenwehr beugen.
„Raus mit dir du schändliches Biest."
Es erforderte Harolds gesamte Selbstbeherrschung diese Worte an mich zu richten. Eine letzte Warnung bevor man ein zweites Grab ausheben musste.
Auf meinen Lippen brannte ein bissiger Kommentar, doch es war Ruths verzweifelter Anblick, der mich dazu zwang den Rückzug anzutreten. Trotz ihrer eigenen Vorurteile war sie auf ihre Art fair zu mir gewesen.
Ich dankte es ihr, indem ich mein letztes bisschen Beherrschung zusammenkratzte, nur um das Wirtshaus durch den Hinterausgang zu verlassen. Mit hoch erhobenem Haupt und mit der Genugtuung das ich zumindest die Tür angemessen hinter mir zuknallen konnte.
Wütend stapfte ich an den Ställen vorbei die ich zur Strafe mehr als einmal ausgemistet hatte. Zumindest würden meine Schuhe abends nun nicht mehr nach Dung riechen.
Ich zwang mich dazu tief durchzuatmen, während mein Herz wild in meiner Brust schlug. Mir war heiß und diese ganzen Streitereien waren sicher nicht gut für meine angeschlagene Gesundheit.
Da war ich nun. Allein und ohne Lohn und Brot. Ich hielt den Kopf oben, bis ich den Rand des Marktplatzes erreichte.
Ausnahmsweise achtete ich nicht auf andere Leute die sich hier noch herumtreiben mochten. Diese ganze Angelegenheit würde sich noch schnell genug herumsprechen, da war ich mir sicher.
Doch hatte es überhaupt die Möglichkeit gegeben diesen Ausgang zu verhindern? Harold schien nur darauf gewartet zu haben mich endlich hinauszuwerfen.
Mein Blick wanderte zu den umliegenden Häusern, die sich eng aneinander drückten und den Marktplatz umrahmten. Die meisten hatten bereits ihre Fensterläden geschlossen, da es bald dunkel werden würde. Jeder versuchte die Wärme in den eigenen vier Wänden aufrecht zu erhalten, während die Nächte immer kühler wurden.
Zu dieser Zeit verteilten die Elms immer festgelegte Mengen an abgelagerten Feuerholz unter den Dorfbewohnern. Egal zu welcher Jahreszeit, sie schienen immer genügend Arbeit zu haben. Ebenso wie helfende Hände oder Lehrlinge.
Erneut dachte ich an Samuel, dessen bleiches Gesicht mir nicht aus dem Sinn gehen wollte. Er war mir auf der Beerdigung ausgewichen und später hatte Thomas mit seiner Anwesenheit dafür gesorgt das ich auf Abstand blieb.
Kleine Wolken stiegen vor meinem Gesicht auf, während ich langsam weiterging. Ich sollte wohl heimgehen. Mir Gedanken über die Zukunft machen. Doch etwas anderes zog meinen Blick an.
Die schiefe Behausung der Familie Cypress war in der Nähe. Es neigte sich gefährlich zur Seite und nur das Nachbarhaus schien eine rettende Stütze zu sein.
Ich trat einige Schritte darauf zu. Blumenkästen hingen überall an der Fassade. Vor der Tür lagen frisch gebundene Kränze verziert mit Chrysanthemen, Astern, Dahlien und Sonnenblumen. Sie wirkten unnatürlich farbenfroh in dieser dunklen Umgebung.
Ich streckte die Hand nach einem der Kränze aus, doch bevor ich auch nur die kleinste Blüte berührte hörte ich ein ungehaltenes Räuspern. Reflexartig zog ich meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt.
Mit einem gewissen Abstand zu mir stand ein Mann mit schlanker Gestalt und spitzen Gesichtszügen. Sein Haar war schwarz, etwas länger als das der anderen Männer hier und fiel ihm leicht in die mandelförmigen Augen, während er mich mit einer Mischung aus Interesse und Misstrauen beobachtete.
„Welch diebische Elster hat sich denn da vor mein Haus verirrt?" Ein herausforderndes Schmunzeln zeigte sich auf seinen dünnen Lippen. Wieder eine Person die mich provozieren wollte. Als ob ich es nötig hätte Blumen zu stehlen.
„Ist es verboten sich etwas Handwerkskunst anzusehen?" Entgegnete ich ihm etwas zu schroff und bemerkte wie sich das Schmunzeln zu einem provozierenderen Lächeln wandelte. Er glaubte mir kein einziges Wort. Elender Mistkerl.
„Du wirkst eher als würdest du jede einzelne meiner geliebten Blüten am liebsten zerreißen." Er ging zu den Kränzen und richtete einige der Blüten neu aus, als wolle er beweisen das er sanfter mit ihnen umging.
„Und wie sollte ich deiner Meinung nach mit ihnen umgehen? Soll ich stumpfsinnig lächelnd vor ihnen stehen und mir ausmalen wie gut sie zu meinem Hochzeitskleid passen würden?"
Irgendetwas an ihm machte mich rasend. Doch kein Wunder. Vincent hatte ein Talent dafür die Leute in diesem Dorf zur Weißglut zu bringen. Anscheinend gönnte mir dieser Tag keine ruhige Minute.
„Das wäre ein normales Verhalten für eine junge Frau. Mädchenhaft, unschuldig und anziehend."
Er hielt inne, musterte mich eingehend und fügte dann hinzu:
„Träumen sollte eine Frau nur sofern sie auch die Aussicht auf eine Heirat hat."
Der Stich saß tief und so langsam begann es zu schmerzen. Musste es denn jeder hier ständig betonen? Wütend biss ich mir auf die Unterlippe und spürte wie meine Emotionen zu kippen drohten. Und auch mein Gegenüber spürte es wohl.
„Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Doch von Blumen solltest du doch besser fern halten. Besonders von meinen." Setzte er nach.
„Eine Pflanze wird immer eingehen wenn man sie wie einen toten Gegenstand behandelt und ihr keine Liebe schenkt. Mit Menschen ist es genauso."
Er griff einige Gestecke um sie wohl ins Innere des Hauses zu bringen, während ich mich langsam wieder fing.
„Also soll ich Pflanzen wie Menschen behandeln?"
Meine Stimme triefte regelrecht vor Skepsis und der Drang dieses Gespräch schnell zu beenden wurde größer. Besonders als der Angesprochene plötzlich anfing glucksend zu lachen, als hätte ich einen wirklich guten Witz erzählt.
„Wenn du deine Pflanzen so behandelst wie du Menschen behandelst, dann kann ich dir garantieren, dass sie sich spontan selbst entzünden werden, um dieser Behandlung zu entgehen." Dieser elende....
Ich zwang mich erneut dazu tief durchzuatmen. Ein und aus. Ein und aus. Gab es irgendeinen Menschen auf dieser Welt, der es auch nur eine Stunde mit ihm aushielt ohne das Bedürfnis zu haben ihm den Hals umzudrehen?
„Welch seltene Begegnung..."
Eine amüsierte Stimme hielt mich davon ab, einen grausamen Mord zu begehen. Ein Glück für einen gewissen Blumenflüsterer, welcher sich recht auffällig seine Haare und seine Ärmel zurecht strich.
Er warf der rothaarigen Frau mit den auffälligen Sommersprossen einen verstohlenen Blick zu, als sie an uns herantrat.
„Ich habe euch noch nie so lange miteinander sprechen gesehen."
Molly Willow lachte vergnügt und erhellte damit meinen dunklen Tag. Die einzige Person der ich ein gewisses Wohlwollen glaubte. Etwas scheu senkte ich den Blick, als mir die Begegnung mit ihrer Nichte einfiel.
„Vincent hielt mir gerade einen Vortrag über die Gefühlswelt von Blumen." entgegnete ich trocken. „Und darüber wie man sie wohl am besten behandelt. So wie man wohl einen anderen Menschen behandeln würde."
Mir fiel auf wie sich die Gesichtszüge des Mannes verhärteten. Molly hingegen musste erneut leise lachen und sah dann bewundernd zu all den Blumen an der Fassade des Hauses.
„Wenn Vincent einen Menschen auch nur ansatzweise so gut behandelt wie seine Blumen, kann dieser Mensch sich wirklich glücklich schätzen. Er wird immer geliebt und verehrt werden. Ich glaube es gibt kaum etwas dem er mehr Aufmerksamkeit schenkt."
Oh da hatte sie Unrecht. Denn wenn ich die Blicke dieses Scheusals richtig deutete, so gab es definitiv eine Sache der er mehr Aufmerksamkeit schenkte.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, wandte er sich mit einem genervten Schnaufen ab, um die Blumen ins Haus zu tragen. Es gab mir einen kurzen Augenblick alleine mit Molly.
„Seine Art ist manchmal wirklich fürchterlich." sagte ich leise. „Er hat dich immer wieder in unangenehme Situationen gebracht und trotzdem bhast du immer ein Lächeln für ihn übrig."
Meine Augen musterten die junge Frau. Sie wirkte so vergnügt wie immer. Sie hatte ihre roten Haare zusammengesteckt. Wirkte entspannt und ohne Sorge während ihre Augen wohl wieder mach dem dunkelhaarigen Mann Ausschau hielten. Doch ich sah nicht die typischen Anzeichen die ich erwartet hatte.
Da war nicht dieser eindeutige, zufriedene Glanz in ihren Augen. Keine unbewusste Streichbewegung über ihren Bauch. Nicht diese Atmosphäre die man in der Gegenwart einer Schwangeren so deutlich spürte. Sie war keine Frau die ein kleines Geheimnis hütete. Nicht zum ersten Mal hatte ich die Vermutung das Alice mich belogen hatte.
„Er ist kein schlechter Mensch. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt und als das jüngste und schmächtigste Kind der Familie war es ihm nie vergönnt eine bessere Erziehung zu erhalten. Er hat gelernt sich mit Worten zu verteidigen, auch wenn er es eigentlich nicht so meint." Sie schenkte mir einen Blick und erneut ein Lächeln.
„Auch du wirkst auf andere Menschen sehr kratzbürstig. Doch wärst du nicht lieber ein Teil von allem hier?" Die Tatsache das ich ihrem Blick bei diesen Worten auswich, schien Antwort genug zu sein.
„Vincent und du ihr seid euch sehr ähnlich. Wenn man euch zu nahe kommt, dann schlagt ihr um euch. Ihr haltet andere auf Abstand, obwohl ihr ihnen näher kommen wollt."
Ich empfand Bewunderung für diese Frau, die so offen und trotzdem so warmherzig sein konnte. Nur ihr Geschmack Männer betreffend war wirklich unverständlich.
„Wenn wir nicht um uns schlagen, so schlägt man wohl uns." Meine Stimme war ein Nuscheln und Molly schüttelte nur seufzend den Kopf. Ich hatte es geschafft ihr Lächeln zu vertreiben.
„Du bist ein Sturkopf, Moira Beech. Stoß nicht jeden weg der dir helfen will." Sie trat an mich heran. Ihre Finger befühlten den Stoff meines Kleides und einige Nähte die ich unbeholfen angebracht hatte um die ein oder andere Stelle zu flicken.
„Komm zu mir, wenn sich eine Gelegenheit dazu findet und ich befreie dich von diesen Lumpen. Lass mich wenigstens das für dich tun. Es schmerzt mich wenn ich Leute in alten Kleidern sehe, wenn meine Familie mit Leichtigkeit etwas neues zaubern kann."
War mein Kleid wirklich so schlimm? Stolze Sturheit machte sich in mir breit. Ich würde auf keinen Fall zu ihr gehen!
„Sie von den Fetzen zu befreien macht sie auch nicht zu einer anziehenderen Frau."
Vincent war erneut herausgekommen, weil er weitere Kränze holen wollte. Sicherlich hatte er unser Gespräch belauscht und nutzte es für einen weiteren Angriff.
„Wenn du Augen im Kopf hättest, die nicht nur die Feinheiten von Blumen erkennen, dann würdest du sehen das Moira bereits viele Vorzüge einer anziehenden Frau besitzt."
Der unerwartete tadelnde Ton der kleinen, rundlichen Frau ließ mich schmunzeln. Ebenso wie der Blick des Schwarzhaarigen. Er sah aus als hätte sie ihm ohne Vorwarnung eine Ohrfeige gegeben.
„Willst du sagen ich habe keinen Geschmack was Frauen betrifft?"
Als er sich wieder fing, waren seine Worte schroffer und die mandelförmigen Augen verzogen sich zu engen Schlitzen.
„Ich sage nur das du außer deinen Blumen nichts anderes im Kopf hast!" entgegnete Molly sachlich und schien damit einen wunden Punkt zu treffen.
Vincent krallte seine Finger in den Kranz, den er gerade aufgehoben hatte und schnaubte leise.
„Das habe ich sehr wohl. Und ich betrachte die Frauen dieses Dorfes wahrscheinlich genauer als du."
Röte stieg in die üppigen Wangen der Rothaarigen und ihr Lächeln wurde etwas gezwungener.
„Oh, ist das so?" Kam es zuckersüß über ihre Lippen, während ich mich fragte ob es nicht besser wäre heimlich zu verschwinden.
„Welche genau hast du denn im Blick?" bohrte Molly weiter während der Angesprochene ihr nur einen stechenden Blick zuwarf.
„Das geht dich nichts an. Wer auch immer es ist, du könntest eh nicht mit ihr mithalten. Mit deiner Statur könnte ich dich ja im Falle einer Hochzeit nicht einmal über die Schwelle tragen."
Es wurde persönlicher. Mir fiel auf wie sich die Fäuste der Frau ballten und es beruhigte mich, dass selbst sie ab und an den Drang verspürte diesen Idioten zu erwürgen.
„Wer sagt denn das ich Interesse an einem Schwächling habe, der bei dem aller kleinsten Gewicht zusammenbrechen würde?" konterte sie und erneut verspürte ich tiefe Bewunderung.
„Ich brauche einen Mann der mich umsorgt und nicht anders herum. Es reicht irgendwann ein Kind zu bekommen. Ich möchte nicht auch noch eines heiraten."
Stolz strich sie ihren Rock zurecht, während sie dem sprachlosen Vincent ein siegessicheres Lächeln zuwarf und sich zu mir umwandte.
„Denk über meinen Vorschlag nach." wiederholte sie nun ruhiger, während sie mich erneut musterte.
„Und ruh dich etwas aus. Wie mir scheint hat all das an dir genagt. Du wirkst angeschlagen."
Sie spielte wohl darauf an das ich krank war und umschrieb es netterweise. Schweigsam nickte ich ihr zu, bevor sie ihren Weg fortsetzte ohne den Blumenhändler noch eines Blickes zu würdigen.
Eben jener schien seine Wut gerade in sich hineinzufressen. Vincent konnte eben noch nie gut damit umgehen der Unterlegene zu sein. Schnaubend löste er sich irgendwann aus der Starre, warf den etwas zerknautschten Kranz vor meine Füße und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Das ist alles deine Schuld, Pechhexe." zischelte er und ich schüttelte nur den Kopf.
„An dem Pech bist du selbst schuld. Und wieso wirfst du mir deine Ware vor die Füße? Willst du mich damit besänftigen?"
Nun schien er es zu sein der mich am liebsten erwürgt hätte.
„Den will jetzt keiner mehr. So wie dich. Also mach damit was du willst."
Seine Stimme war wie das Zischen einer Schlange und ohne ein weiteren Wort verschwand er in sein Haus, wo er wohl seine Niederlage und die Demütigung verarbeiten würde.
Ich selbst bückte mich nach dem Kranz, welcher so verstoßen vor mir lag. Meine Hände richteten geduldig die Blüten und wusste schon genau was ich damit anstellen würde.
....
Das letzte Tageslicht war bereits verschwunden, als ich den Erdhaufen vor mir betrachtete und den Kranz am oberen Ende ablegte. Das Grab sah trostlos aus. Verlassen und vergessen, denn außer mir hatte kaum jemand etwas abgelegt.
„Hast du gewusst das sie so undankbar sein würden?" Sprach ich in die Stille hinein.
„Hast du deshalb so rücksichtslos gelebt? Ich werde mir kein Beispiel daran nehmen oder dir verzeihen das du oft nur an dich gedacht hast. Aber ich verspreche dir, dass ich einige offene Fragen klären werde. Fragen auf die du mir keine Antwort mehr geben kannst."
Außer dem leises Pfeifen eines kühlen Windes schien mir auf diese Worte keine Antwort vergönnt zu sein. Ich stand als einzige alleine in einer Reihe von Grabsteinen. Eine Historie derer die hier gelebt und gestorben waren.
Das man meine Mutter inmitten der Gläubigen begraben hatte, war bei ihrem Lebenswandel wirklich ein Wunder. Danken würde ich Pater Birch trotzdem nicht dafür.
Ich atmete die kühle Herbstluft ein, die sich an diesem Abend angenehm auf meiner erhitzten Haut anfühlte. Ich hatte es übertrieben und würde sicher einen Preis dafür zahlen müssen.
Meine Stirn brannte, was ich auf das Fieber schob, während mein Blick sich in der langsam zunehmenden Dunkelheit zu orientieren versuchte.
Etwas hier zog mich an. War ich wirklich nur wegen meiner Mutter hergekommen?
Wie schon einmal in einer schwarzen Nacht, spürte ich einen Sog den ich nicht bekämpfen konnte.
Ein Sog aus der Richtung des Waldes. Sich dagegen zu wehren hatte keinen Sinn.
Meine Füße bewegten sich wie von allein, während sich der Wind um mich herum zu einem Flüstern wandelte.
Leise Stimmen formten Wörter die sich wie Nebel in meinem Kopf auflösten.
~ Hüte dich vor dem Wolf, der nicht ist was er vorgibt zu sein~
~Glaube nicht dem Fuchs, der mit List und Tücke umherstreift~
~ Halte dich fern von dem Bären, der deinen Leib zerreißen möchte~
Masken flammten vor meinem inneren Auge auf. Tanzende Gestalten mit Tiermasken. Ein Feuer und ein blutroter Mond. Je näher sie kamen desto verzerrter wurden ihre Körper, wandelten sich zu monströsen Schatten die sich gegenseitig auffraßen.
~Hüte dich, Moira Beech. Vor dem Feind in deinen eigenen Reihen.~
Woher nur kannte ich die Stimme die zu mir Sprach?
Meine Kehle brannte wie Feuer und machte mir das Atmen schwer.
Meine Augen kniffen sich zusammen.
Meine Füße stolperten an Grabsteinen vorbei.
Zum Rand des Friedhofs, wo Unkraut mich erwartete.
~Lass sie nicht deine Fährte finden, denn sie riechen deine Angst.~
Meine Hände kämpften sich durch ein Meer von Pflanzen und Disteln.
Schoben sie gedankenverloren und ohne zu zögern zur Seite.
Den Schmerz der Stacheln spürte ich kaum.
Doch ich spürte wie meine Finger plötzlich über einen Stein strichen.
~Und wenn sie dich kriegen, brennst du heller als Herbstlaub es je könnte.~
Die flüsternde Stimme erstarb, als meine Finger die Inschrift des versteckten Grabsteines berührten und meine Gedanken gerieten in Aufruhr, als ich die Buchstaben, nein...den Namen, entziffern konnte:
Badria Beech.
Kalter von Moos überwucherter Stein. Allein. Vergessen. Fern der Kirche und umrahmt von stacheligem Unkraut.
Meine Augen ließen noch immer nicht von der verwitterten Inschrift ab. Starrten sie an, als würde sie verschwinden sobald ich auch nur einmal blinzelte. Wie vieles in den letzten Tagen erschien es mir wie ein unerwarteter Schlag ins Gesicht.
Meine Gedanken wanderten zu der verfallenen Hütte im Wald. Ein unwirkliches Gebilde zwischen den Wurzeln eines alten Baumes, welches von der Wildnis regelrecht verschluckt wurde. Ebenso wie die gruselige alte Frau die darin wohnte.
Ich hatte mir eingeredet, es mir eingebildet zu haben. Mir immer wieder gesagt ich wäre eine Närrin, die sich wirre Bilder zusammen träumte. Einen düsteren Traum, der aus einem unsanftem Fall resultierte.
Meine Finger wanderten zitternd über die Vertiefungen im Stein, fast so als würde ich mir eine Antwort davon versprechen. Als würde ich Bilder erwarten, die plötzlich auf mich einströmten. Doch es blieb bei meinen eigenen verwirrten Gedankengängen.
War diese Hexe eine Verwandte meines Vaters? Der Name deutete darauf hin. Doch etwas sagte mir, dass dies ein falscher Denkansatz war. Es fühlte sich so falsch an, als würde man ein Bild kopfüber betrachten.
Angestrengt schloss ich die Augen. Inzwischen war die Hitze auf meinen gesamten Körper übergegangen. Fieber wütete in mir und der Wunsch nach Schlaf wurde immer größer.
Auf keinen Fall würde ich mich hier neben dem Stein niederlegen. Ich kniete bereits zwischen Disteln und Brennnesseln. Aufzustehen würde mich bereits jetzt meine letzten Kräfte kosten.
Ich lauschte dem Wind, doch die Stimmen und ihre Warnungen schienen verschwunden zu sein. Waren sie überhaupt jemals da gewesen? Wie viel von dem was mich umgab konnte ich noch glauben?
Um mich herum legte die beginnende Nacht bereits einen dunklen Schleier über die Welt. Die Kirche ragte vor mir auf wie ein Wächter, der all mein Tun beobachtete und mir niemals Schutz bieten würde.
Gott und alles für das er stand schienen mir stets fern zu bleiben. Und nicht nur mir allein.
Die Lage von Badrias Grab und dessen Zustand sagten mir mehr als genug. Sie war eine Verstoßene. Eine Frau die noch genug Wert besessen hatte, um einen Grabstein zu erhalten, doch in der verschworenen Gemeinde nichts zu suchen hatte. Sie lag fernab des restlichen Dorfes, im Schatten der Kirche, wo man sie vergessen sollte.
Mühsam schaffte ich es auf die Beine, schwankte jedoch gefährlich. Ich fühlte mich , als wäre ich aus einem tiefen See aufgetaucht, dessen Wasser schwer auf meinem Körper lag und mir langsam den Atem nahm.
Für heute hatte ich genug. Genug Informationen. Genug Kontakt zu meinen geliebten Mitmenschen. Mein Bett war das einzige Ziel das ich heute ansteuern würde. Und leider war es mir noch sehr fern.
Mit diesem Gedanken im Sinn, wagte ich die ersten Schritte ohne mich noch einmal umzusehen. Wenn die Toten auferstehen wollten, um mich in einen Abgrund zu ziehen, so hatte ich eh kaum noch Kraft um mich dagegen zu wehren.
Ich blieb glücklicherweise davon verschont. Sie würden wohl doch warten bis ich mich irgendwann von allein zu ihnen bettete. Ein tröstender Gedanke, denn so konnte ich mein Leben an diesem wunderbaren Ort noch etwas genießen. Ich seufzte schwer bei diesem Gedanken und schüttelte den Kopf.
Der Rückweg kam mir endlos vor. Ich vermied es über dem Marktplatz zurückzugehen. Niemand hier sollte heute noch einen Blick von mir erhaschen.
Fürs erste hatte ich genug von all der Neugier und Missbilligung. Außerdem war auch ich eine Frau die nicht gerne in einem angeschlagenen Zustand gesehen wurde. Ein bisschen Eitelkeit musste ich mir in diesem Fall eingestehen, Ich wanderte stattdessen um das Dorf herum, nah am Waldrand entlang, der wie immer still und unheilvoll war.
Man sah selten ein Tier außerhalb des Waldes. Ein Segen für die Oaks die dadurch niemals ihr Vieh verloren, weil ein Wolf sich daran gütlich tat.
Doch glaubte man Moran, dann war dieses Verhalten fern jeder Normalität. Ein Dorf im Wald lebte normalerweise eng mit eben jenem Wald zusammen. Hier jedoch duldeten Wald und Dorf einander und hielten sich so gut es ging voneinander fern.
Meine Füße schmerzten bereits und ich konnte mein Haus in der Dunkelheit erahnen, als mir plötzlich ein kühler Schauer über den Rücken lief.
Irritiert blieb ich stehen, schob meine Empfindung zuerst auf beginnenden Schüttelfrost. Es war jedoch das langsam aufkommende und beklemmende Gefühl der Nervosität, welches mich nach und nach zu dem Schluss brachte, das ich beobachtet wurde. Oder es zumindest glaubte.
Die Nacht hatte sich still um mich herumgelegt.
Mit angehaltenem Atem drehte ich mich um, doch der Weg hinter mir war verlassen. Ebenso wie der Wegesrand, sofern ich noch etwas ohne Laterne erkennen konnte. Wie so oft verfluchte ich mich für meine Leichtfertigkeit.
War ich nicht wie viele andere im Dorf eine junge Frau, die nachts besser im Haus bleiben sollte? Und hatte ich mich dies nicht auch bereits bei meiner Jagd nach der Alraune gefragt?
Die Vorahnung, dass mir auch dieses Mal Unheil bevorstand ließ sich ebenso wenig vertreiben wie meine stärker werdende innere Unruhe.
Langsam, doch eindeutig zögerlicher als zuvor ging ich weiter und lauschte in die Dunkelheit hinein. Angst kroch mir langsam in meine Glieder. Vielleicht sah ich inzwischen schon Gespenster. Bildete mir zunehmend Dinge ein, die garnicht existierten. Sah Verschwörungen wo garkeine waren.
Ich kam an Phelans Hütte vorbei, doch sie war ebenso dunkel wie meine Umgebung. Verlassen, als wäre sie seit Tagen nicht aufgesucht worden.
Einmal mehr fragte ich mich, wo sich der Jäger herumtrieb. War er im Wald? Oder doch wieder trotz der späten Stunde im Wirtshaus?
Heute jedenfalls hätte es mich irgendwie beruhigt ihn in der Nähe zu wissen. Doch wo waren Männer schon wenn man sie mal brauchte? Meine aufkeimende Wut gab mir etwas mehr Energie.
Meine Schritte beschleunigten sich, denn jetzt würde mein Haus nicht mehr weit sein. Naiverweise redete ich mir ein, dass ich sicher war sobald ich meine Tür schloss. Wie ein kleines Kind, welches daran glaubte daheim könne ihm nie etwas geschehen.
Das Unbehagen in meinem Inneren nahm zu und ich beschleunigte bereits abermals meine Schritte, als ein Geräusch aus dem Unterholz plötzlich die Stille zerriss. Es hallte in meinem Kopf wieder. Wie ein Echo oder eine Warnung die mich endlich aufwecken sollte.
Vor mir trat eine Gestalt auf den Weg. Langsam und ohne jegliche Eile. Vollkommen schwarz gekleidet, mit einer auffälligen roten Maske aus Holz. Der Fuchs.
Erschrocken taumelte ich zurück, doch auch der Weg zurück blieb mir versperrt. Ich brauchte mich nicht einmal zu ihm umzudrehen. Ich spürte seine Anwesenheit. Lautlos und lauernd. Voller Feindseligkeit. Der Wolf.
Mein pfeifender Atem ging bereits so schnell, als stünde ich kurz vor einer Panikattacke. Ruhelos wanderte mein Blick zwischen Fuchs und Wolf umher und meine eingeschränkte Reaktionsgeschwindigkeit war wohl Schuld daran, dass ich den Mann mit der Bärenmaske, fast vollkommen übersehen hätte.
Ich konnte seinem Griff gerade noch entgehen, als er plötzlich an meiner Seite auftauchte. Ich starrte die Maske an, ein brauner Bär mit gefletschten Zähnen.
Gefahr ging von ihm aus und etwas anderes. Etwas das ich so deutlich sah, als hätte man es in die Maske hinein geschnitzt. Verlangen.
Es war der letzte Funken den ich brauchte, um meinen Fluchtinstinkt zu entfachen. Ohne weiteres Zögern sprang ich zur Seite und rannte in die einzige verfügbare Richtung. In den Wald hinein, so wie sie es wahrscheinlich bezwecken wollten.
Sie trieben mich ins tiefe Unterholz. An einen Ort ohne Zeugen. Doch welche Wahl hatte ich schon? Alles was ich tun konnte, war genau in ihre Falle zu laufen wie ein verschreckter Hase.
Besonders weit kam ich nicht. Einer von ihnen packte mich plötzlich am Arm. Der plötzliche und kraftvolle Ruck ließ mich fast stolpern und meine hastigen Versuche mich loszureißen blieben erfolglos. Panisch schnappte ich nach Luft.
Ich versuchte zu schreien, doch der Wolf griff meinen anderen Arm und zusammen rissen sie mich gnadenlos zu Boden.
„Loslassen!!!“ Meine Stimme klang brüchig und doch versuchte ich irgendwie auf mich aufmerksam zu machen oder den Angreifern etwas entgegenzusetzen.
Verzweifelt warf ich mich zur Seite, doch ich schaffte es nicht mich von den beiden zu befreien. Wie zwei schwere Steine lagen sie auf meinen Armen. Gnadenlos und Unheilvoll.
Meine Beine versuchten erfolglos nach ihnen zu treten. Einen wunden Punkt zu erwischen. Doch mit jedem Tritt ins Leere wuchs meine eigene Verzweiflung.
Die große, raue Hand des Bären legte sich plötzlich auf meinen Mund, um meine Schreie zu ersticken. Er hatte kaum Erfolg damit. Es war ein kurzer unaufmerksamer Augenblick seinerseits, der mir eine Chance bot und ich grub meine Zähne augenblicklich so tief in seine ungeschützte Hand hinein wie möglich.
Ein Schmerzschrei seinerseits mischte sich mit der Dunkelheit. Doch mein Gefühl der Genugtuung war kurz, denn auch wenn der Bär seine Hand unter Schmerzen zurückzog, so schlug mir einer der anderen augenblicklich mit grober Kraft ins Gesicht. Mein Kopf wurde durch die Wucht zur Seite gedreht. Jeder weitere Schrei meinerseits zum Schweigen verurteilt.
Es kam so unvermittelt, dass ich kurz nur noch Sterne sah und darum kämpfen musste mein Bewusstsein zu behalten. Die pure Angst vor der Bewusstlosigkeit und den Folgen war es die mich wach hielt. Auch wenn ein Teil von mir in mir gleichzeitig in die Sphäre des Vergessens abtauchen wollte.
Ich bemerkte wie sich alle drei einen kurzen Blick zuwarfen und dem Bären zunickten. Eine Geste die mehr aussagte als es mir lieb war.
Er schien zu zögern, betrachtete mich und erneut bekam ich viel zu viel von dem mit was in seinem Inneren vorging. Ich hätte mich am liebsten übergeben. Vor Scham und Ekel.
Noch bevor er sich zu seiner Entscheidung durchgerungen hatte, presste ich instinktiv meine Schenkel zusammen. Erneut flammte Angst in mir auf, denn ich wusste genau was sie vorhatten.
Heiße Tränen bahnten sich bei der Erkenntnis ihren Weg in meine Augen, während mein Herz mir bis zum Hals schlug. Ich wollte sterben. Bevor sie mich derart demütigten.
„Wagt euch nur noch ein Stück weiter und ihr werdet es bereuen.“ Kam es leise und drohend über meine Lippen. Es war mein Ernst. Ich würde ihnen nie verzeihen. Und ich würde einen Weg finden es ihnen heimzuzahlen.
Es war wie ein dunkler Schatten der in meinem Herz erwachte. Wie eine dunkle Glut loderte er. Bereit dazu zu einer Flamme zu werden die alles verschlang.
Sie sagten auch weiterhin nichts, doch Empfindungen schlugen meiner brennenden Stirn entgegen. Hohn. Verachtung. Genugtuung.
Ich spürte wie der Mann mit der Bärenmaske meine Beine ohne Vorwarnung auseinander drückte. Er hatte mehr Kraft als erwartet. Seine Hände waren schweißnass und schienen vor Nervosität zu zittern. Er ekelte mich an.
Ich warf mich herum, schrie ein letztes Mal mit meiner verbliebenen Kraft verzweifelt auf und die Griffe der anderen beiden Männer wurden nur noch fester.
Alles in mir sträubte sich, Tränen benetzten nun meine Wangen und ich wollte sie auf keinen Fall gewähren lassen. Ich wollte kein Beutetier sein, sondern zum ersten Mal in meinem Leben die Jägerin.
Ein Grollen durchzog den Wald.
So tief als würde er einatmen.
Sich aufbäumen und lebendig werden.
Ich hörte das Rascheln der Äste.
Ein dumpfes Krachen in der Ferne.
Das Geäst des Unterholzes bewegte sich, als wäre es ein Nest aus Schlangen.
Lebendig. Windend. Und giftig.
Die Männer schienen zu erstarren. Fixierten einen Punkt in der Dunkelheit.
Ich selbst hatte nicht mehr die Kraft den Kopf zu drehen. Ich lag auf einem Kissen aus Moos. Meine Augen brannten von salzigen Tränen. Flammen erfüllten meinen Kopf und tanzten vor meinen Augen, während mein Körper leicht wurde.
Ich sah einen Raben der seine Flügel ausbreitete und sich lautlos über ein eingeschneites Dorf erhob. Ich folgte ihm, während meine Lippen lautlos einen Namen formten. Spuren kreuzten sich mit den meinen und blutroter Schnee folgte mir bis tief in den Wald.
Die Bilder verschwommen und wurden zu Fragmenten.
Schwarzes Fell, das mit dem Unterholz verschmolz.
Ein feuchter, waldiger Duft.
Lautlose Pfoten die den Waldboden kaum zu berühren schienen.
Ein Heulen im Wind, welches ungehört verklang.
Eine einzelne sich aufbäumende Wurzel.
Sie schaute mir mit einem verquollenen Lächeln ins Gesicht.
Knochige Finger berührten meine Stirn.
Eines Feuers heller Schein.
Verbrennende Masken und ein Mond voller Blut.
Und am Ende wieder schwarzes Fell.
Meine Augen öffneten sich. Nur ein bisschen. Weit genug, um sich zu vergewissern das der kalte Wald verschwunden war.
Wenn ich eines aus meinem Traum mitgenommen habe, so war es das schwarze Fell, welches mich gerade umgab.
Von welchem Tier es genommen wurde, vermochte ich nicht zu sagen. Doch es war weich und spendete mir die Wärme die mir in den letzten Stunden gefehlt hatte.
Eine Ofenklappe wurde gerade mit einem leisen, metallischen Quietschen geschlossen und ein Feuerschein erhellte den Raum in dem ich mich befand.
Tierfelle und Geweihe hingen an den Wänden. Eine Armbrust lehnte in einer Ecke des Raumes. Ich bemerkte leere Fallen in einer anderen. Neben dem Ofen, einem kleinen Tisch und einem Stuhl beinhaltete der Raum nur noch das Bett in dem ich lag.
Eine erdrückende Müdigkeit nagte weiterhin an mir und es kostete mich all meine Kraft die Augen offen zu halten. Ich hatte erwartet im Wald zu erwachen. Ebenso orientierungslos und verwirrt wie ich es jetzt war.
Gegen meinen Willen kehrten die Erinnerungen zurück. Schonungslos und wie ein Wasserfall der mich erdrücken wollte. Grenzenlose Scham brannte in mir.
Meine Arme und Beine schmerzten, ebenso wie mein Gesicht. Doch dieser eine spezielle Schmerz den ich erwartete blieb aus.
Es gab mir das kleine bisschen Hoffnung, mir einen kleinen Teil meiner Würde bewahrt zu haben. Trotzdem wollte ich mich am liebsten verkriechen . Die Welt aussperren und dem Schock und den damit verbundenen Tränen freien Lauf lassen.
Meine Finger berührten ein kühles, nasses Tuch auf meiner Stirn. Es lag noch nicht lange dort, linderte aber bereits mein hohes Fieber.
Vor dem Ofen kniete eine kräftige Gestalt, die mir einen finsteren Blick aus hellen Augen heraus zuwarf. Ein Mann mit dunklen, kurzen Haaren die je nach Lichteinfall dunkelbraun oder schwarz wirkten.
Er war kräftig, trug schlichte Kleidung und auf seinen markanten Gesichtszügen zeigte sich der dunkle Schatten eines nachwachsenden Bartes. Er hatte gerade Holz nachgelegt und ich benötigte einen langen Augenblick um ihn endlich zu erkennen.
Phelan.
Wie ein lauerndes Raubtier betrachtete er mich. Ohne den dichten Bart und das lange ungepflegte Haar wirkte er jünger. Und fremd. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich wie viele Jahre er wohl schon zählte, doch ihn zu fragen traute ich mich nicht.
All meine bisherigen Träume kamen mir realistischer vor als dies. Und ich verstand den Grund für diese plötzliche Verwandlung nicht. Ebenso wenig wie ich verstand wie ich hier her gekommen war. Angestrengt schloss ich die Augen. Ich war eingebettet in verschiedene Felle. Wärme umgab mich und ein seltsam fremdes Gefühl der Sicherheit.
Ich erkannte das ich mich wohl in seiner Hütte befand. Wie viele andere Dorfbewohner hatten wohl schon einen Blick hier hinein werfen dürfen? Ich ahnte das es nur sehr wenige waren.
Phelan zog sich derweil grob den Stuhl zum Bett und ließ sich genervt darauf fallen. Er war wütend. Ich bemerkte wie er angespannt seine Hand zur Faust ballte und mit den Zähnen knirschte. Zumindest schien er ausnahmsweise taktvoll zu sein und seine Meinung für sich zu behalten.
„Du bist wahrlich das dümmste Weibsstück, das mir jemals über den Weg gelaufen ist.“ Nein. Ich hatte mich getäuscht. Er war genauso wie immer.
Ich blieb ihm eine Antwort schuldig und wich stattdessen seinem Blick aus. Was sollte ich ihm antworten? Das er Recht hatte? Auf keinen Fall! Und doch...er hatte Recht. Meine schweigsame Reaktion rief ein Knurren in ihm hervor.
„In deiner Lage ohne Begleitung nachts umherzuwandern. Du könntest dich genauso gut gleich unbekleidet auf den Marktplatz stellen. Hat dir seine Mutter überhaupt irgendetwas beigebracht?“
Er spuckte mir die Worte regelrecht entgegen und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Er machte meinen inneren Konflikt nicht besser.
„Ich habe dich davor gewarnt das dein Ruf nicht alle abschrecken wird. Dir meine Hilfe angeboten die du so hochmütig ausgeschlagen hast. Sag mir bist du nun zufrieden mit dir?“
Meine Hände krallten sich in eines der Fälle, fast so als könne ich mich damit irgendwie beruhigen. Ich wollte keine Vorwürfe hören. Mein Stolz war angeschlagen genug.
Ich setzte mit all der Entschlossenheit die ich aufbrauchte auf, in der Hoffnung dieser Konfrontation irgendwie durch eine schnelle Flucht entgehen zu können.
Doch der Jäger war schneller. Er lehnte sich vor und drückte mich grob zurück ins Bett, ohne darauf zu achten ob er mir dabei wehtat.
„Denk nicht einmal daran.“ zischte er mir kalt entgegen. Phelan verharrte angespannt über mich gebeugt.
Seine Augen schienen irgendetwas in meinem Gesicht zu suchen, doch was er fand schien ihn erneut zu verärgern. Ich bemerkte wie sich seine Augenbrauen mürrisch zusammenzogen.
„Du hast wahrlich mehr Glück als Verstand. Such dir gefälligst zukünftig nicht den Wald hinter meiner Hütte aus, um dich schänden zu.....“ Meine Hand legte sich augenblicklich fest auf seinen Mund. Ich wollte den Rest nicht hören.
Angespannt biss ich mir auf die Lippen, während meine Augen verräterisch brannten. Er schien mich verletzen oder mir eine Lektion erteilen zu wollen. Doch meine Lektion hatte ich bereits gelernt.
Für einen langen Augenblick bewegte sich keiner von uns. Ich ahnte das er mich verachtete. Die Art und Weise wie er mit mir umging bedurfte keiner anderen Erklärung.
Irgendwann griff er nach meiner Hand und drückte sie genervt aufs Bett. Ein Seufzen kam über seine Lippen, ehe er sich wieder zurücklehnte.
„Dir ist dieses Mal nichts geschehen. Doch erwarte nicht das ich beim nächsten Mal einfach so eingreifen werden.“ Dieses Mal war er es der den Blick abwandte und ich die Person die ihn anstarrte.
Ein Knoten in meinem Inneren löste sich und Erleichterung ließ einzelne verräterische Tränen über meine Wangen wandern. Ich wischte sie so schnell ich konnte zur Seite.
„Ich danke dir.“ Die Worte kamen schneller über meine Lippen als beabsichtigt und der Jäger spannte sich dabei augenblicklich an.
„Spar dir deinen Dank!“ Er fauchte mir diese Worte regelrecht entgegen. Erneut ballte sich seine Hand zur Faust und er schien zu überlegen wie er seiner Wut wohl am besten freien Lauf lassen sollte.
Am Ende saß er dann doch nur starr auf seinem Stuhl. Ich wusste nicht welchen Punkt im Raum er gerade mit seinen Augen fixierte, doch er schien entschlossen zu sein mich keines weiteren Blickes zu würdigen.
„Schlaf.“ Ein einziges Wort, während er irgendwann die Arme vor seiner breiten Brust verschränkte. Er duldete keine Widerrede. So viel sagte mir seine Stimme. Ausnahmsweise fügte ich mich.
Ich bettete meinen Kopf ohne weitere Fragen wieder in die weichen Felle. Meine Augen schlossen sich fast schon von alleine und ich sank zum erstem Mal seit vielen Tagen in einen erholsamen, traumlosen Schlaf.
...
Geräusche außerhalb der Hütte weckten mich viele Stunden später. Ich war allein in dem kleinen Wohnraum und durch ein Fenster fiel etwas Tageslicht hinein.
Mühsam hatte ich mich aufgesetzt und vertrieb den letzten Schlaf aus meinen Augen. In meinem Körper herrschte die Erschöpfung die wohl jeder nach einem heftigen Fieberschub verspürte. Ich fühlte mich schwach, aber meine Gedanken waren endlich wieder klar.
Der erste Gedanke bestätigte mir das ich alles heil überstanden hatte.Der zweite Gedanken betonte das ich Feinde hatte. Und der dritte Gedanke galt der Person mit deren Hilfe ich nicht gerechnet hatte.
Eben jene Person öffnete kurz darauf die Tür, nur um mir einen missbilligenden Blick zu schenken. In einer Hand hielt Phelan einen toten Fasan, den er ohne jegliches Feingefühl einfach auf den Tisch fallen ließ.
Auf seinem Weg in die Hütte hatte er eine Spur aus Federn und Blut hinterlassen. Der Anblick ließ mich kurz die Nase rümpfen. Dieser Mann hatte wirklich keine Ahnung wie man sich in der Gegenwart einer Frau verhielt.
„Du redest im Schlaf.“ begrüßte er mich barsch. Erneut musterte er mich bevor er hinzufügte: „Und ähnelst ungekämmt einer verwilderten Katze.“ Während mein Hass auf ihn regelrecht aufloderte, ahnte ich das er in mir vielleicht einfach keine Frau sah.
„Vor deiner wundersamen Verwandlung in ein menschliches Wesen hätte man dich wahrscheinlich auch eher für einen verlausten Straßenköter gehalten.“ Meine Antwort war trocken, während ich meine Beine aus dem Bett schwang und den Rock meines Kleides zurecht zog.
„Einen verlausten Straßenköter lässt man wenigstens in Ruhe.“ Er zog ein Messer hervor und schien das abgehangene Fleisch zu prüfen. Doch seine Antwort machte mich ausnahmsweise neugierig.
„Weshalb dann die Veränderung?“ Ich nutzte die Gelegenheit um meine störrischen Haare mit den Fingern etwas in Form zu kämmen. Keine Frau ließ sich gerne mit einer streunenden Katze vergleichen und selbst ich war da ein bisschen eitel.
„Mir war danach.“ kam es barsch zurück. Ich bezweifelte natürlich das dies der wahre Grund war.
Phelan schien sich wenig aus Äußerlichkeiten zu machen. Er achtete nicht auf sich und auch nicht auf seine Kleidung. Er musste also etwas mit diesem Auftreten bezwecken wollen.
Während ich noch darüber nachdachte schnitt er etwas von dem getrockneten Fleisch ab und warf es beiläufig neben mir auf eines der Felle. „Iss.“ Wieder ein Befehl und so langsam ging es mir auf die Nerven.
„Du weißt wirklich wie man mit Frauen umgeht.“ Der trockene Ton in meiner Stimme bescherte mir einen finsteren Blick des Jägers, welcher sich gerade ebenfalls etwas von dem Fleisch abschnitt. Im Gegensatz zu mir biss er auch sofort etwas davon ab.
Wieder erkannte ich wie wenig er sich wohl für andere erwärmte.Er fragte nicht wie es mir ging. Augenscheinlich interessierte es ihn auch garnicht. Er stellte auch keine Fragen zu der gesamten gestrigen Situation. Ich wusste nicht ob ich empört oder dankbar sein sollte.
„Ich bin höflich genug einer Frau mein Bett anzubieten.“ Ich verzog kurz das Gesicht, weil ich die Worte durch seinen vollen Mund kaum entziffern konnte. Er hatte wirklich keine Manieren! Und da sagte man ich hätte eine schlechte Erziehung genossen.
„Und bei mir hast du ausnahmsweise sogar darauf verzichtet dich hinzu zu legen.“ Ich konnte mir diesen beiläufigen Seitenhieb nicht verkneifen. Dieser Mann reizte mich. Auf eine negative Art und Weise. Und selbst sein jetzt wirklich ansehnliches Gesicht und sein fast schon gepflegtes Äußeres konnten dies nicht ändern.
„Ich war der Meinung im Wald hättest du bereits genug Gesellschaft erlebt.“ konterte er kühl, ehe er sich erneut auf seinen Stuhl sinken ließ. Seine Worte ließen ungewollt die ein oder andere Erinnerung in mir aufflammen. Mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Wenn es nach mir ging könnten mir Männer ewig fern bleiben.
Um mich abzulenken griff ich nach dem Fleisch und begann energisch damit ein Stück davon abzubeißen. Es war etwas hart, hatte jedoch einen guten leicht salzigen Geschmack. Ich mochte es, auch wenn ich mir wohl eher die Zunge abgebissen hätte, als dies offen zuzugeben.
Während ich aß spürte ich Phelans Blick auf mir. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch herum und ich hatte das Gefühl er würde auf irgendetwas warten.
„Sprich, wenn du etwas zu sagen hast.“ Meine Stimme klang etwas misstrauisch. Aber wieso sollte ich es auch nicht sein? Er hatte mich erneut gerettet und nun kümmerte er sich sogar auf seine grobe Art und Weise um mich. Doch was sollte all das überhaupt?
„Nur wenn du dieses Mal bereit bist zuzuhören.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, weil er sich wohl an unsere letzte Begegnung erinnerte.
Er nahm es mir wohl übel, dass ich ihn aus meinem Haus geworfen hatte. Doch in meinen Augen hatte er es verdient. Er hatte sich nicht besser benommen als die anderen Männer.
Da ich immernoch mit dem Fleisch beschäftigt war, nickte ich nur. Er sollte sagen was er sagen wollte. Mir war selbst nicht bewusst wie ich mich entscheiden würde.
„Ich habe dir bereits einmal meine Hilfe angeboten und du hast sie ausgeschlagen. Wenn du es jetzt erneut tust, werde ich dir keine helfende Hand mehr reichen. In jeglicher Situation.“ In seiner Stimme schwang eine unterschwellige Drohung mit.
„Also denk gut darüber nach bevor du antwortest.“
Mein Blick legte sich auf den Mann, der regelrecht lauernd auf seinem Stuhl saß. Wieso nur war es ihm so wichtig mir zu helfen? Bisher hatte ihn mein Leben nie interessiert. Es würde irgendeinen Haken geben.
„Wieso machst du dir diese Mühe?“ Stellte ich meine Frage offen.
„Ich habe nichts was ich dir geben kann. Welche Hintergedanken haben mit diesem Angebot zu tun?“
Ich sah keine Regung in seinem Gesicht. Es war ernst und sein Blick fest. Und ich ging meine eigenen Optionen durch.
Niemand hier würde sich mit Phelan anlegen. Niemand der bei klaren Verstand war.
Es hatte wenig mit seiner Rolle als Jäger und Versorger zu tun. Es war sein Auftreten. Er war ohne Zweifel einer der stärksten Männer hier im Dorf. Seine Art wirkte immer bedrohlich und man konnte ihn so gut wie nie durchschauen.
Niemand würde es wagen mir noch einmal zu schaden, wenn sich dieser Mann vor mich stellte. Ich würde ruhige Nächte verbringen. Konnte meinem Leben friedlich entgegensehen. Doch irgendetwas war hier einfach faul.
„Es gibt viele Menschen im Dorf die deiner Mutter etwas schuldeten.“
Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich den Ausdruck der mich mehr verwirrte als alles andere. Der amüsierte, diebische Glanz in seinen Augen. Es gab etwas das ich nicht wusste. Etwas sehr dunkles.
„Ich gehörte dazu. Doch indem man alte Schulden begleicht, tun sich manchmal neue auf.“ Er sprach in Rätseln. Doch mein Inneres schlug weiterhin Alarm.
Unbewusst zog ich eines der Felle an mich heran, weil ich fröstelte. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Gestalt im Unterholz, die mit der Nacht verschmolz wie ein dunkler Nebel. Jemand der nur eines brachte...den Tod.
„Wenn du ihr etwas schuldest, dann verlangst du keine Gegenleistung?“
Ich wurde nur noch misstrauischer. Die Atmosphäre in diesem Raum war angespannt. Ich ahnte, dass dieses Gespräch weitreichende Folgen haben würde. Egal wie ich mich entscheiden würde.
„Ich sagte nicht, dass ich ihr etwas schulde.“ Korrigierte er mich. „Und ich erledige nie etwas ohne eine Gegenleistung.“
Ich stand vom Bett auf, während ich weiterhin das Fell um mich schlang. Ihm gegenüber zu sitzen machte mich nervös. Fast so als sähe ich in die Augen eines Raubtieres.
Um meine Beine zu vertreten ging ich in der Hütte umher, während die hellen Augen des Jägers mir folgten. Wie einer Beute.
„Für deine Hilfe hast du aber bisher nichts verlangt.“ stellte ich fest, während ich zum Fenster ging. Der Weg draußen war verlassen. Es war eine trostlose Aussicht in den dunklen Wald.
Eine gruselige Aussicht wenn ich an Badria dachte und daran das sie in den Untiefen der Wälder hauste. Meine Gedanken wanderten kurz zu dem Grabstein. Nun...vielleicht hauste auch nur noch ein Teil von ihr im Wald. Aber auch dies machte es nicht besser.
„Man legt einen Köder aus, bevor man zuschlägt.“ Ich erschauderte, ohne es verhindern zu können. Ich hörte das finstere Lächeln aus seiner Stimme regelrecht heraus.
War ich erneut in eine Falle gerannt? Ich sah mein Spiegelbild im Fensterglas. Ich war bleich, mein Körper gezeichnet von den letzten Tagen.
Ich würde alleine nicht lange durchhalten. Und er wusste es.Er wusste das ich es mir nicht erlauben konnte seine Hilfe abzulehnen.
„Also befinde ich mich erneut in einer Sackgasse.“ Ich versuchte garnicht erst meine Frustration zu verstecken.
Seine Hilfe kam mir vor wie eine Schlinge die ich freiwillig um meinen eigenen Hals legte. Dabei lag es an ihm mich in den Abgrund zu stoßen.
„Nein.“ Auch Phelan erhob sich und trat hinter mich. Mein Körper spannte sich automatisch an, als ich die Hitzen wahrnahm die von ihm auszugehen schien.
„Du stehst vor einer ganz einfachen Entscheidung. Du kannst mit mir gemeinsam jagen oder dich jagen lassen.“
Seine Hand legte sich auf meine Schulter und drehte mich grob herum. Widerwillig sah ich zu ihm auf, weil er mindestens einen Kopf größer war als ich. Noch immer wollte ich ihm nicht antworten und es machte ihn sichtlich wütend.
„Was die Gegenleistung betrifft, so hast du mir mehr anzubieten als jeder andere hier. Du magst blind dafür sein, doch ich bin es nicht. Und dies ist auch der Grund wieso sie dich nicht in Ruhe lassen werden. Der Grund wieso sie dir erneut auflauern werden, bis du dich unterwirfst oder in den Tod flüchtest.“
Es war sein Ernst. Ich wusste das es in diesem Fall nicht um meinen Körper ging. Hätte dieser Mann mich begehrt hätte er schon mindestens drei Gelegenheiten gehabt, um sich zu nehmen was er wollte. Nein.
Hier ging es um etwas das mir selbst nicht bewusst war. Ich konnte es nur erahnen.
Ich dachte an die Alraune und all meine seltsamen Träume für die ich keine Erklärung fand. Bilder die sich hauptsächlich um den nächsten Blutmond drehten.
Bilder die mich erschreckten und mir einen Hinweis auf alle Geheimnisse gaben die unter dem Dorf begraben worden waren.
„Mir zu helfen wird dir keinen Ruhm einbringen, Phelan. Und wer auch immer es auf mich abgesehen hat, wird sich auch nicht von dir einschüchtern lassen. Es ist wie du sagtest, nicht einmal mein eigener Ruf konnte verhindern das sie zudringlich wurden. Wie also willst du gewährleisten, dass du mir eine Hilfe oder ein Schutz sein kannst?“
Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er seine Hände hinter mir an der Wand abstützte und sich so weit zu mir herabbeugte, als wolle er mich küssen.
Was in seinen Augen lag war jedoch keine Romantik, keine Verliebtheit oder auch nur der Hauch von Zuneigung. Es war ein anderer Ausdruck. Einer der mich erstarren ließ.
Es war pure Abscheu.
Sie war dunkel und für mich unergründlich. Ein Empfinden das ich nach den bisherigen Geschehnissen von ihm nicht erwartet hatte. Ebenso wie seine Antwort auf meine Frage:
„Ganz einfach. Indem ich dich heirate.“
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2019
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