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PROLOG: Wir waren hier




Sie nimmt ihre Schwester in den Arm und hält ihren kleinen, gebrechlichen Körper fest, der in ihrem Griff mit schnellen Zügen atmet. Auch als sie eine Weile dort stehen, beruhigt sich ihr Herzschlag nicht.
"Ich hab dich lieb, Rosa, ich hab dich lieb", flüstert Aoi ganz nah an ihrem Ohr, so dass es Rosa durch Hals und Bein fährt.
Die Leute vom Jugendamt nehmen Rosa ihre Schwester weg.
Aoi ist erst sechs und schwerkrank, darum wird sie in ein Waisenhaus geschickt und sehr gut behandelt. Sie selbst ist schon siebzehn. Eigentlich ist heute ihr achtzehnter Geburtstag, darum darf Rosa nicht mitgeholt werden. Darum wird Rosa von Niemandem mehr mitgeholt, weil sie sich nun ihr eigenes Leben aufbauen muss.
Eltern hat sie auch nicht. Sie wirft einen Blick auf den lodernden Holzklotz vor ihr, in dem ihre Eltern vor wenigen Stunden umkamen. Noch immer ist die halbe Stadt hier versammelt und begafft Rosa und Aoi mit großen Augen. Der Wagen, in dem ihre Schwester sitzt, fährt weg und es ist nicht zu erwähnen, dass Niemand erlaubt hat, dass Aoi ihrer Rosa noch ein letztes Mal winkt.
Rosa war auf dem Weg zum Einkaufen gewesen, als sie Aois Anruf bekommen hatte. Sie war entkommen, doch für ihre Eltern... Sofort war Rosa nach Hause gehetzt.
Darum hat sie nun noch das wenige Geld, mit dem sie losgeschickt worden war. Es würde reichen für ein Zugticket und sie war achtzehn und eine junge Frau: Was kann sie mit ihrem Ausweis und einem Augenklimpern nicht erledigen?
Rosa macht auf dem Absatz kehrt. Die Feuerwehr macht ihr wortlos Platz, genau so die Polizei. Rosa hat es so satt, so behandelt zu werden, aber hier ist nun wirklich nicht der Ort und die Zeit um diese Dinge auf den Tisch zu bringen.
Sie geht auf direktem Wege zum Bahnhof und besorgt sich ein Ticket. Die Schwärze der Nacht verschlingt sie beinahe vollständig, darum ist Rosa froh, als sie die zwei Scheinwerfer ihres Zuges erkennen kann.
Sie weiß, dass sie durch diese Klapptüren gehen wird und das letzte Mal für eine sehr lange Weile in diesem Ort ist, bis der Zug sie hinaus trägt. Damit Rosa wachsen und stark genug werden kann, um auf ihre Schwester aufzupassen.
Als Rosa das Ticket abgegeben und sich in einen Sitz fallen gelassen hat, holt sie ihr kleines unbrauchbares Klapphandy aus ihrer Manteltasche und starrt auf das Display. Ins Adressbuch muss sie gar nicht erst schauen, bis auf die Nummern ihrer Eltern ist es wie ausgestorben und diese werden keine Chance mehr haben, ihr zu antworten. Mit etwas Glück würde Rosa sich höchstens mit dem Leichenbestatter unterhalten können.
In ihrer alten Schule hatte sie auch keine Freunde gehabt. Sie war zwei Jahre lang auf einer Privatschule gewesen und erst in der dritten Klasse dazugestoßen, in welcher Jeder bereits seinen Freundeskreis gebildet hatte. Da war kein Platz für Rosa, die sich Nichts aus dem Unterschied zwischen Jungen und Mädchen macht und deren Haar schon immer kaum über ihre Ohren reicht. Haselnussbraunes Haar, kastanienfarbene Augen.
Egal wohin sie geht, Rosa bleibt immer unsichtbar. Dabei ist sie sehr schön und natürlich, hielt sie doch Nichts von Schminke und Jungs.
Ihr Zug passiert einen Tunnel und als ihre Gestalt in Dunkelheit eingehüllt ist, schließt Rosa die Augen, lehnt ihren Kopf an ein Fenster und wählt blind die Nummer ihrer Mutter.
Auch wenn Rosa Keinerzuhören wird...sie muss sich wenigstens verabschieden.




Make up your mind already
Grow up to love already
And don't you leave me like that
If even the littlest things
are so breathtaking

Bittersüße Wahrheit


Impressum

Texte: Kairi Amaya
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Torben M, einen treuen Freund

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