Ein kleines bisschen Liebe
Sanft schmiegte sie sich an den jungen Mann neben sich, dessen Wärme auch auf ihren Körper überzugehen schien.
Ihre feinen blonden Haare wehten sanft im lauen September Wind und ihre kobaltblauen Augen fixierten einen Punkt weit weg von jeglicher Vorstellungskraft.
Sie genoss diese traute Zweisamkeit und wünschte sich es wäre immer so.
Doch das würde es niemals sein.
So sehr sich ihr Herz auch nach seiner Wärme verzehren würde, so sehr würde ihr Verstand schreien sie solle ihn vergessen.
Bald war es soweit.
Bald würde ihr geliebter Prinz sie verlassen.
Sie wäre wieder so allein wie eigentlich schon immer.
Bei dem Gedanken an die unvermeidliche Einsamkeit, zog sich ihr Magen stark zusammen.
Sie fragte sich, wann sie endlich glücklich sein könnte.
Wann das Geschehen aufhören würde seinen gewohnten Gang zu gehen.
Ihr Herz schrie nach Liebe und sie wusste es würde entzweigerissen werden, wenn er sie verließ.
Etwas was geschehen würde.
Schon bald.
Dann würde sie diesen Ort nie wieder besuchen, um zu verhindern, dass sie sich an diesen Moment erinnerte.
Sie wusste, wenn er weg war, dann würde sie jegliche Erinnerungen an ihn vergraben.
So tief in sich drin, dass sie nie wieder ans Tageslicht kämen.
Kapitel 1
Tränen rannen über Miras Gesicht.
Schnell legte sie das Buch zur Seite und zog sich die Decke über den Kopf.
Sie war so schrecklich sensibel.
Trotzdem konnte sie die Finger nicht von traurigen, oder gar dramatischen Büchern lassen.
Vielleicht, weil ihr Leben bisher auch nicht das Schönste gewesen war.
An ihrem zehnten Geburtstag hatte sie ihre Schwester verloren. Cora wollte ihrer kleinen Schwester damals ein Eis zum Geburtstag holen, Mira sollte auf ihrer Straßenseite warten.
Das einzige woran sich Mira auch heute noch erinnerte war das Geräusch wie ihre Schwester auf der Motorhaube des Autos aufschlug, das Geräusch von splitterndem Glas, Coras Schrei. Den Autofahrer hatte man nie gefasst.
Das Auto hatte Jemand als gestohlen gemeldet.
Mira schüttelte ihren hübschen Kopf mit den seidigen, hellbraunen Haaren.
Sie wollte jetzt nicht daran denken.
Sie wollte an gar nichts mehr denken.
Manchmal wünschte sie, sie könnte ihr Gedächtnis löschen. Auf die Alpträume von diesem grausamen Unfall damals konnte sie getrost verzichten. Denn prinzipiell wenn sie morgens aufwachte war ihr Gesicht Tränen verschmiert.
In der Schule wurde Mira von allen geschnitten, weil sie ständig mit einer Trauermiene rum lief, außerdem sprach sie kaum.
Die Mädchen in ihrer Klasse ärgerten Mira furchtbar gerne, weil sie so in sich gekehrt war.
Immer wenn sie morgens aufstand graute es der 16-Jährigen davor in die Schule zu gehen. Am liebsten würde sie sich auf dem Weg in dieses Horrorhaus ein Loch buddeln und nie wieder raus kommen.
Mira hasste ihr Leben schlichtweg.
Sie fühlte sich hässlich, ungeliebt und allein.
Seit dem Tod ihrer Schwester redeten ihre Eltern kaum noch mit ihr, schnitten sie eigentlich meist.
Mira war es so Leid.
Doch trotz der Tatsache, dass sie schon oft daran gedacht hatte ihr Leben zu beenden, tat sie es nicht. Sie fände es ihrer Schwester gegenüber nicht fair.
Am nächsten Morgen wachte Mira wie immer mit von Tränen verklebten Augen auf.
Harsch wischte sie sich über die Augen, ehe sie den Blick auf das klare blaugrün freigab.
Murrend drückte sie den Wecker aus, der sie mit seinen penetranten Piepsen aus ihren Alpträumen gerissen hatte.
Eigentlich war sie froh, wenn die Nacht vorbei war.
Jedoch nur eigentlich, denn manchmal wünschte sie sich weiter in ihren Alpträumen zu leiden, anstatt real zu leiden. Denn in ihren Träumen verspürte sie wenigstens keinen körperlichen Schmerz, sondern nur den seelischen.
Selbst wenn jener nicht weniger schlimm war.
Langsam pellte sie sich aus ihrem warmen Bett und schlurfte ins Badezimmer. Schnell ihre Morgentoilette erledigt, zog sie sich den Schlafanzug aus und hüpfte in die Dusche.
Todesmutig stellte sie sich unter den eiskalten Strahl.
Es wirkte wie eine Schocktherapie, zeigte ihr, dass sie noch lebte.
Zitternd tastete sie nach dem Wärmeregler und drehte das Wasser auf eine angenehme Temperatur.
Keine zehn Minuten später war sie fertig und stand in Unterwäsche vor ihrem Kleiderschrank.
Unmotiviert zog sie eine frische Schuluniform aus dem Schrank. Insgesamt besaß sie vier Stück. Zwei Winteruniformen und zwei Sommeruniformen.
Schnell war sie fertig angezogen.
Die Uniform umschmeichelte ihren weiblichen Körper.
Während sie ihre Haare zu einem Knoten am Hinterkopf zusammen band, aus dem einzelne Strähnen kunstvoll heraushingen, starrte sie ihr Spiegelbild in Grund und Boden.
Sie hasste es ihr Gesicht im Spiegel zu sehen.
Das Gesicht, das ihrer Schwester so ähnlich sah.
Wenn sie in den Spiegel sah, sah sie nicht Mira, sondern Cora.
Wütend drehte sich Mira weg und stürmte in die Küche der Wohnung.
Angewidert betrachtete sie die Reste des Nudelauflaufes vom Abendessen, der rasch in den Müll entsorgt wurde.
Sie holte sich eine Scheibe Brot aus dem Schrank und etwas Belag, den sie wenig liebevoll auf ihr Brot klatschte. Mit der Brotscheibe im Mund, schulterte sie ihre Schultasche und verließ die Wohnung.
Draußen schlug ihr die warme Sommerluft entgegen.
Selbst zu dieser Morgenstunde erschlug sie schon beinahe die Temperatur.
Mira schüttelte den Kopf.
Warmes Wetter war noch nie ihr Fall gewesen. Sie hasste es, wie eigentlich alles. Alles, was ihre Schwester geliebt hatte.
Missmutig stapfte das Mädchen weiter.
Ihre Haut war von einer beinahe bronzenen, gesunden Farbe, ihr hellbraunes Haar schimmerte im morgendlichen Licht der Sonne. Lediglich ihre Augen strahlten keinerlei Gefühl aus.
Als würde alles, was geschah einfach an ihr vorbei ziehen.
Ein harter Stoss in den Rücken beförderte Mira beinahe zu Boden.
Sie stolperte etwas den Weg entlang, bevor sie sich wieder fing.
Mit leeren Augen drehte sie sich zu ihrem Angreifer um.
Jonas aus ihrer Parallelklasse grinste ihr dämlich entgegen. Er war von kräftiger Statue, aber nicht besonders helle im Kopf. Neben ihm standen einige Mädchen aus Miras Klasse, von denen Mira sicher behaupten konnte, dass sie magersüchtig waren, immerhin schien an ihnen nicht mehr wie Haut und Knochen zu sein.
Luisa, die blonde Oberzicke (in Miras Augen ging sie voll und ganz in dieser Rolle auf) aus Miras Klasse, kicherte albern.
„Oh, guten Morgen, Mira. Tut mir Leid, wir haben dich schlicht übersehen. Du bist ja auch nicht besonders auffällig.“
Mira zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.
Es interessierte sie nicht, was aus Luisas Mund kam.
Überhaupt gab es nicht viel was Mira interessierte.
Ohne jedwedes Interesse lief Mira weiter, aß dabei ihr Brot auf. Wer wusste schon, ob sie beim nächsten Mal nicht doch Bekanntschaft mit dem Asphalt schloss. Dann wäre ihr Brot hundert pro hinüber.
Kaum in der Klasse angekommen, musste die 16-Jährige einer Papierkugel ausweichen, die sie sonst ganz sicher am Kopf getroffen hätte.
Ein Junge schnipste Radiergummi Stückchen durch die Klasse, einige Mädchen kicherten über irgendeinem Jugendmagazin und einige Jungs versteckten das Klassenbuch, um ihren Lehrer zu ärgern.
Wie immer.
Mira konnte sich nicht erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre.
Mit großen Schritten lief zu ihrem Platz.
Sie wollte sich gerade setzen, da fiel ihr etwas ein. Penibel untersuchte sie ihren Stuhl. Vor einer Woche hatten ihr einige Vollpfosten die Schrauben aus dem Stuhl gedreht und sie nur Locker befestigt. In der zweiten Schulstunde krachte ihr Stuhl aufgrund dieser Tatsache in sich zusammen und Mira schlug sich dabei den Kopf an der Heizung an.
Zum Glück kam sie mit einer leichten Platzwunde am Hinterkopf davon.
Drei Tage danach klebte massig Kaugummi an Miras Stuhl.
Es gab ständig solche Vorkommnisse.
Sie galt als beliebtes Mobbingopfer.
Trotzdem sagte sie nie etwas dazu, verzog nie eine Miene, wenn sie in der Schule war. Weder vor Schmerz, noch vor Wut. Ihre Miene blieb beharrlich unbewegt.
Erst als sie feststellte, dass ihr Stuhl zur Abwechslung mal ganz in Ordnung schien, setzte sie sich hin.
Der Unterricht begann.
Mira arbeitete still mit.
Ihre Noten zeugten davon wie schlau das junge Mädchen war.
Egal wie schlecht ein Schultag verlief, Mira kam den Tag danach zur Schule.
Sie wollte keine Schwäche zeigen.
Schon ein paar Mal wollten die Lehrer Mira nach Hause schicken, weil sich das Mädchen in einer furchtbaren Verfassung zur Schule gequält hatte. Aber Mira verließ die Schule erst nach dem Unterricht. Sie ließ sich nicht nach Hause schicken.
Nie.
Weder wenn sie krank war, noch wenn Wunden der geisteskranken Streiche ihrer Mitschüler ihren Körper zierten.
In der Pause verzog sich Mira meist vom Schulhof.
So auch Heute.
Sie wollte wenigstens in der Pause ihre Ruhe.
Und da sie heute eine Freistunde nach der Pause haben würden, könnte sie die Ruhe länger genießen.
Nachdenklich schlenderte das Mädchen durch die Stadt.
Sie besaß kein bestimmtes Ziel, wollte nur allein sein.
Unerwartet bekam Mira das zweite Mal an diesem Tag einen kräftigen Stoß in den Rücken. Diesmal beförderte er sie tatsächlich zu Boden. Ihre Hände und Knie schlugen am Asphalt auf und ein dünnes Rinnsal Blut lief an ihrer Unterlippe herunter, die sie sich beim Sturz aufbiss.
Mit unbewegter Miene richtete sich Mira wieder auf.
Unwirsch wischte sie sich das Blut von der Lippe. Ihre aufgeschürften Hände klopften den Staub aus ihrem Rock.
Luisas gackern hallte in ihren Ohren wie das Gackern eines Huhnes.
„Oh weh. Schon wieder. Entschuldige bitte, Mira.“
Noch spöttischer konnte eine Entschuldigung kaum klingen.
Mira schluckte jede Erwiderung runter die ihr auf der Zunge lag, drehte sich um und setzte ihren Weg fort.
In ihrem Rücken konnte sie Luisas Gezeter hören.
„Dieses Miststück! Habt ihr das gesehen? Nicht mal eine Miene hat sie gezogen! Und gesagt hat sie auch nichts! Argh... ich hasse sie!“
„Alles in Ordnung?“
Fragend blickte Mira in das Gesicht des Jungen, der vor ihr stand.
Irgendwie konnte sie dessen Worte nicht so ganz einordnen.
Wie auch?
Der Junge redete ganz normal mit ihr. Nicht wie mit einer Aussätzigen.
Eine Weile starrten sie sich nur schweigend an, bis der Junge seinen Blick abwandte. Er blickte stattdessen die aufgeschürften Knie des Mädchens vor sich an.
Sanft nahm er ihre Hände in seine und betrachtete die Handflächen.
„Tut das nicht weh? Warum wehrst du dich nicht?“
Mira zuckte nur mit den Schultern.
Der Junge verwirrte sie furchtbar.
Dieser begann nun leise zu lachen: „Du bist seltsam, Kleine. Hast du denn wenigstens einen Namen? Oder soll ich mir einen ausdenken?“
Wieder nur ein Schulterzucken.
Der Junge raufte sich kurz durch die Haare: „Dann nenne ich dich... hm... Traumtänzerin, bis du mir deinen richtigen Namen verrätst.“ Er musterte das verschlossene Mädchen kurz, ehe er scheinbar entschlossen nickte: „Ja, ich glaube Traumtänzerin passt zu dir. Komm mal mit. Ich verarzte dich.“
Gutmütig zog er Mira hinter sich her in ein kleines, gemütliches Eiscafe.
Eine alte Frau begrüßte die Zwei: „Ah, Nico. Hast du besuch mitgebracht?“
Der Junge, namens Nico, grinste die alte Frau breit an: „Das ist Traumtänzerin. Sie redet leider nicht mit mir. Vielleicht redet sie aber auch gar nicht. Zumindest will ich sie verarzten. Sie wurde von so einem Idioten geschupst und hat sich dabei die Hände und Knie aufgeschlagen. Haben wir Pflaster da, Oma?“
„Sicher, sicher. Oben im Arztschränkchen müssten Pflaster zu finden sein. Sieh doch eben nach. Deine Freundin kann dich ja begleiten.“
„Sie ist nicht meine Freundin!“, erwiderte Nico, wobei seine Wangen kaum sichtbar rot wurden, was seine Oma zum Lachen brachte.
Mira beobachtete das Ganze nur argwöhnisch.
Erneut wurde ihre Hand umschlossen und sie wurde hinter Nico hinterher in den hinteren Teil des kleinen Cafes und eine Treppe hoch gezogen.
Allerdings zerrte Nico sie keineswegs ruppig hinter sich her, sondern ging mit derselben Sanftheit wie zu beginn zugange.
Mira ließ sich an einem Holzstuhl nieder, der aussah, als stamme er noch aus dem letzten Weltkrieg. Zum Glück wies der Stuhl eine Stabilität vor, von der die Stühle in der Schule nur träumen konnten.
Sie hörte wie Nico im Nebenzimmer rumkramte.
„Irgendwo hier... ah... ich hab was gefunden.“
Freudestrahlend betrat er das Zimmer wieder in dem sich Mira aufhielt. In der Hand hielt er eine Packung Pflaster.
Fein säuberlich verarztete er das seltsame Mädchen.
„So, fertig.“
Mira schenkte ihm nur ein kurzes Nicken. Wieso sollte sie sich auch bedanken. Sie hatte um keinerlei Hilfe gebeten.
Nico schien sich nichts daraus zu machen. Er lächelte und streckte dabei dem Mädchen hilfreich eine Hand hin, die Mira nach einigem Zögern ergriff: „So. Darf ich bitten, die Dame? Jetzt lade ich dich zu einem Eis ein. Komm schon. Vielleicht schenkst du mir ja dann wenigstens ein winziges Lächeln.“
Innerlich schmunzelnd folgte Mira dem Jungen. Der schien tatsächlich fest von seinem Vorhaben überzeugt zu sein, denn er spendierte Mira eine große Kugel Erdbeereis.
Nach dem Essen warf Mira einen Blick zu der großen Uhr die im Cafe hing.
Erschrocken sprang sie von ihrem Platz.
Sie müsste sich beeilen, wollte sie nicht zu spät kommen.
„Musst du zurück zur Schule?“
Sie schenkte Nico ein eiliges Nicken und wollte schon zur Tür raus rennen. Kurz vor dieser stoppte sie allerdings.
Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu Nico um.
Ein zartes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, nicht mehr als ein milder Hauch im lauen Sommerwind. Ihre Lippen öffneten sich ein Stück und heraus kam ein leises „Danke.“. Eilig verließ Mira das Cafe.
Als sie die Straßen entlang hetzte umspielte weiterhin das Lächeln ihre Lippen.
Später saß sie wieder mit starrer Miene im Unterricht.
Ihre Gedanken kreisten um den Jungen, besser jungen Mann.
Nico.
Texte:
Text: Theresa K.
Bild: Zeichner unbekannt (Bild von photobucket)
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte widme ich meiner kleinen Schwester Franzi,
der ich in meinen Augen viel zu selten zeige wie lieb ich sie habe
und wie dankbar ich ihr bin, dass es sie gibt.
Liebe Franzi,
diese Geschichte ist nur für dich!