Cover

Heute kommst du.

Ich weiß es genau.

Warum?

Weil du es versprochen hast.

 

Ich habe gekocht für dich. Im Ofen steht ein rheinischer Sauerbraten mit extra vielen Rosinen. So wie du ihn liebst. Im Topf kocht schon seit ein paar Stunden Rotkohl. Ich habe ein paar Äpfel reingeschnitten.

Die aus dem Garten.

Die von dem Baum, an dem noch die Schaukel hängt.

Mein schöner Gedanke.

An dem Tag, als du fortgingst, hast du geschaukelt.

Immer schneller.

Immer höher.

Dein Lachen erfüllte die ganze Nachbarschaft.

 

Ich muss immer kichern, wenn ich an dein Lachen denke. Es ist so ansteckend. Warum hast du damit aufgehört, als die Äpfel vom Baum fielen? So wild warst du auf der Schaukel. Aber heute kommst du ja wieder.

 

Ich habe die Äpfel auch schön klein geschnitten. Und Rotwein ist auch drin. Aber nur ein Bisschen. Nur für den Geschmack. Ist ja schon gut. Ich habe auch einen Schluck getrunken.

Aber nur einen Kleinen.

Nur zum Probieren.

 

Oh, ich muss nach den Knödeln schauen. Sie dürfen nicht kochen. Und nicht zu lange. Ich weiß schon: Du magst sie etwas matschig in der Mitte. So matschig, dass sie an deinen Zähnen kleben. Das zeigst du uns dann immer. Papa schimpft dann wieder und wir amüsieren uns.

Wie Verschwörerinnen.

Du und ich.

Beste Freundinnen.

 

Papa kommt heute auch. Aber etwas später. Wie immer. Ich weiß gar nicht mehr, wann er ging. Etwas später als du? Wo er hinging? Arbeiten glaube ich. Seit du weg bist, muss er viel arbeiten. Auch nachts. Aber das ist gut so. Wie solltest du sonst die lange Reise machen können?

 

Schade, dass die Karten nicht ankommen. Ich weiß, dass du mir schreibst. Aber diese dumme Post. Ich schimpfe immer mit dem Briefträger. Einmal habe ich ihm die Tasche weggenommen. Bestimmt versteckt er deine Karten nur. Das war lustig. Er hat rum geschrien aber ich habe trotzdem alles durchsucht. Ich musste dann ein paar Tage weg. Als ich wieder kam, war wieder keine Karte da. Aber jetzt glaube ich ihm, dass sie im Ausland wegkommen.

 

Zum Nachtisch gibt es Apfelstrudel. Sobald der Braten fertig ist, schiebe ich ihn in den Herd. Dann kommt er heiß raus, wenn wir mit dem Hauptgang fertig sind. Ich bestäube ihn auch wieder mit Vanillezucker. Wenn du reinbeißt, pustest du ihn immer mit deiner Nase weg. Dein Gesicht ist dann hinter einer Wolke verschwunden. Und wieder kann man nur dein Kichern hören.

 

Dein Kichern und Lachen fehlen mir.

 

Manchmal versuche ich so zu kichern wie du. Stundenlang probiere ich dann. Bis es wieder dunkel wird. Aber ich schaffe es nicht. Es klingt immer anders. Du kommst ja. Und dann musst du lachen für mich.

Ganz viel.

Ganz lang.

 

Die Äpfel im Strudel sind auch von deinem Lieblingsbaum. Sie lagen ja eh schon auf dem Boden und ich habe sie aufgesammelt. Nur die Flecken auf deinem Kleid, die bekomme ich nicht heraus. Ich versuche es immer wieder, doch ich schaffe es nicht. Überall rote Flecken. Obwohl die Äpfel grün und gelb sind. Komisch irgendwie. Verstehst du das? Ich habe es dir trotzdem rausgelegt. Auch für Papa. Du sollst doch hübsch sein, wenn er wiederkommt. Dann freut er sich.

 

Du hast doch bestimmt viel zu erzählen. Dann können wir stundenlang reden. Reden. Das fehlt mir. Bevor Papa ging, haben wir wenig geredet. Er war sicher sehr müde. Und ich hatte ja wenig Zeit. Ich musste ja dein Kleid waschen. Aber heute wird alles gut.

 

Ich habe den Tisch schön gedeckt. Das gute Geschirr. Du musst vorsichtig sein, dass du es nicht zerbrichst. Du weißt ja, dass Dinge die fallen leicht zerbrechen. Und dann sind sie weg. Verschwinden irgendwie. Manche tauchen nie wieder auf.

Aber heute kommst du. Ich weiß es genau. Du hast es versprochen. Ich höre dich an der Tür.

 

-------

 

Ich atme tief durch, bevor ich die Tür zur Wohnung von Frau Krüger aufschließe. Es ist jetzt der sechste Monat meines freiwilligen sozialen Jahres, doch es ist immer noch schwer für mich.

 

Ich betrete die Wohnung. Es ist nicht sehr hell hier drinnen. Es brennen keine Lichter. Das Sonnenlicht wird von den Gardinen ausgesperrt, die aus schwerem Brokatstoff sind. Wenn ich hier drin bin, bekomme ich kaum Luft. Ich fühle, wie sich meine Brust zuschnürt.

 

Frau Krüger schaltet auch nie die Heizung ein. Sie trägt immer den gleichen Pullover. Er ist aus grün-brauner Schafwolle. Selbst gestrickt. Ich glaube, sie hat ihn seit Jahren nicht ausgezogen. Schon meine Vorgängerin hat erzählt, dass sie ihn nie wechselt.

 

Ich gehe in die Küche und schalte das Licht ein. Das gleiche Bild wie immer: Sie hat versucht zu kochen. Rosinen und Vanillezucker sind auf der Anrichte verstreut. Der Backofen ist an und überall liegen Äpfel.

 

Ich kann seit einiger Zeit keine Äpfel mehr sehen. Noch schlimmer ist der Geruch. Dieser Geruch von leicht angefaultem Fallobst. Die ganze Wohnung ist erfüllt von diesem Gestank.

 

Ich schalte den Herd wieder aus. Vor Jahren hat ein Elektriker schon die Heizspiralen abgeklemmt. Zu gefährlich. Ich bringe das Essen für Frau Krüger immer mit. Ich lege die Tasche auf den Küchentisch und kippe das Fenster.

 

Ich gehe durch die Wohnung. Suchen muss ich sie nicht. Sie ist immer im alten Kinderzimmer. Die Wohnung ist ein Museum. Alle Uhren stehen still. Nicht nur im wörtlichen Sinn. Und das alles seit „der Sache“.

 

Bevor ich hier anfing, hat Frau Pfenning uns eine Einführung in die Situation gegeben. Sie ist Frau Krügers Psychologin und betreut sie. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, denn sie hat Frau Krügers Situation an einem Zitat von Bertold Brecht erklärt: „Wenn ein Freund weggeht, muss man die Türe schließen, sonst wird es kalt.“ Das hat Frau Krüger nie gemacht. Sie habe „die Sache“ nie verarbeitet und abgeschlossen. Irgendwann ist es dann unmöglich, die Türe zu schließen, hat nicht die Kraft sie zu schließen und mit der offenen Tür.

 

Für Frau Krüger hat der Unfall ihrer kleinen Tochter Claudette nie stattgefunden. Sie kann sich nur an die Begleitsituation erinnern: das Lachen ihrer Tochter, die heruntergefallenen Äpfel, das Blut auf ihrem Kleid. Die Tatsache, dass die Seile der Schaukel rissen, das kleine Mädchen stürzte und an der offenen Kopfverletzung starb ist ausgelöscht. Stattdessen hat sie sich eine eigene Realität aufgebaut, in der Claudette eine lange Reise macht und bald wieder kommt.

 

Herr Krüger hat alles versucht aber, als seine Frau immer weiter in die Fantasiewelt abdriftete, konnte er irgendwann nicht mehr. Als sie noch begann täglich das Kleid des Mädchens zu waschen, das sie am Tag des Unfalls anhatte, gab er auf und zog aus. Er schaut gelegentlich nach ihr, doch sie nimmt ihn kaum wahr.

 

Ich komme in das Kinderzimmer und finde sie. Sie liegt auf dem Bett und schläft. Neben ihr auf dem Boden liegen zwei Rotweinflaschen. Die eine ist ausgelaufen und der Rotwein hat sich über ein Mädchenkleid ergossen.

 

Es ist das Kleid von Claudette.

Fadenscheinig vom vielen Waschen und voll mit den roten Flecken des Weins. Das Bett ist in Licht getaucht.

 

Ich Blicke durch die Glastür hinaus in den Garten. Ich sehe den alten Apfelbaum. Von einem Ast hängen gerissenen Seile und wehen im Wind. Es ist Spätsommer und die ersten Äpfel liegen im Gras. Darunter auch die vermoderten Reste einer alten Holzschaukel. Im Zimmer ist es kalt.

 

Die Tür steht weit offen.

 

Impressum

Texte: Copyright by Simon Kahnert. Abdruck, Kopie und Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Wettbewerb der Bookrix-Gruppe "Kurzgeschichten", Oktober 2012

Nächste Seite
Seite 1 /