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Wie Regentropfen

 

 

Meine Hand berührt die kalte Scheibe. Außen rinnen die Regentropfen langsam herunter. Ich folge ihnen mit den Fingerspitzen. Wie jeden Morgen sehe ich die gleichen Häuser, die gleichen Menschen auf der Straße, die gleichen Gesichter im gleichen Bus.

 

So wie der Tropfen herunterfließt, fließt mein Leben dahin.

 

Langsam

Gleichförmig

Sicher

Langweilig

 

Mein Blick schweift von den Tropfen ab und ich betrachte die Schaufenster, an denen der Bus vorbei fährt. All die schönen, neuen Dinge. Die Verlockungen, die wir angeblich benötigen. Nichts davon spricht mich an. Nichts davon regt meine Gefühle.

 

Eigentlich doch ein erstrebenswerter Zustand. Nichts brauchen. Nichts begehren. Aber ist es das wirklich? Wunschlos glücklich sein?

 

Schaufenster um Schaufenster ziehen dahin und wechseln sich ab.

 

Möbel

Kleider

Lampen

Sextoys

Eine Drogerie

Immer weiter, immer mehr.

 

Doch ein Fenster ist anders. Ich sehe es nur kurz vorbeiziehen. Wie ein Aufblitzen. Ein schmaler Laden. Eine Tür und ein kleines Schaufenster. Keine Auslage. Nur ein Bogen Packpapier von innen an die Glasscheibe geklebt.

 

Einfach

Braun

 

Mit schwarzem Edding ein Zitat darauf geschrieben. Doch der Bus passiert es so schnell, dass nur Bruchstücke in mein Gedächtnis gelangen. Ich erkenne nur: „Das Unmögliche versuchen“.

 

Der Bus fährt weiter auf mein Ziel zu. Auf meine tägliche Routine. Er hält, Menschen steigen ein und aus. Das Zitat geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Was stand dort? Ich will es ganz wissen. Es ist wie ein Zauber, der mich gefangen hält. In mir tobt eine Zerrissenheit. Was soll ich tun?

 

„Du musst ins Büro, du bist eh gleich da!“ Doch da ist noch ein anderer Gedanke. Aber wieso? Es war doch nur ein Spruch auf billigem Papier.

 

Der Bus hält an der nächsten Haltestelle. Ich nehme meine Tasche und steige aus.

 

„Du kommst zu spät! Du musst arbeiten!“

 

Ich stehe im Regen. Es nieselt leicht und die Tropfen kühlen mein Gesicht. Ich atme tief durch. Eigentlich lächerlich. Ich bin nur aus dem Bus ausgestiegen, statt wie jeden Tag bis zum Ziel zu fahren. Doch es fühlt sich an wie eine Rebellion. Als hätte ich das Universum verändert.

 

„Das Unmögliche versuchen.“

 

Langsam gehe ich die Straße zurück in die Richtung, aus der ich mit dem Bus kam. Ich erreiche die letzte Haltestelle. Wieder Menschen, die ihrer Routine folgen.

 

„Du musst nur wieder einsteigen, dann schaffst du es noch rechtzeitig.“

 

Doch ich gehe weiter. Ich fühle einen inneren Widerstand doch gleichzeitig den tiefen Wunsch, es zu tun. Hier irgendwo war es doch. Von Weitem erkenne ich das Drogerieschild. Gleich müsste ich es doch sehen.

 

Da. Es ist eines der alten Häuser hier in dieser Straße. Der Rahmen des Schaufensters ist aus Holz und die weiße Farbe blättert schon ab. Die gesamte Scheibe wird von dem bräunlichen Papier bedeckt. Darauf prangt in schwarzen Lettern der Spruch:

 

„Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen!“

 

Wie gebannt starre ich ihn an. Meine Kleidung ist von der Nässe des Regens durchtränkt. Meine Brille ist beschlagen. Wie durch einen Schleier dringt dieser einfache Satz in meine Gedanken. Wie ein Echo wiederholt er sich immer wieder.

 

Das Unmögliche versuchen. Nichts begehren. Welch ein Widerspruch.

 

In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Wie ein kleiner Affe von Ast zu Ast, so springen meine Gedanken umher. Wie kann ein einfacher Satz nur so etwas auslösen? Oder war es schon immer da? Hab ich solche Gedanken nur nicht zugelassen?

 

Das Klingeln meines Smartphones reißt mich aus den Gedanken und zurück in die reale Welt. Wie lange stehe ich schon vor diesem Fenster? Ich hebe ab. Die Stimme meines Chefs schallt mir entgegen: „Wo bleiben Sie denn? Ihr Dienstbeginn war vor einer halben Stunde! Sie sind echt unmöglich!“

 

Ich bin unmöglich? Ich mache seit 10 Jahren diesen Job. Ich war nie zu spät. Ich war nie krank. Und nun bin ich etwas zu spät und deshalb unmöglich?

 

Ich blicke wieder auf zum Packpapier.

 

„Hallo! Hallo? Sind Sie noch dran?“

 

Und wieder fühle ich mich im Bann dieser Worte. Ich höre mich selbst sagen:

 

„Ja. Ich komme heute später. Das hatte ich Ihnen doch gesagt.“

 

Die Frechheit dieser Lüge überrascht mich selber. Doch noch mehr verwirrt mich die Antwort:

 

„Ach so? Das hatte ich dann wohl vergessen.“

„Das haben Sie wohl.“

 

Was tue ich hier?

 

„Na dann. Wir sehen uns später.“

 

Es klickt in der Leitung. Ich stehe auf der Straße und blinzle ungläubig.

 

Was ist passiert? Ich komme zu spät ins Büro. Ich belüge meinen Chef. Dinge, die ich noch nie getan habe. Doch sie haben keine Konsequenzen?

 

Wieder lese ich den Spruch:

„Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen!“

 

In diesem Moment reißt der Himmel auf und das Fenster spiegelt die Sonne so, dass ich geblendet werde. Ich muss die Augen schließen.

 

Ist es so einfach? Das Unmögliche versuchen? Geht es gar nicht darum Berge zu besteigen, Dinge zu tun, die nicht zu schaffen sind, alles aufzugeben und neu anzufangen?

 

Ich drehe mich um und gehe langsam zum Bus zurück, ein Lächeln auf den Lippen.

 

Wir sind es selber, die bestimmen, was das Unmögliche ist.

 

Als ich heute Morgen aufstand, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, zu spät in die Arbeit zu gehen. Ein Ding der Unmöglichkeit.

 

Meine Hand berührt die kalte Scheibe. Außen rinnen die Regentropfen langsam herunter. Ich folge ihnen mit den Fingerspitzen. Doch jetzt sehe ich die gleichen Häuser, die gleichen Menschen auf der Straße, die gleichen Gesichter im gleichen Bus mit einem neuen Blick.

 

Wer weiß, was heute noch passiert, wenn ich unmöglich bin? Plötzlich scheint alles möglich.

 

So wie der Tropfen herunterfließt, fließt mein Leben dahin. Welchen Weg es nimmt, wird sich aber noch zeigen.

Impressum

Texte: Copyright by Simon Kahnert.Abdruck, Kopie und Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Bildmaterialien: Simon Kahnert
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Wettbewerb der Bookrix-Gruppe "Kurzgeschichten",Juli 2012

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