"Geh deinen Weg. Es gibt so viele Wege."
- Kurt Tucholsky
„Walk on with hope in your heart.”
Viel zu laut dringt Frankieboys Stimme aus der offenen Wohnungstür in das Treppenhaus. Langsam wandert ihr Blick von der Treppe nach unten zu der Tür des Aufzuges. Ihr fallen die Kratzer in dem grauen Lack der Metalltür auf. Kratzer. Wie auf der alten Sinatraplatte. Kratzer. Wie sie seit einiger Zeit in ihr Leben gerissen wurden. Kratzer? Eigentlich ist der Lack ab.
Ihr Blick bleibt hängen, an der Treppe, und der Fokus stellt sich auf unendlich. Die Treppe, auf der noch vor Wochen ihre Freunde hochkamen, wenn der Aufzug mal wieder streikte. Lachend, scherzend. Doch auch dieses Lachen ist erstorben. Erstorben nach diesem besonderen Tag. Ja, er war besonders der Tag. Der Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus kam.
Sie muss kichern. Wie die beiden Sanis sich abgemüht haben, weil der Aufzug mal wieder streikte. Wie sie sie nach oben trugen. „Sehen Sie, wir tragen Sie auf Händen“, haben sie noch gescherzt. Ihr Kichern erstirbt. Das war vor sechs Wochen. Der Tag, als sie das letzte Mal mit jemandem scherzte.
„You’ll never walk alone.“
Frankies rauchige Stimme. Die Stimme, die sie seit diesem Tag begleitet. Warum sie damals diese Platte aufgelegt hat, weiß sie gar nicht mehr. Davor staubte sie im Regal ein. Naja, in den Klubs, in denen sie tanzte, lief so was nicht. Von Donnerstag bis Samstagnacht tanzte sie mit ihren Freundinnen durch die Spaßtempel der Stadt. Die Freundinnen von denen Sie seit sechs Wochen nur ein „Du Arme. Ich würde ja gerne vorbeikommen, aber ich habe gerade gar keine Zeit“ zu hören bekommt. Keine von denen war seit „dem“ Tag mehr zu Besuch. Warum auch? Sie gehen jetzt andere Wege. Zwangsweise.
Ihr Blick wandert wieder zur Aufzugtür. Seit heute Morgen ist er wieder still. Wohl mal wieder defekt. Das hat auch die Physiotherapeutin gesagt, die sie täglich besucht. Franzi. Sie ist wohl so was wie eine Freundin geworden. Zumindest, wenn man Shakespeare glaubt: „Es sollt' ein Freund eines Freundes Schwächen tragen.“ Franzi trägt ihre Schwächen. Sie hilft ihr damit zu leben und hört ihr auch zu. Einmal sind sie sogar einen Kaffee trinken gegangen. An diesem Tag schien die Sonne.
„Walk on, through the wind, walk on, through the rain.”
Heute regnet es auch wieder. Alles scheint grau. Grau, wie die Tür zum kaputten Aufzug. Kaputt. Wie ihr Leben seit „dem“ Tag. Der Tag, an dem sie mal wieder tanzen war. Der Tag, an dem sie sich das letzte Mal von ihren Freundinnen verabschiedete. Als sie den Weg nach Hause einschlug. Es war ihr, als tanzte sie nach Hause. Sie war glücklich. Sie hatte gefeiert. Und nur einen Wimpernschlag später war es vorbei.
„And the sweet, silver song of a lark.”
Vielleicht hörte sie eine Nachtigall und keine Lerche, als die diesen Schlag spürte und als es dunkel wurde. Dunkel. Für drei Tage. Die Zeit, die danach folgte, liegt unter einem dunklen Schleier. Auch heute liegt alles wie unter einem Schleier.
„Du machst Fortschritte“, hatte Franzi ihr heute gesagt. Fortschritte. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie schaut auf ihre Füße. Die Füße, die einmal tanzten. Die Füße, die sie mit den schönsten Schuhen schmückte. Die Füße, die ihr Freund so liebte. Ihr Freund. Als sie ihn das letzte Mal anrief, sagte er, er brauche Zeit. Zeit, das alles zu verarbeiten. Er arbeitet dran. Mit Hilfe einer ihrer Freundinnen. Sie hat sie neulich gesehen, als sie mal wieder in das Krankenhaus musste.
„At the end of the storm, there's a golden sky.“
Die Stimme von Sinatra reißt sie wieder zurück in das hier und jetzt. Heute ist die Gerichtsverhandlung. Aber warum soll sie dahin gehen? Der Fahrer hat alles gestanden. Er hatte sie nicht gesehen. Dort auf dem Seitenstreifen. Vielleicht auch, weil er ein oder zwei Gläser Wein zu viel hatte. Er wird eine Bewährungsstrafe bekommen. Zumindest meint das ihre Anwältin. Dann wird er weiterleben und nach einer Zeit wird er sich wieder hinter das Steuer setzen. Und die Räder seines Wagens werden die Hofeinfahrt wieder verlassen.
„Though your dreams be tossed and blown.”
All ihre Träume sind dahin und neue hat sie keine. Naja, einen …
Ihr Blick gleitet wieder zu der Treppe. Es wäre ganz einfach. Mit einem Schlag wäre es vorbei. Dieses Mal könnte sie es selber entscheiden.
Sie fasst an die Räder des Rollstuhles und dreht in langsam zur Treppe. Es wäre ein geringer Kraftaufwand, nur ein kleiner Schupps.
Sie schließt die Augen und atmet tief ein.
„Hold your head up high, and don't be afraid of the dark.”
Vor der Dunkelheit fürchtet sie sich nicht mehr. Sie hat sie kennengelernt. Die Dunkelheit ist für alle gleich, anders als das Licht. Das Leben.
Sie öffnet ihre Augen. Die Räder stehen am Rand der Treppe. Nur ein paar Millimeter.
„Walk on, walk on with hope in your heart, and you'll never walk alone.”
In diesem Moment geht mit einem lauten Rumpeln und Quietschen die Tür des Aufzuges auf. Das Licht scheint ihr entgegen und es ist, als lädt es sie ein.
Sie blickt vom Aufzug zur Treppe. Es ist ihre Entscheidung. Sie entscheidet, welchen Weg sie nimmt.
Sie blickt zurück zum Aufzug.
Es gibt so viele Wege!
Texte: Copyright by Simon Kahnert.
Abdruck, Kopie und Veröffentlichung
nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Originaltext von "You'll never walk alone" von Oscar Hammerstein II
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Wettbewerb
der Bookrix-Gruppe "Kurzgeschichten",
Oktober 2011