Er gibt uns nur das wieder, was wir wirklich sind.
Wir blicken hinein und sehen uns selbst. Realistisch. So wie wir in diesem Moment sind.
Oder uns sehen?
Wir sehen unsere Fältchen. Jede Pore. Das graue Haar. Die Ecke im Bart vom Rasieren. Die schöne Schminke, die wir auftrugen. Den Pickel, der uns ärgert. Und unsere Augen.
Unsere Augen.
Wir schauen hinein. Sehen uns selbst in die Augen. Sehen das Weis. Sehen die Kapillaren, die die Lederhaut überziehen. Weiß wird zu einem leichten Gelb oder Rot.
Dann sehen wir die Iris. Braun, Grau, Blau, Grün, welche Farbe auch immer. Wenn wir genau hinsehen, ist es nicht nur eine Farbe. Silberne Sterne glitzern daran. Bunte Schlieren durchziehen sie.
Und dann sehen wir die Pupille. Ein schwarzes Loch. Undurchdringlich scheint es. Wie ein Brunnen zu unserem Innersten.
Doch plötzlich verschiebt sich das Bild. Mit einem Blinzeln sehen wir uns selbst.
Ein Spiegel im Spiegel.
Das, was wir im Spiegel sahen, sehen wir in unserem Auge. Weniger detailliert, doch das gleiche Bild.
Wieder ein Blinzeln, wieder verändert sich der Spiegel, der doch nur zeigt, was wir sehen. Doch plötzlich sehen wir unsere Dreiheit.
In der archaischen Zeit projektierten wir diese Dreiheit auf unsere Archetypen, unsere Götter:
Die drei Matronen.
Die drei Nornen.
Die Heilige Dreifaltigkeit.
Doch eigentlich sind wir es selbst. Wir sehen, was wir vorgeben zu sein, was wir gerne wären und das Wesen, das wir verbergen. Wir haben in unserer aufgeklärten Zeit keinen Platz für Projektionen!
Das, was wir vorgeben zu sein ist gesellschaftsfähig. Es sind die Rollen, die wir täglich spielen. Wir sind angepasst und zufrieden. Wir mögen es zu gefallen, erfolgreich zu sein, respektiert zu werden.
Unsere Träume: was wir gerne tun würden. Wie wir gerne wären. Davon erzählen wir. Wir werden vielleicht dafür belächelt. Mal aus der Spur zu treten. Alles hinter uns zu lassen. Vielleicht träumt jemand mit uns. Motiviert uns, unserem Traum zu folgen. Solange er in das Bild passt. Moralisch und ethisch akzeptabel ist.
Und dann ist da das, was wir einsperren. Der „Joker“ in uns.
Wir haben gelernt, unsere dunkle Seite zu beherrschen.
Dunkle Seite? Oder nur das, was nicht in das Bild von uns passt?
Wir sehen in diesem Spiegel keinen Massenmörder oder Psychopathen. Nein. Das ist nicht unsere „dunkle Seite“. Es ist das, was wir gerne wären und nie auszusprechen wagen.
Der Eine würde vielleicht gerne den Chefposten aufgeben und mit dem Motorrad durch die Negev fahren. Die Andere ihre Familie verlassen und eine Blumenverkäuferin in Akron, Ohio sein. Der starke Türsteher vor dem absolut hippen In-Klub möchte vielleicht High Heels und Lidschatten tragen und die brave Buchhalterin eine vergötterungswürdige Mistress auf der Reeperbahn sein. Es sind die einfachen Dinge, die tief in unserem Inneren vergraben liegen.
Doch wir haben gelernt, diese Wünsche und Bedürfnisse zu beherrschen. Mit unseren täglichen Ritualen und Regeln. Wir spielen die Rollen, die man uns von klein auf vorgelebt und eingebläut hat. Wir wissen, was richtig und falsch und wo unser Platz ist. Und verstecken es unter unseren „Träumen“.
Nur wenn wir in diesen untrüglichen Spiegel blicken, dann blinzelt es kurz mit unseren Lidschlägen auf. Dann kommt es hervor und sucht den Weg an die Oberfläche.
Doch mit einer Bewegung unseres Adamsapfels, dem Aufdrehen des Wasserhahns ist es vorbei.
Wieder versteckt unter den Rollen, die wir täglich leben.
Wir können uns anlächeln und sagen, dass wir glücklich sind mit unserem Leben, wie es ist. Glücklich mit unseren Träumen.
Bis zum nächsten Mal, wenn wir in den Spiegel blicken….
Texte: Copyright by Simon Kahnert.
Abdruck, Kopie und Veröffentlichung
nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2011
Alle Rechte vorbehalten