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Aufbruch

 

Die Wehmut, die an diesem Samstagmorgen über der liebevoll eingerichteten Wohnung im Herzen Londons lag, war so greifbar, dass sie jedermann erdrückt hätte, der zum Salon hereingekommen wäre. Dort befand sich aber im Moment lediglich Sarah Thompson, die neunzehnjährige Tochter des Hauses. Ihre goldfarbig schimmernden Locken fielen, zu einem losen Zopf gebunden, noch weit über die Schultern herab. Das Antlitz der jungen Dame war voller anmutiger Eleganz und offenbarte trotz ihres jugendlichen Alters eine gewisse Reife. Ihre Augen ließen vermuten, dass sie wohl herzlich strahlen und damit die Welt erobern konnten. Etwas aber bewegte Sarah, was sie zutiefst betrübte. Ihr Blick war offen und ehrlich, doch sah man in ihm eine tiefe Traurigkeit, die aus dem Grunde des Herzens zu kommen schien.

Noch lag einer dichter Nebel über die Stadt und die schwachen morgendlichen Sonnenstrahlen des Herbstes vermochten ihn kaum zu durchdringen. Ein leichter Wind war aufgezogen, der immer wieder Blätter am Fenster des Salons vorbeitrug, zu dem Sarah hinaus sah. Sie erschauderte kurz und verspürte beim Blick aus dem Fenster das Gefühl, als sei dies das Spiegelbild ihrer Seele. So, voller Melancholie und in sich gekehrt, wurde sie erst aus ihren Gedanken gerissen, als das Hausmädchen den Raum betrat und sich anschickte einige Bilder von der Wand zu nehmen. Bisher hatte der Salon den Schein gewahrt, bislang waren ihm die bevorstehenden Ereignisse noch nicht anzusehen gewesen. In den übrigen Räumen der Wohnung allerdings schon. Dort begrüßten einen nur noch kahle Wände und leere Dielen. Kälte. Eiseskälte. Nun war also auch der Salon an der Reihe und die letzten Kisten wurden gepackt. Nicht die materiellen Dinge in der Wohnung waren es, an denen Sarah hing. Es schmerzte sie allein der Gedanke an die Zukunft so heftig, dass sie wieder mit den Tränen kämpfte. Zu frisch war noch der plötzliche Tod des Vaters, als dass ihr junges reines Herz ihn schon verwunden haben könnte. Zu schnell war alles gegangen und die Aussichtslosigkeit, keine Wahl zu haben, zerriss ihr zartes Seelenleben in tausend Stücke. Sie beachtete nicht weiter, wie der Hochsekretär vom Diener und einem Boten herausgetragen wurde und auch nicht, wie man den Teppich zusammenrollte. Sie wusste, dass der Tag gekommen war und dass sie sich den Wünschen der Mutter zu fügen hatte.

Sie versuchte sich zu besinnen, ob es jemals anders gewesen war, ob sie sich je zuvor in ihrem jugendlichen Leben imstande gefühlt hätte, der Mutter ihr Innerstes zu offenbaren, ihr zu sagen, wie sie litt! Es gab ihr einen Stich ins Herz, aber sie kam zu dem Schluss, dass immer nur ihr Vater ihr Vertrauter gewesen war. Er hatte ihre Geheimnisse behütet, ihre Ängste beschwichtigt und ihre Hoffnungen gestärkt. Auch wenn ihre Mutter nun davon sprach, nach Deutschland zu gehen, weil sie angeblich eine Stellung als Gesellschaftsdame der Herzogin von Hessen-Nassau in Aussicht hatte, wusste Sarah, dass trotz dieser Reden doch alles beim Alten war. Die Mutter hatte ihre Dämonen nicht bezwungen, noch immer war sie dem Alkohol und der Spielsucht verfallen und nun nach dem Tode des Vaters, würde sie sich ihren Süchten nur noch ungezwungener hingeben. Sarah verstand es wohl, dass sie ihre Tochter deshalb nicht in ihrer Nähe wissen wollte. Aber es war lediglich der reine Egoismus, der sie leitete und nicht die Besorgnis um ihr einziges Kind. Es half nichts. Sarah musste sich fügen und sie fühlte sich viel zu ausgebrannt, als dass sie einen Versuch unternommen hätte, gegen Ihre Mutter aufzubegehren. Ändern ließ sich ihre Situation nicht mehr. An dem Morgen, als man die elterliche Wohnung auflöste, nahm Sarah Abschied von den Erinnerungen an ihre Kindheit und Abschied von ihrer Kindheit selbst. Sie hatte sehr wohl mitbekommen, dass sich Ella Thompson, ihre Mutter, ein kleineres Appartement am Stadtrand nahm. Dennoch gab sie keine Widerworte bei den blumigen Schilderungen ihrer Mutter, die davon sprach, bald an einem deutschen Herrscherhof zu sein. „Lüge, alles Lüge“, hauchte Sarah vor sich hin. „Vater, oh, Vater, warum hast Du mich verlassen?“

 

Sie schüttelte die Gedanken ab. Es war längst beschlossene Sache, dass Sarah künftig bei ihrer Großmutter, Lady Virginia Shetfield, die ein Anwesen weit ab von London, in einer ländlichen Gegend namens Calbourmont bewohnte, leben würde. Die Großmutter war die Mutter ihrer Mutter und lebte schon seit langem zurückgezogen. Sie hatte sich zeitweise mit dem Gedanken getragen, das große Anwesen zu veräußern. Nun, da aber die dauerhafte Gesellschaft ihrer Enkelin unmittelbar bevorstand, waren diese Überlegungen wieder verworfen.

Für Sarah war die Großmutter eine Fremde. Es hatte nur einen Besuch bei ihr vor mehr als zehn Jahren gegeben. Sie erinnerte sich wohl aber an Calbourmont, ein altes Dorf mit windschiefen Häusern und mürrischen Bewohnern. Und an Wilburgh Hall, das Anwesen der Großmutter. An die großen und düsteren Räume, die schweren Möbel und die knarrenden Dielen. Beim Gedanken daran kroch ein Unwohlsein in ihr hoch, das all die Trauer um den Vater und die Trostlosigkeit ihrer Situation noch aussichtsloser erschienen ließ. So, als würde jeder Hoffnungsschimmer, jene kleine Flamme, welche die Dunkelheit erhellt hatte, mit einem Mal ausgelöscht. In diesem völligen Dunkel befand sich Sarah, und es beklemmte sie, es schnürte sie ein, es ängstigte sie.

 

Sarah selbst reiste mit einem einzigen großen Überseekoffer. Außer ihren Kleidern befanden sich darin nur wenige Habseligkeiten. Ihr Tagebuch, Schreibzeug, vier Bücher und das Portrait des Vaters. Das Bild bettete sie auf ihr dunkelrotes Samtkleid, das ganz oben im Koffer lag, bevor sie den Deckel schloss. Der Vater hatte ein Vermögen von 2.700 Pfund hinterlassen und beim flüchtigen und reservierten Abschied von der Mutter, steckte diese ihr mit einer übertriebenen und theatralischen Geste einen Umschlag zu. Die Kutsche hatte sich längst schon den Weg aus der Stadt gebahnt, als Sarah den Umschlag öffnete. Kein geschriebenes Wort, keine persönlichen Zeilen von der Mutter. Lediglich 300 Pfund, mit denen Ella Thompson wohl ihr Gewissen reinwaschen wollte. Es war Sarah egal. Sie wollte und konnte nicht darüber nachdenken, wie das weitere Leben ihrer Mutter aussah. Vielleicht war es das Beste, zur Großmutter zu ziehen, weit weg von der Frau, die das Andenken ihres Vaters beschmutzte. Ein wenig erschrak sie über die Härte ihrer Gedanken und kämpfte erneut gegen die Tränen an, die ihr den Hals zuschnürten. Und doch war es die Wahrheit. Sie ließ sich in die Ledersitze der Kutsche zurücksinken und schloss die Augen. Sie spürte die holprige Fahrt, über ein Gelände, das immer unebener zu werden schien. Sie fühlte die Kälte, die von außen in den Wagen kroch und es fröstelte sie. Lange musste sie so gesessen haben, wachend, aber doch mit geschlossenen Augen, denn mit einem Mal schien sich das Gelände wieder zu ändern und während sie zuvor jeden Stein gespürt hatte, über den die Kutsche gefahren war, so wurden die Wege wieder ebener. Fast nichts mehr ließ sie von der Fahrt mitbekommen, es wurde immer ruhiger.

 

Ein liebliches, wunderschönes Mädchen liegt in seiner Kammer und wird von unruhigem Schlaf hin- und hergeworfen. Ihre langen, seidenen Wimpern zucken immer wieder, als sei sie von einem Albtraum geplagt. Draußen tobt ein Sturm. Hagelkörner trommeln wütend an die Fensterscheiben und immer wieder heulen Sturmböen auf. Krachend zerbricht draußen Geäst und das Mädchen fährt mit angsterstarrtem Gesicht auf dem Schlaf hoch.

 

Sarah schlug die Augen auf. „Nun bin ich doch eingeschlafen gewesen“, dachte sie. Die anderen Fahrgäste waren längst ausgestiegen, die Kutsche musste also schon eine geraume Zeit unterwegs sein. Langsam brach die Dämmerung und der sterbende Tag wich der nahenden Nacht. Der Blick aus dem Fenster offenbarte eine im halbdunkel liegende saftige grüne Wald- und Wiesenlandschaft, die sich dem Herbst geöffnet hatte. Die Fahrt führte nun durch verschlungene Waldwege, um dann immer wieder breite Lichtungen zu erreichen. In der Ferne sah man gelegentlich schemenhaft die Dächer und Erker größerer Häuser, bis auch diese von der Dunkelheit verschlungen wurden. Allesamt herrschaftliche Anwesen waren es, die verträumt und monumental da lagen, als wäre es nie anders gewesen und als könne ihnen die Zeit nichts anhaben.

Es war längst pechschwarze Nacht, als die vierspännige Kutsche Calbourmont erreichte. Vereinzelt erleuchteten Laternen, die außen an wenigen Häusern angebracht waren, mit einem fahlen Licht die Finsternis. Der kalte Wind wog sie hin und her und ihre Lichtkegel reichten dann einmal weniger und einmal mehr bis auf die dunkle Straße. Als hätte man die Ankunft der Kutsche erwartet, stand vor dem Gasthaus „Tavern’s Inn“ eine kleine Traube von Menschen. Die Kutsche hielt und der Kutscher wechselte einige Worte mit einem stämmigen Mann, dessen unrasiertes Gesicht nicht besonders vertrauensselig auf Sarah wirkte. Gedankenversonnen betrachtete sie sich die Gesichter dieser Männer. Ihre wettergegerbten groben Züge wirkten im schummrigen Licht tatsächlich unheimlich, fast feindselig. Sarahs Blick blieb auf einem jungen hochgewachsenen Mann haften, der etwas abseits der anderen stand. Er mochte nur wenige Jahre älter sein als sie. Sein gleichförmiges Gesicht war eben und markant zugleich. Er wirkte blass, viel blasser als die anderen. Oder war es der Schein der Lampe, unter der er stand? Sein volles pechschwarzes Haar bildete einen starken Kontrast zu seiner hellen Haut. Für einen Moment glaubte Sarah, dass sich ihre Blicke trafen. Doch konnte er sie im Innern der Kutsche überhaupt erkennen? Seine dunklen Augen schienen kurz aufzublitzen, doch sie war nicht sicher, ob es Freundlichkeit war, die sich darin zeigte. Ihr blieb keine Zeit, länger darüber zu sinnieren, denn mit einem lauten Ruck setzte die Kutsche ihre Fahrt fort. Sie passierte die Hauptstraße von Calbourmont, an der sich außer der Gastwirtschaft nur noch einige Geschäfte befanden und verschwand dann wieder in der Dunkelheit der Nacht.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Florian J. Kerz
Bildmaterialien: Florian J. Kerz
Cover: Florian J. Kerz
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2018

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