Der gesunde Menschenverstand ist blind sowohl für das äußerste Böse wie für das höchste Gute.
Karl Jaspers
„Kleiner Pimmel, großes Wortgebimmel“ las ich auf der Karte, die Georg mir gegeben hatte.
„Was soll das denn? Von wem hast du die bekommen?“, fragte ich verblüfft.
„Ich weiß auch nicht“, antwortete er. „Warst du das? Hast du mir die geschrieben? Das kannst du ruhig zugeben, ich bin dir nicht böse“, fügte er mit einem gequältem Lächeln hinzu.
Georg war mein Therapeut. Mein Hypnosetherapeut.
Eigentlich war er mein Projektprofessor während des Studiums. Als ich einmal erwähnte, dass ich einen Therapeuten suchte, wegen einer mich störenden Angstproblematik, hatte er sich sofort angeboten mir zu helfen. Unentgeltlich. Er hätte das schon öfters mit Studentinnen gemacht.
Ich hatte erst gezaudert, da Georg etwas Diabolisches ans sich hatte. Eine innere Stimme warnte mich, aber ich hörte nicht auf sie.
Georg trug nur schwarze Seiden-Klamotten, er hatte seine Haare abrasiert und seine Vorlesungen bestanden in der Regel aus einer Reihe hypnotischer Sprachmuster, die irgendetwas bei uns auslösen sollten. Seine Lieblingsthemen waren Suizid, Tod und Missbrauch. Außerdem konnte man bei ihm Kurse in Einführungen ins Neurolinguistisches Programmieren besuchen.
„Warum sollte ich dir so eine Karte schreiben?“, fragte ich irritiert und empört.
Woher sollte ich wissen, ob er einen „kleinen Pimmel“ hatte oder nicht?
„Könnte ja sein“, sagte er und sendete mir seinen Hypnoseblick.
Ich war sauer an dem Tag, aber er hatte damit erreicht, dass ich mir Gedanken über die Größe seines Gemächtes machte und was er damit anstellte, dass er derartige Post von Frauen bekam. Das war von ihm so beabsichtigt, wie ich leider viel später feststellen musste. Ich sollte ihn wohl als sexuelles Wesen wahrnehmen oder so...
Ein paar Tage später sprach mich Anna, die Vorsitzende der Frauengruppe des Allgemeinen Studentischen Ausschusses auf dem Campus an.
„Du bist doch eine von Georgs Freundinnen“, sagte sie. „Ich muss dich dringend warnen....
„Ich bin nicht Georgs Freundin“, unterbrach ich sie. „Ich bin in seiner Studiengruppe“.
„Nicht?“ frage sie irritiert. „Aber er hat doch vorhin im Seminar zu dir gesagt, dass du heute zu ihm kommen sollst“.
Das stimmte und es war etwas merkwürdig gewesen.
Ich war zu spät gekommen und wollte unauffällig auf meinen Platz huschen.
Georg nahm mich aber ins Visier unterbrach seinen Vortrag und fragte mich: “Kannst du heute Abend schon um 18.00 Uhr zu mir kommen? Ich kann dich auch abholen?“.
Eine komische Frage. Georg hatte mich noch nie abgeholt. Ich wohnte zudem nicht weit von ihm entfernt.
Ich hatte nur „Ok“ gesagt und dass er mich nicht abzuholen bräuchte.
Er ging nicht weiter darauf ein und führte seinen Vortrag weiter.
„Ja, ich mache eine Therapie bei ihm“, gab ich widerwillig zu.
„Der hat doch gar keine Therapiezulassung“, platzte die ASta Vorsitzende heraus. „Die Krankenkasse bezahlt das nicht“.
„Ich mache das privat“, sagte ich.
„Komm doch bitte morgen um 15.00 Uhr zu mir. Wir haben eine Liste vorliegen von Studentinnen, die er sexuell belästigt hat..“
„Er hat mich nicht“.....begann ich. Aber sie hatte sich schon umgedreht und war weg.
Ich sah dass Georg in der Nähe stand und mich beobachtete.
„Was wollte die denn von dir?“, fragte er später bei unserer Therapiesitzung.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich gewissermaßen wahrheitsgemäß.
Diese sogenannten Hypnosetherapiesitzungen fanden übrigens nicht so statt, wie es oft in Filmen gezeigt wird. Ich war nie bewusst in Trance – zumindest habe ich es nie bemerkt.
Was ich spürte war, dass Georg versuchte mit mir flirten. Harmlos, befand ich. Im Prinzip würden wir nie zusammen passen. Er war nicht mein Typ – nicht unbedingt zu alt aber für meine Begriffe zu penibel. In seiner Wohnung gab es kein Staubkörnchen, seine Bücher standen in Reih und Glied. Es dürfte nichts verrückt werden. Wenn wir etwas tranken und ich stellte meine Tasse anders hin als er sie mir hingestellt hatte, korrigierte er es, wenn er meinte ich würde das nicht bemerken.
Außerdem war er mein Therapeut.
Ich verließ ihn an diesem Abend etwas nachdenklich. Vielleicht hätte ich ihn warnen sollen? Wegen der Aktion, die offensichtlich in der Uni gegen ihn lief. Ich beschloss am nächsten Nachmittag zu dem Termin im AStA zu gehen und mich zu informieren, um was es da überhaupt ging.
Am nächsten Tag hatte ich kurz vor 15.00 Uhr ein Rechtsseminar. Ich hörte nicht zu, da ich über Georg nachdachte. Ich schaute aus dem Fenster, als plötzlich aus dem gegenüberliegende Gebäude, wo sich der Allgemeine Studentenausschuss befand, dichte Rauchwolken aufstiegen. Es knallte und eine Stichflamme schoss in den Himmel. Der Feueralarm ging los und wir flüchteten bevor der Brand uns gefährlich werden konnte.
Gott sei Dank, hatten sich keine Menschen in dem brennenden Gebäude befunden.
Die Feuerwehr konnte nichts retten. Es gab nur noch Schutt und Asche.
Ich stand unter Schock und mir fiel erst später wieder der Termin ein, den ich um 15.00 Uhr in dem besagtem Gebäude gehabt hätte.
Es konnte nicht geklärt werden, wie das Feuer entstanden war. Zumindest wurde nie etwas darüber erwähnt.
Anne, die Vorsitzende des AStA, schien mir aus dem Weg zu gehen. Als ich sie noch einmal wegen ihrer Andeutungen wegen Georg ansprach, wurde sie ganz blass und teilte mir mit, dass sie nicht mehr mit mir darüber reden wollte.
Dann waren Semesterferien.
Ich ging weiterhin zu Georg.
Eines Tages machten wir eine Time-Line-Arbeit. Er ließ mich einen Faden auf den Fußboden legen und dann sollte ich darauf die wichtigsten Ereignisse meines Lebens markieren und sie erzählen. Er versuchte sie dann mit hypnotischen Sprachmustern umzudeuten, so dass ich eine andere Einstellung dazu bekommen sollte. Ich fand diese Sitzung sehr anstrengend und mühselig, was daran lag, dass ich gar keine andere Einstellung zu den Ereignissen haben wollte.
Ich glaube, er war an dem Tag verärgert darüber, dass seine Methode bei mir nicht so gut ankam.
Auf jeden Fall verschwand Georg plötzlich aus meinem Leben.
Als ich zum nächsten vereinbarten Termin kam, klingelte ich vergeblich an seiner Tür. Telefonisch meldete sich nur sein Anrufbeantworter. Ich hinterließ ihm etliche Nachrichten, aber er meldete sich nicht.
Ich machte mir erst Sorgen. Als mir aber ein Nachbar von ihm erzählte, dass Georg verreist war, hatte ich das Gefühl, als wenn ich in ein tiefes schwarzes Loch fallen würde.
Es tat richtig weh. Mir war es vorher im Leben niemals seelisch so schlecht gegangen. Ich versuchte vergeblich in seinem Verhalten eine therapeutische Intervention zu erkennen, ich sagte mir 100 mal am Tag, dass der Typ mir doch eigentlich nichts bedeutete, dass er nur mein Therapeut war. Trotzdem, wurde es nicht besser. Schließlich suchte ich mir eine Therapeutin, die auf solche Krisen spezialisiert war, und kam in Minischritten aus diesem schmerzhaften Zustand heraus.
Als das Semester wieder begann, war klar, dass ich mit Georg nichts mehr zu tun haben wollte. Ich meldete mich aus seinem Projekt ab und suchte mir etwas Neues.
Natürlich traf ich Georg irgendwann auf dem Campus. Er tat so, als wenn nichts passiert wäre, er ging sogar auf mich zu und wollte mich umarmen, obwohl wir das vorher nie getan hatten.
„Was war das für eine schräge Nummer, die du mit mir abgezogen hast“, fragte ich ihn, nachdem ich seinen körperlichen Annährungen ausgewichen war.
„Wieso, was war denn? Ich war im Urlaub“, sagte er.
„Hättest du mich darüber nicht vorher informieren können?“ fragte ich vorwurfsvoll.
„Ich bin dir doch keine Rechenschaft schuldig“, antwortete er.
„Nein, natürlich nicht. Aber wir hatten Termine gemacht und es ging um die Therapie...“, sagte ich, verwirrt über seine Reaktion.
„Ich habe keinerlei Verantwortung für dich“, bemerkte er schroff.
Ich fühlte mich wie eine frustrierte verlassene Frau, die ihrem Liebhaber deswegen Vorwürfe machte und nicht wie eine Klientin, die klären will, warum ihr Therapeut ohne Vorwarnung plötzlich die Therapie abbricht.
Ich ließ ihn stehen, denn ich merkte, das Gespräch brachte nichts Gutes für mich.
Als ich an dem Abend nachhause kam, stand mein Erkerfenster weit offen. Ich wohnte Parterre und dieses Fenster öffnete ich nie.
Nach dem ersten Schock, stellte ich fest, dass nichts beschädigt war und alles an seinem Platz stand. Ein klassischer Einbruch war das nicht. Auch meinen beiden Katzen ging es scheinbar gut.
Da hörte ich, wie draußen ein Motor stotternd ansprang, so wie der Motor von Georgs orange farbender Ente. Automatisch schaute ich aus dem Fenster und sah etwas Orangenes um die Ecke verschwinden.
Einen Tag später wurde mein Kater krank. Es war so, als wenn er blind geworden wäre. Er torkelte durch meine Wohnung. Er war schon 15, aber bis dahin war er ein kerngesunder Bursche gewesen. Der Tierarzt stellte außer einer leichten Nierenschwäche, die man aber durch Ernährung in den Griff bekommen konnte, nichts weiter fest.
Mein Kater erholte sich wieder, aber irgendetwas musste an dem Tag vorgefallen sein.
Ich tauschte die Schlösser meiner Wohnung aus. Mir fiel ein, dass ich meinen Schlüssel oft noch in der Hand hatte, wenn ich bei Georg angekommen war und ihn auf seine Kommode im Flur gelegt hatte. Einmal hatte ich ihn auch vergessen und musste wieder zurück. Er hätte schon die Gelegenheit gehabt sich einen Wachsabdruck zu machen...
Ich ging Georg so gut es ging aus dem Weg. Ich überlegte sogar in eine andere Stadt zu ziehen, als ich eines Tages meine neue Therapeutin mit Georg in meinem Stammcafe am Tisch sitzen sah. Diese Therapie brach ich natürlich sofort ab.
Ich weiß nicht was mit diesem Mann los war und warum ich in sein Fadenkreuz geraten war.
Ich glaubte nicht an den Teufel, an schwarze Magie oder dass Menschen nur böse sind, aber im Zusammenhang mit Georg kam ich manchmal ins Grübeln.
Als mein neuer Projektleiter, ein Mann im besten Alter, plötzlich unerwartet starb, so dass ich notgedrungen erst einmal wieder in Georgs Studienprojekt musste, war ich fast davon überzeugt, dass er etwas damit zu tun hatte....
Texte: Maria Skorpin
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2013
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