Flammen züngelten himmelwärts. Dichter Rauch umgab mich. Das Prasseln übertönte die Stimme des Kapitäns, der uns aufforderte uns in die Rettungsboote zu begeben. Wütend bahnte sich das Feuer seinen Weg.
Panisch schaute ich um mich. Es krachte als der Mast des Schiffes zusammenbrach.
Wo war Chris?
Ich rannte auf das flammende Inferno zu.
„Kommen Sie sofort zurück“, brüllte der Kapitän.
Ich hatte den Eingang zu den Kombüsen erreicht. Irgendwo musste Chris sein. Er war nicht bei den anderen Passagieren an Deck gewesen.
Die Hitze überwältigte mich. Ich bekam keine Luft und ich spürte wie mein Haar angesengt wurde. Da sah ich ihn. Chris, mein Liebster.
Er lag eingeklemmt zwischen zwei Tischen. Er schien verletzt zu sein und konnte sich nicht befreien.
Todesmutig lief ich in die Flammen. Hob den einen Tisch mit all’ meiner Kraft hoch und schmiss ihn in die Ecke. Chris schaute mich an. Trotz der bedrohlichen Situation überlief mich ein wohliger Schauer.
„Los schnell“, keuchte ich und half ihm hoch. Er stützte sich auf mich. Er schien seinen Fuß verletzt zu haben. Wir rannten durchs Feuer und erreichten mit letzter Kraft das Deck.
Das Rettungsboot war weg. Wir waren allein auf dem brennenden Schiff.
„Ich kann nicht schwimmen“, wimmerte ich.
„Ich helfe Dir“, sagte Chris mit seiner sonoren männlichen Stimme. Es schien ihm besser zu gehen.
„Komm“, er nahm meine Hand und zusammen sprangen wir in die kalten Wellen des Meeres.
Stille umgab uns. Ich hielt seine Hand. Die Kühle tat gut. Dann tauchten wir nach Luft schnappend auf.
Als ich aus Angst unterzugehen anfing zu zappeln, wandte Chris den bekannten Rettungsschwimmergriff an.
„Ich halte dich. Keine Angst, dir wird nichts passieren“, hörte ich ihn dicht an meinem Ohr heiser flüstern.
„Lass dich einfach treiben. Entspann dich“.
Vertrauensvoll machte ich das, was mein Liebster und Retter mir sagte.
Wir trieben stundenlang im blauen Ozean. Chris schien unendliche Kraft zu haben. Er ließ mich nicht los.
Auch wenn wir zusammen sterben würden, es wäre gut so, dachte ich.
„Schau nur“, hörte ich Chris sagen. Ich wandte meinen Kopf in seine Richtung und sah eine Insel am Horizont auftauchen.
Der Wind und die Wellen waren mit uns und wir trieben auf den weißen mit Palmen umsäumten Strand zu.
„Wir haben es geschafft“, rief Chris, als wir Hand in Hand im seichten Wasser auf den warmen Sand zuliefen.
Glücklich ließen wir uns fallen.
Ich sah meinem Retter tief in die Augen. Der Wind rauschte sanft in den Palmen, begleitet von tausend verschiedenen Vogelstimmen.
„Ich liebe dich“ flüsterte er...
~
„Hanna“, weckte mich die energische Stimme meiner Mutter..
„Du solltest jetzt mit dem Hund raus gehen, bevor die Gäste kommen“.
Benommen richtete ich mich auf. Im Hintergrund säuselte Chris Roberts eine deutsche Fassung von Guantanamera.
Heute war mein Konfirmationstag. Ich trug noch das Kostüm vom Vormittag. Nach dem reichhaltigen Mittagessen hatte die Familie sich ein Schläfchen gegönnt. Nachmittags – zum Kaffee – sollten noch mehr Gäste kommen.
Ich seufzte mit einem schmachtenden Blick auf die Wände meines Zimmers, die durchweg mit Postern von Chris Roberts tapeziert waren.
„Ok“, sagte ich, und wartete dass meine Mutter mich wieder allein ließ.
Es regnete leicht. Ich griff unter mein Bett und zog eine Plastiktüte hervor in der sich meine enge verwaschene, geflickte, heißgeliebte Jeans befand.
„Wird das heute noch was?“ hörte ich meine Mutter rufen.
„Ich bin gleich fertig“.
Geistesabwesend blätterte ich in einem Buch mit dem Titel „Liebe und Sexualität“, welches zwischen meinen Geschenken lag. Es handelte sich um ein anthroposophisches Aufklärungsbuch, das die meisten Waldorfschüler in meinem Alter bekamen.
Wölfi, unser Lakelandterrier stürmte in mein Zimmer. Ich schmiss das Buch in die Ecke, schnappte die Plastiktüte mit der Jeans und rannte mit den Hund ins Treppenhaus.
„Willst du dir nicht einen Mantel anziehen“, rief meine Mutter.
„Nö, ist doch Mai“, lachte ich, weil Wölfi wie immer die Leine als Spielzeug betrachtete und kräftig daran zog.
Wölfi war mein bester Freund. Nachmittags gingen wir immer einmal um den großen Spielplatz vor unserem Haus. Wir wohnten noch nicht lange in dieser Gegend, aber durch meine Spaziergänge hatte ich ein paar Leute in meinem Alter kennen gelernt, denen ich aber in meiner Aufmachung als Konfirmandin um keinen Preis begegnen wollte.
Der Spielplatz war heute aufgrund des Regenwetters wie ausgestorben. Wölfi kannte meine Gewohnheiten und lief auf ein großes Betonrohr zu. Wir krabbelten beide hinein und schnell entledigte ich mich meines Rockes und Strumpfhose und schlüpfte in meine geliebte Jeans.
Hinten am Bolzplatz hatte ich Reinhard, Dietrich und Beatrix entdeckt. Eine Clique, zu denen ich gern gehören würde. Lässig bewegte ich mich auf sie zu.
„Hi“, begrüßten wir uns cool.
Beatrix Jeans war noch zerschlissner als meine. Sie hatte auf die Löcher bunte Herzen genäht, auf denen „I love David Cassidy“ stand.
Ich mochte sie nicht besonders, denn sie schien mich als Konkurrentin zu sehen und zickte ständig herum.
Die Jungs waren ganz in Ordnung. Reinhard hatte schulterlange dunkle Haare und mit viel Phantasie erkannte ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Chris Roberts.
Dietrich war groß und hatte blonde Locken. Er sah aus wie ein edler Ritter, obwohl er auf coolen Hippie machte.
Beatrix bekam ihren lauernden Blick.
„Bist du eigentlich schon aufgeklärt?“, fragte sie mich scheinbar freundlich.
„Klar.“ Ich wusste zwar nicht, was sie damit meinte, aber den Gefallen das zuzugeben tat ich ihr nicht.
„Echt?“ zirpste sie zuckersüß. Du weißt wo die Babys rauskommen und wie man sie macht?“
„Natürlich“, antwortete ich erleichtert, weil ich das wirklich wusste. Wir hatten ein Wochenendhaus auf dem Lande und ich war Stammgast auf dem nachbarschaftlichen Bauernhof. Grade erst letzte Woche hatte ich zugeschaut wie ein Fohlen zur Welt kam.
„Und mit wem würdest du ein Baby machen wollen mit Reinhard oder Dietrich?“ sie kicherte bösartig.
Die Jungs wurden knallrot.
„Wie was soll ich mit denen machen?“, fragte ich erstaunt.
„Hä hä, du bist gar nicht aufgeklärt“ kreischte sie los und hüpfte auf und ab.
Wölfi fing an zu bellen und schien das Verhalten dieser mittlerweile eine Art Veitstanz aufführenden Person als Bedrohung anzusehen.
Mir wurde das zu blöd und ich ging weiter. Die Jungs hatten auch wieder angefangen Fußball zu spielen
„Das macht man, wenn man sich liebt“, schrie sie mir mit hysterischem Lachen hinterher.
So ein Schwachsinn dachte ich. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich dachte daran, wie bei Bauer Müller ein Hengst von einem entfernten Gestüt geholt wurde, um Betty, die Stute zu decken. Das war doch keine Liebe ...
Mir fiel das Buch ein, welches ich vorhin durchgeblättert hatte. „Sexualaufklärung“ hatte ich gelesen. Meinte Beatrix das?
Ich war so durcheinander, dass ich vergaß meine Jeans wieder gegen den Rock einzutauschen und hatte Glück, dass die anderen Gäste schon da waren, denn sonst hätte es ein Donnerwetter gegeben.
Während ich mich in meinem Zimmer erneut zur braven Konfirmandin umzog, las ich in dem neuen Buch.
„Das männliche Glied wird während des Liebesaktes in die Scheide der Frau eingeführt“.
Ach du heilige Scheiße dachte ich geschockt.
Ich schaute an meine Zimmerwände die mit dem Mann meiner Träume tapeziert waren.
Nie und nimmer wollte ich das mit ihm tun.
Ein Liebesakt war es den Geliebten aus gefährlichen Situationen zu retten oder selbst gerettet zu werden, aber nicht so ein Mist.
Ich war den Rest meiner Konfirmationsfeier mit meinen Gedanken abwesend und es dauerte Jahre bis ich das worüber ich an diesem Tag aufgeklärt wurde mit dem Gefühl von Liebe annährend zusammen bringen konnte.
Über jeden potentiellen Liebhaber, dem ich bisher in meinem Leben begegnet bin, gab es in meiner Phantasie immer die dramatischsten Rettungsszenen. Sex allein genommen aber fand ich langweilig.
Texte: Maria Skorpin
Bildmaterialien: Helena Ferreira - whoppy.com
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2013
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