„We had joy we had fun, we had seasons in the sun” gellte es aus dem alten Kassettenrecorder, den Wiebke über unseren Köpfen hin und her schwenkte, damit auch der ganze Bus etwas von unserem Lieblingssong mitbekam.
„Geht es vielleicht etwas leiser“, schimpfte Frau Naumann, die Mutter von Basti, die unseren Klassenlehrer Herrn Schuster, bei dieser Klassenfahrt zu einem Forsteinsatz nach Braunlage begleitete.
Bei dem heftigen Sturm im letztem Herbst wurden eine Vielzahl von Bäumen im Harz entwurzelt. Die Waldorfschule wollte helfen und so fuhren nach und nach unterschiedliche Klassen zum „Forsteinsatz“. Für mich und unsere Klasse war es die erste Klassenfahrt, wo wir mehrere Tage von zuhause weg waren.
Ich und meine Freundinnen Ina und Wiebke hatten die gesamte hintere Bank des Busses besetzt und tauschten „Daktari“- Fotos, die wir aus unterschiedlichen Fernsehzeitungen ausgeschnitten hatten.
Als Kinder von überzeugten anthroprosophisch mehr oder weniger angehauchten Eltern, dürften wir nur diese eine Fernsehsendung sehen, die unser Klassenlehrer beim letzten Elternabend als unbedenklich empfohlen hatte. Wir waren völlig süchtig danach und führten eine Art Tagebuch darüber, in dem wir beschrieben, wie es wäre, wenn wir auf der Wameru-Tierstation leben würden.
Begleitet von unserem Lieblingssong, mit dem Ina eine 60 Min- Kassette vollständig bespielt hatte, nutzten wir die Busfahrt um an unseren Daktari-Werken zu arbeiten.
„Tischrunde 1 rechts“, brüllte Thomas, ein lebhafter Zappelphillip plötzlich und preschte mit dem schüchternen Micha im Schlepptau zu uns Mädchen in den hinteren Teil des Busses.
Ich hatte eine Tüte mit allerlei Süßigkeiten aus meiner Tasche gezogen und bot meinen Freundinnen davon an.
„Tischrunde 1 rechts“, Thomas war bei uns angekommen.
Das waren die Zauberworte womit Thomas und Micha in den Besitz einer Handvoll bunter süßer Fruchtgummiteufel und Cola-Fläschchen kamen.
Wir fünf waren bis vor einem Jahr einzelgängerische Außenseiter in der Klasse 4 b gewesen. Bei einem Tagesausflug, wo wir mit einem Dampfer den Emmersee überquerten und in dem dortigen Speisesaal zu Mittag aßen, hatte es sich ergeben, dass Ina, Wiebke, Micha, Thomas und ich uns am ersten Tisch auf der rechten Seite wiederfanden.
Erst saßen wir verloren dort und wussten nicht so recht was wir mit uns anfangen sollten.
Wiebke unsere älteste Klassenkameradin, die Zahlen liebte, weil sie mathematisch hochbegabt war, aber trotzdem eine Klasse wiederholen musste, bemerkte irgendwann, dass wir am Tisch 1 rechts sitzen würden und als ein Kellner kam und fragte, wer noch keine Limonade hätte, rief ich:
“Tischrunde 1 rechts“.
„Tischrunde 1 rechts“, wiederholte Thomas begeistert und wollte sich ausschütten vor lachen.
Thomas war sehr laut und ungeduldig und eckte überall an. Micha dagegen war introvertiert und schüchtern und wurde von anderen Klassenkameraden gern gehänselt.
Ina und ich waren Nachbarskinder und hatten aus diesem Grund in der Klasse eine Art Zweisamkeit entwickelt. Zudem hatten wir beide das Lesen von Büchern jeglicher Art zu unserem liebsten Hobby gemacht, so dass es auch Gemeinsamkeiten gab, obwohl wir beide eigentlich ziemlich eigenbrötlerisch waren
„Tischrunde 1 rechts“, murmelte Wiebke.
„Wir könnten einen Club gründen“, rief Thomas begeistert.
„Tischrunde 1 rechts" wie eine Mafiafamilie“.
Thomas wurde anscheinend nicht so streng anthroprosophisch erzogen wie wir anderen, zumindest hatte er vor kurzen grade „Den Paten“ gesehen und schilderte uns jetzt in den leuchtensten Farben, welche Vorteile wir hätten, wenn wir uns zusammen tun, und gegenseitig von Nutzen sein würden.
Nach und nach fanden wir Gefallen an seinem Plan und so kam es, dass Wiebke fortan unsere Matheaufgaben löste, Thomas, der einen Judokurs besuchte, dafür sorgte, dass wir weniger von Udo und Wolfgangs-Klassengang, gepiesackt wurden. Er brachte uns wertvolle Griffe bei, die wir für unsere Selbstverteidigung gebrauchen konnten. Micha machte es möglich,, dass wir Sommers, und Winters in der Eisdiele seines Vaters kostenlos bedient wurden. Ina, deren Mutter in einer Bücherei arbeitete, besorgte uns Bücher, die wir eigentlich noch gar nicht lesen dürften und ich schrieb alle Aufsätze für unsere "Tischrunde 1 rechts".
Während wir fünf selig auf unseren Süßigkeiten herum kauten, beobachteten uns unsere Erzfeinde Udo und Wolfgang.
Plötzlich stürmten sie auf uns zu, sie stellten Thomas ein Bein, so dass er außer Gefecht war, stürzten sich auf mich und entrissen mir die Tüte mit den Fruchtgummi-Teufeln.
„Ihr Schweine“ brüllte Thomas. Unsere Tischrunde war aufgestanden, fest entschlossen, uns unseren Besitz in dem engen schaukelnden Bus zurück zu holen.
„Jetzt ist aber Schluss“, rief Herr Schubert und stand zwischen uns.
„Thomas, so geht das nicht. Du kannst Udo und Wolfgang nicht die Süßigkeiten wegnehmen. Du kannst Udo darum bitten, dass er dir etwas abgibt“, pädagogisierte er.
Thomas japste nach Luft.
„Denen gehört das nicht“.
„Ja, ja.“, Herr Schubert nahm ihn nicht ernst. „Du kannst auch 10 mal das Morgengebet aus „der Sonne Licht“, abschreiben. Das war die Kinderbibel aller Waldorfschüler.
Ina und Michael schauten stumm dem Geschehen zu. Wiebke verdrehte die Augen. Sie hatte uns schon oft über den merkwürdigen Gerechtigkeitssinn von autoritären Personen Vorträge gehalten. Sie hatte es aufgegeben gegen Ungerechtigkeiten etwas zu unternehmen. Sie bevorzugte ihre eigene Art sich zu wehren.
Aber mich machte so etwas fertig. Ich wurde wütend, wenn jemand ungerecht behandelt wurde.
„Das waren meine Süßigkeiten und Udo und Wolfgang haben sie mir gestohlen“, protestierte ich.
Ein Phänomen, welches mich schon in meiner Kindheit begleitete, ist, dass ich aufgrund meiner eher zierlichen Körpermaße und meines anscheinend „lieben“ Gesamteindruckes, in meiner Wut nie von anderen wirklich wahrgenommen werde. Entsprechend fiel auch die Reaktion von Herrn Schubert aus. Er tätschelte meinen Kopf und beachtete meinen Einwand nicht weiter.
Thomas war das „schwarze Schaf“ der Klasse. Wenn irgendwo ein Tumult war, war er immer der Schuldige und die anderen die Opfer.
Unsere Tischrunde sah sich an und es war klar, das musste gerächt werden.
In der Jugendherberge Braunlage angekommen, wurden uns unsere Zimmer zugeteilt. Es war klar, dass Wiebke, Ina und ich zusammen blieben. Unser Zimmer hatte zwei Etagenbetten und zwei Einzelbetten.
Thomas und Micha sollten sich ein Zimmer mit Udo und Wolfgang teilen. Das war eine pädagogische Maßnahme, die sich Herr Schubert ausgedacht hatte.
Wir überlegten, wie wir die Jungs „retten“ konnten. Bei uns im Zimmer gab es Betten genug. Zudem war unser Zimmer Parterre und es war kein Problem durch das Fenster einzusteigen.
Nachdem wir ausgepackt hatten, war es Zeit für das Abendessen.
„Tischrunde 1 rechts“, brüllte Thomas und winkte uns an einen freien Tisch, wo er und Micha schon für uns Plätze freigehalten hatten.
Leider gab es noch zwei freie Stühle und zu unserer Überraschung wurde Udo auf einen der Plätze von Frau Naumann komplementiert, da er an seinem Tisch einen Streit angezettelt hatte. Auf den anderen frei Platz setzte sie sich, so dass die Chancen für eine Rache gering waren.
Die Lebensmittel und den Tee für unser Abendbrot mussten wir uns an einer Durchreiche zur Küche holen.
Thomas brachte einen Teller mit Wurst und eine offene Dose mit Fisch in Tomatensoße mit viel Kasperei, wie es seine Art war, an unseren Tisch.
Wir kicherten, während Udo uns düster musterte.
„Udo, holst du bitte den Tee“, beschied Frau Naumann und stand auf, weil es an einem anderen Tisch wieder zu Tumulten gekommen war.
Udo erhob sich. Er hatte sich umgezogen und trug eine weiße Jeans. Mürrisch ging er zur Essenausgabe.
Der stille Micha guckte uns an und grinste plötzlich. Dann nahm er die offene Dose mit dem Tomatenfisch und stellte sie auf Udos Stuhl.
Thomas fing an zu kichern. Ina und ich hielten den Finger vor dem Mund, damit er aufhörte und niemand misstrauisch wurde.
Gespannt beobachteten wir Udo, der nun mit einer Kanne Tee auf unseren Tisch zu steuerte und sich dabei mit Wolfgang, der am anderen Ende des Raumes saß, lautstark unterhielt. An seinem Platz angekommen, stellte Udo die Kanne ab und ließ sich mit einem Aufseufzer, als wenn er eine Schwerstarbeit geleistet hätte, auf seinen Stuhl fallen.
„Ah Scheiße, was ist das denn“, brüllte er.
Unsere Tischrunde, guckte unschuldig. Frau Naumann näherte sich mit Herrn Schubert im Schlepptau.
„Was ist hier los?“
„Meine Hose ist total versaut, die haben den Fisch auf den Stuhl gelegt..“
„Stimmt das?“, fragte Herr Schubert
Keiner sagte etwas.
„Der will nur Aufmerksamkeit bekommen.“, meinte Wiebke boshaft.
„Ihr wart das, ihr habt den Fisch dahin gestellt“, verkündete Udo weinerlich dem ganzen Speisesaal.
„Wer war das?“, fragte Frau Naumann, die Tragweite des Unglücks erfassend.
„Thomas, das geht eindeutig zu weit“, fing Herr Schubert an.
Jetzt reichte es mir. Immer wurde auf Thomas herum gehackt.
„Ich war es“, sagte ich laut.
Herr Schubert und Frau Naumann starrten mich an.
Ina stand auf und stellte die ramponierte Dose mit Tomatenfisch wieder auf dem Tisch.
„Nein, Hanna war das nicht. Ich war das“, bemerkte sie.
Wiebke mischte sich ein: „Ich habe die Dose für den Arsch da hingestellt“.
Micha fing an zu kichern: „Vielleicht war ich es auch“.
Thomas schlug mit der Hand auf den Tisch und brüllte laut: „Jau, Tischrunde 1 rechts“.
Herr Schubert schien ratlos zu sein. Frau Naumann schlug vor: “Strafarbeit für alle am Tisch. 10 x das Morgengebet aus der „Sonne Licht“ abschreiben, bis übermorgen. Udo das gilt auch für dich“, fügte sie hinzu, als sie sah das er hämisch grinste.
Die Tischrunde 1 rechts traf sich nach dem Abendessen bei uns Mädchen im Zimmer. Immer wieder riefen wir uns Udos Gesicht in Erinnerung, als er sich auf die Dose setzte. Unsere Stimmung war auf dem Höhepunkt.
Thomas kam auf die Idee von dem einem der oberen Etagenbetten einen Salto in das darunter stehende Einzelbett zu machen. Gesagt getan, einer nach dem anderen ließ sich mit einer mehr oder weniger eleganten Drehung auf das untere Bett fallen.
Nachdem wir das ungefähr 10 mal durchgezogen hatten mit immer besseren Salto-Ergebnissen, gab es plötzlich einen lauten Knall und das untere Bett brach unter Wiebke zusammen.
„Nein“, schrie Thomas, ließ sich aber trotzdem mit einem doppelten Salto neben sie fallen.
Gott sei Dank war beiden nichts passiert und wir konnten nicht mehr aufhören zu lachen. Immer wenn wir uns ansahen ging es wieder los.
„Wir müssen das Teil wieder zusammen bauen,“ sagte ich, nach Luft japsend.
Mehr oder weniger engagiert fingen wir an, an dem Bett herumzuwerkeln.
Die Zeit verging wie im Flug und plötzlich war es 21.30 Uhr. Der Zeitpunkt, wo wir uns nach Anweisung von Frau Naumann zum Schlafen fertig machen und die Jungs unser Zimmer verlassen mussten.
„Ich gehe nicht rüber“, verkündete Thomas.
„Udo wird sich rächen“, bemerkte Wiebke.
Ich öffnete die Tür und sah dass Frau Naumann schon im Anmarsch war, um zu überprüfen, ob wir auch ordnungsgemäß im Bett lagen.
„Schnell, wir müssen irgendetwas machen, sie kommt gleich“, sagte ich.
Thomas, der ein langer Lulatsch war, hatte sich meinen Schlafanzug angezogen. Es sah grotesk aus und ich bekam wieder einen Lachanfall.
Er legte sich in mein Bett und deckte sich zu.
Wir hörten Frau Naumann vor unserer Tür reden. Gleich würde sie herein kommen.
Micha robbte unter das kaputte Bett.
Ich sah mich hektisch um. Wir Mädchen hatten unsere leeren Koffer unter die übrigen Betten geschoben.
Mir blieb nichts anderes übrig als Micha zu folgen.
Die Tür ging auf und Frau Naumann kam herein. Sie blieb im Türrahmen stehen und diskutierte mit einer Klassenkameradin, ob diese noch duschen konnte oder nicht.
Micha und ich trauten uns kaum zu atmen. Das Bett hatte bedenklich gewackelt, als ich mich darunter geschoben hatte.
„Und seid ihr schlafbereit?“, Frau Naumann betrat unser Zimmer.
Mein Bein war eingeschlafen. Ich hob es an, weil es sich unangenehm anfühlte. Dabei stieß ich an einen Balken des Bettgestells und alles fing wieder an zu wackeln.
Frau Naumann stutzte und wollte das sich bewegende Bett näher in Augenschein nehmen.
Aber dazu kam es nicht mehr, unser Versteck brach mit lautem Geschepper über uns zusammen und Frau Naumann erblickte zwei sich aus den Trümmern rettende Gestalten.
Es wurde zum Glück niemand verletzt.
„Auweia“, bemerkte Frau Naumann und musste auch lachen, nachdem sich Thomas in meinem Bett aufgesetzt hatte.
Ina versuchte, unsere Lage zu erklären und entgegen unserer sonstigen Erfahrungen mit Autoritätspersonen, hörte sich Frau Naumann alles an und zeigte Verständnis.
Sie sorgte dafür, dass Thomas und Micha im Jungenstrakt ein Zimmer für sich bekamen.
Dieser Forsteinsatz entwickelte sich - dank Frau Naumann - für unsere "Tischrunde 1 rechts" zu einer positiven Erfahrung an die wir uns bei jedem Klassentreffen immer wieder gern erinnerten.
Jahre später, ich war 23, erzählte ich diese „Fisch in Tomatensauce-Geschichte“ einem recht albern veranlagtem Kollegen von mir, während einer Zugfahrt, wo wir zu einem Lehrgang, ins Grosshandelsschulungsheim in Goslar, unterwegs waren. Er konnte sich nicht mehr einkriegen vor lachen und als wir Abends beim Essen in einem Speisesaal saßen und eine Dose Fisch in Tomatensauce auf dem Tisch stand, stellte er diese auf den Stuhl eines verhassten Ausbilders, der grade zur Essensausgabe unterwegs war...
Texte: Maria Skorpin
Bildmaterialien: whoppy.com - Laura Vanmorlegan
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wer andere zum lachen bringen kann, muss ernst genommen werden, das wissen alle Machthaber..
Werner Fink