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Sommer 2020


Liebes Tagebuch,

Heute schwelge ich richtig in Erinnerungen. Ich habe den ganzen Vormittag nachgedacht. Das war mal etwas anderes, als auf die Jagd gehen, fischen oder den Kindern neue Kleidung aus Fell und abgestorbenen Lianen zu basteln.
Ich denke, ich sollte aufschreiben, was mir widerfahren ist. Vielleicht findet irgendwann einmal jemand dieses Büchlein. Ich habe keine großen Hoffnungen, aber vielleicht hört die Hetzjagd irgendwann auf und unsere Kinder können dann in eine zivilisierte Welt zurückkehren. Vielleicht werden sie ja durch dieses Tagebuch reich und können sich ein schönes Leben machen. So wie Anne Frank. Nur das Anne Frank leider im KZ umkam. Aber ihr Vater hat ja ihr Tagebuch veröffentlicht. Er hatte sicher einige finanzielle Nutzen davon.
Aber nun zu unserer Geschichte, bzw. zum Anfang des Leidens dieser Welt.

Wir schrieben damals das Jahr 2009. Ich weiß, hört sich komisch an, denn das war gerade mal vor 11 Jahren. Doch es ist so viel passiert, dass es mir wie ein Jahrtausend vorkommt.
Die Welt war „normal“, die Menschen soweit auch. Natürlich gab es auch einige komische, aber die sind im Moment nicht von Bedeutung.
Irgendwann regte sich etwas. Es war erst gar nicht zu merken. Die Menschen fingen an, Klamotten zu tragen. Ok, die trugen sie vorher auch schon, aber eben nicht diese speziellen.
Diese Klamotten trugen die Aufschrift „Ed Hardy by Christian Audigier“.
Zuerst trugen sie die Stars. Ist ja klar, man muss es ja erst mal promoten, damit es auch jeder trägt und haben will. Bald fing auch die Mittelklasse an, „Ed Hardy“ zu tragen.
Es war wie bei jeder begehrten und überteuerten Modemarke. Es entwickelte sich langsam und die Leute, die es sich leisten konnten, räumten direkt die ganzen Shops leer. Die Leute, die es sich nicht leisten konnten, ließen sich LKW-Ladungen aus der Türkei, aus Thailand oder aus Tschechien ankarren.
Nun, jedenfalls ging es diesmal rasend schnell mit der Verbreitung.
Komischerweise waren die Shirts, die Schuhe, die Gürtel, Hosen und Taschen einfach nur hässlich. Ich habe mich immer gefragt, was daran so toll sein sollte. Don Ed Hardy, der „Künstler“, ist ein einfacher Tätowierer. Er tat sich mit einem Sponsor zusammen namens Christian Audigier. (Bitte verzeiht, dass alles so sachlich-nüchtern klingt, aber ich habe die Adjektive vor den besagten Personen weggelassen, weil dieses Buch sonst nicht mehr als Jugendfrei gesehen wird.)
Zu der „Kunst“ von Don Ed Hardy gibt es einiges zu sagen. Er versuchte, den Tattoostyle auf Klamotten zu bringen. Nur leider ist ihm das meiner Meinung nach absolut nicht gelungen. Sein Spektrum an Motiven erstreckt sich vom Totenkopf zu Fischen, Vögeln und Tigern bis hin zu Blumen. Das wars. Zeichnerisch ist er auch keine große Nummer. Seine Gebilde sind platt und ausdruckslos, einfältig und ohne Emotionen. Sieht eher aus wie von einem Kind gemalt.
Hätte er mich dafür bezahlt, mir ein solches Bild tätowieren zu dürfen, hätte ich es abgelehnt. Und zwar ungedankt.
Doch an solchen Beispielen erkennt man, wie sehr Stars die Weltwirtschaft beeinflussen.
Auf jeden Fall sah man immer mehr Menschen von oben bis unten mit Ed Hardy ausgestattet.
Natürlich viel das auf, aber ich dachte mir, dass es auch irgendwann vorbei geht. So wie damals mit der Marke „Von Dutch“. Oder war es „Van Dutch“? Ach ich weiß es auch nicht mehr.
Es kristallisierte sich langsam eine bestimmte Personengruppe heraus, die dann zu den typischen Ed-Hardy-Trägern wurden. Ich möchte wirklich nicht abwertend klingen, aber ich muss diese Gruppe irgendwie beschreiben. Als Typischer „Eddy“ war man entweder ein Sonnenbank gebräunter, gerne zuschlagender und aufmuckender möchtegern Fatzke mit Haaren voller Gel oder man war eine unibraune, grell blondierte, „Ey Alter“-Sagende Tussi. Tut mir leid, an alle anderen, die Ed Hardy nur trugen, weil es ihnen geschenkt wurde oder weil sie einfach cool sein wollten, um dazu zugehören.
Es wurden sogar schon Witze erfunden, oder Kommentare abgegeben. Ich erinnere mich an einen Freund zurück, der irgendwann in die Türkei flog, um dort Urlaub zu machen. Er war dermaßen genervt von Ed Hardy, dass er uns alle ständig anrief, um in der ironischsten Tonlage, die ich je gehört habe, zu fragen: „Hey, ich flieg in die Türkei. Brauchst du was von Ed Hardy?“
Leider verschwand Ed Hardy nicht, so wie Von/Van Dutch. Es wurde immer schlimmer. Als mir irgendwann das Ausmaß dieser Geschichte bewusst wurde, war es schon nicht mehr zu übersehen.
Erst fing es an mit Schulsachen. Schulsachen von Ed Hardy. Stifte, Blöcke, Ordner, Mäppchen, Schultaschen und Spitzer. Das fand ich schon recht seltsam. Wobei ich selbst einen Ordner von Converse hatte. Und das war ja auch am Anfang „nur“ eine Schuhmarke.
Es blieb jedoch nicht bei Schulsachen und Büroutensilien. Es folgten Kissen, Bettwäsche, Tassen, Accessoires, Gürtel, Brillen und Sticker für Elektronische Geräte (Wie Laptop, Handy und IPod). Das stieß schon recht hart an die Grenze.
Zu der Zeit war ich schon ein heftiger Gegner dieser „neuen Kultur“. Der Auslöser bei mir war folgendes: Ich war gerade auf dem Weg in die Schule (Ich arbeitete damals dort). Müde, gelangweilt, genervt. Vor mir lief einer dieser typischen Eddys. Natürlich mit passendem Shirt. Zu diesem Zeitpunkt ignorierte ich diese Menschen noch. Doch als ich die Inschrift auf seinem Shirt las, da wurde ich von einer Wut erfasst, die mich fast aus den Schuhen riss. „Punks Not Dead – Ed Hardy by Christian Audigier“.
Ed Hardy und Punk? Was hat Ed Hardy mit Punk? Ed Hardy hat keinen blassen Schimmer. Und mir wurde bewusst, dass es hier einzig und alleine ums Geld geht. Scheiß egal was drauf steht. Oder ob man eine Ahnung davon hat, was drauf steht. Oder eben dazu steht, was draufsteht. Ed Hardy war einfach nur ein riesiger Kommerz-Scheißhaufen. Hauptsache das Geld kommt rein. Normalerweise hat ein Label ein bis drei Gebiete, für die sie Sachen herstellen und von denen sie Ahnung haben. Ed Hardy hatte tausend Gebiete, aber von keinem auch nur die geringste Ahnung. Oh, ich war so wütend. Ich kann es jetzt noch spüren.
Und dann lief alles immer schneller. So schnell, dass einem schwindelig wurde. Täglich kam neues. Es ging weiter mit Schnapsgläsern, Flachmännern, Cocktailmixern, Handtüchern, Lufterfrischern, Kalendern, Lesezeichen, Feuerzeuge, Parfüm, Lenkradhüllen, Sitzauflagen, Postern und Shirts für Hunde. Mittlerweile gab es fanatische Anhänger und Ed Hardy wurde zur Glaubensgemeinschaft, die schon fast so viele Menschen hatte, wie die christliche Kirche. Das gefiel dieser natürlich gar nicht und so wollte der Papst diese Glaubensgemeinschaft verbieten lassen. Das löste ein schlimmes Massaker nach dem anderen aus. Ed Hardy fing an, Snow- und Skateboards zu vermarkten. Auf der Piste verdrängte man die Snowboarder. So lange, bis nur noch gelackte Affen auf Ed Hardy-Brettern die Gipfel rockten. Das Selbe auch bei den Skateboardern. Als Ed Hardy begriff, welche Macht er hatte, fing er an rosa Panzer zu entwerfen. Und Waffen. Haufenweise davon. Doch noch gab es zu viele, die Gegen Ed Hardy waren. So wendete Ed Hardy wieder den Trick an, der schon zuvor bei den Snow- und Skateboarden geklappt hatte. Er entwickelte Basketbälle, Fußbälle, Trikots, Badeanzüge, Inlineskates und sonstige Sportinterieur. So verdrängte er die Menschen, die ihn nicht anbeteten. Die ersten Ed Hardy-Anhänger fingen an, die „Outsider“ (diejenigen, die sich vor Ed Hardy sträubten) zu jagen. Die Outsider flüchteten. Einer nach dem Anderen. So auch wir. Wir mussten unser schönes Haus aufgeben und mit dem kleinsten Gepäck mitten in der Nacht aufbrechen. Und wir wussten nicht, wohin. Das Grausame war, dass wir weder Verpflegung im essbaren Bereich, wie auch im medizinischen hatten. Alles wurde nur noch von Ed Hardy hergestellt. Selbst die Hämoridensalbe. Aber wir wollten uns nicht fügen. Weder ich, noch mein Mann, noch meine Kinder. Wir waren zu Rebellen geworden. So zogen wir ohne jegliche Sicherheit los. Wir wanderten Tage und Wochen. Manchmal schliefen wir in Scheunen, manchmal aber auch auf der kalten Erde. Mit viel Glück bekamen wir manchmal bei den Bauern, die noch nicht von Ed Hardy gefunden wurden, etwas zu Essen. Doch das war rar. Durch Zufall landeten wir irgendwann auf einem Containerschiff, das Richtung Süden aufbrach. Wo wir genau ankamen weiß ich leider nicht. Wir mussten sofort weiter. Und so landeten wir nach Monaten im Regenwald. Hier hatten sogar die einheimischen Stämme Lehmhäuser von Ed Hardy. Wir fanden eine Höhle in einem Berg nahe einem Wasserfall. So gut es ging richteten wir sie her. Seitdem leben wir wie die Wilden. Doch das ist uns immer noch lieber, als wie ein Eddy zu leben. Wie viele Jahre wir hier sind kann ich nicht genau sagen. Wir haben hier, wie man sich bestimmt denken kann, keinen Kalender. Aber ich schätze einfach mal, das es 2020 ist. Auch, weil ich diese Jahreszahl so schön finde. Die Uhren sind auch alle kaputt. Meine steht noch im Jahr 2013. Ich kann nur sagen, dass wir 2010 flüchteten. Wie es im Moment aussieht, weiß ich auch nicht. Ach, ich denke, ich würde es auch gar nicht wissen wollen. Die letzten Batterien für das Radio gingen 2012 kaputt. Es gab nur noch Ed Hardy Radiosender und die dazu passende Musik (Hip Hop und möchtegen-House). Keine Nachrichten. Aber das sagt ja schon einiges aus, oder? Ed Hardy hat die Weltherrschaft…es ist zum verzweifeln. Nicht, dass ich unbedingt zurück in mein altes Leben will. Nein, das nicht. Es gefällt mir hier wirklich gut. Am Anfang war es natürlich noch gewöhnungsbedürftig. All das Jagen und Töten und aufschlitzen und Feuer machen und das Fell zu Leder gerben um daraus Kleidung zu machen. Doch wir haben uns und wir haben nichts von Ed Hardy. Und das macht uns glücklich. Glücklicher, als wir es jemals waren. Denn wir lernten uns und alle Dinge, die wir haben, zu schätzen.
So hat Ed Hardy wenigstens eine gute Sache bewirkt.
Nun muss ich langsam los. Die Kinder kamen gerade vom Fischen wieder und ich muss das Feuer noch anschmeißen. Außerdem ist dies das letzte Stück Pergament. Ich muss wieder neues herstellen.
Ich hoffe, dass irgendwann jemand unsere Geschichte liest, auch wenn sie nur kurz und vielleicht nichts unbedingt weltbewegendes ist…


Amelie


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Muse und all die Menschen, die so denken wie ich.

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