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Ich möchte an dieser Stelle von einem Menschen erzählen, der in meinem Leben viel verändert hat.
Ich traf ihn, als ich 17 Jahre alt war. Jung und unerfahren. Zu dieser Zeit dachte ich noch, das schlimmste auf der Welt sei es, wenn dich der Freund verlässt.
Wie man sich täuschen kann.
Ich sah ihn auf einer Couch sitzen, als ich meinen ersten Arbeitstag hatte und mir die Klienten vorgestellt wurden. Im Heimbereich dieser Psychiatrie werden sie niemals Patienten genannt. Nur Bewohner oder Klienten. Des Anstandes wegen.
Ich muss ernsthaft gestehen, ich hatte zuerst Angst. Er wippte vor und zurück und sah wirklich sehr fertig aus. Fertig mit der Welt.
Er war auch kein „angesehener“ Klient. Er wurde nicht gemocht. Er war stur und faul und weigerte sich zu helfen. Keine Wäsche machen, kein putzen, kein Kochen. Aber zeichnen, das wollte er. Er malte die Enterprise, Mick Jagger, und den Osterhasen. Einmal malte er sogar ein Portrait von mir.
„Ich konnte damals gut malen, doch ich habe es verlernt.“, war die Widmung neben der „Kritzelei“, doch sie machte mich so fröhlich…
Und singen, ja das machte er gerne und das konnte er auch. Die Beatles rauf und runter.
Ich habe ihn sehr gemocht. Er war einfach ein Mensch, der einen zum Lachen brachte. Zwar redete er meistens nur wirren Zeugs, aber er war dennoch so herzlich.
In seine Krankenakte schaute ich nicht. Ich wusste ja, was er hatte. Eine schwere Schizophrenie und unendliche „Nebensachen“.
Als dann das schlimmste passierte, was passieren konnte (mein damaliger Freund machte Schluss), dachte ich, dass mich die Arbeit ablenken könne. So stand ich mit verquollenen, roten Augen, jede 5 Minuten einen Beinahe-Heulkrampf auf der Arbeit.
Und die Arbeit lenkte mich ab. Gerade dieser Herr. Er sprach seine gewöhnlichen, leicht wirren Sätze und ich konnte wieder lächeln. Noch 3 Stunden zuvor war ich felsenfest davon überzeugt, nie wieder auch nur meine Mundwinkel einen Zentimeter Richtung Himmel bewegen zu können.
Und dann traf es mich mit so einer Wucht, dass ich dachte, ich falle gleich um: Ich sitze hier, mir geht es gut, ich bin gesund. Und ich bin der festen Überzeugung, der ärmste Mensch der Welt zu sein. Was ist nur los mit mir? Um mich rum diese kranken Menschen, über die Hälfte noch nicht einmal fähig, alleine zu duschen.
Komischer Weise konnte ich mich von da an wirklich am Riemen reißen.
Ich war dem Mann so dankbar. Also beschäftigte ich mich noch mehr mit ihm. Ich unterhielt mich viel mit ihm und ab und zu holte er sogar mal einen Kasten Wasser für mich aus dem Keller.
Dann wurde er krank. Er hustete ganz schlimm. Bei der Untersuchung schickte ihn der Arzt ins Krankenhaus. Ein paar Tage später erhielten wir die Schockdiagnose: Krebs und Metastasen in der Lunge, der rechte Lungenflügel sieht auf dem Röntgenbild nur noch weiß aus. Er würde nicht mehr lange leben.
Und so kam er ins Hospiz. Ich hatte keine Möglichkeit ihn zu besuchen, es war zu weit weg und ohne Auto geradezu unerreichbar. Jede Woche rief ich bei der Heimleitung an und fragte nach seinem Wohlergehen. Bis ich irgendwann zum Dienst kam und es hieß, er sei gestern friedlich eingeschlafen. Ein Loch tat sich auf. Arbeiten ohne meinen Lieblingbewohner? Und ich merkte den Fehler den ich gemacht hatte, vor dem mich alle gewarnt hatten: Ich hatte ihn zu sehr ins Herz geschlossen. Ich schwor mir, nie wieder einen Besucher so gerne zu haben, und ich wurde kalt.
Ein paar Tage nach seinem Tod erfuhr ich auch den Grund seiner Krankheit: Er war Misshandelt worden. Von seiner eigenen Mutter. Als Mannersatz ausgenutzt und kaputt gemacht. Ich war fertig mit den Nerven. In meinem Alter fing er an sich zu verändern. Sich tiefer in sich zu verziehen und die Stimmen und Personen fingen an ihm zu begegnen. Er brach das Gymnasium ab.
Ich war wütend. Wütend auf diese schlimme Welt, seine Mutter und einfach alles. So fing ich an mir Gedanken zu machen. Gedanken über den Tod und darüber hinaus. Würde er wenigstens dort „normal“ sein können?
Zur Beerdigung ging ich nicht. Ich wollte es mir nicht herausnehmen. Außerdem würde ich dort seine Mutter treffen, und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht die Frau treffen, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war.
Und ich veränderte mich. Mein sonst so freundlich und leicht kindlicher Blick für die Welt wurde kritisch. Ich begann mich mit den wirklich schlimmen Dingen auf der Welt zu beschäftigen. Las alle Krankenakten, schlimmer als die grauenhaftesten Thriller, lernte über die Krankheiten und sah überall nur noch Fehler. Mit ihm starb auch ein Teil meiner Gutgläubigkeit in die Menschheit.
Doch ich war froh, dass meine Augen geöffnet waren. Und ich war froh, dass sein Leiden zu Ende war. Es dauerte lange, bis ich diese schlimmen Dinge verarbeitet hatte. Doch ich hab mich wieder eingependelt. Ich versuche Dinge positiv zu sehen. Jedoch mit einem leicht kritischen Blick.
Für mich wird er immer der Mensch sein, dem ich meinen Wandel zu verdanken habe.
Sein Grab habe ich immer noch nicht besucht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist dem Mann gewidmet, der mein Leben veränderte.

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