Der Junge sah den alten Mann auf einer Wiese sitzen. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und trug ein langes, samtenes Gewandt. Auf seinem Schoß lag ein kleiner, ausgeblichener Notizblock, an dem ein Stift steckte. Doch was den Jungen neugierig machte war sein Blick. In Gedanken versunken starrte er in den Himmel, beobachtete die Wolken.
Der Junge lief zu ihm hin und fragte ihn: „Hey, alter Mann, was machst du da? Worüber denkst du nach?“
Der Mann sah ihn kurz an, lächelte und blickte zurück auf die Wolken. „Über vieles, mein Junge, sehr vieles. Du wirst es nicht verstehen, du bist noch zu jung.“, antwortete der alte Mann.
„Klugheit hat doch nichts mit dem Alter zu tun“, entgegnete der Junge.
Jetzt schaute der alte Mann neugierig. „ Wenn du so klug bist, dann beantworte mir folgende Frage: Woher kommst du?“
„Ich komme aus dem Dorf im Norden, direkt neben dem Brunnen steht das Haus meiner Eltern. Dort wohne ich und dort komme ich her.“
„Bist du sicher? Das ist aber nicht die Antwort, die ich hören wollte. Denk noch einmal in Ruhe nach und komme wieder zu mir, wenn du die Antwort weißt.“
Der Junge sah den alten Mann komisch an, wollte aber nicht diskutieren, den Respekt vor alten Menschen hatte man ihn schon von klein auf gelehrt. So drehte sich der Junge um und lief nach Hause. Er dachte sich während des Laufs, dass der alte Mann ja verrückt sei. Ich komme von dort, woher sollte ich denn sonst kommen?
Am Abend, als er im Bett lag, dachte der Junge wieder über den alten Mann und seine Frage nach. Irgendwie hatte sie ihn gepackt, gefesselt. Woher komme ich?
- fragte er sich. Über die Entstehung eines Kindes hatte er in der Schule und von seinen Eltern erfahren. Vielleicht meinte der Mann das? Ich sollte morgen wieder zu ihm gehen und ihn fragen.
Am nächsten Morgen lief er in der frühen Morgenstunde zu dem Platz, an dem der alte Mann gestern gesessen hatte. Aber er war nicht da. Der Junge lehnte sich an den Baum und wartete, döste kurz darauf ein. Am Abend war der alte Mann immer noch nicht da. So ging der Junge enttäuscht nach Hause. Seine Mutter kam zu ihm und sagte, es sein ein Brief für ihn abgegeben worden. Ein Brief?
, dachte der Junge. Als er ihn öffnete viel ein kleiner Zettel, vergilbt, auf den Boden. Auch diese Antwort ist nicht die richtige!
, stand darauf.
Jetzt war der Junge wirklich erschrocken. Suche weiter.
, las er zu Ende. Und damit hatte ihn die Frage wirklich eingenommen. Am nächsten Morgen verkündete der Junge seinen Eltern, dass er in die Stadt reisen will, zu seinem Onkel. Natürlich war die Mutter sprachlos, doch der Vater war stolz auf ihn und seine Entscheidung. „Gehe, mein Sohn, und bringe deinem Onkel auch zwei unserer Ziegen, als Geschenk!“, sprach der Vater.
Der Junge zog noch am selben Nachmittag los, der Marsch war schwer und hügelig, die Steine schmerzten unter seinen nackten Fußsohlen. Doch sein Gemüt war leicht und beschwingt, er fühlte sich gut wie schon lange nicht mehr und voller Tatendrang.
Er sah einen Bettler am Wegesrand und fragte ihn: „Weißt du, wo du herkommst?“
„Natürlich! Ich komme vom Süden. Dort bin ich geboren.", lautete die Antwort. Der Junge war nicht zufrieden, ließ aber ab mit dem Gedanken, dass er so viele Menschen treffen würde, und ihm bestimmt einer seine Frage beantworten konnte. Er dachte auch selbst darüber nach, doch ihm viel nichts Brauchbares ein. Der zweite und der dritte Mensch, der ihm auf seiner Reise begegnete, antwortete ihm auch mit dessen Geburtsstadt. Bei dem vierten harkte der Junge nach: „Aber woher kommst du genau. Ich meine nicht deine Stadt.“ „Naja, mein Junge, ich denke über diese Themen werden sich nur erwachsene unterhalten. Ich denke nicht, dass ich dir den Lauf der Geburt erklären muss?!“
So ging seine Reise weiter. Als er bei seinem Onkel angekommen war, schrieb er einen Brief an seine Eltern. Ich werde noch länger fort sein, ich bin auf der Suche nach etwas wichtigem. Etwas, dass mich gefesselt hat.
, schrieb er und setzte seine Reise fort. Doch er fand keine Antwort.
Nach zwei Jahren kam er wieder zu Hause an und musste sich eingestehen, dass er nichts erreicht hatte. Er glaubte auch nicht, den alten Mann noch einmal zu treffen. Als er aber auf dem Weg nach Hause genau diesen alten Mann an dem Baum lehnend und mit übereinander gekreuzten Beinen in den Himmel starren sah, glaubte er erst zu träumen. Er war niedergeschlagen, doch auch klug. So hatte er sich die ganze Reise lang schon Gedanken gemacht, was er sagen sollte, wenn er in diese Situation käme. Er wollte dem alten Mann nicht eingestehen, dass er nicht mehr wusste, dass seine Reise nahezu umsonst gewesen war. Er hatte sich eine andere Frage ausgedacht. Eine Frage, die der alte Mann hoffentlich auch nicht zu beantworten wusste.
Der alte Mann sah ihn und lächelte. Der Junge ging zu ihm.
„Und, Junge“ sagte der alte Mann, „hast du eine Antwort gefunden?“
Der Junge schaute ihn lange an, öffnete den Mund und sprach: „Darf ich dir auch eine Frage stellen?“
„Nur zu“, war die Antwort.
„Alter Mann, sage mir, was sind Gefühle?“
Lächelnd sah der alte Mann zu ihm auf. „Wie ist dein Name?“ „Ich heiße Ephraim, und wer bist du?“
„Ich bin die Philosophie. Komm, mein Junge, setz dich zu mir, lass uns reden.“
Und so begann eine weitere, aber viel lehrreichere Reise.
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2009
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