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Vor kurzem saß ich an der Bushaltestelle und ein junges Mädchen saß neben mir. Sie weinte bitterlich. Also fragte ich sie, was los sei. Zögerlich sah sie mich an, befand mich dann aber wohl für harmlos (was sollte ein 62-Jähriger mit Krücken denn schon für eine Gefahr darstellen?) und erzählte mir von ihren Problemen. Ihr Traum war es, an die Kunstakademie zu gehen. Doch ihr Kunstlehrer hatte sie an diesem Tag von ihrem Weg abbringen wollen. „Unmöglich, sagte er zu mir. Ich hätte kein Talent, und würde es nie schaffen.“ erzählte sie mir schluchzend. Ich lächelte leicht und sagte:“ Wie willst du wissen, was möglich ist, wenn du nicht versucht, das unmögliche zu erreichen?“ Sie sah mich verwirrt an. Wenigsten weinte sie nicht mehr. Sehr gut. Auch wenn ich schon ein gewisses Alter erreicht hatte, weinende Frauen waren mir immer noch ein Gräuel. Man möchte immer helfen, und weiß doch nicht genau wie.
„Darf ich dir eine kurze Geschichte erzählen?“ Fragend blickte ich sie an. Zustimmend nickte das Mädchen.

Meine Gedanken schweiften ab, zu einer scheinbar ewig entfernten Zeit:



„Mir wurde seit ich acht Jahre alt war immer wieder gesagt:“ Das kannst du nicht. Das ist unmöglich. Lass es bleiben.“ Meistens kam es von meiner Mutter. Durchaus verständlich. Ein Kind mit zwei deformierten Beinen durch Poliomyelitis (Kinderlähmung) sollte aus Sicht der Mutter, nicht versuchen, auf Bäume zu klettern. Ich war ein braves Kind und habe gehört, wenn meine Mutter „Nein“ gesagt hat. Irgendwann begann ich selber, die Erwartungen an mich herabzusetzen. „Ich bin behindert. Ich kann das nicht. Das ist unmöglich für mich.“
Als ich älter wurde, begann ich meine Einstellung zu überdenken. Wie sollte ich jemals mein Potenzial erkennen, was ich schaffen kann, zu was ich fähig bin, wenn ich nie etwas ausprobiere, nie etwas wage. Ich musste etwas finden, dass für einen Behinderten Menschen wie mich „unmöglich“ war.

Mit 24 Jahren hörte ich von dem New York City Marathon. „Unmöglich“ für einen Menschen, mit deformierten Beinen. Also perfekt für mich. Die nachfolgenden zwei Jahre Training will ich an dieser Stelle nicht erörtern. Nur so viel: Sie waren hart und oft stand ich kurz davor, alles hinzuwerfen. Alleine die Gesichter meiner Familie, wie sie mir bei jeder erdenklichen Gelegenheit sagten:“Das ist unmöglich.“, trieben mich weiter an. Durch das intensive Training mit den Krücken, hatte ich extrem muskulöse Oberarme bekommen. Ich wusste, ein paar Stunden konnte ich auf jeden Fall aushalten.

So stand ich also am 24. Oktober 1976 am Start in Staten Island. Ich war alleine. Meiner Familie hatte ich nichts gesagt, die Reaktionen konnte ich mir auch so ausmalen. Das war „mein Ding“, ich würde das alleine machen. Viele der anderen Teilnehmer sahen mich ungläubig an. Die Dame, die die Startnummern verteilte, fragte mich sogar, ob ich eine medizinische Begleitung hätte. Also wirklich. Ich war in ihren Augen vielleicht ein „Krüppel“, aber ich würde schon nicht tot umfallen. Ha, so schnell, das die Gefahr eines Herzinfarktes bestand, konnte ich ja gar nicht laufen. Das sagte ich ihr auch, aber Scherze auf Kosten Behinderter kamen nicht gut an. Selbst wenn der Behinderte sie selbst machte. Ich nahm also meine Startnummer und die Krücken und ging an den Startplatz. Ich stellte mich möglichst weit hinten hin, denn ich wollte die anderen Läufer nicht behindern und ich war ja auch nicht hier, um einen Rekord aufzustellen. Unter Größenwahn litt ich nicht.

In diesem Jahr wurde der Marathon das erste Mal durch alle New Yorker Stadtbezirke geführt. Knappe 42 Kilometer.

Ich will nicht lange herum lamentieren. Ich habe die 42 Kilometer nicht geschafft. In Brooklyn habe ich aufgehört. Auch wurde ich nicht berühmt, durch den Lauf. Das Leben ist kein Hollywood – Streifen. Aber ich habe etwas getan, was andere mir als unmöglich deklariert hatten. Ich, ein 26-Jähriger „Krüppel“, hatte an einem Marathon teilgenommen. Für mich war das die Bestätigung, die ich brauchte, um mein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.“

Ich stand mit wackligen Beinen auf und ging zu dem Bus der gerade angehalten hatte. Das Mädchen saß noch auf der Bank und blickte gedankenverloren auf einen Punkt in weiter Ferne. Lächelnd stieg ich in den Bus. Ich weiß nicht, ob sie verstanden hatte, was ich ihr mit meiner Geschichte sagen wollte. Auch weiß ich nicht, ob es etwas gebracht hatte.
Ich weiß nur, was ein Mann sagte, dessen Todesjahr mein Geburtsjahr war:

Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen

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Tag der Veröffentlichung: 18.07.2012

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