In ihren Händen lag die Scherbe. Zweifelnd blickte sie auf sie herab.
Dabei hatte sie sich so oft geschworen, es nicht mehr zu tun, doch jedes Mal hatte sie gewusst, dass nur der richtige Zeitpunkt kommen müsste.
Sie wusste immer, dass sie es tun würde. Sie würde es wieder tun, egal was die anderen dann sagen würde.
Sie würde es wieder tun, weil sie musste. Sie konnte nicht anders.
Sie wusste, dass es hilft.
Sie wusste, dass der Schmerz dann nachlässt.
Langsam drehte sie das Stück klares Glas.
Die Scherbe war nicht scharf, es würde keine tiefen Wunden geben. Aber es würde Schmerz sein, süßer Schmerz.
Der Schmerz, der sie zurückholen konnte, der sie leben ließ.
Sie wusste, dass es nicht gut war, dass es krank war. Doch es war zu stark.
Vorsichtig nahm sie die Scherbe zwischen die Finger.
Noch hatte sie Angst.
Noch war sie verzweifelt.
Noch fürchtete sie sich vor den Schmerzen.
Ihre Hände zitterten. Tränen stiegen in ihre Augen.
Vielleicht sollte ich es doch nicht tun, dachte sie. Legte die Scherbe weg.
Was willst du dann tun? dachte sie dann.
Sie wollte es, auch wenn sie es bestritt.
Vorsichtig, liebevoll, fast erfurchtsvoll hob sie ihr Werkzeug wieder auf.
Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken, strich über die alten Narben, die Narben, die nur sie erkennen konnte, die nur sie erkennen wollte.
Noch zuckte sie zusammen, als das kalte Glas über ihre Haut fuhr.
Der Schmerz stach durch ihre Nerven, betäubte sie für einen Moment.
Doch sie wusste, dass es nur ein kleiner Kratzer war. Sie schnitt sich nie zu tief, nie gefährlich, nie zu eindeutig.
Und sie wusste, dass das zweite Mal besser war.
Schnell setzte sie die Scherbe an derselben Stelle wieder an, fuhr mir mehr Druck die empfindliche Haut entlang.
Wieder nur Schürfungen, ein wenig mehr gerötet, ein wenig geschwollen.
Sie wusste, wenn sie noch einmal dort entlang fuhr, rieb sich die Haut fast zu weit, das würde einen Tropfen Blut herauslocken.
Sie setzte dieses dritte Mal an. Nur ganz sanft, um die gereizte Haut zu piesacken.
Der Schmerz war schon süß.
Der Anblick war süß.
Ein Rausch ging durch ihren Körper. Sie konnte nicht widerstehen, zu lächeln.
Ein seliges Lächeln, wie eine glückliche Braut.
Noch ein Mal, dachte sie.
Sie nahm die Scherbe. Diesmal fester. Machte einen neuen Streifen.
Diesmal war er von Anfang an tiefer. Sie spürte eh nur noch die Erleichterung. Der Schmerz war ein Freund, ein Liebhaber.
“Es reicht,” dachte sie plötzlich, ihr Verstand, das "Normale".
Schnell legte sie die Scherbe weg und betrachtete ihren Handrücken.
Wunderbar, dachte sie.
Es ist gut geworden, dachte sie.
Du bist verrück, dachte sie.
Warum tust du das, immer wieder?
Zärtlich strich sie über die verletzte Haut.
Es ist gut so, dachte sie.
Dann zog sie sich die Decke über den Kopf und schlief ein.
Das war aber jetzt das letzte Mal, schwor sie sich mit einer Träne im Auge, das letzte Mal. Hoffentlich.
Bitte.
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2008
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Widmung:
Eine Widmung an den Schmerz
und an den Spiegel mit all seinen Scherben.