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Vorwort

 Alle Personen, Handlungen und Orte in dieser Romanreihe sind frei erfunden

Prolog

 

Die Discokugel warf die Blitze der Stroboskope abgehakt zurück und verteilte die weißen Lichtblitze über die große Tanzfläche. Es war gerammelt voll. Donnerstags Abend war hier immer die Hölle los.

Luke Huntington und Josh McHartney standen mit dem Rücken zur Bar und hielten Ausschau nach paarungswilligen Mädels. Beide waren einundzwanzig Jahre alt, mit reichen Eltern gesegnet und Medizinstudenten im zweiten Semester. Kennengelernt hatten sie sich auf der Uni, sie teilten sich dort ein Zimmer. Luke war über ein Meter neunzig, hatte schwarze Haare und breite Schultern, Josh gerade mal ein Meter siebzig, dafür aber mit netten Grübchen gesegnet, die jedes Mädchen dahinschmelzen ließen. Wenn sie abends weggingen, stellte sich nicht die Frage, ob sie Begleitung für die Nacht fänden, sondern wen.

Josh deutete auf zwei leicht bekleidete Frauen am rechten Rand der Tanzfläche. Sie tanzten sexy aus der Hüfte heraus zu Lady Gaga. Die Blonde trug ein schwarzes Minikleid, die Brünette ein bordeauxrotes Tuch, was wohl auch ein Kleid sein sollte, aber mehr freiließ als verhüllte. Mehrere männliche Alphatiere hatten sich bereits um die beiden geschart. Es wäre amüsant, sie alle auszustechen.

Aber Luke schüttelte den Kopf. Die Brünette gefiel ihm nicht. Zu stark geschminkt. Zu niveaulos. Dass sie seine wäre, war klar. Josh stand auf Blonde.

Josh zuckte mit den Achseln, ließ seinen Blick schweifen und bestellte zwei neue Martinis. Als sie kamen, bemerkte er zwei groß gewachsene Frauen mit leicht slawischen Wangenknochen. Sie kamen direkt auf sie zu. Blond und schwarzhaarig. Auch wenn die Blonde ihre Haare garantiert gefärbt hatte. Ihre Körbchengröße war mindestens D. Wenn sie nicht geschummelt hatten und alles nur gepuscht war.

 

Aber das würden sie schon noch feststellen.

 

»Hallo!« Die Blonde sprach Josh direkt an. »Bestellt ihr uns auch einen Martini?« Ihre Stimme war wunderbar rauchig. Mit leichtem Akzent. Ihr Stöhnen würde fantastisch sein. Die Schwarzhaarige gesellte sich zu Luke, legte ihre Hand auf seine Schulter und flüsterte ihm was ins Ohr.

Luke lächelte und zwinkerte Josh zu.

»Aber natürlich!«, antwortete Josh. »Für so hübsche Damen doch immer.« Er drehte sich um und signalisierte dem Barkeeper seine Bestellung. Dieser nickte knapp und griff nach der Ginflasche.

Als er sich wieder umdrehte, war die Blonde verschwunden. Und die Schwarzhaarige stand zwei Meter hinter Luke. Drei Jungs in ihrem Alter standen nun vor ihm und starrten ihn böse an. Ohne sie weiter zu beachten, suchte er nach seiner blonden Schönheit. Sie stand seitlich von ihm, ebenfalls zwei Meter entfernt und sah ihn ausdruckslos an.

Er hob sein Glas und prostete ihr auffordernd zu.

Der vordere der drei Jungs trat einen Schritt vor. Eine lange Narbe zog sich über seine linke Schläfe, die braunen Haare waren wie auch bei den andern beiden kurz rasiert und seine Nase eindeutig schief. Gebrochen und schlecht versorgt. Oder gar nicht.

Ansatzlos schlug er Josh das Glas aus der Hand. Das Cocktailglas aus Hartplastik schleuderte in den Raum und verteilte den kleinen Rest Alkohol auf Josh teurem Hemd. »Du belästigst meine Schwester?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Josh wischte über sein Hemd und nickte ihm überheblich zu. »Habe ich vor, ja.«

Der Junge starrte ihn kurz an und schlug ohne weitere Vorwarnung zu. Der Schlag kam mit gutem Timing, blitzschnell und begleitet von einer leichten Körperdrehung. Seine Wucht entlud sich in Josh Gesicht. Oder besser gesagt: Hätte sich entladen. Die Faust wäre genau auf dem Unterkiefer gelandet und hätte Josh durch den Einsatz seines Körpergewichtes vom Stuhl gefegt.

Wäre er nicht darauf vorbereitet gewesen.

Er wich mit seinem Oberkörper seitlich aus, schlug mit dem linken Unterarm kraftvoll gegen den Unterarm des Schlagarmes und ließ gleichzeitig seine rechte Faust in einer Geraden auf die schiefe Nase seines Gegners krachen. Während das Blut fontänenartig herausschoss, verlagerte er kurz sein Gewicht und trat vom Barhocker aus seinem Gegenüber zwischen die Beine. Als er vornüber zusammenklappte, flog er durch einen gezielten Handkantenschlag in den Nacken zu Boden und blieb liegen.

Mit einem leichten Seufzer erhob sich Luke von seinem Hocker und baute sich in voller Größe neben Josh auf. Schlägereien waren immer so ätzend. Die Knöchel taten hinterher weh, der Barmann ruft die Security und am Ende wurden alle rausgeschmissen.

Doch diesmal war es anders.

 

Beide Jungs zogen ein Messer.

 

Luke runzelte die Stirn und griff nach dem Hocker, Josh ebenfalls. Den Barhocker schräg vor dem Oberkörper haltend warteten sie auf den Angriff.

 

Sie griffen gleichzeitig an. Täuschten einen Faustschlag vor und stachen über dem Hocker zu.

 

Richtung Kehle.

 

Luke riss den Hocker hoch, duckte sich und trat mit seinen schweren Stiefeln gegen die rechte Kniescheibe. Der gellende Schrei seines Gegners übertönte sogar die laute Musik. Mit einem leisen Scheppern fiel das Messer zu Boden. Den Barhocker hieb Luke dem zweiten Gegner seitlich gegen den Schädel. Josh hatte sich auf Abwehr beschränkt und war noch nicht zum Angriff übergegangen. Als der Hocker den Kopf traf, wankte der Junge nach links. Josh packte das Handgelenk mit dem Messer mit links, umfasste die Hand mit rechts und drückte diese mit voller Wucht seitlich nach innen.

Das Handgelenk brach mit lautem Knacken. Nun schrie auch sein Gegner wie am Spieß. Er rammte ihm sein Knie in die Weichteile, hieb mit dem Ellenbogen gegen das Schulterblatt und bugsierte den dritten Angreifer als Letzten auf den harten Discoboden.

 

Wenige Augenblicke später waren fünf Türsteher da. Josh und Luke ließen widerstandslos zu, dass ihre Arme nach hinten gebogen wurden und sie bewegungsunfähig zwischen den fünf Gorillas eingepfercht wurden. Ihre drei Angreifer wälzten sich vor Schmerzen am Boden.

»Die drei haben angefangen«, monierte Josh.

»Das stimmt überhaupt nicht«, kreischte die Blonde. »Die beiden haben schon draußen Streit gesucht. Sie haben uns betatscht. Und der eine hat etwas in meinen Martini getropft. Das waren bestimmt k. o. Tropfen. Das sind widerliche Vergewaltiger!«

Josh sah sie fassungslos an. Ihre blonden Haare waren zerzaust, das Kleid seitlich eingerissen und ein Schulterträger hing zur Seite. Wann hatte sie sich so zugerichtet? Luke blickte nach der Schwarzhaarigen. Diese blieb hinter ihren Angreifern stehen und hielt demonstrativ ihr Martiniglas hoch. Er hatte keinen Zweifel, dass darin wirklich Tropfen waren. Irgendjemand wollte ihnen was anhängen.

»Wir müssen die Bullen rufen«, äußerte auch prompt einer der Türsteher und nickte dem Barkeeper auffordernd zu. Dieser nickte und griff nach dem Telefon hinter ihm an der Wand.

»So ein Schwachsinn. Als ob wir so scheiß Tropfen nötig hätten.« Josh hatte den Ernst der Lage noch nicht ganz verstanden. »Die haben uns angegriffen, nicht wir sie.«

»Ja klar«, giftete die Blonde. »Um uns zu verteidigen.« Sie fing an, wild zu kreischen.

»Was ist hier eigentlich los?« Der Geschäftsführer tauchte hinter ihr auf und sah seine Angestellten fragend an. Einer der Securityleute klärte ihn kurz auf.

»Okay. Schafft die beiden zusammen mit den Frauen in mein Büro. Wir warten dort auf die Polizei. Der Notarzt ist verständigt?« Der Barmann nickte. »Gut, dann werden die Drei hier gleich versorgt werden. Los jetzt!«

Josh und Luke wurde mit hartem Griff an der Bar vorbei die Treppe hochgeschoben und fanden sich kurz darauf in einem geräumigen Büro wieder. Dunkelbrauner Schreibtisch, schwarzer Bürostuhl, großes Aquarium und eine Wand voll mit Monitoren, die die Bilder der Überwachungskameras zeigten. Es war wie in einem schlechten Film. Fehlte nur noch, dass der Geschäftsführer hier saß und die unzähligen Ausschnitte der dürftig bekleideten Besucherinnen näher ranzoomte.

»Mein Vater ist Senator!«, bemerkte Josh hochnäsig, als der glatt rasierte Geschäftsführer quietschend im Lederstuhl Platz nahm. Seine schwarzen Haare waren zurückgegelt, eine goldene Kette baumelte auf der behaarten Brust und vier breite Silberringe schmückten seine rechte Hand. Als hätte er denselben schlechten Film gesehen.

»Mir völlig egal, wer dein Vater ist«, brummte er genervt. »Und wenn es der Präsident wäre, ich führe hier ein Geschäft. Und Schlägereien sind schlecht fürs Geschäft. Erst recht so eine widerliche Scheiße wie k. o. Tropfen. So was hat in meinem Laden nichts zu suchen. Ihr wart heute das letzte Mal hier, dass das schon mal klar ist.«

Josh kniff verärgert die Lippen zusammen. »Hast du nicht gehört, was wir gesagt haben? Die drei haben uns angegriffen. Und k. o. Tropfen haben wir erst recht nicht nötig. Sieh uns doch mal an.«

Der Geschäftsführer sah kurz hoch, ließ seinen Blick für wenige Sekunden auf ihrer Kleidung verweilen und schaute wieder auf seine Papiere. »Reichen Jungs wie euch ist alles zuzutrauen.«

Die beiden Mädels schrien wild durcheinander, als ein Türsteher sie hineinschob. Der Geschäftsführer runzelte missbilligend die Stirn. »Bring sie nach nebenan und bleib bei ihnen. Von dem Gezeter krieg ich Kopfschmerzen.«

Josh sah den Frauen hinterher. Seine Blonde sah im hellen Bürolicht ganz anders aus. Verkniffener, harter Mund, leichte Augenringe unter verquollenen Augenlidern, schiefe Zähne. Warum war er überhaupt auf sie angesprungen?

Der Geschäftsführer hob das klingelnde Telefon ab. »Mmh? ... Okay. Sollen hochkommen.« Er legte auf, musterte ein letztes Mal die beiden Jungs und erhob sich. »Die Bullen sind da, ich muss runter. Ich wünsche euch eine schöne Zeit hinter Gittern. Hier habt ihr auf jeden Fall Hausverbot.« Er ging mit ruhigen Schritten auf die Tür zu, öffnete sie und ließ die beiden mit seinen drei Türstehern alleine.

»Schöne Scheiße!«, murmelte Luke. »Warum hast du dich auch auf sie eingelassen. War doch klar, dass das Ärger gibt.«

»Halt bloß dein Maul. Hättest ja was sagen können. Bist doch direkt auf die Schwarzhaarige angesprungen.«

Luke zuckte mit den Schultern und sah zur Tür. Ein Detektive trat zusammen mit zwei uniformierten Polizisten ein und warf einen prüfenden Blick in die Runde. »Habt ihr die drei Jungs so zugerichtet?«, fragte er schließlich.

»Wir haben uns verteidigt, Detektive. Mehr nicht«, erwiderte Josh.

»Wir werden sehen. Ihr seid auf jeden Fall festgenommen.« Der Detektive leierte ihre Rechte herunter und schickte die beiden Polizisten vor. Sie legten den Beiden Handschellen an und befreiten sie endlich aus dem Schraubstockgriff der Türsteher. »Alles andere regeln wir auf dem Revier. Morgen.«

»Mein Vater ist Senator, Detektive. Es wird ihm nicht gefallen, wenn sein Sohn die Nacht im Gefängnis verbringt.« Josh hatte nichts von seiner Arroganz verloren.

Der Polizist sah ihn müde an. »Mir würde das auch nicht gefallen, Junge. Auf dem Revier steht euch ein Anruf zu. Ob du deinen Vater oder deinen Anwalt anrufst, ist mir gleich. So oder so kommt ihr hinter Gittern. Und jetzt los. Abmarsch!«

Die zwei Polizisten drückten sie vorwärts und schoben sie unsanft die Treppe hinunter. Unten wurde gerade der letzte der drei Angreifer auf einer Krankenbahre abtransportiert. Ein Tropf hing am Infusionsständer und betäubte vermutlich seine Schmerzen.

Die beiden Frauen saßen bereits im ersten Streifenwagen und sahen Josh gehässig entgegen. Luke beachtete sie nicht. Die Uniformierten führten sie zum zweiten Polizeiauto, drückten ihre Köpfe nach unten und bugsierten sie auf den Rücksitz. Luke sah, wie der Detektive eine Zellophantüte hochhob und gegen die Neonröhre am Eingang hob. Eine kleine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit war in der Tüte. Mitsamt einer Pipette.

Sie waren eindeutig in eine Falle geraten. Aber warum?

 

 

Die Zelle war bis auf zwei verwahrloste Betrunkene, die ihren Rausch auf der harten Pritsche ausschliefen, leer. Immerhin. Josh nervte den Wärter wegen seines Anrufes und konnte kurze Zeit später tatsächlich raus, um zu telefonieren.

Luke setzte sich auf die letzte freie Bank, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Seinen Vater würde er morgen im Labor anrufen. Das reichte. Wollten sie heute Nacht hier raus, war Joshs Vater tatsächlich ihre einzige Chance.

Der Betrunkene auf der seitlichen Pritsche fing lauthals an, zu schnarchen. Was für eine scheiß Nacht. Dazu stanken die beiden bestialisch. Als hätte sich ein Iltis mit einem Stinktier gepaart.

Josh erschien wieder auf dem Flur und wurde vom Polizisten in die Zelle geführt. Müde ließ er sich neben Luke auf die Pritsche sinken. »Mein Vater kann uns nicht helfen. Er wusste schon Bescheid.«

Luke sah ihn überrascht an. »Er wusste schon Bescheid? Wie?«

»Keine Ahnung«, antwortete Josh. »Er meinte nur, da wäre was Größeres im Gange. Mehr könne er am Telefon nicht sagen. Im Moment müssen wir alleine klarkommen.«

»Na toll!« Luke schloss frustriert die Augen. Wurden Gefangene im Film nicht immer mit einem dicken Wasserschlauch abgespritzt? Vielleicht sollte er das mal vorschlagen. Bis zum Morgen diesen Gestank zu ertragen, das war übel.

 

 

Es wurde die schlimmste Nacht seines Lebens. Luke machte kein einziges Auge zu. Immerhin ertrugen irgendwann selbst die Polizisten den Gestank nicht mehr. Mit den ersten Sonnenstrahlen schmissen sie die beiden Betrunkenen raus. Luke unternahm einen kurzen Versuch auf dem Boden zu schlafen, merkte aber glücklicherweise vorher, dass er überall klebte. Warum, wollte er gar nicht wissen. Also blieben sie auf der Pritsche und dösten vor sich hin.

 

Um acht Uhr kam Bewegung in die Wache. Ein Polizist kam in den Trakt gestürzt und informierte seine Kollegen über einen Amoklauf. Es gab einen Alarm in einer Grundschule. Sie müssten alle hin. In der Wache blieb nur eine Rumpfbesetzung.

 

Seitdem waren sie allein.

 

Luke stand auf und machte Dehnübungen. In einer Stunde würde er versuchen, seinen Dad zu erreichen. Dann wäre seine Morgenbesprechung vorbei. Sein Vater hatte feste Zeiten. In denen nichts ging. Sollte die Welt tatsächlich einmal untergehen, sollte sie dies nicht zwischen acht und neun tun. Dann würde sie Huntingtons Zorn treffen. Ohne Gnade.

Josh lag zusammengekrümmt auf der Pritsche und schien wider Erwarten eingeschlafen zu sein. Luke ging näher an die Gitter, streckte seine Arme hindurch und presste sein Gesicht gegen die Stäbe. Verfluchte Wichser. Wer waren die drei bloß? Besser gesagt, die fünf. Die beiden Frauen waren garantiert Lockvögel gewesen. Aber wofür? Das Ganze war völlig sinnlos.

Durch die geschlossene Tür zur Polizeistation hörte er laute Rufe.

 

Sehr laute Rufe.

 

Er drehte den Kopf. War das ein Schuss?

 

Er ging zwei Schritte zur Seite. Ein zweiter Schuss?

 

Und plötzlich hörte er es. Das unverkennbare Stakkato von schweren Maschinenpistolen.

 

Mein Gott!

 

»Scheiße, scheiße, scheiße!« Josh stand auf einmal neben ihm. »Mein Vater hatte recht!«

Luke sah ihn verstört an. »Womit, Josh? Womit hat dein Vater recht?«

»Dass wir entführt werden sollten. Mehr hat er mir nicht gesagt. Nur dass eine große Sache im Gange wäre und wir in diesem Zusammenhang entführt werden sollten. Im Gefängnis wären wir im Moment am sichersten.«

»Scheiße!« Er packte Josh am Hemd und schüttelte ihn durch. »Und das hast du mir verschwiegen? Du hast nie von einer Entführung gesprochen.«

»Weil mein Alter mir das verboten hat. Erzähl es nicht Luke, hat er gesagt. Morgen reden wir über alles.« Er packte Lukes Hände und riss sie weg. »Ist doch auch scheißegal. Es hätte doch gar nichts geändert.«

»Natürlich hätte es was geändert«, schrie Luke ihn an. »Ich hätte meinen Vater doch noch angerufen. Blödes Arschloch!« Er wollte Josh gerade wegschubsen, als die nächste Salve ertönte. Diesmal deutlich lauter. Direkt hinter der Tür.

Beide drehten wie in Zeitlupe den Kopf und starrten die schwere Metalltür an. Den Durchgang zum Revier. Warum war hier kein Polizist mehr?

 

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Zwei schwarze Gestalten stürmten den Zellentrakt, der erste mit schussbereiter Maschinenpistole, der Zweite mit einem Revolver. Sie trugen schwarze schusssichere Westen, schwarze Skimasken und Helme mit Visier, schwere Stiefel, Militärhosen und feste Hemden. Alles in Schwarz. Ohne Aufdruck. Luke suchte automatisch nach den gelben Buchstaben vom FBI oder einen weißen Aufdruck mit SWAT. Doch er fand nichts. Wer immer die Angreifer waren, sie waren nicht vom Staat.

Der Erste sicherte den Raum, während der zweite zielstrebig auf sie zuging. Luke und Josh traten zwei Schritte zurück.

 

Die Gestalt hob den Revolver.

 

Luke sah auf ihre Zellentür. Wollte er das Schloss aufschießen? Und Querschläger riskieren?

 

Der Mann drückte ab. Einmal, zweimal, dreimal.

 

Luke fühlte, wie Josh erzitterte und zwei Schritte nach hinten stolperte. Ungläubig drehte er den Kopf. Zwei große rote Flecken erschienen auf Joshs Brust. Und über der Nase ein kreisrundes blutiges Einschussloch.

 

Josh sackte in sich zusammen. Luke hörte, wie die noch vorhandene Luft aus seinen Lungen erweichte.

 

Mit erstarrtem Gesicht wandte er sich wieder um. Der Mann zielte nun auf ihn.

 

Einmal.

 

Der Schmerz war gewaltig. Luke stolperte nach hinten.

 

Zweimal.

 

Seine Brust zersprang im eisernen Feuer. Sein ganzer Körper brannte. Blut schoss aus seinem Oberkörper und tränkte sein Hemd.

 

Dreimal.

 

Es wurde schwarz.

 

Die Angreifer verloren keine Zeit. Sie drehten sich um und verließen den Zellentrakt ohne Hast. Zwei tote Polizisten lagen im Flur des Reviers, drei hinter dem Empfangstresen. Sie hatten keine Chance gehabt. Sie hatten eine Komplizin als Lockvogel vorgeschickt, die mit ihrem Geschrei alle noch verbliebenden Polizisten herbeigelockt hatte. Als sie dann das Revier stürmten, standen alle bereit. Bereit, erschossen zu werden.

Die beiden Männer nickten den drei anderen schwarzen Gestalten zu und verließen zügig aber geordnet das Revier.

 

Wären sie noch mal umgekehrt, hätten sie bemerkt, dass Luke wieder blutete. Hellrotes Blut floss aus seiner Brust und dunkelrotes über sein Gesicht.

Und dann hätten sie gewusst, dass Tote nicht bluten.

In dem Moment, in dem sie in ihr dunkelblaues Fluchtfahrzeug stiegen, öffnete Luke sein rechtes Auge.

 

Und sah direkt in Joshs tote Augen.

 

Josh war tot, er nicht.

 

Er blutete immer noch.

 

 

 

Kapitel 1

 

Dr. Vince Sinclair sah sein Idol ungläubig an. Vor wenigen Tagen noch war er sich sicher, den nächsten Nobelpreisträger vor sich zu sehen. In Medizin, Biologie, Chemie, in allem. Wahrscheinlich sogar für den verdammten Friedensnobelpreis. Sein Doktorvater würde die Welt verändern. Von Grund auf. Er wäre der neue Gott.

 

Doch dabei hatte er schon angefangen.

 

Vince konnte nicht anders, er starrte die fünf Zentimeter lange und bestimmt drei Zentimeter tiefe Wunde auf dem rechten Arm untätig an. Genüsslich hatte Professor Walter Gimbrich ein rostiges Messer gezückt und es ohne zu zögern in seinen eigenen Arm gerammt. Mit zuckendem Gesicht hatte er die Klinge durchgezogen. Der Rost der Klinge vermischte sich mit dunklem Blut. Vince sah, wie kleine Rostpartikel an den Wundrädern hängen blieben und das Fleisch verseuchten.

Immerhin hatte er keine Arterie getroffen, durchschoss es ihn. Dafür würde er an Blutvergiftung sterben. Vince schüttelte den Kopf. Was geschah hier? Sein Professor hielt ihm ruhig den Arm hin und ließ das Blut zu Boden tropfen. Es bildete sich eine dunkle Pfütze.

 

»Was tun sie da?«, krächzte Vince. »Was um Gottes Willen ist in sie gefahren?« Er schrie ihn an. Seine Arme waren schwer wie Blei, als er sie endlich heben konnte. Doch der Professor trat einen Schritt zurück.

»Sieh hin!«, forderte er ihn auf und deutete auf die Wunde. »Sieh hin!«

Vince kniff die Augen zusammen und folgte widerwillig seiner Aufforderung. Bildete er sich das nur ein oder wurde die Wunde kleiner? Er schüttelte den Kopf, wischte sich über die Augen und betrachtete das ausfließende Blut. Der Fluss hatte nachgelassen. Dafür schimmerte es gelblich aus dem Wundinneren. Eine feste Masse hatte sich gebildet.

 

Die Wunde wurde tatsächlich kleiner.

 

»Mein Gott!« Das war ja unglaublich. »Sie haben sich das Zeug selbst gespritzt?« Vince kannte die Antwort. Er wusste es plötzlich. Der Professor hatte einen Selbstversuch gestartet. Aber wann?

Gimbrich musterte seinen Zögling mit nachsichtigem Lächeln. Mit dem Schmunzeln des Überlegenden. Des Wissenden. Des Mächtigen. Er sagte kein Wort. Sah Vince mit seinen kalten blauen Augen abwartend an.

Die Wunde war nur noch einen Zentimeter groß. Es geschah in wahnsinniger Geschwindigkeit. Nur das Blut zeugte vom tiefen Schnitt. Das Blut und die Rostpartikel, die auf der intakten Haut schimmerten.

Vince schüttelte ungläubig den Kopf. Sein kahler Schädel glänzte im fahlen Licht der Neonröhren. Er hatte Gänsehaut. Nur blass werden konnte er nicht. Dass verhinderte seine schwarze Haut.

»So schnell!«, stammelte er.

Gimbrich blieb unbeweglich stehen. Die Wunde war fast zu. Vor seinem rechten Fuß hatte sich eine kleine, rote Lache gebildet.

»Wie haben sie das geschafft?« Endlich hob er den Blick. Sah dem Professor direkt in die Augen. »Und wie in Dreiteufelsnamen sind sie auf die Idee gekommen, sich das Zeug selber zu spritzen? Sie haben doch gesehen, was aus dem ersten Schimpansen geworden ist.«

Das Lächeln des Professors wurde breiter. »Das ist doch Schnee von gestern«, widersprach er. Seine Stimme klang dunkler als sonst. Tiefer und klarer. »Seitdem haben wir riesige Fortschritte gemacht, Vince. Das wissen sie doch!«

 

Jetzt war die Wunde komplett geschlossen.

 

»Aber wir wissen immer noch nicht, was die Veränderung bei dem Affen bewirkt hat.«

Gimbrich hob abwehrend die saubere Hand, drehte sich zum Waschbecken und fing an, das Blut abzuwaschen. »Natürlich wissen wir das, Vince. Der Schimpanse hatte einen Gendefekt.«

Immer dieser Blödsinn von einem Gendefekt. Als ob diese Art von Defekt selten wäre. Doch das war jetzt nicht das Thema. »Wie haben sie es geschafft, dass es so schnell geht, Professor? So schnell!«

Gimbrich griff nach der Küchenrolle auf der Ablage und trocknete sich den Arm ab. »Ich habe ein anderes Virus genommen, Vince. Ganz einfach.«

»Ein anderes Virus?«, echote er. »Und sie haben mir nichts davon gesagt?«

»Na ja ...«, Gimbrich strich sich über seinen grauen Vollbart. »Es war nicht so einfach zu bekommen. Das ging leider nicht auf offiziellem Wege.«

Vince sah seinen Lehrer fassungslos an. Dabei hatte der Tag so gut begonnen. Seine Frau hatte ihm in der Früh noch geschrieben, dass im Ultraschall das Köpfchen wunderbar zu sehen gewesen war. Das Köpfchen seiner zukünftigen Tochter. Und nun das. Der Mann, der sein absolutes Vorbild war, hatte nicht nur einen Selbstversuch gestartet. Nein, er hatte sich sogar illegaler Kanäle bedient.

»Was ist das für ein Virus, Professor? Welches Virus haben sie genommen?«

Gimbrich strich sich gedankenverloren über die geschlossene Wunde. Es war noch nicht mal eine Narbe sichtbar. »Können sie sich das nicht denken? Welches Virus ist so mächtig, dass es unser Enzym so schnell produziert? Mmh? Was glauben sie?«

Der Professor blickte ihn über den matten Rand seiner Brille hinweg an. »Sie wissen doch, welche Probleme wir mit der Virenfamilie der Herpesviridae hatten. Sie waren viel zu langsam. Bis unser Enzym für die Selbstheilung sorgte, war der Primat verblutet. Das Virus war viel zu schwach.«

 

»Welches Virus, Professor? Welches Virus haben sie genommen?«

 

Sein Doktorvater drehte sich um und wies auf die hintere Tür. Die Tür zu ihren Versuchsobjekten. In erster Linie Mäuse, Ratten und kleine Affen. Die Schimpansen waren hier nicht untergebracht. »Wir haben gesehen, dass der Herpesvirus mehr Zeit benötigte, sich im Körper festzusetzen. Und die Selbstheilung schließlich ermöglichte. Ohne dass es vorher zum Verbluten kam. Aber bei größeren Wunden war es zu schwach. Ganz zu schweigen von dem Gedanken, fehlende Körperteile nachwachsen zu lassen. Das Virus war dafür einfach unbrauchbar. Ungenügend.«

»Das wissen wir doch noch gar nicht, Professor«, warf Vince ein. »Wir stehen doch noch am Anfang.«

Gimbrich drehte sich wieder um und nickte. »Das stimmt, wir standen erst am Anfang. Jetzt jedoch nicht mehr. Jetzt sind wir wieder im Garten Eden. Denn wir haben den Baum des Lebens gefunden.« Seine Mundwinkel gingen langsam nach oben. Gimbrich lächelte. Und präsentierte makellose Zähne. Im strahlenden Weiß.

Vince blinzelte. Das konnte unmöglich wahr sein. »Was haben sie getan, Professor? Welches Virus haben sie genommen?«

Gimbrich trat einen Schritt vor und zeigte auf seine Körpermitte. »Vor zwei Monaten war ich bei meinem Doktor zum jährlichen Check-up. Blutdruckmessen, Fahrradfahren, Blutentnahme. Kurzer Termin und weiter geht’s. Dachte ich. Bis er mir meine Leberwerte zeigte.« Er rieb sich den Bauch. »Sie waren jenseits von Gut und Böse. Also bin ich wieder hin. Ultraschall, Röntgen, weitere Laboruntersuchungen. Sie wissen ja, welches Programm dann abläuft.« Er stützte sich auf dem weißen Labortisch ab. »Am Ende war es die Pankreas. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Inoperabel.« Müde hob er den Blick. »Röntgenbilder lügen nicht. Erst recht nicht, wenn man sich damit auskennt.« Er hob ein leeres Reagenzglas und drehte es gedankenverloren in den Händen.

»Meine Zeit lief ab. Tick, tack, tick, tack. Das Herpesvirus kam leider nicht infrage.« Er drehte das Reagenzglas auf den Kopf und klopfte sanft dagegen. »Ich musste den Tod mit dem Tod bekämpfen. Und es gibt keinen mächtigeren Killer als ein Virus der Gattung Filovirdae.«

Vince erschauerte. Er hatte es befürchtet. »Mein Gott!«, hauchte er. »Mein Gott! Ebola.«

Gimbrich nickte. »Ja, Ebola. Der perfekte Killer. Direkt aus der Hölle. Der Schlüssel zum Garten Eden.«

»Mein Gott!« wiederholte er.

»Der Rest war nicht so schwierig. Ich rief meinen Studienkollegen an, der noch immer für das Pentagon arbeitet. Ich musste ihm von unseren Forschungen erzählen und von meiner Erkrankung. Das war ein wenig schwierig, wegen dieses ganzen Geheimhaltungskrams, aber so gut ist die NSA nun auch nicht. Kommunikation auf traditionellem Wege ist immer noch ein Problem für sie. Alles, was nicht elektronisch verläuft. Und wir beide sind sehr traditionell. Also besorgte er mir eine gentechnisch veränderte Probe, die nicht waffentauglich war und somit einfacher hinauszuschmuggeln. Zudem, und das ist natürlich von entscheidender Bedeutung, waren alle krankheitserregenden Sequenzen ausgeschalte worden. Es war zwar der Ebolavirus, jedoch völlig entkernt. Einfach perfekt für mich.« Er legte das Reagenzglas zurück.

»Ich musste nur noch unsere Sequenz einbauen und das Ebolavirus umprogrammieren. Aus dem perfekten Killer wurde nun der göttliche Arzt. Der Wirt, der das Selbstheilungsenzym der Zebrafische produzierte und Unsterblichkeit ermöglicht.« Er machte eine Pause und sah Vince direkt in die Augen. »Der Baum des Lebens, Vince. Der Baum des Lebens. Wir haben ihn gefunden. Und es funktioniert!« Er schlug sich gegen seine rechte Körperseite. »Kein Krebs mehr. Es ist alles weg! Meine Blutwerte sind die eines achtzehnjährigen. Ich bin kerngesund!«

Vince griff nach dem roten Drehstuhl neben sich. Erschöpft ließ er sich auf die runde Sitzfläche sinken. »Ich hatte ja keine Ahnung.« Er fuhr sich über seine Glatze. »Der Krebs ist ganz weg?«

Gimbrich nickte.

»Und das Kontrollzentrum?« Vince stützte sich auf der Armlehne ab. »Wie haben sie das mit dem Kontrollzentrum gelöst?«

Der Professor lächelte versonnen. »Das Kontrollzentrum. Die Einheit im Zebrafisch, die die Selbstheilung koordiniert und regelt.« Sein Lächeln wurde breiter. »Darüber hätten wir uns nie Gedanken machen brauchen. Es entsteht von selbst. Unsere Sequenz sorgt nicht nur für die Enzymproduktion, sondern auch für einen Umbau der Amygdala. Sie wird deutlich größer.«

Vince sah ihn fassungslos an. »Die Amygdala verändert sich? Ihre Amygdala hat sich verändert?«

Sein Doktorvater senkte den Kopf. »Genau. Die Regionen sind größer geworden. Deutlich sichtbar im MRT.«

Vince lehnte sich zurück. »Und was ist kleiner geworden?«

Gimbrich runzelte die Stirn. »Was meinen sie damit?«

»Nun, ganz einfach. Wenn diese Regionen größer geworden sind, welche sind dann kleiner geworden? Ihr Gehirn kann schließlich nicht mehr wachsen. Oder haben sie Krampfanfälle, Kopfschmerzen, Sehstörungen?«

Der Professor schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich bin völlig gesund.«

»Also, was ist kleiner geworden?«

Gimbrich massierte seinen Schädel. »Die Amygdala selbst.«

Vince sah ihn verständnislos an. »Haben sie nicht gerade gesagt, sie wäre größer geworden?«

»Ja, habe ich. Ist sie auch. Sie ist gewachsen. Und gleichzeitig kleiner geworden.« Er deutete auf den PC. »Ich kann ihnen die Bilder zeigen, dann werden sie es verstehen. Die Regionen sind größer geworden, das ist deutlich sichtbar. Gleichzeitig ist sie in ihrer Form ausgefranst. Es gibt Dellen in ihrem Bereich. Dadurch ist sie kleiner geworden.«

»Es gibt Dellen?«, wiederholte Vince. »Was für Dellen?«

»Halt Dellen. Schauen sie sich die Bilder an.« Gimbrich drückte einige Tasten und präsentierte dann eine Serie von MRT-Bildern. »Hier!«, er deutete auf die mittleren Bilder. »Hier sind meine alten Scans.« Er drückte weitere Tasten und der Bildschirm teilte sich auf. Rechts erschienen die neuen Bilder. »Und das hier sind die Aufnahmen von letzter Woche. Sehen sie selbst. Die Regionen sind größer geworden. Aber hier, hier und hier gibt es eine Delle. Eine Einbuchtung. Eine neue Struktur.«

Vince war mit seinem Stuhl näher gerollt und starrte konzentriert die Bilder an. »Shit!« Die beiden Kerngebiete im Gehirn hatten sich völlig synchron verändert. Und es stimmte. Sie waren größer geworden und gleichzeitig kleiner. »Sie haben sich verändert. Sie haben ihre Form geändert.«

Gimbrich deutete auf die tiefste Delle. »Und zwar rasend schnell.« Er strich fast zärtlich über den Bildschirm. »Jetzt sind wir wirklich eine neue Schöpfung. Jetzt sind wir wie Gott. So wie er es wollte. Unsterblich.«

Vince erschauerte, als er Gimbrich diese Worte flüstern hörte. »Machen sie sich keine Sorgen über diese Dellen? Sie müssen Auswirkungen haben.«

Der Professor nickte. »Sie haben die Auswirkung, dass wir nicht mehr sterben werden. Sehen sie doch. Die neue Form der beiden Amygdalas ist wie eine Baumkrone. Sie sind der Baum des Lebens. So wie es damals zwei Bäume im Paradies gab. Es ist unsere Auferstehung. Unser Garten Eden. Das neue Paradies. Der Tod ist Geschichte.«

Vince sah ihn ungläubig an. Dachte er das wirklich? Gimbrich strich immer noch über den Monitor. Seine Augen blickten träumerisch auf die Bilder. Er war völlig gefangen.

 

»Professor!«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Krid Korwa
Bildmaterialien: Krid Korwa
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7780-1

Alle Rechte vorbehalten

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