Cover

Prolog

Weiß ist eine schreckliche Farbe. So sauber und rein. Unnahbar. Man kann nicht anders, als sich in ihrer Gegenwart dreckig zu fühlen. Dabei ist sie so zerbrechlich. Es fehlt nicht viel, sie in grau zu verwandeln, in braun oder rot. Aber genau aus diesem Grund hatte sie die Farbe ja auch ausgewählt.

Christine fuhr mit den Fingerspitzen über den strahlenden, weißen Stoff, den sie auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Das Kleid war knielang und für ihre Verhältnisse schockierend einfach gehalten: kurze Ärmel, Spitze um den viereckigen Kragen, Schnürung an der Vorderseite und simple Rüschen am unteren Saum. Sonst nichts. Keine Ketten, Broschen, Unterröcke oder dergleichen mehr.

Sie seufzte und streifte sich widerwillig das verhasste Stück über ihren fast zur Gänze entblößten Körper. Normalerweise trug sie immer mindestens eine Chemise, eine lange Unterhose und ein Korsett unter ihren Kleidern. Für den heutigen Anlass sollte jedoch so wenig zwischen ihrer Haut und der Außenwelt stehen, wie nur möglich. Ein BH und einer dieser modernen Slips – mehr war nicht drin.

Sie stellte sich vor den Spiegel, legte letzte Hand an das Seidenband, das sie vorne eingearbeitet hatte, und betrachtet anschließend das Ergebnis. Wäre das Kleid etwas länger und schwarz gewesen, hätte es ebenso gut eines ihrer Nachtgewänder sein können. Ihr dunkles, schweres Haar fiel ihr passend dazu in eleganten Wellen über die Schultern, schmucklos und unfrisiert, wie es ihr von Geburt an mitgegeben war.

Das Knarren von Autoreifen mischte sich in die Geräusche der Nacht. Die Haustür ging auf und mehrere Leute betraten das Haus. Es war Zeit. Wie zur Bestätigung erschien Josef hinter ihr.

„Sie sind da.“

Christine nickte. Ihre Hände gruben sich unwillkürlich in den jungfräulichen, weichen Stoff. Am liebsten hätte sie sich das verfluchte Teil wieder vom Leibe gerissen.

Josef trat näher an seine Gefährtin heran, bis sein großer Oberkörper an ihrem zarten Rücken lehnte. Er beugte sich ein Stück zu ihr herab, um nicht zu sehr über ihrer filigranen Gestalt aufzuragen, zog sie mit einem seiner massigen Arme enger an sich und fuhr mit dem anderen sanft über ihre Fingerknöchel, bis sie sich entkrampften. Dann führte er ihre kleine Hand an seinen Mund und hauchte einen warmen Kuss darauf.

„Es steht dir. Schade, dass du es nur einmal tragen wirst.“

„Weiß ist nicht meine Farbe.“

Josef umfing ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Als ihre Augen ihm gehörten, legte er sanft seine Lippen auf ihre.

„Es ist genau deine Farbe.“

Die Intensität seines Blickes ließ keinen Widerspruch zu.

„Ich liebe dich“, flüsterte Christine. Mehr, als sie es je hätte in Worte fassen können.

„Wer nicht?“, gab Josef zurück, ein männliches Lächeln auf den Lippen.

Empört entzog sich Christine seinem Griff, um ihm halbherzig gegen die breite Brust zu schlagen.

„Idiot!“

Dieser fiese Kerl wollte sie aufheitern, und es gelang ihm beinahe!

Josef grinste selbstsicher, als habe er ihre Gedanken gelesen, aber es kam nicht an seine übliche Sonnenscheinmiene heran. Christine wusste, dass er sich in diesem Moment keinen Deut besser fühlte als sie, auch wenn er versuchte, es vor ihr zu verbergen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Keller.

Im grauen Zimmer, wie Christine es heimlich nannte, wurden sie bereits erwartet. Der Raum war so hässlich wie das Geschäft, das in ihm verrichtet wurde. Die Wände waren unverputzt, der Boden bestand aus Beton und der Gestank von scharfen Reinigungsmitteln lag in der Luft. Lediglich einige alte Sofagarnituren verliehen dem Ort ein wenig Farbe, aber ihre vergilbten Nuancen trugen nicht besonders viel zu einer Verschönerung bei. Es war das krasse Gegenteil zum Rest des Hauses und offenbarte schonungslos die Wirklichkeit, die von den hellen freundlich möblierten Zimmern da oben verborgen werden sollte. Es war das einzige, das von den Monstern zeugte, die hier hausten.

Die Menschen waren bereits aufgereiht worden und warteten wie immer mit glasigen Augen auf ihr Roulette mit dem Tod. Ihre Herzen schlugen in einem verführerischen Rhythmus, ein Sirenengesang, der zum näher kommen einlud. Vielleicht würden sie alle in dieser Nacht den Tod finden. Vielleicht keiner von ihnen.

Heute waren es nur vier, da William außer Haus war: zwei schlaksige junge Männer, deren Arme von zig Nadelstichen verunstaltet waren, ein dicklicher älterer Herr mit ungepflegtem Bart und so vielen Tätowierungen, als habe er in Tinte gebadet, und eine junge Frau in Punkkluft mit fahler Haut, Haarsträhnen in allen Farben des Regenbogens und aufdringlicher Schminke. Die üblichen Verdächtigen.

Obwohl Gabriel und Helen diesem unschicklichen Spektakel jederzeit hätten fern bleiben können, blieben sie aus Solidarität zu ihren Ziehkindern jedes Mal an ihrer Seite. Sie bezweifelte, dass sie dasselbe Ehrgefühl aufgebracht hätte, wären die Rollen vertauscht gewesen. Niemals hätte sie freiwillig an diesem grausigen Ritual teilnehmen können. Für niemanden. Sie hätte alles getan, um nicht hier sein zu müssen, um nicht das tun zu müssen, was ihr verfluchter Körper immer wieder aufs Neue von ihr forderte.

Gabriel und Helen bezogen vor den beiden Drogenjunkies Stellung. Josef ließ von Christine ab und stellte sich vor den Tattoomann. Das Mädchen gehörte Christine.

Innerlich wappnete sie sich für den bevorstehenden Kampf und trat schließlich als letzte an ihr Opfer heran. Die Herzschläge der jungen Frau dröhnten wie Bässe in ihren Ohren.

Budum. Budum. Budum.

Als hätte jemand ein stummes Signal gegeben, bissen sie alle gleichzeitig zu. Der flüssige Nektar, der gleich darauf Christines Lippen benetzte, ließ sie verzückt aufstöhnen.

Ach, scheiß auf die Konsequenzen! Sie wollte alles! Sie wollte diesen Körper bis zum letzten Tropfen aussaugen, wollte diese Macht fühlen, diese Überlegenheit, die viel zu schnell wieder verflogen sein würde.

Nein! Das durfte sie nicht! Sie würde das Mädchen umbringen!

Das Rot des Blutes vernebelte ihren Blick und nahm sie mit auf eine Reise durch die letzten Jahrhunderte, eine Reise, die sie schon viel zu oft hatte antreten müssen. So viele blutige Hälse. So viele Pulsadern. Zu viele, um eine ungefähre Zahl schätzen zu können, und es würden immer mehr werden, bis man die Erde um ihre Existenz erleichtern würde.

Aber nicht heute!

Mühevoll hinderte sie sich am Schlucken und zog ihre Fänge aus dem weichen, warmen Fleisch. Es war genug.

Sehnsuchtsvoll betrachtete sie das dünne Rinnsal, das noch immer aus den beiden Eintrittswunden ran.

„Hat da etwa jemand seinen Teller nicht aufgegessen?“

Nein, nicht diese Stimme. Oh Gott, bitte nicht!

Er stand stolz hinter dem Punkmädchen und schaute süffisant auf seinen Schützling herab. Natürlich wusste Christine, dass es sich nur um eine Illusion handelte, aber die Erinnerungen, die sie mit sich brachte, waren immer noch unerträglich real.

„Nein, bitte … Ich will nicht schon wieder jemanden töten! … Bitte …“

Ein hämisches Grinsen.

„Du bist eine Puppe. Puppen haben keinen Willen. Und nun trink! Ich will doch nicht, dass mein neues Spielzeug verhungert, nicht wahr?“

Ohne es bewusst zu steuern, wanderte ihre Hand auf die pulsierende Stelle unter dem Ohr, fuhr über die feinen Löcher, die sie dort hinterlassen hatte. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Er hatte Recht. Er war der Puppenspieler und sie die willenlose Marionette. So war es schon seit vielen Jahren. So würde es für immer sein. Was konnte sie schon gegen ihn ausrichten? Sie hatte ja versucht, sich zu wehren, doch das war sie teuer zu stehen gekommen. Außerdem hatte sie solchen Durst!

Ehe sie überhaupt mit ihrem Geist erfassen konnte, was sie da tat, hatte sie ihre Fänge wieder in das Mädchen geschlagen. Ihr Gewissen? Von der Wut auf die Welt übermannt, geflohen in diesen kleinen Winkel ihrer Seele, der nur ihr gehörte, zusammen mit dem kläglichen Rest ihrer Menschlichkeit. Es war der einzige Ort, an dem sie wirklich Frieden finden konnte. Hier war sie sicher vor der unbarmherzigen Außenwelt, und nicht einmal ihr Herz vermochte an diesen einsamen, trostlosen Ort vorzudringen. Hier fühlte sie weder physischen, noch emotionalen Schmerz, nur Dunkelheit und Stille umhüllten ihren geschundenen Geist. Ohnmacht. Sie befand sich in einer herrlichen, gefühllosen Ohnmacht, trieb dahin in einem Meer aus Nichts.

Der rohe, animalische Teil ihres Selbst hatte nun die uneingeschränkte Kontrolle über ihren Körper. Niemand war mehr vor ihr sicher, nicht einmal Ihresgleichen. Der Puppenspieler hatte sein Ziel erreicht. Die Puppe tanzte.

Kapitel 1

 

Normalerweise war das Aufwachen am Morgen eine friedliche Zeit – vermutlich die friedlichste Zeit des Tages. Wenn einen der Wecker nicht gerade unsanft daran erinnerte, dass das übliche Tagesgeschäft auf einen wartete, oder das Telefon zur Arbeit rief, wenn es also einer dieser wochenendmäßigen Tage war, ja, dann gab es für gewöhnlich nichts Beruhigenderes als morgens die Augen aufzuschlagen und das Licht des neuen Tages zu begrüßen.

Wenn man aber die Augen aufschlug und alles noch stockfinster war, und wenn man dann auch noch die Silhouette zweier gigantischer Hunde neben seinem Bett ausmachte, zwischen denen eine Vampirin hoheitsvoll in einem Lehnsessel thronte, ja, dann war es vorbei mit dem Frieden.

„Du siehst blass aus, Mensch. Hast du schlecht geschlafen?“, fragte Yvaine in ihrer üblichen, monotonen Stimme, als könne sie nicht im Geringsten nachvollziehen, warum jemand sich erschrecken sollte, wenn das erste, was er nach dem Aufwachen sah, zwei monströse Wölfe waren.

„Y-Yvaine?“, krächzte ich verwirrt und rieb mir müde den Schlaf aus den Augen. Obwohl die Vorhänge aufgezogen waren, konnte ich kaum etwas erkennen. Es musste schon wieder Abend sein. Ich hatte den ganzen Tag durchgeschlafen.

„Was machst du hier?“

„Ich habe gewartet, bis du aufgewacht bist.“

Als ob das nicht offensichtlich gewesen wäre!

„Und … und warum?“, hakte ich nach und versuchte nach Kräften, eine neutrale Stimme zu behalten.

„William bat mich dir auszurichten, dass du in deinem Zimmer bleiben sollst, während er seine Gäste verabschiedet.“

Beim Gedanken an William schoss mir unwillkürlich die Röte ins Gesicht. Beschämt dachte ich daran, wie ich in Tränen aufgelöst an seiner Brust eingeschlafen war. Oh Gott, wie sollte ich ihm je wieder ins Gesicht sehen können?

Rasch bemühte ich mich, mir nichts anmerken zu lassen, und hoffte, dass Yvaine nicht auffallen würde, wie aufgewühlt ich war.

„Oh … Dann … dann danke“, stotterte ich vor mich hin.

„Wofür?“ Sie klang verwirrt.

„Ähm … naja, fürs … fürs Ausrichten“, erklärte ich.

„Das habe ich nicht für dich getan, Mensch, sondern für William.“

Und das musste sie auch jedes Mal wieder betonen …

„Trotzdem … trotzdem danke.“

Einige Sekunden lang blieb Yvaine vollkommen reglos, wartete offensichtlich darauf, dass ich fortfuhr. Als nichts mehr kam, streckte sie die Hand nach einem ihrer tierischen Gefährten aus, der sofort seinen Kopf hineinlegte und sich kraulen ließ.

„Okay, also … also dann geh ich mich mal frisch machen“, sagte ich überflüssigerweise, da Yvaine mich nicht länger zu beachten schien.

Unbeholfen kletterte ich auf der Seite, die nicht belagert war, aus dem Bett, lief rasch zu meiner Reisetasche, schnappte mir meinen Kulturbeutel, klaubte einige Kleidungsstücke zusammen und huschte mit einem letzten misstrauischen Blick auf meine ungebetenen Gäste ins Bad.

Als ich knapp eine viertel Stunde später in Jeans und Shirt ins Zimmer zurückkehrte, war der Sessel neben dem Bett leer. Yvaine stand vor dem Fenster und schaute nachdenklich auf zum Mond, flankiert von ihren beiden Wölfen, stumme Beschützer, die neben ihrer Herrin wachten.

Etwas an ihr hatte sich verändert. Es war, als hätte sie die Aura, die sie für gewöhnlich umgab, einfach abgestreift und wäre in eine völlig andere geschlüpft. Wenn ich sie nicht selbst dort stehen gesehen hätte, hätte ich sie für einen anderen Vampir gehalten.

Langsam drehte sie sich zu mir um. Die Wölfe folgten simultan ihren Bewegungen, als seien die drei eine Person. Ich erschrak, als ich den leeren Ausdruck auf ihren Zügen sah. Es war anders als sonst, wenn sie sich mit ihren zotteligen Untertanen austauschte. In Yvaines Blick war kein Funken Leben, nur eine Leere, deren Tiefe ins Unermessliche zu reichen schien. Trotzdem spürte ich, dass hinter dieser trostlosen Unendlichkeit mehr steckte. Eine Macht, weder lebendig, noch tot, die nicht von dieser Erde zu sein schien. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken und ein eiskalter Schauer überlief meinen Körper.

 

Der erste Tropfen wird fallen.

Neues Blut wird altes ersetzen.  

Die Grenzen werden verschwimmen.

Ein Licht wird erstrahlen.

Ein Feuer wird entflammen.

Dann wird die Nacht hereinbrechen.

 

Yvaines Stimme klang weich, fast zärtlich, während sie all diese merkwürdigen Sätze nacheinander ausstieß. Nachdem sie geendet hatte, sah sie mich einen endlos wirkenden Augenblick lang mit ihrer apathischen Gruselmiene an, bis Nicolai wie aus dem Nichts zu ihrer Rechten auftauchte. Behutsam, so sanft, wie er neben ihr erschienen war, legte er ihr eine Hand an die Wange und flüsterte leise ihren Namen. Sofort spürte ich, wie Yvaine auf ihren Partner reagierte und ihre Aura sich veränderte, zurück zu ihrer früheren Form. Die Leere verschwand aus ihren Augen und das Leben kehrte darin zurück.

Nicolai ließ seine Hand sinken. Die beiden sahen sich vielsagend an, dann strich Yvaine dem Wolf, der ihr am nächsten stand, liebevoll übers Ohr.

„Er wird dir Gesellschaft leisten, bis William zurückkehrt.“

Ohne jede weitere Erklärung verließ sie mit Nicolai und dem anderen Monsterhund das Zimmer. Das Tier, das zurückgelassen worden war, sah wehmütig seiner Herrin hinterher, ehe es gemütlich zurück zum Sessel tapste, sich davor niederließ und die Augen schloss.

Völlig perplex von dem, was sich soeben vor mir abgespielt hatte, blieb ich wie angewurzelt stehen, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich weiß nicht, wie lange ich so ratlos dastand, bis ich mich schließlich auf den Bettrand setzte, meine Hände im Schoß faltete und begann, Klarheit in meinem Oberstübchen zu schaffen.

Ich fühlte dass das, was Yvaine gesagt hatte, von ungeheurer Wichtigkeit war, auch wenn es für mich keinen Sinn ergab. Ich hatte ihre Worte noch so deutlich im Kopf, als stünde sie gerade neben mir und wiederholte alles.

Der erste Tropfen wird fallen.

Neues Blut wird altes ersetzen …

Was konnte das bloß bedeuten? Es klang wie eine mystische Prophezeiung, aber konnte das möglich sein? Hatte Yvaine wirklich die Zukunft vorausgesehen – vielleicht sogar meine Zukunft? War das ebenfalls eine ihrer Fähigkeiten?

Nichts von dem, was sie gesagt hatte, ließ sich irgendwie mit mir in Verbindung bringen – zumindest konnte ich keine feststellen. Auch nach fieberhaftem Grübeln kam ich auf keinen grünen Zweig.

Neues Blut. Grenzen verschwimmen. Licht und Feuer.

Etwas würde sich verändern, soweit war ich schon einmal, aber das konnte alles und nichts bedeuten!

In einem Anflug von Resignation ließ ich mich rücklings aufs Bett fallen und stieß einen erschöpften Seufzer aus. Oh Mann, und der Tag hatte gerade erst begonnen …

Kurz nach Mitternacht kam William zurück. Er trug wieder seine übliche legere Kleidung. Seine Züge drückten Erschöpfung aus. Kaum, dass er durch die Tür getreten war, erhob sich mein Aufpasserwolf, der bis dato keine Regung von sich gegeben hatte, nickte mir kurz zu, was ich als Abschied interpretierte, und jagte dann, wie von der Tarantel gestochen, an William vorbei aus dem Raum.  

Ich begann, nervös meine Hände zu kneten. Ob es seltsam klingen würde, wenn ich mich wegen letzter Nacht bei William bedankte? Vermutlich schon.

„Alle Gäste sind abgereist“, begrüßte er mich. „Wenn du fertig bist, können wir uns auch auf den Weg machen.“

„Ich bin fertig!“, entgegnete ich prompt.

Die Andeutung eines Grinsens huschte über Williams Lippen.

„Dann lass uns gehen.“

Als ich nach meinem Gepäck greifen wollte, schüttelte er den Kopf.

„Du kannst es hier lassen. Man wird es uns zum Helikopter bringen.“

Schlagartig fiel mir wieder ein, wie wir vergangene Nacht übers Dach hier angekommen waren. Bei all dem, was inzwischen geschehen war, hatte ich das schon wieder vollkommen vergessen.

„Oh … okay“, gab ich verlegen zurück.

„Keine Sorge, es gibt einen Fußweg“, schien William meine Gedanken gelesen zu haben. In seinen Worten schwang Belustigung mit.

Meine Wangen glühten vor Scham auf. Vampire und ihre dämlichen Fortbewegungsmethoden! Um Haltung zu bewahren, stolzierte ich rasch an ihm vorbei durch die Tür, damit ich seinem arroganten Blick nicht länger standhalten musste.

„Gut“, sagte ich in dem Versuch, gleichgültig zu klingen. „Also lass uns gehen.“

Im Bruchteil einer Sekunde hatte er mich eingeholt. Gemeinsam liefen wir durch die verwinkelten Korridore des Gruselschlosses. William wies den Weg, ich folgte schweigend.

Am Treppenabsatz, der zum nächsthöheren Stockwerk führte, hielt er unvermittelt inne und wandte sich zu mir um.

„Ist … ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich vorsichtig, als wüsste er nicht so recht, wie er sich an dieses delikate Thema heranwagen sollte. „Ich meine kommst du … kommst du klar?“

„Ich komme klar“, erwiderte ich und schenkte ihm ein schwaches, dankbares Lächeln.

Besser gesagt ich war so weit mental stabil, dass ich nicht jeden Augenblick in ein klägliches, weinendes Häufchen Elend zusammenbrechen würde, auch wenn mir innerlich nur noch zum Weinen zu Mute war. Mit den Erlebnissen dieses Wochenendes fertig zu werden, würde seine Zeit dauern.

William roch den Braten, das war in seinem Blick deutlich zu lesen. Trotzdem ließ er meine Antwort unkommentiert.

„Wenn sich das ändert, sagst du mir Bescheid, versprichst du mir das?“

„Versprochen.“

Auf dem Dach angekommen, warteten Yvaine, Nicolai und die beiden Wölfe bereits neben dem Helikopter auf uns.

„Ich danke euch. Ihr habt mir in den vergangenen Tagen einen großen Freundschaftsdienst erwiesen. Das werde ich euch nicht vergessen.“

William deutete eine Verbeugung in Richtung der beiden an.

Nicolai nickte anerkennend.

„Pass gut auf dein Menschenmädchen auf. Bei der ersten Schlacht konnten wir euch den Rücken stärken, doch es werden noch viele folgen“, gab Yvaine enthusiastisch wie immer zurück. Anschließend richtete sie ihre undurchdringlichen, hellblauen Augen auf mich.

„Wir werden uns bald wieder sehen, Mensch. Gib bis dahin auf dich Acht. Du hast dir letzte Nacht viele Feinde gemacht. Es wird nicht lange dauern, ehe die ersten auf deiner Türschwelle stehen.“

Feinde?

Einer der Wölfe legte den Kopf schräg, und es sah fast aus, als male er sich die Szene gerade bildlich aus. Ich glaubte, so etwas wie Mitleid in seinen Zügen zu erkennen.

„Auf Wiedersehen, Bruder“, verabschiedete sich Nicolai.

In der nächsten Sekunde waren die beiden verschwunden.

Ohne viele Worte half William mir ins Flugzeug, und kurz darauf hoben wir ab in einen wolkenverhangenen Nachthimmel.

„Was hat sie damit gemeint, ich hätte mir Feinde gemacht?“, platzte es aus mir heraus, sobald wir auf Flughöhe angelangt waren.

„Willst du wirklich jetzt darüber sprechen?“

Verdammt, das verhieß nichts Gutes.

„Ich will es wissen“, beharrte ich.

Zu warten würde das, was er mir zu sagen hatte, auch nicht besser machen. Außerdem würde es auf diese Weise Teil meines Horrorfilmwochenendes, und ich könnte es später leichter verdrängen.

„Keiner der Vampire ist an diesem Wochenende angereist um zu sehen, wie ein Mensch in ihrem Kreis willkommen geheißen wird“, begann William widerstrebend. Ein entschuldigender Ausdruck zeichnete Falten auf seine sonst so ebenmäßige Stirn. „Jeder von ihnen hat das Ganze für ein nettes Spielchen gehalten, bei dem du am Ende sterben würdest. Dass sich das Blatt überhaupt zu deinen Gunsten drehen könnte, hatte niemand erwartet. Ein kleines Menschenmädchen hat einen Haufen hochrangiger Vampire vorgeführt. Diese Schande werden sie nicht auf sich sitzen lassen …“

Das war also der Preis, den ich für mein Überleben zahlen musste – der halbe Vampiradel hasste mich! Natürlich hatte ich nicht erwartete, dass sie mich mit offenen Armen willkommen heißen würde. Ich hatte nicht einmal erwartet, dass sie mich mögen würden, aber hassen? Ich hatte mich auf ihre Seite geschlagen, verdammt noch mal!

„Warum … warum hat der König mich dann gehen lassen?“

Handelte er damit nicht gegen seine eigenen Leute? Aber mir Vorträge über Loyalität halten!

„Ich weiß es nicht“, gestand William, und die Furchen in seiner Stirn vertieften sich. „Wie ich ihn kenne, hat er noch Pläne für dich. Er hätte dich nie gehen lassen, wenn nicht auch etwas für ihn dabei herausgesprungen wäre.“

Warum hatte ich bloß auf einmal den Eindruck, dass ich eigentlich gar keinen Grund hätte mich darüber zu freuen, dass ich noch lebte?

„Für den Moment sollten wir einfach dankbar sein, dass wir dich da heil wieder rausgebracht haben.“

Wahrscheinlich hatte er recht, aber keiner von uns sah in diesem im Moment besonders dankbar aus. Das unbekannte Unheil, das noch vor uns lag, schwebte wie eine düstere Wolke über uns. Wann würde sie über uns hereinbrechen? Und was noch viel beunruhigender war: Was würde passieren, wenn sie es tat?

In Newport wurden wir, wie vorher ausgemacht, wieder von den drei Vampiren in Empfang genommen, die uns auch schon vorgestern zu Diensten gewesen waren. Unser Wagen war bereits aus der Halle gefahren worden, und wenig später fuhren wir auf dem Highway zurück in Richtung Seattle.

Auf halber Strecke klingelte Williams Handy.

„Gabriel, was gibt es? … Es geht ihr gut, ja … Was? Verdammt! …“

Erschöpfung.

Drei geschlagene Minuten lang (ich hatte auf die Funkuhr am Armaturenbrett geschaut) hörte er nur schweigend zu.

„Verstehe. Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen und zu euch kommen, sobald es mir möglich ist!“

William legte auf und sah mich unheilverkündend an.

„Christine ist weggelaufen.“

„Was meinst du damit sie ist weggelaufen?“, fragte ich entsetzt.

„Christine und Josef haben sich genährt. Sie ist auf einmal ausgerastet, hat die Kontrolle verloren und ihren Menschen umgebracht. Anschließend ist sie geflohen. Das war gestern Abend. Seitdem gab es kein Zeichen von ihr“, fasste William zusammen, was er soeben erfahren hatte.

Christine wusste, was für eine Gefahr sie darstellte. Jahrelang hatte sie im Verborgenen gelebt, um die Menschen vor ihrem blutdürstigen Wesen zu schützen. Warum sollte sie auf einmal weglaufen? Es war ja nicht so, als wäre es ihr erster Mord gewesen …

„Um Christines geistige Gesundheit steht es nicht zum Besten“, schob er ernst nach. Offensichtlich hatte William das große Fragezeichen in meinem Blick gesehen.

„Es ist schwer genug in dieses dunkle Leben überzutreten, selbst wenn dir der Einstieg so komfortabel gemacht wurde wie mir. Christines Übergang … verlief nicht so gnädig. Die finsteren Details erspare ich uns an dieser Stelle. Jedenfalls muss sie sowohl gegen ihre unbezähmbare Natur ankämpfen, als auch gegen die Geister ihrer Vergangenheit – eine Doppelbelastung, der vermutlich die wenigsten auf Dauer standhalten könnte.“

„Habt ihr keine Idee, wo sie sein könnte?“

William schüttelte betrübt den Kopf.

„Gabriel und Helen haben den ganzen Wald nach ihr abgesucht, aber keine Spur von ihr entdeckt. Sie war noch nie in der Stadt, sie könnte überall sein.“

„Ich könnte mir Logan’s Wagen leihen und euch bei der Suche helfen. Vielleicht …“, bot ich sofort an, doch William unterbrach mich unwirsch.

„Du wirst nicht in ihre Nähe kommen! In dieser Verfassung ist sie unberechenbar! Ich habe dich gerade heil aus einer Todesfalle heraus manövriert, da lasse ich dich nicht blindlings in die nächste rennen! Christine könnte dir ernsthaft schaden, und das würde bestimmt niemandem helfen, am wenigsten ihr!“

Seine eisblauen Augen funkelten mich an, eine stumme Warnung. In Gedanken verdrehte ich die Augen im Kopf. Nicht das schon wieder!  

„Christine würde mir nie etwas antun! Vielleicht kann sie meine Kraft beruhigen, sobald sie mich sieht“, ließ ich mich nicht von ihm einschüchtern.

„Darüber gibt es keine Diskussion! Ich verbiete dir, sie zu suchen!“

„Du verbietest es mir? Was bitte gibt dir das Recht, mir irgendetwas zu verbieten?“, schleuderte ich aufgebracht zurück.

„Ich habe jetzt keine Lust, mich mit dir zu streiten! Du gehst sie nicht suchen, und damit hat es sich!“

Sein Blick war hart wie ein Felsbrocken. Egal was ich sagte, er würde seine Meinung nicht ändern. Fein, sollte er doch glauben, ich würde vor ihm kuschen! Ich hatte diese ewigen Diskussionen so satt!

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, konzentrierte mich auf meinen Atem, bis ich glaubte, mich im Griff zu haben, und brachte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Bitte, wie du willst.“

William hob argwöhnisch eine Augenbraue.

„Ich werde sie nicht suchen gehen“, versprach ich, während ich heimlich Zeigefinger und Mittelfinger überkreuzte. „Aber wenn du sie nicht heil wieder nach Hause bringst, bekommst du es mit mir zu tun!“

William schnaubte abfällig.

„Für so eine kleine, zierliche Person bist du ziemlich anstrengend, weißt du das?“

Er wandte sich wieder dem Highway zu und murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Ich verschränkte säuerlich die Arme ineinander und ließ mich tiefer in den Sitz sinken.

Für wen hielt er sich eigentlich? Von wegen ich gelobe Besserung! Dieser selbstherrliche, arrogante Fatzke! Der würde sich noch wundern …

Die restliche Fahrt über herrschte eisernes Schweigen. Am frühen Morgen erreichten wir Seattle.

„Ruh dich aus, die letzten Tage waren anstrengend für dich“, meinte William, bevor er die Kindersicherung entriegelte und mich aussteigen ließ.

„Es geht mir gut“, gab ich schnippisch zurück, eher aus Trotz als dass es der Wahrheit entsprochen hätte.

„Ich werde im Laufe der Nacht bei dir vorbeischauen und dich über Christine auf dem Laufenden halten“, entgegnete er ungerührt.

„Tu das.“

Bei dem Gedanken daran, dass ich sie vielleicht vor ihm finden würde, musste ich ein überhebliches Grinsen unterdrücken. Aber zum Glück war ich immer noch so sauer, dass meine Züge mir nicht entglitten.

„Habt ihr eine Waffe in der Wohnung?“, wollte er von mir wissen.

„J-ja, eine …“, gab ich ehrlich zurück. Logan hatte sie als Jugendlicher von seinem Vater bekommen, einem passionierten Schützen.

William nickte anerkennend.

„Trage die Waffe bei dir, bis wir Christine gefunden haben“, ordnete er an. „Ich glaube nicht, dass sie dich aufsuchen wird, aber falls doch darfst du auf keinen Fall zögern, abzudrücken, sobald du sie zu Gesicht bekommst! Du darfst kein Mitleid zeigen, sie ist momentan nicht sie selbst!“

Ich sah ihn schockiert an. Offenbar hatte das Wochenende seine Paranoia auf eine völlig neue Stufe gehoben.

„Versprich es!“, verlangte William, den Blick eindringlich in meinen gebohrt, und packte mich grob an den Schultern.

„Ich … ich verspreche, dass ich auf mich Acht geben werde“, winde ich mich um seine grausige Forderung herum, denn ich würde ganz bestimmt keine Waffe auf Christine richten. Zu meiner Erleichterung schenkte William meiner Wortspielerei keine Beachtung und schien beruhigt.

„Wir werden sie finden, keine Sorge!“

Fragt sich nur, wer zuerst …, stimme ich in Gedanken zu.

 

Das Glück schien heute tatsächlich auf meiner Seite zu sein, denn die Einkaufsliste der WG war proppenvoll. Als ich dann am frühen Abend unter dem Vorwand, dringend etwas Abwechslung von dem nervenaufreibenden „Krankenhauswochenende“ zu brauchen, anbot einkaufen zu gehen, hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Logan händigte mir ohne groß zu überlegen die Schlüssel seines Wagens aus, und so machte ich mich gleich nach dem Abendessen auf den Weg.

Im Akkordtempo arbeitete ich die Besorgungen ab, bis ich nur eine halbe Stunde später völlig verschwitzt alles in den Kofferraum lud. Verzweiflung war ein guter Ansporn, wie sich herausstellte. Ich sah auf die Uhr. Neunzig Minuten. Ich hatte neunzig Minuten, um Christine zu finden, ohne dass mein Fehlen bei den anderen größere Wellen schlagen würde.

Anfangs wusste ich nicht so recht, wo ich anfangen sollte, also fuhr ich mehr oder weniger planlos durch die Straßen. Beim Warten an einer roten Ampel kam mir schließlich eine Eingebung. Ich erinnerte mich an ein Gespräch, dass ich vor einigen Wochen mit Christine geführt hatte.

„Der!“, meinte Christine und zog eine DVD aus dem riesigen Stapel von Filmen, die wir uns aus dem Fundus von Gabriel gemopst hatten. Für heute stand Movie-night auf dem Programm. Wir hatten gelost, und Christine hatte sich das Recht erspielt, auszusuchen.

„Der Kaufhaus Cop?“, fragte ich verunsichert.

„Warum nicht?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich hatte dich nicht für die Art von Person gehalten, die auf so was steht“, gab ich ehrlich zurück.

Christine lächelte verhalten.

„Im Grunde hast du Recht. Es ist nur … Mir gefällt das Setting. Ich war noch nie in einem Kaufhaus, weißt du?“

Eigentlich hätte ich mir so etwas denken können, dachte ich und schimpfte mich für meine Ignoranz. Christine hatte mir einmal erzählt, sie habe den Wald seit ihrem Einzug vor langer Zeit noch nie verlassen. Aber wenn wir wie heute beisammen saßen, Filme aussuchten oder Josef beim Zocken zusahen, war es so einfach zu vergessen, dass sie alle keine Menschen waren.

„Wenn ich den Film sehe, dann kann ich mir vorstellen … na ja, dass ich auch dort wäre. Dass ich … Dass ich normal wäre.“

Ich schrak zusammen, als es hinter mir dreimal laut hupte. Die Ampel hatte inzwischen längst wieder auf Grün umgeschaltet.

Schnell gab ich Gas. Immerhin hatte ich jetzt ein konkretes Ziel: Kaufhäuser.

Eine Stunde später kämpfte ich mich bereits durch mein sage und schreibe drittes Einkaufszentrum. Dafür, dass es bereits kurz nach acht war, liefen die Geschäfte immer noch beachtlich gut, was meine Suche jedoch nicht gerade leichter machte. Anfangs hatte ich bei diesem hier ein richtig gutes Gefühl gehabt, aber nach meiner zweiten Runde quer durch alle Stockwerke war von Enthusiasmus nicht mehr besonders viel zu spüren. Auch die neunzig Minuten waren fast abgelaufen.

Ich wollte schon weiterziehen, als ich zufällig dem Blick eines kleinen Mädchens folgte, das quengelnd an der Hand seiner Mutter zog. Das Kind deutete erstaunt auf das große Glasdach, das den Mittelteil des Gebäudes überspannte.

„`benst, `benst!“

„Jetzt nicht Schatz, Mami will nach Hause.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus als ich erkannte, was die Aufmerksamkeit der Kleinen in seinen Bann gezogen hatte. Christine.

Sie stand am Rande des Glasdaches. Ihr Blick schweifte gedankenverloren über die vielen Kauflustigen, ihr markantes, braunes Haar fiel ihr in großen Wellen über die Schultern. Ein weißes, knielanges Kleid zierte ihren zarten Körper – oder besser gesagt, es musste einmal weiß gewesen sein. Jetzt war es über und über mit Rot bedeckt.

Gespenst. Das war es, was das kleine Mädchen hatte sagen wollen.

Christine schien mich in der Menschenmenge unter ihr nicht ausgemacht zu haben. Wenn ich mich beeilte, konnte ich sie vielleicht noch erwischen. Ich griff auf meine letzten Kraftreserven zurück und rannte, so schnell es mir meine müden Beine erlaubten.

An der Wand und auf dem Boden des Treppenhauses klebte frisches Blut, aber ich ignorierte es und rannte weiter.

Christine würde mir nie etwas tun!, sagte ich mir voller Überzeugung, wie ich es auch William zuvor gesagt hatte. Sie braucht meine Hilfe, sonst werden noch mehr Menschen sterben!

Die Tür zum Dach war nicht verschlossen. Wie in Zeitlupe trat ich ins Freie.

Der Stoff, der sich zuvor so weich an meine Haut geschmiegt hatte, klebte nun unangenehm an mir. Zitternd betrachtete ich meine Hände, die mit dem warmen Blut des Opfers getränkt waren. Dieselbe Wärme, spürte ich wenige Sekunden später auch um meine nackten Füße. Ich senkte den Blick. Dort lag mein Punkmädchen, leblos in sich zusammengesunken auf dem kalten, grauen Beton. Ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie den Tod nicht hatte kommen sehen. Im Hals klaffte eine hässliche Fleischwunde, aus der noch die letzten Reste ihres Lebens flossen.

Rot. Ich sah buchstäblich nur noch rot.    

Ich rannte. Ich schrie. Ich weinte.

Wald. Häuser. Menschen.

Durst.

Das Einkaufszentrum. Ein Restaurant. Ein Kühlraum.

Eine Metalltür wurde aufgeschoben.

Mehr Rot.

Ein Glasdach. Viele kleine, geschäftige Menschen.

Ich.

Wie immer dauerte der Ansturm der fremden Bilder nur den Bruchteil einer Sekunde. Als ich wieder ich selbst war, blickte ich in zwei vertraute, rote Augenpaare.

Christine stand noch immer vor der großen Glaskuppel, lediglich den Kopf hatte sie mir zugewandt. Sie sah mich traurig an. Ich lächelte ermutigend. Ich konnte kaum fassen, dass ich sie tatsächlich gefunden hatte.

„Christine?“

Langsam trat ich einige Schritte näher und streckte ihr die Hand entgegen.

„Es wird alles wieder gut“, sprach ich beruhigend auf sie ein. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“

Unbewegt blieb sie stehen, den Blick starr auf mich geheftet.

Trauer. Verzweiflung. Schmerz. Wut.

Christine wandte sich ganz vom Glasdach ab und stand im nächsten Augenblick direkt vor mir. Ein Zischen entfuhr mir, als meine ausgestreckte Hand, die sie einfach grob beiseite geschlagen hatte, äußerst unangenehm zu brennen begann. Ihre Regenbogenhaut glühte noch immer wie das Feuer der Hölle. Zu spät erkannte ich die Raserei in ihren Zügen, der Schleier des Wahnsinns, der sich über ihre Gedanken gelegt hatte. Es war, als sei sie von einem dunklen Nebel umgeben, den ich nicht durchdringen konnte. Sie war unberechenbar – und ich konnte nichts dagegen tun!

Ihr Schmerz wurde zu meinem, als sie unbarmherzig ihre spitzen Fingernägel in meine Schultern und meinen Hals bohrte, gefolgt von ihren Zähnen. William hatte Recht gehabt. Ich hätte niemals herkommen dürfen.

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2015

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