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Prolog

Kaum dass sich die Limousine in Bewegung setzt, wechselt die Schrift auf dem Bildschirm von (21) Spaziergang zu (22) Pressekonferenz SAB. Er seufzt resignierend. Es ist bereits halb vier und die Liste geht heute bis (51), er wird also wieder Überstunden machen müssen. Andererseits, wann hat er das in letzter Zeit nicht getan?

Gedankenverloren greift er nach seinem Handy, stöpselt die Kopfhörer ein und drückt bei seinem Lieblingslied auf Dauerschleife. „I want my life“ von Smile Empty Soul.

 

„… This world is crazy, crazy … My dreams are fading, fading … I want my life …“

 

I want my life. Eigentlich ein bescheidener Wunsch, sollte man meinen, und doch wird er für ihn niemals in Erfüllung gehen. Sein Leben gehört ihm nicht, wird ihm niemals gehören. Das ist das grausame Schicksal, mit dem er geboren wurde.

Es dauert nicht mehr als eine viertel Stunde, ehe der luxuriöse Wagen auf das Firmengelände einbiegt, dass bereits von den Medien belagert wird. Gekonnt schlüpft der Chauffeur an den Reportern vorbei zum Hintereingang, wo eine Horde von Anzugträgern den hohen Gast bereits sehnsüchtig erwartet.

Nachdem er der halben Führungsetage die Hände geschüttelt hat und wieder und wieder mit Dankesreden überhäuft worden war, bringt man ihn endlich dorthin, wo die Pressekonferenz stattfinden soll. Selbstsicher tritt er vor die Kameras und lässt einen Blick gebieterischen über die Anwesenden schweifen. Was für eine Zeitverschwendung. Am Ende wird sich ohnehin niemand mehr an ihn erinnern.

Er setzt sein charmantestes Lächeln auf und beginnt mit seiner Rede.

Kapitel 1

Aufstrebender Jungmanager rettet Softwareriesen vor Ruin“, liest meine Mutter verwirrt die Überschrift des Zeitungsartikels, den ich ihr aufgeregt vor die Nase halte.

„Schön für ihn“, kommentiert sie nüchtern.

Ich verdrehe frustriert die Augen und deute energisch auf die winzige Schrift, die sich unter dem Bild des Artikels befindet.

 

Foto: Hannah Ahrens.

 

Sofort lässt sie die Kaffeemaschine links liegen und wendet sich mir vollends zu. Ein stolzes Lächeln lässt ihre sanften, mütterlichen Züge erstrahlen.

Ich grinse breit, drücke mir die Zeitung an die Brust und beginne, vor Freude dümmlich von einem Bein aufs andere zu springen, ehe ich meiner Mutter übermütig um den Hals falle. Als sie sich von dem Schock erholt hat, streichelt sie mir liebevoll über das Haar, wie sie es oft tut.

„Ich freu mich, dass es für dich so gut läuft. Ich bin unglaublich stolz auf dich, Schatz.“

Nachdem ich sie aus meiner stürmischen Umarmung entlassen habe, streckt sie fordernd die Hand aus.

„Na dann lass mich mal einen genaueren Blick auf dein neustes Meisterwerk werfen“, bittet sie.

Ich reiche ihr die zerknüllte Zeitung und sie inspiziert das Bild nun eingängiger als zuvor.

„Ein schnuckeliger Bub“, lautet schließlich ihr Urteil.

Mama!“, beschwere ich mich.

 Sie räuspert sich und setzt eine gespielt seriöse Miene auf.

„Ich meinte natürlich: Oh, dieser perfekte Winkel! Und erst die Beleuchtung!“

„Danke sehr.“

„Ah, apropos Jungs … “

Sie wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu.

„Nicht das schon wieder!“, stöhne ich.

„Ich meine ja nur“, wehrt sie kleinlaut ab. „Die Geschichte mit Daniel ist inzwischen drei Jahr her, es wird so langsam Zeit, dass du darüber hinwegkommst!“

Sie nickt in Richtung des Fotos.

„Der sieht doch zum Beispiel ganz nett aus. Würde dir so ein Typ nicht gefallen? Du hast bei deinen Jobs doch öfter mit solchen hübschen Kerlen zu tun, hat sich da noch nichts …“

„Erstens bin ich gerade mal fünfundzwanzig, ich hab es also nicht eilig …“, unterbreche ich sie wirsch, wütend darüber, dass sie dieses leidige Thema ansprechen musste „… und zweitens hab ich zur Zeit schon genug mit meinem Job um die Ohren. Eine Beziehung fehlt mir jetzt gerade noch!“

Ich lange an meiner Mutter vorbei in die Obstschale und kralle mir einen Apfel.

„Ich muss wieder los.“

Ich gebe meiner verdatterten Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Die schüttelt nur empört den Kopf.

„Hach, dieses Kind …“

„Falls sich doch etwas ergeben sollte verspreche ich dir, dass du die Erste bist, die davon erfährt!“, verabschiede ich mich mit einem versöhnlichen Zwinkern.

„Und nur damit du es weißt: Ich bin darüber hinweg!“,  schiebe ich eindrücklich nach, ehe ich aus der Tür husche.

 

 

 

„Okay Leute, das Ding ist im Kasten! Gute Arbeit! Geht in eure verdiente Mittagspause!“

Die Models atmen erleichtert aus und lassen sich ihre Bademäntel bringen.

„Willst du die Lampen gleich für den nächsten Shoot arrangiert haben?“, fragt Thomas, der Chefbeleuchter.

Ich schüttle den Kopf.

„Du und deine Jungs habt euch auch eine Pause verdient. Wir kümmern uns später drum.“

Er nickt dankbar und bedeutet seinem Team, ihre Plätze zu räumen. Als sie das Studio verlassen, sehe ich ihnen wehmütig nach. Ich werde meine Pause mal wieder damit verbringen, das Material zu sichten.

Ein Räuspern lässt mich erschrocken zusammenfahren. Thomas steht noch immer neben mir und wirft mir einen tadelnden Blick zu.

„Ich kenne da noch jemanden, der sich eine Pause verdient hat. Auf, komm, deine Fotos laufen dir schon nicht weg!“

„Aber …“

Er lässt meinen Protest verstummen, indem er mich entschieden am Arm packt. Ich brummle missmutig, lasse mich dann aber willig mitziehen. Der Gedanke an eine kurze Auszeit ist zu verlockend.

Im Gemeinschaftsraum riecht es verführerisch nach chinesischem Fastfood. Alle machen sich bereits hungrig mit ihren Stäbchen über die Pappschachteln vom Lieferservice her.

„Ach, die Frau Fotografin beehrt uns auch mal wieder mit ihrer Anwesenheit! Wie hast du diesen Workaholic aus seiner Dunkelkammer bekommen, Boss?“, stichelt Sascha, einer der Techniker.

Ich boxe ihn freundschaftlich in die Schulter und setze mich auf den freien Platz neben ihn.

„Etwas mehr Respekt bitte, Herr Techniker!“, steige ich auf sein Spielchen ein. „ Außerdem hab ich erst letzte Woche mit euch gegessen!“, verteidige ich mich.

„Ja, weil wir dir den Saft abgedreht haben!“, schießt er zurück.

„Was ich übrigens immer noch unverantwortlich finde!“

Ich hatte fast einen Herzinfarkt bekommen, als der Bildschirm plötzlich schwarz geworden war.

Sascha lacht.

„Du hättest dein Gesicht sehen sollen – unbezahlbar, echt!“

Ich verpasse ihm einen zweiten Haken, diesmal mit deutlich mehr Schubkraft.

„Blödmann!“

Die anderen fallen in sein Lachen ein, und auch der gutmütige Thomas kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Ja, ja, lacht ihr nur, aber so was …“, ich reiße Harald, unserem Elektriker, die Zeitung von gestern aus der Hand, um allen mein Foto zu zeigen, „… so was erreicht man eben nur mit harter Arbeit und Disziplin!“

Sascha grinst schief.

„Zugegeben, das muss man dir lassen, du hast es geschafft selbst aus dem hässlichen Ackergaul noch was rausholen“, gibt er schließlich klein bei, während er zum Zeichen des Friedens ergeben die Hände hebt. Einige der Jungs nicken zustimmend. Das Triumphgefühl, dass in meiner Brust anschwillt, nimmt ein jähes Ende, um Verwunderung Platz zu machen. Das war eigentlich nicht der Punkt gewesen, auf den ich hatte hinaus wollen...

Augenblick, hat er etwa gerade hässlicher Ackergaul gesagt? Wovon zum Geier reden die da?

Ich drehe die Seite so, dass ich mein Foto selbst sehen kann – nur, dass es nicht mein Foto ist! An Stelle des jungen, attraktiven Managers lächelt mir nun ein alter, dicklicher Herr mit Halbglatze entgegen. Auch die Überschrift des Artikels ist verändert worden: Neugewählter Vorstandsvorsitzender der SAB betreibt souveränes Krisenmanagement und rettet 10.000 Arbeitsplätze.Nur mein Name unter dem Bild ist geblieben.

Ich blinzele mehrmals und sehe den fremden Mann auf dem Papier fragend an. Entgeistert blättere ich einige Seiten vor und zurück. Nein, ich bin definitiv auf der richtigen Seite!

„Das … das ist nicht mein Foto!“, stammle ich leise.

Was? Aber hast du dir die Zeitung nicht gestern schon angesehen? Wie kann dir das dann erst jetzt auffallen?“, fragt Sascha verwundert. 

„Natürlich hab ich sie mir gestern angesehen, aber da war noch ein anderes Foto drin!“, verteidige ich mich, obwohl ich weiß, wie verrückt das klingt.

Die Jungs sehen mich besorgt an.

„Alles okay bei dir?“, erkundigt sich Thomas vorsichtig.

Ich gebe die Zeitung wieder ihrem Besitzer zurück und stehe auf.

„Klar, alles bestens! Ich … ich muss schnell für kleine Fotografinnen!“, entschuldige ich mich, bevor ich Hals über Kopf aus dem Raum stürzte. Ich habe noch nie zu den Geduldigen gehört. Ich will die Sache jetzt sofort geklärt haben.

Ich hab`s doch gestern mit meinen eigenen Augen gesehen! Ich hab mich ja sogar noch morgens mit Mama drüber unterhalten!

In Gedanken schlage ich drei Kreuze, dass ich meine Bilder immer über einen längeren Zeitraum auf meinem Laptop speichere. Ich gehe zurück ins Studio, kralle mir meinen treuen, technischen Helfer und öffne rasch den betreffenden Ordner.

Das kann nicht sein!

Beinahe wäre mir das Gerät von den Knien gerutscht vor Schock.

 Wie zum Geier kommt das in meinen Laptop? Ich habe diesen Mann noch nie in meinem ganzen Leben gesehen!

Alle meine Dateien waren passwortgeschützt, da konnte also niemand ohne meine Einverständnis ran. Was zum Teufel geht hier vor sich?

Ich beschließe, es mit Googlen zu probieren.

Wie hieß dieser Typ noch gleich? Irgendwas russischklingendes … Morjov … Morsov … Marsov … Markov … Markov, ja, genau, das war´s! Julian Markov!

Heraus kommen diverse Blogs und Facebookprofile, aber keiner dieser Männer hat auch nur entfernt Ähnlichkeit mit dem, den ich suche.

Frustriert klappe ich den Bildschirm zu und raufe mir die Haare. Entweder ist hier irgendetwas Krummes am Laufen, oder ich leide an einem extremen Fall von Überarbeitung.

Heute Abend genehmigst du dir ein Gläschen Wein vor dem Fernseher und dann gehst du früh ins Bett. Wer weiß, vielleicht sieht die Welt morgen früh ja wieder ganz anders aus?

 

 

Bedauerlicher Weise bleibt die Welt dieselbe. Niemand will je etwas von Julian Markov gehört oder gesehen haben. Es ist fast so, als habe er sich wie von Zauberhand in Luft aufgelöst. Habe ich ihn mir wirklich nur eingebildet?

Stolz und Vorurteil – eine Romantikerin also.“

Überrascht sehe ich zu dem jungen Kellner auf, der mit einem Putztuch in der Hand einsatzbereit auf meinen Tisch starrt.

„Jedes Mädchen hat doch irgendwo eine kleine Romantikerin in sich“, erwidere ich schulterzuckend und rutsche mit meinem Stuhl ein wenig zurück, um ihm genug Platz zu machen. Ein Buch zu lesen und dabei Kuchen zu essen hatte sich als keine so gute Idee herausgestellt.

Nachdem ich gestern durch meine Abgelenktheit mal wieder ein Shooting unnötig in die Länge hatte ziehen müssen, bis wir endlich ein gutes Ergebnis erzielt hatten, und damit Thomas und seinen Jungs Überstunden aufgebrummt hatte, hatte mich der Chefbeleuchter nach getaner Arbeit zur Seite gezogen, um mir freundschaftlich die Leviten zu lesen.

„Weißt du, was du jetzt dringend brauchst? Einen Tag für dich! Lass die Arbeit mal für einen Nachmittag liegen und mach deinen Kopf frei. Geh Sport machen, ins Kino oder spazieren. Entspann dich“, hatte er mir mit einem väterlichen Schulterklopfen empfohlen. „Das wird dir gut tun, glaub mir!  Danach ist dieser Julian bestimmt Schnee von gestern.“

„Vielleicht hast du ja Recht“, hatte ich schließlich klein bei gegeben. „Ein freier Tag hat sicherlich noch niemandem geschadet.

Gesagt, getan. Nun sitze ich hier in meinem Lieblingscafé in der Heidelberger Einkaufspassage und schmökere in Jane Austens berühmtester Schnulze.

Während der Kellner meinen Tisch von dem Krümelmeer befreit, das ihn überflutet hat, klopfe ich mir rasch die letzten Reste von meinem Pulli. „Man sollte nicht meinen, wie alt du bist!“, höre ich die Stimme meiner Mutter schimpfen.

„Ich hab sie vorher noch nie hier gesehen, sind sie neu?“, frage ich, um meine Befangenheit zu überspielen.

Der Kellner fegt mit einem letzten Schwung die übrigen Essensreste vom Tisch, ehe er zu einer Antwort anhebt: „Ja, ich hab letzte Woche hier angefangen.“ Sein Lächeln verrät, dass er sehr wohl um meine Scham weiß. „Ich bin Noah.“

Er streckt mir selbstsicher seine Hand entgegen.

„H-Hannah“, gebe ich unsicher zurück und beeile mich, seine Geste zu erwidern. Oh Gott, flirtet der Kerl etwa mit mir?

Mit seinem selbstsicheren, verspielten Auftreten, dem Hippsterlook und seiner braunen Sturmfrisur hätte er so einige Models in den Schatten gestellt, die ich schon vor der Linse hatte.

„Hast du einen Freund?“, will er wissen. Damit hätte sich die Frage dann wohl geklärt.

„Ähm …“

Das genügt ihm offenbar als Antwort.   

„Jutta, ich nehm meine Pause!“, ruft er der Bedienung hinter dem Tresen zu. Die nickt kurz und macht sich wieder daran, das Geschirr zu spülen.

Noah entledigt sich rasch seiner Schürze und setzt sich. Bei so viel Abgebrühtheit kann ich ihn nur sprachlos anstarren.

„Also, Hannah, was machst du beruflich?“

„Fotografieren. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt,

dass du erschreckend direkt bist?“

„Ist das denn was Schlechtes?“

„Nein, nur … ungewöhnlich“, suche ich nach dem richtigen Wort.

„Ich nehm das jetzt einfach als Kompliment“, gibt er gut gelaunt zurück.

„Und was machst du so außer Kellnern?“, will ich von ihm wissen.

„Wer sagt denn, dass ich noch etwas anderes mache?“

Ich spüre förmlich, wie mir die Röte in die Wangen schießt.

„A-also nicht, dass Kellner kein ehrenwerter Beruf wäre! Ich dachte nur …“, lasse ich den Satz unvollendet.

„Ich studiere BWL in Mannheim“, erlöst er mich schließlich mit einem verschmitzten Grinsen von meinem Leid. Dann wird er plötzlich ernst.

„Läuft es mit der Fotografie zurzeit nicht so gut?“

Erschrocken starre ich ihn an.

„Woher …?“

Er tippt sich an die Nase.

 „Sagen wir ich hab ein Gespür für so was. Wo liegt das Problem? Keine Inspiration?“

„Wenn es nur das wäre … Du hast nicht vielleicht zufällig einmal etwas von einem Julian Markov gehört, oder?“

Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, einen eigenartigen Glanz in Noahs Augen aufblitzen zu sehen, aber er ist so schnell wieder verschwunden, dass ich mir sicher bin, es mir nur eingebildet zu haben.

„Sollte ich?“, entgegnet er.

Ich schüttle den Kopf.

„Vergiss es, ist nicht so wichtig …“

„Muss ich etwa eifersüchtig werden?“, hakt er nach.

„Jetzt, wo ich angefangen hab, muss ich die Geschichte auch zu Ende bringen, oder?“

Toll gemacht, Hannah, danach hält er dich für eine durch geknallte Psychopathin! Warum konnte ich nicht meine vorlaute Klappe halten?

„Na schön“, seufze ich ergeben. „Also die Sache ist die: Ich hab mir eingebildet, ihn fotografiert zu haben. Hast du von diesem Börsencrash der SAB gehört?“

„Am Rande.“

„Ich war als Fotografin zu der Pressekonferenz geladen, in der sie den Manager geehrt haben, der das sinkende Schiff wieder auf Kurs gebracht hat.“

„Julian Markov“, schlussfolgert Noah.

„Hundert Punkte. Jedenfalls haben sie mein Foto dann tatsächlich in der Zeitung abgedruckt, aber am nächsten Tag … naja, einen Tag später war ein anderer Mann auf dem Bild, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Aber niemandem außer mir ist das aufgefallen. Das klingt verrückt, oder?“

Noah zuckt nachlässig die Schultern.

„Es gibt Schlimmeres, als sich jemanden einzubilden.“

 „Trotzdem lässt es mir keine Ruhe mehr. Ich muss während der Arbeit ständig daran denken. So etwas ist mir noch nie passiert! Ich konnte eigentlich schon immer ziemlich gut mit Stress umgehen und ich liebe meinem Beruf über alles, aber die letzten Monate waren wohl doch einen Tick zu viel. Ich bin vor einem halben Jahr aus New York zurückgekommen und habe angefangen, hier als Freiberuflerin Fuß zu fassen, weißt du?“

„Deshalb hast du dir einen Nachmittag frei genommen, verstehe.“

„So sieht’s aus.“

„Aber ausgerechnet Jane Austen …“

Noah schüttelt angewidert den Kopf.  

„Sag mal hast du was gegen die arme Frau?“

Ich nehme den Themenwechsel dankbar an und bin erleichtert, dass er so gelassen auf diese eigenartige Geschichte reagiert hat.

„Ich bin in England geboren und aufgewachsen, da kommt man um die Gute nicht drum herum. Meine Mutter hat ihre Bücher rauf und runter gelesen und in der Schule war es das Lieblingsthema der Mädchen im Englischunterricht.“

Sein gespielt gequälter Gesichtsausdruck lässt mich auflachen. 

„Klingt echt nach einer harten Kindheit!“

„Du hast ja keine Ahnung!“, gibt er zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

„Wann bist du hergekommen? Dein Deutsch ist ziemlich perfekt, ich hätte nie herausgehört, dass es nicht deine Muttersprache ist!“

„Ich wurde zweisprachig erzogen. Meine Mutter ist Deutsche. Als ich mit der Schule fertig war, bin ich hierher zu meiner Großmutter gezogen. Sie hat sich schon immer gewünscht, dass ich später einige Jahre bei ihr wohne, und meine Eltern hielten es für eine wertvolle Erfahrung.“

„Hinter dem Lippenpiercing und den Tunneln versteckt sich also ein fürsorglicher Softie, interessant …“, necke ich ihn.

„Harte Schale, weicher Kern – steht ihr Mädels nicht auf so was? …“

 

 

„Ihr habt euch also unterhalten, bis seine Pause zu Ende war, und wie ging es dann weiter?“, will Tamara wissen, während sie eines meiner Models für das bevorstehende Shooting zu Recht macht. Mein Equipment steht bereits, also habe ich kurzerhand beschlossen, der Maske einen Besuch abzustatten.

„Er hat mich auf ein Date eingeladen – und ich hab zugesagt!“

„Gratuliere! Der Typ muss dich ja echt umgehauen haben wenn ich an die Armee von Kerlen denke, die du schon mit deiner Ich-bin-mit-meiner-Arbeit-verheiratete-Tour vergrault hast!“

„Das ist keine Tour sondern die Wahrheit, und wenn einer nicht Manns genug ist, mit einer Karrierefrau fertig zu werden, ist das sein Pech!“, verteidige ich mich.

„Was habt ihr beiden vor an eurem großen Tag?“

„Noah hat vorgeschlagen, dass wir uns morgens am Neckar treffen und uns zusammen den Sonnenaufgang ansehen“, schwärme ich vor mich hin.

„Und du bist dir sicher, dass du dir nicht schon wieder einen Typen eingebildet hast? Das klingt beinahe zu kitschig, um wahr zu sein!“

„Du bist ja nur neidisch! Und Noah ist sehr real!“, gebe ich beleidigt zurück. 

„Vielleicht ein bisschen“, gibt sie zu. „Ich weiß schon gar nicht mehr, wann mein Freund das letzte Mal überhaupt den Versuch unternommen hat, romantisch zu sein …“

Sie legt ihren Pinsel auf die Seite und betrachtet kritisch ihr Werk. Schließlich klatscht sie zufrieden in die Hände.

„So, fertig, du kannst in die Garderobe gehen.“

Schon ist das Model davon gerauscht.

„Wenn wir uns das nächste Mal sehen, musst du mir unbedingt erzählen, wie dein Date gelaufen ist, okay?“

„Mach ich.“

 

 

Mist! Mist! Mist! Verzweifelt sprinte ich über die Brücke Richtung Neckarwiese. Ich bin gute zwanzig Minuten zu spät.

Scheiß auf den Umweltschutz, das nächste Mal nehme ich das Auto! Es hat irgendwo auf der Linie einen Unfall gegeben, was meine Straßenbahn zum Stehen und mich zu unfreiwilligem Frühsport gezwungen hat. Vielleicht schickt mir der Himmel ein Zeichen, dass ich noch nicht bereit bin für einen neuen Mann in meinem Leben …  Schnell wimmle ich den Gedanken wieder ab. Versau es dir nicht, bevor es überhaupt begonnen hat!, ermahne ich mich. Vergiss diesen Scheißkerl Daniel endlich, es wird Zeit, nach vorne zu schauen!

„Autsch!“

Ein stechender Schmerz brandet über meinen Schädel hinweg und lässt mich laut aufheulen. Vor Schreck wäre ich um ein Haar hinten über gekippt, doch zwei kräftige Arme umfassen mich und halten mich aufrecht.Ich muss wohl in einen Fußgänger gekracht sein.

„Bitte entschuldigen Sie!“, stoße ich hechelnd hervor.

Beschämt hebe ich meinen hochroten Kopf – und sehe direkt in die eisblauen Augen von Julian Markov.

Kapitel 2

Du?!“

Erschrocken weiche ich zurück und sehe ihn fassungslos an. Ich habe ihn mir also doch nicht nur eingebildet! Da steht er vor mir in einen dunkelblauen Sportsweater gehüllt, live und in Farbe!

„Sie … Sie sind Julian Markov, oder?“

Er schaute so finster und despotisch drein, dass ich automatisch dazu übergehe, ihn zu siezen. Bei meinen Worten versteift er sich merklich, als habe ihn jemand auf frischer Tat ertappt.

„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln“, entgegnet er. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. „Machen sie das nächste Mal die Augen auf, wenn sie sich fortbewegen. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Tag.“

Er wendet sich ab und joggte weiter, als sei nichts gewesen. Einen Moment lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, baff von so viel Dreistigkeit, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Oh nein, Freundchen, so leicht kommst du mir nicht davon!

„Hey, bleib gefälligst stehen!“, schreie ich ihm hinter her, während ich die Verfolgung aufnehme, doch er ignoriert mich geflissentlich.

Als ich ihn schließlich eingeholt habe, greife ich nach seinem nackten Unterarm, um ihn gewaltsam zum Anhalten zu zwingen. Bist du taub?, will ich ihn wütend anschnauzen, doch die Worte schaffen es nicht mehr über meine Lippen. Kaum, dass meine Finger seine Haut berühren, setzt mein Herz wortwörtlich einen Schlag aus, ehe eine wahre Flut an Bildern und Geräuschen mein Gehirn überschwemmt, die alle parallel zueinander auf mich einströmen.

 

Zwei kleine Mädchen, die auf einem Spielplatz lachend fangen spielen, bis eine der beiden stolpert. Ein Geschäftsmann, der in einem Porsche über die Autobahn brettert, als gäbe es kein morgen mehr. Der gleiche Mann in einem heruntergekommenen Krankenhaus im Ausland – Indien vielleicht? – wo er mit einem Arzt spricht. Eine Friseuse beim Haareschneiden. Die Friseuse zu Hause beim Schreiben vor ihrem PC. Ein Mann und eine Frau, die sich streiten. Das gleiche Paar, wie es an der Wiege eines Säuglings steht. Eine… – Nein, stopp, aufhören! Es ist zu viel! Mein Kopf! Ich halte das nicht aus! –  … Schulklasse im Zoo. Ein brüllender Löwe, der auf ein offenes Gitter zuläuft. Ein Notarztwagen …

 

Ich halte mir meinen pochenden Schädel, während die Filme unbarmherzig weiterlaufen. Ich kann nicht einmal die Hälfte dessen, was sich da vor meinem geistigen Auge abspielt, überhaupt erfassen. Ich fühle mich plötzlich eigenartig fremd in meinem Körper, als hätte sich etwas an ihm verändert. Als würde er nicht mehr zu mir gehören. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Glieder, nistet sich auf jedem Winkel meiner Haut ein, als wolle er mich vollkommen verschlingen. Ich will diese unvorstellbaren Qualen herausschreien, doch meine Stimme will mir nicht gehorchen. Ich spüre, wie meine Energie mich verlässt und ich immer weniger um mich herum wahrnehme. Fühlt sich so das Streben an?

Dankbar ergebe ich mich dem herannahenden Schwarz, dass meinen Geist schließlich einhüllt und mich von den erdrückenden Einströmungen befreit.

 

 

Ich fühle mich träge und ausgelaugt, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir. Langsam und stöhnend öffne ich die Augen. Ich liege in einem großen Bett, eine Infusion in meiner linken Hand. Es fällt mir schwer, mein Denken auf etwas zu fokussieren. Noch immer rauschen unzählige Bilder und Geräusche durch meinen Kopf, und ich habe höllische Kopfschmerzen.

 

Das Fließband einer Fabrik, an dem Angestellte in Schutzanzügen Metallteile aussortieren. Eine Grillparty in einem hübsch geschmückten Garten. Ein Feuer. Eine Operationssaal – oh mein Gott, ich kann genau sehen, was die Ärzte tun, als stünde ich direkt daneben! – in dem geschäftiges Treiben herrscht. Ein Basketballspiel …  

 

Aber etwas ist anders, als beim letzten Mal. Die Filmausschnitte sind etwas unscharf. Das habe ich wohl diesem eigenartigen Nebel zu verdanken, der mein Gehirn zu umhüllen scheint. Hat man mich unter Drogen gesetzt?

Reflexartig fasse ich mir an die Schläfen, als könnte ich so endlich wieder einen klaren Gedanken fassen, und wippe mit meinem Oberkörper vor und zurück. Warum könnt ihr nicht endlich weggehen? Bitte, verschwindet, es ist zu viel! Zu viel! Mach, dass es aufhört! Oh bitte, lieber Gott, mach, dass es aufhört!

„Bitte beruhigen sie sich, junges Fräulein! Sie werden sich noch verletzen!“

Eine Krankenschwester ist neben mir aufgetaucht, packt mich grob an den Händen und versucht verzweifelt, mich ruhig zu bekommen.

„Viel … es ist zu viel … es tut so weh …“, wimmere ich und wippe eisern weiter.

Die Schwester lässt von mir ab, eilt zum Nachttisch und greift nach etwas, das wie eine Fernbedienung aussieht. Sie drückt einige Male heftig auf einen großen, roten Knopf, dann versucht sie erneut, mich still zu bekommen.

„Bitte, so beruhigen sie sich doch!“, fleht sie.

In der nächsten Sekunde kommt ein Arzt in das Zimmer gestürmt, gefolgt von zwei weiteren Schwestern – und Julian Markov. Ich höre auf zu wippen und sehe ihn voller Entsetzen an. Er ist schuld. Er hat mir das angetan. Er hat irgendetwas mit mir gemacht. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich nicht in einem Krankenhaus befinde. Das Zimmer ist vornehm eingerichtet mit einem alten Holzschrank und einer Kommode, auf der ein hübscher Strauß Blumen vor sich hin blüht. Die Decke ist mit Stuck verziert, und durch das Fenster, an dem sich lange, cremefarbene Vorhängen befinden, sehe ich einen vornehmen Garten hinaus. Wo zur Hölle hat man mich hingebracht? Und warum?

„Wo … wo bin ich?“, presse ich zwischen den Zähnen hervor.

„Ihr seid zu Hause, wo ihr …“, setzt die Schwester neben mir an, doch ich lasse sie nicht ausreden.

„Nein! Das … das ist nicht mein zu Hause!“, widerspreche ich rasch, bevor der Gedanke wieder von den Bildern überdeckt werden kann. Wieso fällt es mir so furchtbar schwer, mich auf so eine simple Sache zu konzentrieren? Das ist so verdammt frustrierend!

„Sagen sie mir, wo ich bin! … Wo bin ich?“, schreie ich verzweifelt, als könnte ich der Qual so ein Ende setzen und wieder Ordnung in meinen Kopf zwingen.

Die Schwester sieht mich nur ratlos an, mein Ausbruch hat sie nun endlich zum Schweigen gebracht. Mein Blick wandert von der verstummten Frau hin zu der Gruppe Neuankömmlinge, denen es ebenfalls die Sprache zu verschlagen haben scheint, und bleibt schließlich an Markov hängen, der ihn gelangweilt, beinahe genervt erwidert. Die sollte sich mal zusammenreißen, das ist ja peinlich!, scheint er zu denken. Er lässt meine Furcht, meine Verwirrung und meine Reaktion auf die Kopfschmerzen wie das trotzige, übertriebene Verhalten eines Kleinkindes wirken. Seine Haltung drückt pure Überlegenheit aus. Kühl mustert er mich. In seinen eiskalten, blauen Augen steht die pure Verachtung. Das ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. Brüllend erwacht mein Kampfgeist zum Leben, bleckt außer sich vor Wut die Zähne und schafft es zu meiner Verblüffung sogar, die Bilderflut und die Kopfschmerzen in den Hintergrund zu drängen. Nur zu, wälz dich in  deiner Selbstsicherheit, solange du noch kannst, Markov! Wir werden ja sehen, wer am Ende den Kürzeren zieht! Was auch immer er für ein krankes Spielchen mit mir getrieben haben mag, hier und jetzt ist es vorbei! Dieser arrogante Arsch hat sich mit der Falschen angelegt!

Noch ehe ich bewusst darüber nachdenken kann, reiße ich mir mit einem kurzen Ruck die Infusionsnadel aus dem Arm und zeige damit drohend auf die Umstehenden. Die Schwester neben mir hat zwar in ihrer Bewegung inne gehalten, weicht jedoch nicht vor mir zurück. Ein diabolisches Grinsen schleicht

sich auf meine Lippen.

„Wenn sie nicht sofort zurücktreten, steche ich das Ding in ihr Herz!“, drohe ich und meine es ernst – naja, zumindest den Teil mit dem Zustechen. Das zeigt Wirkung. Die Augen der Frau weiten sich merklich und sie hebt abwehrend die Hände vor ihren Körper. Auch die anderen Schwestern und der Arzt wirken zutiefst schockiert und sehen mich ehrfurchtsvoll an. Markov ist der einzige, den die Situation völlig kalt lässt. An seiner Haltung hat sich nichts geändert. Spiel ruhig weiter den Coolen, dir wird das Lachen schon noch vergehen, verlass dich drauf!  

„Okay, okay, ganz ruhig! Ich bin schon weg!“, erklärt die Schwester kleinlaut. Sie tritt zwei große Schritte zurück und ich atme erleichtert aus. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. Die Nadel noch immer in Angriffsstellung, schäle ich mich etwas umständlich aus der Bettdecke. Am Rande bemerke ich, wie ein dünnes, rotes Rinnsal meinen Handrücken hinunterläuft. Ich steige aus dem Bett – und lande um ein Haar bäuchlings auf dem Boden, da meine Füße den Dienst verweigern. Mist!

Ich wanke in Richtung Fenster und kann mich gerade noch in einem der großen, dicken Vorhänge festkrallen. Zum Glück haben sie mich nicht in einen dieser peinlichen Po-frei Patientenkittel gesteckt, sondern in ein geschlossenes, kimonoähnliches Model. Der Arzt und die Schwestern wollen sofort zu mir eilen, aber ich richte wieder energisch die Nadel auf sie, sobald ich mit meiner anderen Hand in dem festen Stoff Halt gefunden habe.

„Kein Schritt näher!“, knurre ich. Leute, lasst mich jetzt nicht im Stich!, flehe ich meine Füße an. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, ehe ich all meinen Mut zusammen nehme und den Vorhang loslassen. Ein fester Stand sieht eindeutig anders aus, aber immerhin kann ich mich überhaupt auf den Beinen halten. Mit aller Kraft versuche ich, die Oberhand über meinen erschöpften Körper zu behalten, obwohl ich am liebsten wie-der zurück ins Bett geklettert wäre und  eine ordentliche Runde geschlafen hätte.

Ich nehme noch einmal einen tiefen Atemzug, umfasse auch mit meiner anderen Hand die Nadel und wackle vorsichtig in Richtung Tür.

„Treten sie zurück! Aus dem Weg!“, befehle ich dem Pflegepersonal. Die drei Frauen tun, was ich ihnen sage, und treten behutsam einen Schritt zurück. Gute Mädchen! So ist es brav! Der Arzt sieht zuerst zu mir, dann zu Markov, als sei er noch unentschlossen, tut es dann jedoch seinen Kolleginnen gleich.

„Ich kann ihre Angst und Unsicherheit verstehen, glauben sie mir,  aber …“, versucht der Arzt es auf die vernünftige Tour.

„Halten sie den Mund! Das können sie später alles der Polizei erklären!“, unterbreche ich ihn ungerührt.

Wieder schaut der Arzt Hilfe suchend zu Markov, dessen eisige Augen noch immer eindringlich auf mir ruhen, als auch er endlich einen Schritt zurücktritt. Trotzdem habe ich das eigenartige Gefühl, dass immer noch er die Situation kontrolliert, und nicht ich. Ich schüttle den Kopf. Du solltest dich lieber darauf konzentrieren, hier raus zu kommen, anstatt dir Sorgen wegen dieses Kerls zu machen!, schimpft mich mein Unterbewusstsein, und es hat recht. Nichts wie weg von hier!

Ohne die fünf aus den Augen zu lassen, arbeite ich mich zur Tür vor. Mit einem Ruck reiße ich sie auf, trete hinaus in den Flur und beginne, zu rennen. Ich spüre förmlich, wie das Adrenalin durch meinen Körper jagt und ihm die notwendige Energie zur Verfügung stellt, die er so dringend braucht.

Das Haus ist riesig, und überaus geschmackvoll eingerichtet. Ob Markov hier wohnt? Das würde zu seinem bescheidenen Ego passen, denke ich sarkastisch. Auf dem Gang begegne ich mehreren Männern und Frauen, der Kleidung zu urteilen sind die meisten von ihnen Hauspersonal, die mir eilige aus dem Weg springen, sobald sie mich und meine Nadel sehen. Zu meiner Überraschung versucht niemand, mich aufzuhalten, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, man legt es geradezu darauf an, mich entkommen zu lassen. Irgendetwas stinkt hier ganz gewaltig.

Was ist eigentlich dein Problem? Willst du etwa, dass sie dich zurückzerren und weiß der Geier was mit dir anstellen? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, also nichts wie weg hier!, meldet sich mein Unterbewusstsein zurück.

 Die Sache gefällt mir einfach nicht, ist das einzige, das ich darauf zu antworten weiß.

Als ich die Eingangshalle im Erdgeschoß erreiche, bin ich vollkommen alleine, und auch, als ich hinaus in die Auffahrt stürme, ist keine Menschenseele mehr zu sehen. Die Sonne ist hinter einer dicken, grauen Wolkenschicht verborgen. Dabei war für heute eigentlich gutes Wetter angesagt, erinnere ich mich düster an die Zeitung vom morgen. Der einzige Weg vom Grundstück scheint ein massives Eisentor zu sein, das am Ende der Auffahrt steht, eingerahmt von zwei dicken Steinsäulen, also halte ich direkt darauf zu. Auf halbem Weg zwischen Haus und Tor schaue ich gehetzt hinter mich, um sicher zu stellen, dass mir auch wirklich niemand auf den Fersen ist. Ich spüre ein eigenartiges Kribbeln in meinem Nacken und mein Blick wandert wie von selbst zu einem der Fenster in zweiten Stock. Markov steht, die Arme vor der Brust verschränkt, neben dem Vorhang, seine Augen, die nichts von ihrer Arroganz verloren haben, bohren sich in meine, versengen mich geradezu. Ich kann es beinahe körperlich spüren, seinen Zugriff auf mich, als wäre ich nicht mehr wie eine hilflose Marionette, die nach seinen Wünschen tanzt. Als würde alles exakt nach seinem Plan laufen. Dabei laufe ich ihm doch gerade davon! Was soll das alles? Ich verstehe es einfach nicht!

Du wirst ihm nie entkommen, egal, wie schnell oder weit du auch rennst. Er ist dein Schicksal. Ich kann nicht genau erklären, woher diese Eingebung kam, aber ich weiß plötzlich mit einer geradezu unheimlichen Sicherheit, dass er auf irgendeiner Art und Weise mit mir verbunden ist. Einer der Filme, die ich in den hintersten Winkel meines Denkens verbannt habe, tritt für den Bruchteil einer Sekunde gestochen scharf in den Vordergrund, und mit ihm der Kopfschmerz. Er  ist so überwältigend, dass ich gezwungen bin, anzuhalten, bis es vorbei ist. Verzweifelt raufe ich mir die Haare, als könnte ich es so aufhalten, aber ich habe keine Chance.

 

Julian, der über mir ist und meine Hände brutal neben meinen Kopf in die Kissen drückt. Er küsst mich voller Leidenschaft und ich spüre, wie er sich rhythmisch in mir bewegt.

 

Die Szene tritt wieder in den Hintergrund und mir entfährt ein entsetztes Keuchen. Es fühlte sich so echt an, so real. War das etwa eine Erinnerung? Nein, unmöglich! Das kann nicht passiert sein … oder?

Mein Kampfgeist weicht nackter Angst. Ich wende mich von dem unheimlichen Blau ab, das noch immer unverändert auf mir ruht, und renne wieder los. Geht es etwa darum? Irgendwelche kranken Sexspiele eines reichen Perversen? Hat er mich unter Drogen setzen lassen, damit ich vergesse, was er mit mir angestellt hat?

Der Geschmack von Galle macht sich in meinem Mund bemerkbar. Oh lieber Gott, bitte lass das alles nur ein furchtbarer Albtraum sein!

Aber warum unternehmen all die Menschen in dem Haus nichts dagegen? Zumindest der Arzt muss doch wissen, was Markov da treibt, offensichtlich hat er ja Untersuchungen bei mir durchgeführt. Das Klemmbrett, das eine der Schwestern in der Hand hatte, war mit diversen Notizen versehen gewesen. Könnte er etwas gegen sie in der Hand haben – gegen sie alle? Eine unheimliche Vorstellung. Andererseits würde das zu dem arroganten Kerl passen …

Am Tor angekommen muss ich ernüchternd feststellen, dass es versperrt ist. Verzweifelt rüttle ich am Knauf, doch ich weiß, dass es hoffnungslos ist. Ich kämpfe die Tränen zurück, die in meinen Augenwinkeln lauern. Nein, du musst stark bleiben! Du wirst einen Weg finden!, meldet sich mein Kampfgeist zurück.

Er hat Recht, du schaffst das schon irgendwie!, versuche ich, mir Mut zuzusprechen und atme tief durch.

Die Straße auf der anderen Seite des Gitters ist verlassen, die benachbarten Häuser hinter meterhohen Hecken und ellenlangen Auffahrten verborgen. Um Hilfe zu schreien, würde vermutlich nichts bringen, mal ganz davon abgesehen, dass Markov seine Nachbarn wahrscheinlich ebenfalls unter seinen Fittichen hat, wie ich ihn einschätze. Der Pate reloaded, schießt es mir durch den Kopf. 

Ich trete einen Schritt zurück und betrachte das Eisen vor mir abschätzend. Unvermittelt läuft ein warmer Schauer über meinen Körper. Tatendrang. Vorfreude.

Noch ehe ich mich über diese eigenartige Reaktion wundern kann, greifen meine Arme wie von selbst an die Eisenstäbe und stemmen mein Gewicht mit unglaublicher Leichtigkeit nach oben, dabei ist das der erste erfolgreiche Klimmzug meines Lebens. Meine Füße legen nach und krallen sich wie die Extremitäten eines Affen am kalten Gitter fest, wobei mir völlig unbegreiflich ist, wie sie es schaffen, einen Halt zu finden. Innerhalb weniger Sekunden klettere ich behände über das Tor und stehe schließlich völlig entspannt auf der anderen Seite. Verwundert schaue ich auf meine Hände herab. Wie zum Teufel …?

Ich erinnere mich an eine Dokumentation, die ich vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen gesehen habe – der menschliche Körper, das achte Weltwunder oder so ähnlich. In einem Beitrag ging es um körperliche Höchstleistungen, zu denen Menschen unter extremen Bedingungen fähig sind – und entführt zu werden ist ziemlich extrem, würde ich sagen! Obwohl ich so einige missratenen Sportstunden in der Schule in Erinnerung behalten habe, die man auch definitiv als extrem hätte charakterisieren können …

Ich schüttle den Kopf, lasse die Arme sinken und nehme meine Umgebung genauer in Augenschein. Mir fällt auf, dass alle Häuser hier an einen Hang gebaut sind und ich auf den Neckar hinuntersehen kann. Das muss eine der Villengegenden am Heiligenberg sein. Gar nicht so weit weg von zu Hause, wie ich befürchtet habe, denke ich erleichtert.

Noch ein letztes Mal sehe ich durch das Tor zurück zum Haus. Gut, mir ist noch immer niemand auf den Fersen.

Ich sprinte Straße abwärts und fühle, wie mir mit jedem Schritt leichter ums Herz wird. Ich bin schon fast am Ende der Straße angelangt, als mich das Geräusch eines Motors erschrocken herumfahren lässt, aber es ist nur das Firmenfahrzeug eines Elektrikers. Der ältere Herr hinterm Steuer wirft mir einen skeptischen Blick zu und kommt neben mir zum Stehen.

„Geht es ihnen gut, junge Dame?“, fragt er besorgt.

Man hat mich entführt, in eine Villa verschleppt und irgendwelche Doktorspielchen mit mir getrieben – es geht mir verdammt noch mal alles andere als gut!

„Können sie mich vielleicht ein Stückchen mitnehmen?“, entgegne ich stattdessen. Den armen Mann grundlos anzufauchen, würde die Sache schließlich auch nicht besser machen. Ich nenne ihm meine Adresse und er nickt freundlich.

„Kein Problem, springen sie rein. Die Straße kenne ich.“

Er macht mir die Beifahrertür auf und ich klettere dankbar neben ihn in den Sitz. Obwohl er meinen ungewöhnlichen Aufzug argwöhnisch beäugt, schweigt er.

„Ich hab eine Wette verloren“, lüge ich, um ihn zu beruhigen.

„Die Jugend von heute …“, brummt er amüsiert in seinen Bart. Sein Lächeln verrät, dass er mir glaubt. Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er mich vermutlich für eine entflohene Irre halten, und wer könnte es ihm schon verdenken? Wäre ich an seiner Stelle, würde ich das Gleiche tun!

Zehn Minuten später halten wir vor dem gotisch anmutenden Mehrfamilienhaus, in dem sich meine Wohnung befindet.

„Nochmal tausend Dank für ihre Hilfe!“, sage ich, nachdem ich ausgestiegen bin.

„Keine Ursache“, winkt er verlegen ab.

Ich knalle die Tür zu und er fährt weiter zu seinem nächsten Einsatz. Wirklich ein netter Kerl.

Ich seufze resignierend. Auch wenn ich nicht gerade scharf darauf bin, mich meinen Nachbarn in diesem Aufzug zu präsentieren, bleibt mir nichts anders übrig. Irgendwie muss ich schließlich ins Haus kommen. Wenigstens habe ich immer einen Ersatzschlüssel unter dem Blumentopf vor der Haustür versteckt, da ich die nervige Angewohnheit habe, regelmäßig die Hälfte meiner Tasche im Studio zu vergessen. Bis ich meinen Kopf wieder von der Arbeit frei habe und bemerke, dass etwas fehlt, bin ich meistens schon halb zu Hause – typisch zerstreute Künstlerin eben.

„Ja, wer ist da?“, krächzt die alte Frau Schäfer in die Freisprechanlage.

„Hier ist Hannah von gegenüber. Ich habe meinen Schlüssel vergessen, können sie mir bitte aufmachen?“, entgegne ich.

„Ich kenne keine Anna!“, gibt sie unwirsch zurück.

Hannah, ich bin Hannah“, korrigiere ich sie. Warum muss die alte Dame ausgerechnet heute einen ihrer schlechten Tage haben? „Hannah Ahrens von gegenüber!“

„In unserem Haus gibt es keine Hannah Ahrens!“, beharrt sie.

„Ich bin ihre Nachbarin von gegenüber, die junge Fotografin, erinnern sie sich nicht? Sie haben mich schon ein paar Mal zum Tee eingeladen!“, versuche ich es wieder.

„Hören sie, junges Fräulein, ich mag alt sein, aber ich bin noch lange nicht senil!“, empört sie sich. „Ich kenne keine Hannah Ahrens und auch keine Fotografin! Wenn sie sich für die Wohnung gegenüber interessieren, wenden sie sich an das zuständige Maklerbüro!“

Für die Wohnung gegenüber interessieren? Offenbar stand es schlimmer um ihren Geisterzustand, als ich angenommen hatte. Ich wohnte nun schon beinahe ein Jahr dort, verdammt!

„Ähm … Ich bin eigentlich mit einem Makler hier verabredet, aber er hat mich wissen lassen, dass er sich verspäten wird. Es ist ein wenig zugig hier draußen, deswegen soll ich drinnen auf ihn warten!“, gehe ich auf das Spiel ein, damit sie mir nur endlich die Tür aufmacht.

„Warum haben sie das nicht gleich gesagt, anstatt mir hier so einen Unsinn aufzutischen?“, schimpft sie und lässt mich schließlich doch hinein. Ich atme erleichtert aus. Was für ein Kraftakt!

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprinte ich in den dritten Stock hinauf, wo die mürrisch dreinblickende Frau Schäfer mich bereits auf ihren Gehstock gestützt erwartet. Bei meinem Anblick verdüstert sich ihr Blick noch.

„Ist das bei jungen Leuten heute in Mode?“, fragt sie missbilligend und sieht mein Oberteil an, als würde sie es am liebsten mit ihren Augen in Brand stecken. „Sieht furchtbar aus, da können sie sich ja gleich einen Krankenhauskittel umbinden!“

Nichts an ihrem Verhalten deutet darauf hin, dass sie mich kennt, und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Kann sie mich wirklich vergessen haben?

Ich schenke ihr ein mitfühlendes Lächeln, bevor ich mich meiner Wohnung zuwende – und mich zum ersten Mal frage, ob vielleicht tatsächlich ich diejenige bin, mit der etwas nicht stimmt. Die Tür ist vollkommen kahl. Kein bunter Blumenkranz. Kein Name auf der Klingel. Kein niedlicher Katzenfußabtreter. Alles ist wie vor meinem Einzug.

 Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke und ich renne wieder ins Erdgeschoss, um meinen Namen auf der Klingel zu suchen. Auch hier strahlt mir lediglich blankes Weiß entgegen. Meine Knie geben unter mir nach und ich sinke auf den Boden. Was um alles in der Welt ist hier los?    

Hinter mir hat sich inzwischen das halbe Haus versammelt, angeführt von Frau Schäfer, die mir offenbar mit ihrem Gehstock gefolgt ist. Was ich in ihren Gesichtern lese, gefällt mit ganz und gar nicht. Skepsis. Angst. Neugier. Auch sie scheinen mich nicht wieder zu erkennen.

Da trifft es mich wie ein Schlag. Ja, dieser Markov war auch von allen vergessen worden! Das war immerhin erst der Grund gewesen, warum ich nun überhaupt in diesem Schlammassel stecke, oder? Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?

Die Erkenntnis jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ob er mich mit irgendetwas angesteckt hat? Einer Krankheit, die einen vergessen werden lässt? Oder hat der Kerl womöglich sogar selbst seine Finger im Spiel und ist eine Art Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, mich aus dem Gedächtnis anderer zu löschen? Ist so etwas möglich?

Ein Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Jetzt komm mal wieder runter, sicher gibt es für alles eine logische Erklärung!, schimpft mich mein gesunder Menschenverstand. Vielleicht spielen sie dir einen Streich, Verstehen sie Spaß oder so was …

Ich werfe ihm innerlich einen skeptischen Blick zu.

Oh, oder vielleicht hat dieser Markov sie irgendwie bestochen, damit du nicht wieder zurück kannst – die Aussicht auf ein nettes Sümmchen ist der Schauspielerei wohl extrem zuträglich.  Vermutlich ist er schon auf dem Weg hierher, um dich zu holen!

Woher soll er wissen, wo ich wohne?, kontere ich.

Von deinem Ausweis. Er hat deine Handtasche, schon vergessen? Mein Menschenverstand lächelt siegesssicher.

Aber was will er von mir?  

Dieser Markov muss in irgendwelche krummen Sachen verstrickt sein! Womöglich hat er auf der Pressekonferenz einen Fehler gemacht, der ihn verraten könnte, und jetzt will er die Sache aus der Welt schaffen. Du bist für ihn ein Risikofaktor, weil er glaubt, du könntest etwas wissen!,hat mein Verstand sofort eine Antwort a la Hollywood parat.

Klingt ein bisschen extrem abenteuerlich, findest du nicht? Und was ist mit den ganzen anderen Fotografen, die dort waren? Er kann sie doch unmöglich alle einzeln … beartbeiten!, wende ich ein.

Womöglich war dieser Fehltritt nur auf einem deiner Bilder zu sehen!, lässt sich mein Verstand nicht beirren.

Das erklärt aber immer noch nicht, wie sein Bild plötzlich aus der Zeitung verschwinden konnte!

Mein Verstand zuckt lässig die Schultern.

Den Teil hast du dir vielleicht wirklich nur eingebildet! Wahrscheinlich war dein Foto nie zu sehen …

Und die Kopfschmerzen und die Visionen?, lasse ich nicht locker.

Drogen.

Diese Theorie klingt zumindest besser als die X-Men-Variante von zuvor wie ich finde, also beschließe ich, mich in Ermanglung einer alternativen Erklärung für den Moment damit zu Frieden zu geben.

Und was mache ich jetzt?

Zu den einzigen Personen gehen, die dieser Markov niemals kaufen könnte!

 

 

Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Konditorei meiner Eltern im beschaulichen Eppelheim. Ich habe mir vom Bismarckplatz aus ein Taxi genommen und immer noch knallrote Wangen vor Scham. All die Leute, die mich dort in dieser Aufmachung gesehen hatten …

Über dem Wasserturm, der nur wenige Meter vom Laden entfernt in den Himmel aufragt, türmen sich dunkle Wolken. Das Wetter wird immer schlechter. Entschlossen öffne ich die Ladentüre und trete ein. Meine Mutter stellt gerade eine neue Torte in die Auslage, eine Schwarzwälder Kirsch. Als sie mich bemerkt, vollendet sie rasch ihr Werk und sieht mich fragend an. Die Ereignisse der letzten Stunden krachen mit voller Wucht über mir zusammen wie ein Tsunami, und ich breche in Tränen aus. Ich renne um die Theke herum und werfe mich schniefend meiner Mutter um den Hals.

„Bitte sag mir, dass du dich an mich erinnerst und ich nicht wahnsinnig geworden bin!“, flehe ich und klammere mich verzweifelt an sie, sehne mich nach ihren aufbauenden Worten und ihrer tröstenden Hand wie ein verlorenes Kind.

Anstatt meine Umarmung jedoch zu erwidern versteift sie sich, ehe sie zaghaft versucht, mich von sich wegzuschieben. Oh bitte nein!

„Es … es tut mir leid, aber ich kenne sie nicht.“

Kapitel 3

In den Augen meiner Mutter liegt Furcht. Komme ich etwa zu spät?

„War dieser Markov hier? Hat er dich und Papa irgendwie bedroht?“, will ich entsetzt wissen.

Ihre Sorgenfalten vertiefen sich. Ich trete ein paar Schritte von ihr zurück und hebe herausfordernd meine Arme.

„Ich bin es doch, die du willst, oder? Lass meine Eltern da raus, sie haben mit der Sache nichts zu tun!“, appelliere ich wütend in den Raum hinein. Glaubt er im Ernst, dass er damit durchkommt?

Die Klingel ertönt, und eine Kundin betritt schüchtern den Laden. Sie schaut verwirrt zwischen mir und meiner Mutter hin und her, unschlüssig, wie sie sich verhalten soll. Meine Mutter wirft der Kundin einen ebenso ratlosen Blick zu, ehe sie sich wieder mir zuwendet und ihre Hände hebt, wie um mich zu beruhigen.

„Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon sie da sprechen! Ich habe keine Kinder, und ich kenne auch keinen Markov!“, erklärt meine Mutter bemüht ruhig.

Da trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hat keine Angst vor irgendeiner Gefahr, die im Hinterzimmer lauert – sie hat tatsächlich Angst vor mir!

„Du … du erinnerst dich wirklich nicht, oder?“, frage ich mit brüchiger Stimme. „Wie … Wie kann sich eine Mutter nicht mehr an ihre Tochter erinnern?“

Meine Mutter nickt mit ihrem Kopf in Richtung des Wandschranks in ihrem Rücken.

„Sehen sie das Bild dort hinten in der Mitte des Regals? Das bin ich mit meinem Mann. Daneben stehen Fotos von unseren Angestellten und Verwandten. Sehen sie genau hin.“

Mir gefriert buchstäblich das Blut in den Adern, als ich ihrem Befehl nachkomme.

„Sie sind auf keinem dieser Fotos abgebildet. Verstehen sie, was das bedeutet?“

Ich kann kaum glauben, was ich da sehe. Es ist, als habe jemand die Bilder mit Photoshop bearbeitet und mich herausgeschnitten. Überall dort, wo ich eigentlich hätte sein sollen, bin ich entweder einfach ausradiert worden, oder durch eine andere Person wie eine Cousine ersetzt. Es ist genau wie damals mit dem Zeitungsfoto.

„Das … das darf einfach alles nicht wahr sein!“ Ich halte mir  den Kopf, als könnte ich so diesen ganzen Irrsinn irgendwie geraderücken, und sinke zum zweiten Mal an diesem Tag auf meine Knie. „Das ist nicht real! Das kann nicht real sein!“

„ … Krankenwagen …“, höre ich die Kundin hinter mir sagen, während mein Vater besorgt aus seiner Backstube tritt.

„Was ist hier los?“

„Diese junge Frau behauptet felsenfest, sie sei unsere Tochter! Hast du sie schon einmal gesehen?“, will meine Mutter von ihm wissen.

Mein Vater wirft mir einen kurzen, prüfenden Blick zu, runzelt die Stirn und schüttelt dann verwirrt den Kopf.

„Nein. Ist sie verletzt?“

„Ich glaube nicht …“, erwidert meine Mutter.

Ich hole tief Luft und zwinge meine Beine zurück in eine aufrechte Position. Ich würde mich nicht kampflos geschlagen geben!

„Ihr wart vor einundzwanzig Jahren in Korea, oder?“, versuche ich es nun anders.

„Woher wissen Sie das?“ Die Augen meines Vaters verengen

sich.

„Weil ihr mich damals adoptiert habt! Mich, eure kleine Hannah!“ Unwillkürlich trete ich einige Schritte näher.

„Bleiben sie, wo sie sind!“, warnt mein Vater mich.

Bevor ich es verhindern kann, entfährt mir ein hysterisches Lachen. So etwas Ähnliches habe ich zuvor zu dem zwielichtigen Pflegepersonal meines Entführers gesagt.

„Hilfe ist unterwegs, alles wird …!“, kommt es fürsorglich von meiner Mutter, doch ich lasse sie nicht ausreden.

„Ihr habt vor vier Jahren eure silberne Hochzeit gefeiert. Ihr habt diese Konditorei schon in zweiter Generation. Ihr wollt euch bald ein neues Auto kaufen. Ihr fahrt in eurem Urlaub am liebsten in exotische Länder. Papa hat fünf Geschwister und Mama drei.“ An dieser Stelle unterbreche ich mich, um kurz Luft zu holen, ehe ich fortfahre. „Mama hat ihren Beruf als Krankenschwester aufgegeben und eine Lehre zur Konditorin gemacht, damit ihr zusammen arbeiten könnt. Ihr geht in jeden James-Bond-Film und euer größter Traum ist ein Ferienhaus irgendwo am Meer – muss ich noch mehr sagen?“

Meine Mutter wirft meinem Vater einen verstörten Blick zu.

„Über das Internet kann so was heutzutage doch jeder rausfinden!“, will er meine Worte klein machen, doch ich spüre, dass seine Schale Risse bekommt.

Beinahe von einer Sekunde auf die nächste öffnet der Himmel seine Pforten und es regnet in Strömen. Das laute Prasseln trägt nicht gerade dazu bei, die ohnehin gedrückte Stimmung aufzuhellen. Als ich zu einer erneuten Anekdotentirade ansetzen will, klingelt es und zwei durchnässte Sanitäter kommen herein. Wer hätte gedacht, dass eine Feuerwehrstation direkt um die Ecke zu haben sich einmal als unpraktisch herausstellen würde?

„Was ist hier los?“, erkundigt sich der ältere der beiden uniformierten Männer.

 „Diese junge Frau leidet offenbar an Wahnvorstellungen! Sie ist in diesem Aufzug vollkommen aufgelöst in unser Geschäft

gestürmt und behauptet, wir seien ihre Eltern!“, erklärt mein Vater, sichtlich erleichtert über das Auftreten der Sanitäter.

„Weil ihr meine Eltern seid!“, schreie ich verzweifelt.

„Vermutlich ist sie aus einer Einrichtung geflohen“, lässt sich mein Vater von dem Zwischenruf nicht beirren und fährt bemüht ruhig fort, um seinen Standpunkt zu unterstreichen.

„Wie ist ihr Name?“, fragt der jüngere Sanitäter an mich gerichtet.

„Hannah. Hannah Ahrens“, gebe ich zurück und habe alle Mühe, meine Stimme ebenmäßig klingen zu lassen. „Und das sind Heike und Bernhard Ahrens, meine Adoptiveltern.“

Noch nie habe ich diesen Umstand so sehr bedauert wie in diesem Moment. Hätte ich Ähnlichkeit mit einem der beiden, wäre es kaum möglich, unser Verwandtschaftsverhältnis zu leugnen, aber so ...

„Warum tragen sie einen Kittel, Hannah?“

Na toll, das musste ja kommen!

„Hören sie, ich weiß was ich ihnen gleich erzähle klingt wie aus einem schlechten Drama, aber es ist die Wahrheit, das müssen sie mir glauben!“, leite ich meine unglaubliche Geschichte ein. „Ich bin Fotografin und sollte vor einigen Wochen Fotos von einem Manager machen. So wie es aussieht habe ich ihn bei etwas erwischt, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte, und jetzt ist er hinter mir her! Zuerst hat er sein Bild aus der Zeitung entfernen lassen, und jetzt will er offenbar mich entfernen. Er hat mich entführt und mir diesen Kittel angezogen, aber ich konnte fliehen. Als ich bei meiner Wohnung ankam, hatte er sie bereits leerräumen lassen und  jetzt können sich sogar meine eigenen Eltern nicht mehr an mich erinnern! Ich weiß nicht, wie wer es anstellt, aber er … er …“

Sein Kollege kommt behutsam auf mich zugelaufen. In seinen

Augen leuchten Bedauern und Mitleid.

„Ich verstehe, dass das alles bestimmt sehr verwirrend für Sie sein muss!“, will er mich auf seine Seite bringen, aber ich weiß, dass er nichts versteht. Sie alle verstehen nicht. „Wir können sie an einen Ort bringen, wo man ihnen helfen kann! Glauben sie mir, wir wollen nur ihr Bestes!“

„Sie halten mich für irre, das würde ich an ihrer Stelle auch, aber das bin ich nicht! Ich weiß alles über die beiden, fragen sie mich, was sie wollen!“, biete ich an, obwohl ich ahne, dass sie mir keine Gelegenheit dazu geben werden.

Nur Sekunden später bestätigt sich meine Vermutung, als sich ein kräftiger Arm von hinten um meine Hüfte legt und mich sanft in Richtung Tür drängen möchte. Während mich der eine abgelenkt hat, ist der andere Sanitäter unbemerkt hinter mich geschlichen.

„Mama, Papa, bitte, ihr müsst euch an mich erinnern! Sagt ihnen, dass ich nicht verrückt bin! Sagt es ihnen!“, flehe ich, doch meine Eltern wenden sich nur betreten ab.

Bitte!“, wimmere ich und will mich aus dem Griff des Sanitäters winden, doch der packt plötzlich fester zu und macht nun keinen Hehl mehr daraus, dass er mich aus dem Laden schaffen will – notfalls mit Gewalt. Je mehr ich mich wehre, desto unbarmherziger graben sich seine starken Finger in mein Fleisch.

„Lassen sie mich…!“, beginne ich aufgebracht, doch ich bringe den Satz nicht zu Ende, denn es klingelt zum dritten Mal. Der Taxifahrer kommt hereingestürmt, offensichtlich ist ihm das Warten auf seine Bezahlung zu lange geworden.

„Hey, bevor sie das Mädchen mitnehmen will ich mein Geld!“, beschwert er sich.

Mein Vater lächelt entschuldigend, als wüsste er insgeheim um seine Schuld dem Fremden gegenüber.

„Ich kümmere mich darum!“, lässt er die Sanitäter wissen, die ihm dankend zunicken und ihrer Arbeit wieder die volle Aufmerksamkeit schenken.

„Lassen sie mich los! Ich bin nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt!“, schreie ich und wehre mich nach Leibeskräften, aber mittlerweile sind beide Männer an mir zu Gange und zerren mich mit vereinten Kräften hinaus in den Regen. Sofort bin ich durchnässt bis auf die Knochen, zumal der dünne Stofffetzen, den ich am Leib trage, kaum Schutz vor dem kühlen Nass bietet.

„Meinst du, du kannst sie kurz halten, während ich was zur Beruhigung hole?“, meint der ältere und der jüngere nickt grimmig und verstärkt seinen Griff noch.

„Aua, sie tun mir weh! Lassen sie mich los! Lassen sie mich endlich los!“, brülle ich. Bitte lieber Gott, lass das alles ein furchtbarer Albtraum sein! Lass mich endlich aufwachen!

Schon kommt sein Kollege mit einer Spritze in der Hand aus dem Wagen geeilt, aber ich habe Mühe, ihn klar zu erkennen. Wasser läuft mir in die Augen und lässt alles zu einer schwammigen Masse verschwimmen. Vermutlich ist das die Absicht der beiden Männer, um mich gefügiger zu machen.

„Nein! Bleiben sie weg von mir! Bitte tun sie das nicht! Nein!“, kreische ich, mobilisiere meine letzten Kräfte. Meine Tränen vermischen sich mit dem Regen, mein Schluchzen geht in panisches Schreien über.

„Alles wird gut!“, flüstert er sanft, ehe er die Spritze ansetzt.

Ich sende ein verzweifeltes Stoßgebet gen Himmel und hoffe auf ein Wunder.

„Warten Sie, das ist meine Frau!“, ruft jemand aus einiger Entfernung.

Nicht unbedingt eines der Wunder, die mir vorgeschwebt waren, aber ich will nicht wählerisch sein. Die Stimme kommt mir vage bekannt vor …

Der Sanitäter hält mitten in der Bewegung inne und sieht die dunkle Männergestalt unter dem Regenschirm fragend an, die in unsere Richtung gerannt kommt. Die Gestalt bleibt vor mir stehen und hebt den Regenschirm etwas an, sodass ich sehen kann, wer sich darunter verbirgt.

Julian Markov. Irgendwie überrascht mich das nicht.

„Meine Frau leidet unter Schizophrenie“, beginnt er entschuldigend und ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Schizophrenie, ja? Dem würde ich Schizophrenie geben! „Die Schwester, die sich um sie kümmern sollte, war einen Moment lang unachtsam, und sie ist uns davongelaufen. Gott sei Dank ist ihr nichts zugestoßen!“

Er beugt sich zu mir vor und streichelt mir mit einer Hand sanft über die Wange.

„Was machst du denn für Sachen, Schatz? Suchst du wieder deine Eltern? Wir haben uns doch erst neulich darüber unterhalten, erinnerst du dich? Deine Eltern sind tot, du musst dich endlich damit abfinden!“

Der Sanitäter hält mich immer noch mit eisernem Griff, was mich daran hindert, Markovs verlogene Hand wegzuschlagen, also kann ich nur angewidert meinen Kopf wegdrehen.

„Sie können sie loslassen, ich übernehme ab hier!“, bittet er die Männer.

„Sind sie sicher?“, fragt der Ältere skeptisch.

Markov sieht mich wieder mit diesem überheblichen Ausdruck in den Augen an.

„Glauben sie mir, sie wird nicht noch einmal weglaufen“, sagt er voller Überzeugung.

Zögerlich lockert sich der Griff um mich. Sofort trete ich ein Stück nach vorne und werfe dem Mann hinter mir einen giftigen Blick zu.

„Könnten sie uns für den Heimweg vielleicht eine Decke leihen? Ich möchte nicht, dass meine Frau sich erkältet.“

„Selbstverständlich.“

Der Sanitäter tauscht die Spritze gegen eine braune Wolldecke und reicht sie meinem Mann, der sie mir fürsorglich über die Schultern wirft, ehe er mich ungeniert an sich drückt. Für Außenstehende mochte es nach einer zärtlichen Geste ausgesehen

haben, aber Markovs Bewegungen sind harsch und mechanisch. Er zieht eine Show ab, und zwar eine verdammt Gute. Aber ich lasse ihn vorerst gewähren. Ich will wissen, wo das ganze Theater hinführen soll. Außerdem hat mich die Auseinandersetzung mit den Sanitätern Kraft gekostet. Abwarten lautet also die Devise.

„Bitte entschuldigen sie die Mühen, ich werde selbstverständlich für diesen Einsatz aufkommen!“, säuselt Markov, dann, an mich gewandt: „Komm, Schatz. Gehen wir nach Hause.“

Er schenkt den Sanitätern ein süßliches Lächeln, dann wendet er sich ab und führt mich zu seinem Auto, das hinter dem Krankenwagen geparkt ist – ein schwarzer Mercedes.

Der Fahrer erwartet uns bereits und hält galant die Tür auf. Markov bedeutet mir, zuerst einzusteigen. Erwarten die etwa, dass ich da einfach so mitspiele?

Ich verschränke störrisch die Arme vor der Brust und mache mich von ihm los.

„Nennen Sie mir nur einen Grund, warum ich in diesen Wagen steigen sollte!“

Markovs Augen verdunkeln sich. Er stößt einen ungeduldigen Laut aus, und plötzlich kehrt die Bilderflut mit aller Heftigkeit zurück.

 

Eine Familie im Schwimmbad. Ein ertrinkendes Kleinkind. Die Familie auf einer Beerdigung. Die Familie auf einem Abiball.

Ein Koch am Herd. Er würzt seine Suppe. Ein enttäuschter Restaurantkritiker.

Ein Mädchen, dass die Leiche seiner Oma im Bett findet. Eine junge Schauspielerin auf dem roten Teppich.

...

 

Auf einen Schlag ist alles wieder vorbei und ich halte mir keuchend den Kopf.

„Ist das Grund genug für dich? Oder soll ich die Visionen zurückholen?“, fragt Markov selbstgefällig. „Nun steig endlich ein!“

Eine Träne rollt mir über die Wangen, zu einer anderen Erwiderung bin ich nicht fähig. Mein Kopf schmerzt immer noch unerträglich. Noch einmal würde ich das nicht aushalten. Wie macht er das bloß? Ob er etwas in mein Gehirn gepflanzt hat, während ich nicht bei Bewusstsein war?

„Steig ein! Ich sag es nicht noch einmal!“, droht er.

Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, stößt er mich genervt durch die Tür, und ich stolpere unbeholfen in das Auto. Grob drängt er mich ans Fenster, steigt hinterher und schlägt die Tür mit einem lauten Knall zu.

„Nun fahren sie schon!“, bellt er den Fahrer an, der sofort den Motor startet.

Mit aller Macht versuche ich, ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Tränen laufen inzwischen ungehindert und tropfen auf die teure Innenausstattung. Was will dieser Markov von mir? Ich verstehe das alles nicht …

 

 

Eigentlich sollten ihre Tränen ihn nicht stören. Immerhin hatte er es darauf angelegt, sie an diesen Punkt zu treiben. Sie zu ängstigen. Ihr wehzutun. Sich wie ein egoistisches, grausames Arschloch zu verhalten. Sein Frust an ihr auszulassen, war einfach zu verlockend gewesen – mal ganz davon abgesehen, dass sie es nicht besser verdient hat! Sie, die ihm das einzig Gute genommen hat, das er von seinem trostlosen Leben hatte erwarten können, und es ihm nun in Scherben zurückgibt. Ja, er hat jedes Recht, sie zu verachten, und trotzdem breitet sich ein unbekannter Schmerz in der Gegend seines Herzen aus, als er auf das zusammengesunkene Häufchen Elend neben sich blickt. Obwohl sie vollkommen durchnässt ist und einen unvorteilhaften Fetzen Stoff am Leibe trägt, ist sie immer noch die schönste Frau, die ihm je begegnet ist.

Er stellt sich vor, wie er mit seinen Fingern durch ihr langes, dichtes, schwarzes Haar fährt, ihre seidige Haut berührt, ihren zierlichen Körper erkundet, …

Dieser verdammte Fluch!

Nein, das hier ist nicht die Frau, die für ihn bestimmt ist! Seine Partnerin ist vor einundzwanzig Jahren gestorben. Er hat um sie getrauert und diese grausame Tatsache akzeptieren gelernt. Diese Person ist nichts als ein kläglicher Rest dessen, was er nie haben konnte. Eine kaputte Platte, die nie wieder so klingen würde, wie zuvor. Unnütz. Lästig.

Er wendet sich ab und massiert sich genervt seine pochenden Schläfen, spielt mit dem Gedanken, sie einfach ihren untrainierten Kräften zu überlasen. Irgendwann muss sie es sowieso lernen, oder nicht? Er kann sie schließlich nicht ewig vor ihren Visionen abschirmen!

Wenn sie erst trainiert ist, wird sie dir eine große Hilfe sein, erinnert er sich an die Worte seines Großonkels. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können positiv in die Zukunft schauen.

„Werden sie … werden sie mich umbringen?“

Sein neues Anhängsel blickt ihn herausfordernd an, was in abstrusem Gegensatz zu ihren rot glühenden Backen steht, die ihrem Gesicht etwas Kindliches verleihen. In dem Versuch, taff zu wirken, hat sie sich vermutlich mit der rauen Decke die Tränen abgewischt.

Bedauerlicherweise kann ich das nicht, hätte er fast geantwortet, besinnt sich aber eines besseren.

„Meinst du nicht, wenn ich dich hätte umbringen wollen, hätte ich dazu schon mehr als genug Möglichkeiten gehabt?“, gibt er stattdessen kühl zurück. 

Sie denkt einige Augenblicke über seine Frage nach, mustert ihn abschätzend mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was ihr wohl gerade durch den Kopf geht? Er wagt einen flüchtigen Blick in ihre Gedanken.

… Aus irgendeinem aberwitzigen Grund glaube ich, was er sagt. Irgendetwas an ihm fühlt sich so … vertraut? – ja, vertraut  an. Als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen und wissen, wann er die Wahrheit sagt. Beinahe als würde ich ihn … lieben. Kann das Stockholm-Syndrom schon so früh einsetzen? Warum habe ich plötzlich diese eigenartigen Gefühle ihm gegenüber? …

Weil der Fluch immer mehr Besitz von dir ergreift, schießt es ihm durch den Kopf. 

… Was, wenn er womöglich Recht hat und wir tatsächlich verheiratet sind? Aber wie kann es sein, dass ich mich detailgetreu an mein angeblich erdachtes Leben erinnern kann, während ich nicht die geringste Erinnerung an diesen Markov habe? ...

„Sind wir … sind wir tatsächlich verheiratet?“, entgegnet sie schließlich leise.

„Nein, aber wie werden es bald sein.“

Kapitel 4

„Hannah, willst du den hier Anwesenden Julian Markov zu deinem angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren in guten wie in schweren Tagen, bis dass der Tod euch scheidet, so antworte: Ja, ich will.“

Hätte mir das jemand vor einem Monat vorausgesagt, hätte ich ihm höchstwahrscheinlich den Vogel gezeigt. Nun stehe ich hier in meinem Vera Wang Hochzeitskleid und schließe den Bund fürs Leben mit einem Mann, der so viel Einfühlungsvermögen besitzt wie ein Eisberg.

Ich habe in den vergangenen Tagen genug über Julian erfahren um zu wissen, dass er nicht der schlechte Mensch ist, für den ich ihn anfangs gehalten hatte. Seine Arroganz, sein Jähzorn, seine Abgebrühtheit und seine Sturheit sind nichts als Hilfeschreie einer traurigen Seele, der das Leben übel mitspielt. Vielleicht wäre ich jetzt genau so wie er, wären die Dinge so gelaufen, wie sie hätten laufen sollen.

Ich sehe vom Pfarrer zu meinem zukünftigen Mann, der meinen Blick zerknirscht erwidert. Vermutlich ist er im Geiste  bei den Missionen, die er wegen unserer Trauung verpasst. Wie viel Unglück mag sein Ausscheiden an diesem einen Abend bringen?

Rasch verdränge ich den Gedanken. Die Blicke der Anwesenden sind gespannt auf mich gerichtet. Elena strahlt mir aufmunternd von einer der hinteren Reihen zu. Andre, der zwei Sitze von ihr entfernt Platz genommen hat, tut es ihr gleich. Klaus sitzt natürlich in der ersten Reihe. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben wie viel Anstrengung es ihn gekostet haben muss, diese Feier innerhalb so kurzer Zeit auf die Beine zu stellen, aber dennoch hat er ein Lächeln für mich übrig. Er hatte die Rolle des Brautvaters übernommen und mich zum Altar geführt. Es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass meine Eltern sich nie wieder an mich erinnern werden. Wenn ich morgens aufwache, ist da immer diese eine hoffnungsvolle Sekunde in der ich überzeugt bin, nur schlecht geträumt zu haben. Dann öffne ich die Augen, die Visionen kehren zurück und die Realität hält mich in ihren unerbittlichen Klauen.

Der Pfarrer räuspert sich dezent.  

„Hannah, ihre Antwort“, holt mich der Geistliche aus meinen Gedanken.

Verlegen laufe ich rot an. Julian, der Perfektionist, wendet peinlich berührt seinen Blick ab.

„Ja, ich will“, beeile ich mich zu sagen.  

 

Zwei Wochen zuvor …

 

„Bin ich wirklich schizophren?“, erkundige ich mich vorsichtig.

Markov verdreht genervt die Augen.

„Was denkst du wohl?“, kontert er mit einer Gegenfrage.

„Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, was ich noch denken soll …“, gestehe ich.

„Sobald wir zu Hause sind, wird man dir alles erklären!“ Wieder reibt er sich die Schläfen. Zumindest bin ich nicht die einzige, der diese Unterhaltung Kopfschmerzen bereitet. „Ich habe dafür jetzt beim besten Willen keinen Nerv!“

Für den Rest der Fahrt schweigt er, und ich tue es ihm gleich.

Zu Hause entpuppt sich als fürstliches Anwesen in Neuenheim, das die Größe eines kleinen Schlosses besitzt. Ich frage mich, was es mit dem anderen Haus am Hang auf sich hat, in das ich vor meiner Flucht gebracht worden war, traue mich aber nicht, Markov darauf anzusprechen. Eine altmodische Auffahrt führt zum pompösen Eingang, an dem uniformiertes Dienstpersonal in Reih und Glied bereits auf uns wartet.  

Kaum dass wir zum Stehen kommen eilen zwei Butler herbei, um uns die Türen zu öffnen. Während ich noch wie angewurzelt dastehe und den einschüchternden Anblick der Fassade auf mich wirken lassen, verliert Markov keine Zeit und verschwindet sofort schnellen Schrittes ins Innere der monströsen Villa, als könne er es kaum erwarten, mich los zu sein.

„Willkommen zu Hause, Madame“, begrüßt mich eine junge Frau in einem adretten, dunkelgrauen Anzug. Ihrer Aufmachung zu urteilen, muss sie eine höhere Stellung bekleiden als die Diener, die noch immer auf den Eingangsstufen Spalier stehen. „Ich bin Elena, ihre persönliche Assistentin. Ich fühle mich geehrt, ihre Bekanntschaft zu machen.“

Sie deutet eine Verbeugung an. Mein gebeuteltes Aussehen bringt sie nicht im Mindesten aus der Fassung. Im Gegenteil, sie sieht mich mit geradezu ehrfürchtigem Blick an, was mir die Schamesröte ins Gesicht treibt.

„Ähm … ebenso“, erwidere ich betreten. Am liebsten hätte ich ihr angeboten, mich einfach bei meinem Vornamen zu nennen, aber dieser ganze formelle Zirkus schüchtert mich zu sehr ein, um noch ein weiteres Wort zu sagen.

Elena klatscht zweimal kräftig in die Hände. Eine andere Dienerin löst sich aus der Formation, eilt auf uns zu, stellt mir ein Paar roter Pantoffeln vor die Füße und verbeugt sich ebenfalls, ehe sie wieder ihren Platz einnimmt. Dankbar nehme ich die Gabe an und schlüpfe hinein. Genau meine Größe. Und schön warm. 

„Bitte folgen sie mir“, weist Elena mich freundlich an.

Die Eingangshalle ist voller Menschen, die für uns Spalier stehen. Offenbar hat man das gesamte Personal der Anlage zu diesem Zweck zusammengerufen. Erdboden tu dich auf und verschlinge mich.

Aber auch hier scheint sich niemand weiter über meine Aufmachung zu wundern. Stattdessen mustern sie mich mit derselben Ehrerbietung wie zuvor Elena. Es folgt eine kollektive Verbeugung und ich bin meiner Assistentin dankbar, dass wir zügig die Treppe zum zweiten Stock ansteuern. Was habe ich bloß getan, um all das hier zu verdienen?  

Unser Weg endet schließlich in einem großzügigen Zimmer mit angrenzendem Bad. Die blaugrauen Wände des Raumes setzen einen hübschen Akzent zum cremefarbenen Interieur. 

„Hier werden Sie vorerst untergebracht sein. Entspricht es ihren Vorstellungen?“, will sie wissen und sieht mich dabei so ernst an, als sprächen wir über streng geheime Staatangelegenheiten. „Da wir mit ihren Vorlieben noch nicht vertraut sind, haben wir einen sehr klassischen, viktorianisch anmutenden  Stil gewählt, wie ihn der junge Herr bevorzugt“, erklärt sie, und beeilt sich hinzuzufügen: „Falls es ihnen jedoch nicht zusagen sollte, werde ich veranlassen, dass man den Raum sofort nach ihren Wünschen umgestaltet!“

Was soll ich dazu sagen? Dass es mir zu luxuriös ist?

„Es ist wunderschön, vielen Dank.“

Das Kompliment scheint sie zu freuen, und sie schenkt mir ein flüchtiges Lächeln. 

„Sobald Sie sich frisch gemacht haben, werde ich sie zum Herrn des Hauses bringen. Er wird ihnen all ihre Fragen beantworten“, verspricht sie.

Kaum hat sie geendet, kommt eine zierliche Frau in Dienstmädchenuniform aus dem Badezimmer geschwebt.

„Die Wanne ist so weit“, erklärt sie an Elena gewandt. Die nickt zufrieden. 

„Das ist Yvette“, stellt sie mir die Frau vor. „Sie wird sich um Ihr körperliches Wohl kümmern. Bei ihr sind Sie in den besten Händen!“, versichert sie mir.

„Ähm … ich … ich weiß ihr Angebot wirklich zu schätzen, aber ich komme schon alleine zu Recht“, lehne ich peinlich berührt ab. Ich lasse mich doch nicht von einer wildfremden Person waschen! Wie alt bin ich, zwei?

„Wie Sie wünschen, Madame“, nimmt Elena meinen Einwand leichthin zur Kenntnis. „In den Schränken dürften Sie alles finden, was sie benötigen. Neben den Lichtschaltern sind rote Knöpfe angebracht, damit können sie jemanden rufen, falls sie Hilfe benötigen sollten“, erklärt sie. „Yvette hat ihnen bereites etwas Passendes zum Anziehen zu Recht gelegt.“

Sie deutet auf ein dunkles Stoffbündel am Ende des Bettes.

Die beiden Frauen verneigen sich, dann lassen sie mich in meinem neuen Reich alleine.

Neugierig schaue ich mir die bereitgelegte Kleidung genauer an, die sich als ein schlichtes, ärmelloses, marineblaues Kleid im Audrey Hepburn Stil entpuppt. Auf dem Boden stehen dazu passende braune Ballerinas. Damit kann ich leben, auch wenn mir Jeans lieber gewesen wären.    

Nachdem ich geduscht und mir die Haare geföhnt habe, fühle ich mich gleich wie neu geboren. Endlich raus aus diesem nassen, ekligen Zwirn! Das Kleid und die Schuhe passen wie angegossen, nur meine ungebändigte, schwarze Mähne will nicht so recht zur Gesamterscheinung passen. Ich durchforste das Bad auf der Suche nach einem Haargummi – was sich als schwerer erweist, als erwartet. Elena hatte nicht übertrieben als sie meinte, es sei alles vorhanden, was ich bräuchte. Glätteisen, Lockenstab, dutzende frischer Handtücher, Seifen, Cremes, Nagellack in allen Farben des Regenbogens, ein Kosmetiksortiment, um das mich jeder Supermarkt beneiden würde, Parfüms – dann bin ich endlich bei den Haarpflegeprodukten angekommen. Rasch fasse ich meine Haare in einen Pferdeschwanz zusammen. Ich werfe einen kritischen Blick in den Spiegel und bin zufrieden mit dem, was ich sehe. So kann ich es schon eher mit diesem Markov aufnehmen. Der Kerl schuldet mir noch eine Erklärung – und zwar eine große!

Ich laufe zu dem Lichtschalter, der am nächsten an der Tür ist, atme einmal tief durch und drücke den roten Knopf. Kaum, dass ich den Finger wieder herunternehme, tauchte Elena neben mir auf. Hat sie etwa die ganze Zeit draußen auf mich gewartet?

„Ich … ich bin fertig“, erkläre ich.

„Das Kleid steht ihnen ausgezeichnet, Madame“, befindet Elena mit einem aufmunternden Lächeln. „Wenn Sie mir dann bitte folgen würden …“

Jedes Mal, wenn wir auf dem Gang jemandem begegnen, verneigt er sich vor mir. Was hat das alles nur zu bedeuten?

Das Büro, zu dem Elena mich führt, liegt auf derselben Etage wie mein Zimmer. Hinter einem vollbeladenen Schreibtisch sitzt ein älterer Mann mit schütterem, grau-weißem Haar und einer grellen orangenen Krawatte, die nicht so recht zu seiner autoritären Ausstrahlung passen will. Irgendwie erinnert er mich an den englischen Thronfolger Charles. Als wir hereinkommen, ist er gerade mit der Sichtung von diversen Unterlagen beschäftigt.

„Herr, Madame Hannah ist so weit“, stellt Elena mich vor.

„Ich danke dir, Elena. Du kannst gehen“, befiehlt er. Seine Stimme ist ruhig, seine Augen wachsam, aber freundlich.

Elena nickt, verbeugt sich und lässt mich mit dem fremden Mann allein, der sich inzwischen von seinem Platz erhoben hat.

„Bitte, setz dich doch!“, fordert er mich auf und deutet auf einen der zwei Stühle ihm gegenüber.

Während ich dem nachkomme, entlockt der Mann der Kaffemaschine in seinem Rücken ein leises Gurgeln. 

„Möchtest du einen Kaffee oder einen Tee?“, fragt er.

„Ein … ein Tee wäre nett. Danke.“

Eine Minute später reicht er mir eine dampfende Tasse, dann macht er es sich wieder in seinem Chefsessel bequem.

„Mein Name ist Klaus Markov. Ich bin das stellvertretende Oberhaupt unserer Familie und für die Verwaltung unserer … Geschäfte verantwortlich“, stellt er sich vor.

Noch ein Markov, na ganz toll! Als ob einer von der Sorte nicht gereicht hätte!

„Ich kann verstehen, dass du momentan sehr verwirrt sein musst, doch bevor ich deine Fragen beantworten kann, muss ich dich zunächst bitten, mir einige Fragen zu beantworten.“

Sie möchten mir Fragen stellen?“, erkundige ich mich verwundert. Markov Senior legt nachdenklich die Fingerspitzen aneinander.

„Um ehrlich zu sein, ist diese … Situation für uns genauso neu wie für dich“, gesteht er. „Wir haben zwar einige Vermutungen, wie es zu all dem kommen konnte, aber den Schlüssel zu den Antworten trägst letztlich du.“

Jetzt bin ich kein bisschen schlauer als vorher.

„Was möchten Sie denn von mir wissen?“, seufze ich dennoch ergeben, um dieses merkwürdige Gespräch voran zu bringen.

„Du wurdest in Korea geboren und bist mit vier Jahren nach Deutschland adoptiert worden – stimmt das?“

Erleichterung durchströmt mich. Also bin ich doch nicht verrückt! Mein Leben, meine Eltern – alles ist wahr!

Aber der Höhenflug dauert nur kurz, ehe ich wieder auf dem Boden der kalten Tatsachen lande.

„Woher wissen Sie das?“

„Es stimmt also“, stellt er fest. „Kannst du dich noch an etwas aus dieser Zeit erinnern?“

Ich schüttle den Kopf.

„Meine ersten Erinnerungen habe ich in Deutschland.“

„Haben deine Eltern mit dir über die Umstände deiner Adoption gesprochen?“

Ich muss ein paar Mal schlucken um den Kloß in meinem Hals, der sich bei den Gedanken an meine Eltern gebildet hat, herunter zu schlucken.

„Meine Eltern lebten einige Jahre in Korea, weil mein Vater dort eine Stelle in einem Hotel bekommen hatte“, erinnere ich mich an das, was mir erzählt wurde. „Meine Mutter half während dieser Zeit ehrenamtlich im örtlichen Kinderheim aus. Als sie eines Abends nach Hause gehen wollte, fand sie einen Säugling vor den Pforten des Heimes. Den Rest können sie sich vermutlich denken.“

„Weiß man, wer dich dort abgelegt hat?“

„Die Polizeiermittlungen führten damals ins Leere und niemand meldete mich als vermisst“, antworte ich.

„Verstehe. Hast du, bevor du Julian begegnet bist, etwas Sonderbares an dir festgestellt? Konntest du Dinge, die andere Kinder nicht konnten?“

„Sie spielen auf diese merkwürdigen Visionen an, nicht wahr?“, ahne ich, worauf er hinaus will. „Nein. Es hat erst angefangen als ich … als ich ihm begegnet bin.“

„Mhm, das ergibt Sinn“, befindet er. „Meine Vermutungen stimmen also …“

Als der Alte aufsteht, zur Fensterfront zu meiner Linken läuft, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und gedankenversunken in den trüben Herbsthimmel hinaus blickt weiß ich, dass nun ich an der Reihe bin. Es kommt mir so vor als wolle er vermeiden mir bei dem, was nun folgt, in die Augen sehen zu müssen. Das lässt nichts Gutes erahnen. 

„Auf unserer Familie liegt ein Fluch“, beginnt er schließlich zu erklären.

„Ein Fluch?“, wiederhole ich, da ich sicher bin, mich verhört zu haben.

„Mir ist bewusst, dass sich das für dich verrückt anhören muss, aber es ist die traurige Wahrheit“, entgegnet er, ohne eine Miene zu verziehen.

„Mal angenommen es stimmt, was sie sagen: Ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun haben soll!“

Der Alte wendet sich mir wieder zu, einen mitfühlendes Schimmern liegt in seinen Augen.

„Derselbe Fluch liegt auch auf der Familie deiner leiblichen Eltern – also auf dir.“

„Wollen sie damit sagen, ich … ich bin mit ihnen verwandt?“

„Im Grunde genommen nicht, auch wenn dich dein Schicksal dazu bestimmt hat, eine Markov zu werden“, antwortet er noch immer in Rätseln.

Für den Bruchteil einer Sekunde krallen sich meine Finger beinahe schmerzhaft in die Lehnen des Stuhles, ehe ich ungeduldig aufspringe. Langsam reist mir der Geduldsfaden.

Kommen sie einfach zum Punkt!“, kann ich nicht länger an mich halten. „Was ist das für ein Fluch, mit dem ich angeblich belegt bin? Und was soll das mit dem Schicksal?“

Er zuckt nicht zusammen und seine Miene lässt keine Empörung oder Ärger erkennen. Er sieht mich nur… abschätzend? – ja, abschätzend an, bis er anscheinend findet, wonach er gesucht hat. Er läuft wieder zurück zum Schreibtisch, kommt aber diesmal auf meine Seite. Einen knappen Meter vor mir bleibt er stehen.

„Ich denke es wäre am einfachsten, wenn ich es dir zeigen dürfte“, bietet er mir an.

„Mir was zeigen?“

„Geschichte“, ist alles, was der Alte darauf erwidert.

Er streckt mir seine Hand entgegen, als wolle er mir etwas überreichen. Erwartet er etwa, dass ich sie ergreife? Mich beunruhigt die Tatsache, dass er mir nicht gut zuredet. Macht man das nicht in solchen Momenten? Ich habe Angst vor dem, was er mich sehen lassen will, aber etwas in mir sagt mir, dass ich nur so die Antworten finden werde, nach denen ich suche. Ich zögere einen Augenblick, dann greife ich zu.

Kapitel 5

Ein eigenartiges Kribbeln fährt durch seinen Kopf, reißt ihn aus seinem Traum.

Verschlafen öffnet er die Augen. Durch die bogenförmigen Durchgänge, die zum Balkon hinausführen, weht eine angenehm kühle Brise herein und spielt mit den teuren Stoffen, die am Bett und an den Fenstern angebracht sind. Die Strahlen des Mondes tauchen die Gemächer in silbriges Licht. Es ist noch Nacht.

Die beiden Gespielinnen, die er sich für den vergangenen Abend genommen hat, liegen noch immer nackt an ihn geschmiegt. Ihre vollen Brüste an seinem Oberkörper fühlen sich gut an, bestätigen ihn in seiner Männlichkeit. Mit einem trägen Lächeln erinnert er sich daran, wie begierig sie darauf gewesen waren, ihm zu Diensten zu sein. Was so ein gutes, altes Exempel doch alles bringen kann. Erst wenige Wochen zuvor hat er eine seiner Haremsdamen öffentlich vor den anderen auspeitschen lassen, weil sie sich ihm verweigert hatte. Man habe sie in den Harem entführt, und sie sei bereits einem anderen versprochen. Als ob ihn solche Geschichten interessieren würden! Er ist der uneingeschränkte Herrscher dieses Landes, und sein Wort ist Gesetz! Er bekommt immer, was er will – und wen er will!

Eine der Frauen stöhnt leise auf, als er sich aufsetzt und ihr seinen warmen Körper entzieht. Er schlüpft in die Seidenhose, die er gestern vor Beginn ihres Liebesspieles achtlos auf den Boden geworfen hat, um seine Blöße zu bedecken, und schlendert auf die Terrasse. Die Arme auf das Geländer gestützt lässt er den Blick über den Schlosshof unter ihm und die Dächer der Stadt streifen, die sich bis in den Horizont erstrecken. Andächtige Stille liegt über den Häusern, nur das wirre Gerede eines Trunkboldes und das Getrampel von patrollierenden Soldaten wehen leise zu ihm herauf. Über allem thront eine atemberaubende Vollmondnacht.

Aus irgendeinem Grund beschleicht ihn jedoch das ungute Gefühl, dass diese augenscheinliche Idylle trügt. Er kann sich nicht erklären, woher diese Eingebung kommt – der letzte Aufstand gegen ihn musste mindestens eine Dekade zurückliegen, und seither hatte er die Zügel noch enger gemacht. Seine Untertanen wissen nur zu gut was ihnen blüht, sollten sie auch nur einen Finger gegen ihn erheben, was die aufgespießten Köpfe, die er wöchentlich vor dem Schloss erneuern lässt, mehr als eindrucksvoll beweisen. Warum also fühlt er sich heute so ruhelos?

Wie um seine Ahnung zu bestätigen, fährt plötzlich ein schmerzhaftes Pochen durch seinen Körper. Stimmen schleichen sich in seinen Kopf, dutzende fremder Stimmen, die in einer ihm unbekannten Sprache eine Art Sprechgesang anstimmen. Die Stimmen werden immer lauter, immer kräftiger, und um ihn herum beginnt sich alles zu drehen, als würden die Stimmen ihn in die Knie zwingen. Noch ehe er weiß, wie ihm geschieht, verliert er das Bewusstsein.

 

Schwarz. Als er wieder zu sich kommt, ist das erste, was er sieht, eine undurchdringliche Dunkelheit, die ihn vollständig verschluckt zu haben scheint. Es ist so finster, dass er nicht einmal seine eigenen Hände sehen kann. Hat es etwa einer seiner Feinde geschafft, ihn gefangen zu nehmen? Aber wie war das möglich? Und wo hat man ihn hingebracht?

Wieder hört er diesen Gesang. Er beschließt, dem Geräusch zu folgen.

Bald erscheint ein kleines Licht in mitten der Dunkelheit. Je näher er ihm kommt, desto lauter werden die Stimmen, bis er schließlich erkennt, dass es sich bei dem Licht um ein großes Lagerfeuer handelt. Dutzende in dunkle Umhänge gehüllte Gestalten sind darum versammelt. Sie sind die Quelle des eigenartigen Gesangs.

„Ich verlange sofort zu erfahren, was hier vor sich geht!“, will er die Stimmen mit einem autoritären Befehl endlich zum verstummen bringen, doch seiner Kehle lässt sich kein Ton entlocken. Entsetzt fasst er sich an den Hals, versucht sich zu räuspern, etwas zu brummen. Nichts.

Plötzlich nimmt er aus den Augenwinkeln heraus andere Gestalten war, die sich nach und nach aus der Finsternis um die Lagerfeuergemeinschaft herausschälen, wie er es zuvor wohl selbst getan hat. Es sind durchweg Männer, zwölf an der Zahl, und jeder ist in kostbare Stoffe gehüllt. Manche sind kaum dem Säuglingsalter entwachsen, andere tragen deutlich die Zeichen der Zeit. Mache sind dunkelhäutig, andere lediglich sonnengebräunt, wie er selbst. Jeder von ihnen trägt sonderbare Frisuren und fremdartigen Schmuck, ebenso verhält es sich mit ihrer Kleidung. Sie alle müssen aus fernen Ländern stammen. Das Entsetzen jedoch, das sich in ihren Gesichtern widerspielgelt, ist allen gemeinsam.

Sein Blick bleibt an einem älteren Mann zu seiner Linken hängen, der ihm vage bekannt vorkommt. Die Krone, die er auf seinem Haupt trägt … Vor langer Zeit hat er diese kunstvolle Krone schon einmal gesehen, da ist er sich sicher!

Da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Es sind genau zwölf Männer. Zwölf wohlhabende, gebieterisch auftretende Männer. Das kann kein Zufall sein. Wieso ist ihm das nicht sofort aufgefallen? Aber wenn diese Männer wirklich diejenigen sind, für die er sie hielt, würde das bedeuten … Nein, das ist einfach nicht möglich! Niemand kann so etwas schaffen!

Abrupt ersterben die Stimmen am Feuer, ersetzt von einer bedrückenden Stille. Nicht einmal das Prasseln des Feuers ist zu hören. Von einem Herzschlag auf den anderen lösen sich die Gestalten in Rauch auf, als hätten die Flammen sie sich geholt. Nur eine von ihnen bleibt zurück, offensichtlich nicht im Mindesten beeindruckt vom Verschwinden ihrer Gefährten. Im Gegensatz zu den anderen ist sie in einen weißen Umhang gehüllt.  

„Wir haben euch gewarnt“, schallt eine weibliche, feste Stimme durch seinen Kopf.

Instinktiv weiß er, dass sie zu der Gestalt gehört, obwohl ihr Blick noch immer wie gebannt auf die Flammen geheftet ist. Kaum, dass sie geendet hat, schlagen sie plötzlich heftig aus, als hätte eine unsichtbare Macht sie angeheizt. Wieder spürt er dieses merkwürdige Kribbeln in seinem Kopf …

 

 ehe er sich auf einem Schlag auf dem Marktplatz seiner derzeitigen Residenzstadt befindet. Eine begeisterte Menschenmasse jubelt ihm zu, und die zahlreichen Wachen, die überall postiert sind, sorgen dafür, dass es auch so bleibt. Die wöchentlich stattfindenden, öffentlichen Hinrichtungen stehen an. Unwillkürlich entschlüpft ihm ein Grinsen. Sein Lieblingstag. Alles ist so beruhigend normal, dass er vor Erleichterung die unheimliche Gestalt und das Feuer ohne Mühe aus seinen Gedanken verdrängt und sich in diesem berauschenden Moment der Macht verliert.

Ein verdreckter, ausgezehrter, junger Mann wird an ein Kreuz genagelt. Er hat gerade noch die Kraft, vor Schmerzen zu wimmern. Die bitteren Klagen einer Frau heben sich von der versammelten Menschenmenge ab, während sie ohne Erfolg versucht, an den Wachen vorbei an das Blutgerüst zu gelangen, um ihren Geliebten zu befreien.

„Bitte, wir werden die Steuern bezahlen, sobald wir können.“ In ihrer Hoffnungslosigkeit reist sie sich ihr Mieder auf und bietet unter Tränen ihr entblößtes Fleisch dar. „Bitte, ich tue alles, nur bitte lasst ihn gehen, bitte!“

Die Wachen lachen nur.

„Das Schicksal deines Mannes ist besiedelt, Weib, aber wenn du noch ein bisschen weiter bettelst …“, bietet einer der Männer mit lüsternem Blick an, tritt näher und fährt mit den Fingern genussvoll über ihre freigelegten Brüste, „ … könnten wir uns vielleicht erbarmen, dir zumindest ein wenig dabei zu helfen, deine Schulden abzuarbeiten.“

Seine Kollegen lachen noch lauter. Mit einem verzweifelten Schrei schlägt die Frau seine schmierigen Hände weg und versucht, sich wieder zu bedecken.

„Wag es nicht, mich noch einmal anzufassen, du mieses Schwein!“, spuckt sie voller Verachtung.

Auf einmal ist jeglicher Spott aus den Zügen der Wache gewichen.

„Du erdreistest dich, so mit einer königlichen Wache zu reden, du kleine Hure?“

Der Mann hebt seinen Arm, holt aus …

und ein unvorstellbarer Schmerz explodiert in seiner linken Gesichtshälfte, lässt ihn entsetzt auf keuchen – oder sie? Er spürt, wie der zierliche Körper der Frau von den Füßen gerissen wird und auf dem staubigen Sandboden landet, als habe der Schlag seinem eigenen Körper gegolten – nur das er noch immer alles von seinem Podest aus beobachtet.  

Noch bevor er sich von dem ersten Schock erholen kann, beginnt ein schmerzhaftes Stechen, seine Brust zu malträtieren. Es ist, als habe jemand eine Eisenschelle um sein Herz gelegt, die sich immer enger schnürt.

Trauer. Unendliche Trauer. Man würde ihm das Liebste nehmen, das er je besessen hat. Er hat doch niemanden mehr sonst auf dieser Welt!

Wut. Rasende Wut. In diesem Land gibt es keine Gerechtigkeit. Der Adel würde sie, das einfache Volk, noch vollkommen ausbluten, wenn man ihm nicht endlich Einhalt gebietet.

Verzweiflung. Unendliche Verzweiflung. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Die Wachen würden sich an ihm vergehen, und wenn er Glück hatte, würde er es nicht überleben. Aber wann hatte jemand wie er schon einmal Glück …

Er spürt, wie etwas seine Mundwinkel kitzelt, ehe er sieht, dass aus dem Mund der Frau Blut rinnt. Unwillkürlich betastet er mit zittriger Hand seine eigene Wange. Nichts. Da versteht er.

Eine furchbare Vermutung keimt in ihm auf. Konnte er etwa die Gefühle dieser armseligen Frau dort unten spüren? Aber wie ist das möglich?

Die Schmerzen in seiner Brust werden beinahe unerträglich, und er krallt die Hände in sein Gewand über seinem vor Angst wild pochenden Herzen, wie an einen Rettungsanker. Schweiß tritt ihm auf die Stirn, und das Atmen fällt ihm zunehmend schwerer. Das letzte, das er sieht, sind die hoffnungslosen, anklagenden Augen der Frau, die bis in seine dunkle Seele zu schauen scheinen. Dann hüllt sich die Welt um ihn herum erneut in undurchdringliches Schwarz …

 

…bevor er sich vor dem wild tanzenden Feuer wiederfindet.

 Sein Körper fühlt sich vollkommen ausgezehrt an, seine Hände zittern. Was für teuflische Magie ist hier nur am Werk?

„Mehr als einmal haben wir euch gewarnt, eurem Wahnsinn ein Ende zu setzen“, fährt die Stimme fort. „Aber ihr habt jede Chance zu einer Besserung verwirkt, die wir euch gaben. Nun ist die Zeit des Redens vorbei.“

Die umher wirbelnden Flammen stieben in alle Richtungen aus, wie die Tentakel eines Seeungeheuers, bis das Feuer ihn und die anderen Männer vollständig verschlungen hat.

„Fortan werdet ihr die Schmerzen eurer Untertanen, die ihr so lange ignoriert habt, spüren, als seine es eure eigenen. Nie wieder werdet ihr jemandem etwas zu Leide tun, ohne das Ausmaß eures Handelns zu begreifen. Die Herrschaft der dreizehn findet hier ihr Ende.“

Gerade als er glaubt, die unerträgliche Hitze nicht mehr auszuhalten, ist das Feuer verschwunden …

  

…und er erwacht schweißgebadet in seinem Bett. Seine Hofheiler und einige Kammerdiener drängen sich in Nachtgewändern um sein Krankenlager und bedenken ihn mit nervösen Blicken. Erleichterung überkommt ihn. Es war ein Fiebertraum, nichts weiter. Nur ein Fiebertraum. Beinahe hätte er über seine Paranoia gelacht, hätte er nicht so einen Brummschädel gehabt. Ob man ihn vergiftet hat?

„Was ist geschehen?“, verlangt er zu wissen. Erfreut stellt er fest, dass seine dunkle, autoritäre Stimme zurückgekehrt ist, auch wenn sie etwas schwächer klingt, als ihm lieb ist.

„M-man hat euch schreien gehört, mein König, und als man euch fand, lagt ihr ohnmächtig auf eurer Terrasse“, beeilte sich der oberste Heiler zu antworten.

„Und wie lautet eure Diagnose?“, hakt er ungeduldig nach.

Er hasste es, wenn Leute nicht gleich zum Punkt kamen und seine Zeit vergeudeten.

Der Heiler sieht hilflos zu seinen Kollegen, als würde sich jemand bereit erklären, an seiner statt zu Antworten, doch die Blicke der anderen weichen ihm nur verlegen aus.

„N-nun, mein König, w-wir … wir …“, beginnt der alte Mann hilflos zu stammeln.

„Wir WAS? Kommt zum Punkt!“

„D-die Wahrheit ist, mein G-Gebieter, n-nun, d-die Wahrheit ist …“

Angst. Verzweiflung. Hilflosigkeit.

Voller Wucht stürmen die Gefühle des Heilers auf ihn ein, bringen sein Herz erneut zum Rasen, ehe sich eine Reihe verzerrter Bilder vor sein geistiges Auge drängen 

 

Der Heiler in einer Zelle. Er wartet auf seine Hinrichtung. Seine Familie drängt sich vor den Palastmauern, will um Gnade bitten, aber die Wachen stoßen sie gewaltsam fort, sagen, er sei ein Quacksalber, der seine Pflicht dem König gegenüber vernachlässigt habe.

Der Heiler, wie er mehreren schwerverletzten Soldaten das Leben rettet. Zwei Tage verbringt er ohne Schlaf, während er sich um seine Patienten kümmert. Er hat ein wahres Wunder an den Männern vollbracht. Als er sicher ist, dass alle soweit stabil sind, macht er sich vollkommen erschöpft auf den Heimweg. Freudig wird er von Frau und Kindern willkommen geheißen, die bereits von seinem Erfolg erfahren haben.

 

So schnell, wie die Bilder gekommen sind, verschwinden sie auch wieder, doch die Schmerzen in seinem Kopf bleiben zurück. Er kann den Nachhall der Emotionen des Heilers noch immer in sich spüren. Gefühle, Bilder – so viele Eindrücke, es sind einfach zu viele! Es ist zu viel!

„RAUS HIER! VERSCHWINDET! HÖRT AUF ZU FÜHLEN!“, schreit er in seiner Qual, kneift die Augen zu und drückt die Hände gegen die Ohren, als könne er die Visionen so zurückdrängen.

„A-aber Gebieter …“

„RAUS!“, stöhnt er verzweifelt. „RAUS!“

Es ist doch kein Traum gewesen. Das Feuer, die Frau … Mögen die Götter ihm beistehen, es ist kein Traum gewesen!

 

Das Knarren der massiven Holztür reißt ihn aus seinen Gedanken. In nicht einmal einer Stunde würde der Rat der hohen Familie tagen. Alle mächtigen Männer, die in der Herrscherfamilie dieses Landes etwas zu sagen hatten, würden sich hier im Ratssaal mit ihm zusammenfinden und er hat nicht die geringste Ahnung, wie er seine Stellung als Herrscher in dieser Situation verteidigen soll. Er ist momentan nicht im Stande, ein Reich zu regieren, das muss sogar er sich eingestehen. Wer durch diese Tür trat, sollte also besser einen verdammt guten Grund haben, ihn zu stören!

Zu seiner Überraschung ist es eine Frau, welche die Stufen zu ihm herab geschritten kommt, seine oberste Haremsdame. Sie bleibt in gebürtigem Abstand zu ihm stehen und verbeugt sich gewohnt grazil. Sie sieht erschöpft aus, und ihr sonst so mühevoll frisiertes, blondes Haar fällt ihr wild um die Schultern. Ihre Nervosität ist beinahe mit den Händen zu greifen.

„Bitte verzeiht mein forsches Auftreten, Gebieter, aber ich muss euch in einer dringlichen Angelegenheit sprechen!“, keucht sie, als sei sie den Weg vom Harem bis hierher gerannt.

Unwillkürlich entfährt ihm ein ungläubiges Grunzen.

„Was könnte eine Haremsdame wohl dringliches mit mir zu besprechen haben?“, fragt er abfällig.

Wie hatte sie die Wachen überzeugen können, sie zu ihm vorzulassen? Eine Frau im Sitzungssaal eines Palastes – wo hat es so etwas schon einmal gegeben? Frauen verstehen vermutlich noch nicht einmal das bloße Wort „Politik“!

„Aber da du nun schon einmal hier bist, werde ich dir erlauben, dich zu erheben und zu sprechen!“

Er will erfahren, was sie zu solch einer Dreistigkeit verleitete hat, wo sie doch sonst von so besonnenem Gemüt ist. Außerdem tut ihm eine kurze Ablenkung von seinen Sorgen vielleicht ganz gut.

Die Haremsdame atmet erleichtert aus und erhebt sich, das Haupt noch immer ein wenig gesenkt, wie es sich vor dem Herrscher gebührt.

„Ich hoffe allerdings dir ist bewusst, welch außergewöhnliche Großzügigkeit ich dir erweise! Jede andere Frau hätte mit dem Eintritt in diesen Saal ihr Todesurteil besiedelt!“, erinnert er sie streng, bevor er ihr schließlich gestattet, sich zu erklären.

„Ich bin mir der Großzügigkeit, die ihr meiner niederen Person zu Teil werden lasst, überaus bewusst, mein Gebieter, und ich würde diese Großzügigkeit niemals ausnutzen, wenn ich nicht absolut davon überzeugt wäre, dass meine Worte von großer Wichtigkeit für eure Majestät wären“, erwidert sie geziemend und bedankt sich mit einer weiteren Verbeugung.

„Nun dann, sprecht!“, fordert er sie auf.

„Ich … ich hatte vergangene Nacht einen Traum“, beginnt sie zögerlich. „Ich sah, wie ihr zusammen mit zwölf anderen Männern um ein Lagerfeuer standet, dass euch … dass euch bei lebendigem Leibe verschlang.“

Hatte sie etwa denselben Traum gehabt, wie er?

„Alles war plötzlich schwarz, und dann … dann kam eine Frau zu mir, die von Kopf bis Fuß in einen weißen Mantel gehüllt war. Sie berührte meine Stirn und sagte mir, ich werde von nun an euer einziges Weib sein und euer Schicksal wäre fortan das meine. Ich solle euch ausrichten, dass ich … dass dies ein Geschenk sei, und ihr …“, wieder hält sie zögerlich inne.

„Und ich was?“, hakt er mit drohend leiser Stimme nach.

Die Haremsdame schluckt nervös und ringt hilflos die Hände.

„Ich frage nicht noch einmal!“, herrscht er sie an.

„… ihr tätet gut daran, dieses Geschenk wertzuschätzen“, antwortet sie kaum hörbar, den Kopf ängstlich eingezogen.

Klug von ihr. Schlimm genug, dass eine Frau in seinen Ratssaal eingedrungen war, aber nun soll er sich auch noch von einer Frau Ratschläge erteilen lassen? Er? Hätte sie sich nicht so unterwürfig gebärdet, hätte er sie vermutlich auf der Stelle mit seinem Schwert gerichtet für diese Anmaßung, auch wenn sie nur als Botin für diese Hexe fungiert hatte!

Grob packt er die am Boden kniende Frau bei den Schultern und zieht sie auf die Beine, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe ist, wie das seine. Sie keucht entsetzt und sieht ängstlich zu ihm auf, flehend.

„Hat die Frau noch etwas anderes zu dir gesagt?“, fragt er drängend. Sie schüttelt hastig den Kopf.

„N-nein, mein Gebieter.“

„Ist das alles, weswegen du mich sprechen wolltest?“

Wieder schüttelt sie den Kopf.

„Es … es gibt da noch etwas, Herr“, beginnt sie zögerlich. „Als ich … als ich dann des Morgens erwachte, bekam ich fürchterliche Kopfschmerzen und sah auf einmal die merkwürdigsten Dinge. Dann hörte ich, dass eure Majestät ein ähnliches Leiden befallen hatte, und ich …“

„Was waren das für merkwürdige Dinge, die du gesehen hast?“, unterbricht er sie barsch.   

„Ich … nun, ich weiß nicht so recht, wie ich …“

Was hast du gesehen?“

Seine Finger graben sich unwillkürlich fester in ihre zarten Oberarme. Er fühlt ihren Schmerz, lässt aber nicht locker.

„Das Schicksal“, gibt sie leise zurück. „Ich … ich habe das Schicksal gesehen, mein Gebieter.“

Das Schicksal. Ist es das, was seine Visionen ihm zeigen? Nie wieder werdet ihr jemandem etwas zu Leide tun, ohne das Ausmaß eures Handelns zu begreifen – hatte die Hexe das damit gemeint? Ist er fortan dazu verdammt, die Schicksale zu sehen, die er heraufbeschworen hat? Anfangs hat er angenommen, die Hexe wolle ihn mit den Bildern nur quälen, doch könnten sie womöglich wirklich etwas mit ihm zu tun haben?

Nein. Nein, das kann einfach nicht sein. Man verschwört sich gegen ihn! Es muss ein Trick sein! Ja, ein Trick!

Abrupt lässt er die Haremsdame los, die vor Schreck auf die Knie sinkt.

„Du lügst! Du steckst mit ihnen unter einer Decke, gib es zu! Du lügst!“, schreit er verzweifelt.

Anstatt sich erschrocken von ihm abzuwenden, wie er es erwartet hat, tut sie etwas viel schlimmeres: Sie sieht ihm direkt in die Augen. Die Angst, die ihn ihrem Blick liegt, Angst, die der seinen so ähnlich ist, zeigt, dass sie die Wahrheit gesprochen hat.

„Hör auf, mich anzusehen!“, fährt er sie an. „Geh mir aus den Augen! Verschwinde! Verschwinde und wage es nicht, mir je wieder unter die Augen zu treten!“

Die Haremsdame schluckt nervös, verbeugt sich, rafft ihre Röcke und verlässt so rasch den Saal, wie sie ihn betreten hat. Einen kurzen Moment lang fühlt er so etwas wie Trauer, aber das muss das letzte Echo der Gefühle der Frau sein.

Ein Geschenk sollte es sein, dass eine elende Haremsdame mit demselben Fluch belegt worden ist, wie er? Dass man ihn, den mächtigen Mithradates, auf dieselbe Stufe stellt wie ein nichtsnutziges Weib? Pah, verschmähen will sie ihn, diese Hexe, nichts weiter!

Er würde diese dreckige kleine Schlampe finden – und wenn er die ganze Welt dafür absuchen musste! Und wenn er sie dann gefunden und gezwungen hat, den Zauber rückgängig zu machen, gnaden ihr die Götter …

 

 

Kapitel 6

 

Er sitzt auf seinem Thron und sieht in die Demut heuchelnden Gesichter der Versammelten.

Genugtuung. Freude.

Man würde ihn noch heute absetzen. Die Ratssitzung war ein Debakel gewesen. Wie Aasgeier hatten sich die höchsten des Hofes auf sein Leiden gestürzt, und am Ende war seine Abdankung beschlossene Sache gewesen. Seine augenblickliche Kondition hatte es ihm unmöglich gemacht, dem etwas entgegen zu setzen.

Kaum hatte man nach den adligen Ministern und Militärs geschickt, die sich zur Zeit in der Stadt aufhielten, und den Beschluss des hohen Rates verkündet, waren sie alle zu dem großen Ereignis herbeigeeilt wie die Motten zum Licht.

Nicht dass er je der Illusion erlegen wäre, irgendjemand an diesem Hof sei ihm vollkommen selbstlos ergeben. Aber er hatte darauf gesetzt, dass zumindest seine Einschüchterungsmaßnahmen soweit Früchte getragen hatten, ihm etwas mehr Zeit zu verschaffen.

Die Zeremonie ist vorbei und man bringt ihn in seine neue Gemächer. Wie betäubt hatte er die Abnahme seiner Insignien über sich ergehen lassen und mit angesehen, wie man sie feierlich seinem Nachfolger angelegt hatte. Obwohl er immer noch in feinste Seife gehüllt ist, fühlt er sich in diesem Moment wie nackt ohne die rote Herrscherweste, den Herrscherstab und seiner Krone.

Sobald all seine Habseligkeiten in die neuen Räume gebracht worden sind, befiehlt er der Dienerschaft, sich zu entfernen. Es kostet ihn all seine Mühe, Haltung zu wahren, bis auch der letzte seine Gemächer verlassen hat. Als er endlich alleine ist, nimmt er sich die nächstbeste Kanope und schleudert sie , begleitet von einem animalischen Wutschrei, mit voller Wucht gegen die Wand, um wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde die sSimmen und Bilder in seinem Kopf in den Hintergrund zu drängen. Dann noch eine. Und noch eine. Und noch eine.

Als es nichts mehr zu zerbrechen gibt, hebt er sich in seiner Verzweiflung eine der Scherben vom Boden auf und rammt sie sich ohne groß darüber nachzudenken in den Unterarm. Für einen köstlichen Augenblick gibt es nichts in ihm außer dem Schmerz – dann kommen die Bilder zurück.

Als er erneut ansetzen will, um dieses Mal auf sein Herz zu zielen, legt sich eine zierliche Frauenhand um die Scherbe. Auch als er ihr die Scherbe entreißen will, lässt sie nicht locker, obwohl sich das spitze Porzellan dadurch tief in ihre zarte Haut bohrt.

Sorge.

„Bitte Herr, tut das nicht! Bitte lasst mich nicht allein!“, fleht sie. Er kennt diese Stimme …

Er hebt seinen Blick von der blutigen Scherbe und sieht in die großen, angsterfüllten Augen der obersten Haremsdame. Der Tradition zu Folge würde die Favoritin des neuen Herrschers nun ihren Platz einnehmen und sie umbgebracht, sobald er diese Welt verlassen hatte.

„Ihr habt euch noch nie von etwas in die Knie zwingen lassen. Lasst nicht zu, dass dieser grässliche Zauber etwas daran ändert! Sie mögen euch euren Thron genommen haben, aber lasst nicht zu, dass sie euch auch noch euren Stolz nehmen!“

Er kann ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken. Kluges Ding, seinen Stolz ins Spiel zu bringen. Sie kennt ihn besser, als er erwarte hat.

Er überlasst ihr die Scherbe und legt seine Hand stattdessen um ihren zierlichen Hals. Er war so kurz davor gewesen, allem ein Ende zu setzen, war mehr als bereit gewesen, in das nächste Leben über zu wechseln – und nun muss dieses vermaledeite Weibsbild auftauchen und ihn an seine Ehre erinnern!

„Ich dachte ich hätte mich klar ausgedrückt als ich dir befahl, dich von mir fern zu halten! Wäre ich noch König, hätte dich dieses aufsässige Verhalten den Kopf gekostet!“, faucht er wütend.

Unwillkürlich drückt er fester zu und zieht ihren Kopf zu sich hinauf, so dass sie gezwungen ist, sich auf die Zehenspitzen zu stellen. Ihre Hände zerren panisch an seinem Arm, während sie nach Luft japst. Im selben Augenblick schnürt es auch ihm die Kehle zu. Angst jagt wie Säure durch seine Venen, ihre Angst.

Soll es so enden?, hallt es durch seinen Kopf. Instinktiv weiß er, dass es die Gedanken der Haremsdame sind.

Eine einsame Träne rollt ihre Wange hinab, der Griff ihrer Hände lockert sich.

Dann sei es so. Sie würde ihr Leben willig für ihren Herrn geben, wenn es ihm Erleichterung verschaffte.

In seinem Herzen breitet sich eine merkwürdige Wärme aus, die sich wie Balsam über seinen leidende Seele legt und die Wucht der Visionen zu dämpfen scheint.

Beinahe wie von selbst lässt er vom Hals der Frau ab, die daraufhin erschöpft an seine Brust sinkt. Es geht ihr nicht nur um ihr eigenes Leben. Sie … sorgt sich um ihn. Sie sorgt sich wirklich um ihn.

Noch ehe er richtig begreifen kann, was er tut, drückt er die Frau enger an sich und senkt seine Lippen gierig auf ihre. Ihr Körper spricht sofort auf den Kuss an, wird weich und anschmiegsam. Ihre blutigen Hände finden wie von selbst zu seinem Nacken und seinem Rücken, streicheln, kratzen, fordern mehr. Womöglich gibt es ja noch einen anderen Weg, die quälenden Bilder für kurze Zeit hinter sich zu lassen …

Ohne seinen Mund von ihrem zu lösen, trägt er sie zum Bett. Er genießt es, seinen männlichen Körper auf ihrem weiblichen zu spüren, sich geliebt und begehrt zu fühlen. Stark. Mächtig. Die Haremsdame streckt ihm verführerisch ihre üppigen Brüste entgegen, eine Einladung, der er nur zu gerne folgt. Ungeduldig reißt er ihr den dünnen Stoff vom Leib, der ihre rosigen Knospen vor seinen Augen verbirgt. Die quälenden Bilder sind noch immer da, aber hinter einem Nebel aus Lust verborgen, der die Visionen in den Hintergrund drängt.

Beim Anblick ihres entblößten Fleisches bekommt er übergangslos einen Ständer. Die feuchte Wärme die ihn umfängt, als er in sie eindringt, fühlt sich besser an als alles, was er je erlebt hat. Als er sich seinem ersten Höhepunkt nähert, stößt er ein triumphierendes Brüllen aus. Er hat Recht behalten, es gibt noch einen weitaus angenehmeren Weg, die Bilder für einen Moment vollkommen zu verdrängen.

 

Es ist bereits später Nachmittag, da meldet sich sein Magen knurrend zu Wort und holt ihn aus dem seligen Schlummer, in den er nach seinem – selbst für seine Verhältnisse – ausführlichen Schäferstündchen verfallen ist. Kein Wunder, die letzte richtige Mahlzeit hatte er am gestrigen Abend eingenommen, vor jener verhängnisvollen Nacht.

Instinktiv fasst er sich beim Aufsetzen an die Schläfen, um seine Kopfschmerzen zurück zu drängen – nur dass da plötzlich keine Schmerzen mehr sind. Und keine Bilder.

Verwirrt schließt er die Augen. Wahrlich, nichts. War es womöglich doch nur ein Traum gewesen?

Nein, er befindet sich nicht in seinen königlichen Gemächern. Hatte er an einer vorübergehenden Krankheit des Geistes gelitten?

Er ruft nach einem Kammerdiener und trägt ihm auf, etwas zu essen herbei zu schaffen und den Medicus zu holen.

„B-bitte vergebt, mein Gebieter, aber der oberste Medicus ist im Moment nicht abkömmlich“, lässt der Mann zögerlich verlauten.

Ein missbilligender Blick von ihm reicht aus, um dem Diener eine Erklärung zu entlocken.

„Es heißt, euer Bruder habe ihn rufen lassen.“

„Finde heraus, warum!“, befiehlt er.

„Jawohl, Herr.“ 

 

Schläfrig streckt er die Hände über den Kopf und gähnt. Sein Mund ist zu einem beinahe schmerzlich breiten Grinsen verzogen. Wer hätte gedacht, dass seine erzwungene Abdankung das Beste war, das ihm in dieser Situation hätte passieren können?

Offensichtlich war mit der Krone auch der Fluch gewandert. Auf Knien hat sein Bruder ihn angefleht, auf den Thron zurückzukehren. Selbstverständlich hat er abgelehnt. Er wird sich einfach im Schatten halten und aus dem Hintergrund agieren, während sein Bruder sich weiter mit diesen elenden Visionen herumplagen soll. Wahrlich, besser hätte die Sache gar nicht für ihn laufen können!

Die Haremsdame hat er nach seiner Genesung sofort in den Kerker werfen lassen. Es war zwar Schade um den hübschen Körper und all die lustvollen Stunden, die sie ihm geschenkt hatte, aber nun war sie nichts mehr als eine unliebsame Erinnerung daran, dass er beinahe alles verloren hätte. An einen Moment der Schwäche, den er für immer zu vergessen gedachte. Was nicht passt, wird aus dem Weg geräumt, so war es schon immer gewesen und so würde s auch weiterhin sein.

 

 

Ein Mann des gewöhnlichen Volkes, der mit anderen Männern in einem Wirtshaus einen ausgelassenen Abend verbringt. Der Mann, wie er zu Hause vollkommen betrunken auf seine Frau einschlägt. Der Mann nüchtern, wie er seine Frau liebevoll im Arm hält. Zu ihren Füßen spielt fröhlich ein kleiner Junge.

Zwei junge Frauen, die tuschelnd über den Markt spazieren. Ein Ochs, der sich von seinem Gespann losreißt. Schreie. Eine der jungen Frauen blutüberströmt. Die Frau hübsch als Braut zu recht gemacht. Verzückt wirft sie dem Bräutigam neben ihr einen schüchternen Blick zu.

Eine alte Frau auf …

 

Nein!

Die Visionen sind zurück gekehrt. Warum sind die Visionen zurückgekehrt?

Alarmiert von dem Aufschrei ihres Herrn, kommen sofort mehrere Diener ins Schlafgemach geeilt. Am Rande nimmt er wahr, wie sie zögerlich an sein Bett eilen und beschwichtigend auf ihn einreden, aber er kann sich nicht genug konzentrieren, um die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen. Zu viele Bilder. So viele Bilder.

Ohne sich darum zu scheren, dass er lediglich in seine spärliche Schlafhose gehüllt ist, taumelt er an den Versammelten vorbei in den Korridor. Bruder. Er muss zu seinem Bruder.

„Verzeiht Herr, aber der … der König nächtigt“, halten ihn die Leibwachen auf.

„Dann weckt ihn!“, bellt er ungeduldig, während er sich immer wieder mit zittrigen Händen durch die Haare fährt.

Die Soldaten sehen sich ratlos an, unschlüssig, ob sie den Befehl ihres alten Herrschers über den ihres neuen stellen sollen.

„Habe ich mich etwa unklar…?“, will er nachsetzen, als der markerschütternde Schrei einer Frau die Stille der Nacht durchbricht.

„Ahhh…!“

Die Stimme scheint aus den Räumen des Königs zu kommen. Weitere Überzeugungsarbeit war damit überflüssig geworden. Sofort stürmt er mit den Wachen hinein.

Vor dem Bett des Königs, als habe sie jemand zu Boden gestoßen, sitzt eine vollkommen aufgelöste Dienerin. Ihr Blick ist auf den männlichen Körper gerichtet, der leblos von einem Balken des Bettes hängt. Sein Bruder.

Dieser elende Schwächling!

 

 

Ein Tischler, der in seiner Werkstatt an einem Schemel arbeitet. Neben ihn ein kleiner Junge. Er s sieht ihm neugierig bei seiner Arbeit zu. Der Tischler setzt zu einem erneuten Hammerschlag an, als eine Katze hereingestürmt kommt, um einer Maus hinterherzujagen. Der Tischler erschreckt und der Hammer trifft auf seinen linken Arm. Ein alter Mann, der Stolz einen edel aussehenden Schlüssel an einen jungen Mann weiterreicht.

Ein Steuereintreiber und ein Bauer liefern sich ein heftiges Wortgefecht. Der Bauer in Soldatenuniform, der einen stolzen Klaps von einem adligen General bekommt.

Fünf Kammerzofen …

 

Ihm entfährt ein frustriertes Stöhnen. Richtig, die Visionen waren zurückgekehrt. Sein Bruder hatte sich in der Nacht das Leben genommen.

Nie hätte er sich träumen lassen enttäuscht darüber zu sein, seinen Thron verteidigt zu haben. Nun hätte er alles dafür getan, nicht König zu sein. Bei den Göttern, er würde sogar das Leben des nunmehr einarmigen Tischlers vorziehen!

„Ähm … Herr?“

Erschrocken fährt er herum. Neben dem Bett steht einer seiner Diener, ein junger Bursche von schlaksiger Statur. Sein Blick verdüstert sich. Schlaf. Wundervoller, ruhiger, erholsamer Schlaf, und dieser verdammte Bastard hat es gewagt, ihn aufzuwecken?

Doch gerade als er den Jungen für sein unverzeihliches Vergehen zurechtstutzen will, vernimmt er von draußen laute Musik und die Stimmen vieler durcheinander redender Menschen.

„Was ist hier los?“, schafft er, zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor zupressen. Er wünscht, diese ekelhaften Geräusche würden endlich verschwinden. Seine Kopfschmerzen sind auch so schon kaum auszuhalten, verdammt!  

Nervöses Schlucken ist die Antwort, die er erhält.

„Ist die Frage so schwer zu verstehen? Antworte, Junge, was ist hier los?“, bellt er ungeduldig.

„D-der … der König feiert seine Rückkehr aus dem Exil“, kommt es kleinkaut zurück. „Bis der Festzug ins Schloss eingekehrt ist, müsst … m-müsst ihr das Zimmer verlassen haben, sonst wird man euch einsperren lassen.“

„Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, Kleiner, also sagst du mit jetzt besser sofort, was los ist, bevor ich die Wachen rufe und dich einsperren lasse!“

„I-ich spreche die Wahrheit, mein Gebieter! Ich würde es nie wagen, euch zu belügen!“

Er wirft dem Jungen einen abschätzenden Blick zu, der zwar eingeschüchtert wirkt, aber offensichtlich von seinen Worten überzeugt scheint. Da erinnert er sich plötzlich an etwas. Vor einiger Zeit hat er den Burschen doch zum Stalldienst abkommandiert wegen seiner tölpelhaften Arbeitsweise. Eigentlich dürft er gar nicht hier sein. Ganz offensichtlich hatte er damals richtig gelegen, und der Knabe hatte nicht mehr alle beisammen.

„Wachen!“, ruft er gebieterisch.

„Herr, ich bitte euch!“, fleht der Junge blass.

Niemand erscheint. Der junge Mann sieht betreten zu Boden.

„WACHEN!“, ruft er erneut.

Nichts.

„Es … es wird niemand kommen, mein Gebieter“, erklärt der Diener leise.

Diese schamlose Entgegnung verschlägt ihm kurzzeitig die Sprache.

„Wie… wie kannst du es wagen …“ stammelt er fassungslos, als er die Sprache wieder gefunden hat. Großneffe hin oder her, er würde dieses unerhörte Balg hängen lassen!

Er springt aus seinem Bett, jagt zur Tür und stürmt wütend hinaus.

„WACHEN!“, brüllt er mit heißerer Stimme.

Im nächsten Moment kommen zwei uniformierte Männer den Gang entlang. Ohne sich gebührend vor ihm zu verbeugen, schreiten sie auf ihn zu. Da kommt der Kammerdiener aus dem Zimmer gehetzt und stellt sich zwischen ihn und die herannahenden Wachen.

„Haben wir euch nicht gesagt, ihr sollt den Irren hier wegschaffen? Der Herrscher wird bald eintreffen!“, schimpft der rechte der Männer den Jungen, während er ihm einen abfälligen Blick schenkt.

Der junge Adlige senkt verlegen seinen Blick.

„Verzeiht! Bitte gebt mir noch etwas Zeit! Ich werde ihn rechtzeitig wegbringen, versprochen!“

„Das wollen wir euch auch geraten habe!“

Die zwei Männer ziehen tuschelnd wieder von dannen.

„Denkt, er sei der Herrscher, hat man so etwas schon einmal gehört?“, höhnt einer.

„Und wir sind die Kaiser von China, was?“, stimmt der andere mit ein.

Lachend verschwinden die beiden um die nächste Ecke.

„Jeder, der nicht zu eurer Familie gehört, kann sich seit heute Morgen nicht mehr an euch erinnern. All eure Habseligkeiten sind wie vom Erdboden verschluckt, selbst in den Schriften der königlichen Chronisten ist nichts mehr über euch und eure Vorgänger zu lesen“, meint der Diener leise. „Euer Onkel und euer Cousin haben momentan alle Hände voll damit zu tun, zumindest den Platz unseres Clans im Rat zu sichern.“  

Ohne, dass er es verhindern kann, bricht er in haltloses Gelächter aus. Der junge Kammerdiener zuckt erschrocken zusammen, die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertiefen sich.

„He-Herr …?“, versucht der Junge behutsam, zu ihm vorzudringen, doch er nimmt das Kind kaum noch wahr. Lächerlich. Das alles ist doch einfach nur lächerlich. Er ist einer der mächtigsten Herrscher der Welt, einer der berüchtigten Dreizehn, und von einem Tag auf den anderen soll man ihn vergessen haben? Lächerlich! Hat er nun endgültig seinen Verstand verloren?

Irgendwie schafft es der Junge schließlich, ihn zum äußeren Westflügel des Palastes zu bringen, wo die einflussreichsten Männer seiner Familie ihn bereits erwarten. Unter den aufgewühlten Empfindungen, die ihm entgegenschlagen, befindet sich ein Gefühlsraster, das ihm besonders vertraut scheint. Inmitten der versammelten Adligen sticht sie hervor wie ein Stern am Nachthimmel – die Haremsdame. Der Aufenthalt im Kerker ist ihr anzusehen. Ihre sonst so fülligen locken fließen beinahe zahm ihren rücken hinab, und sie ist dünner geworden. Warum ihn gerade das beschäftigt und nicht die Tatsache, dass sie eigentlich hinter Gittern sitzen sollte, will ihm selbst nicht recht einleuchten. Was kümmert es ihn, wie sich das Weib fühlt? Er hat wahrlich selbst genug Probleme am Hals! Trotzdem kann er seinen Blick nicht von ihrem erschöpften Antlitz wenden.

„...Mithradates? Mithradates, hörst du mir zu?“

Damit ist der Bann gebrochen. Mit gewohnter Autorität wendet er sich dem Besitzer der Stimme zu, seinem Cousin.

„Wie ist das Treffen mit dem Rat gelaufen?“, erkundigt er sich, ohne auf die Worte des anderen einzugehen.

Erleichterung zeichnet sich auf dem Gesicht des älteren Mannes ab. Offensichtlich hatte er um die Zurechnungsfähigkeit des Familienoberhauptes gefürchtet. Auch die anderen Männer scheinen etwas ruhiger zu werden.

„Der Platz unserer Familie bei Hofe ist vorerst gesichert“, verkündet sein Cousin und es ist ihm anzusehen, was für ein harter Kampf hinter ihm liegt. „Wichtiger ist aber, dass wir Nachricht von den Hexen erhalten haben.“

„Was? Die Hexe war hier?“, stößt er aufgebracht aus.

„Leider nein. Sie bevorzugt ...“, der Alte schaut bedeutungsvoll in Richtung der Haremsdame, „... andere Mittel der Kommunikation.“

„Was hat sie gesagt?“

Er richtet die Frage direkt an die Haremsdame, bevor sein Cousin sich weiter erklären kann. Offensichtlich hat die elende Hexe erneut seine Gespielin als Sprachrohr benutzt. Seine Vermutung wird bestätigt, als die Angesprochene ihm antwortet.

„Sie verlangt, uns an der Stadtmauer zu treffen“, gesteht sie mit dünner Stimme. „Und … und sie wünscht, dass wir alleine kommen.“

 

 

Der raue Stoff des Leinenhemdes reibt unangenehm an seiner Haut, als wolle er ihn noch einmal an seine Verkleidung erinnern.

„Ein Adliger ist in diesen Zeiten auf offener Straße nicht sicher, Herr. Das Volk leidet Hunger, und die zahlreichen Kriege mit den unabhängigen Fürsten mussten viele mit dem Leben ihrer Söhne zahlen. Man würde euch mit bloßen Händen in Stücke reißen!“, hatte sein Onkel versucht, ihn zu warnen.

„Sie sollten stolz darauf sein, dass ihre Söhne für ihren Herrscher gefallen sind! Ich habe ihnen einen Heldentod geschenkt, diesen undankbaren Bauern!“, war seine unbeeindruckte Entgegnung gewesen. „Ganz davon zu schweigen, dass ich mir wer weiß was in diesen dreckigen Lumpen einfangen werde!“

„Ich versichere euch, die Kleidung wurde am Mittag gebührend für euren Gebrauch vorbereitet und gereinigt, mein Gebieter. Ihr habt nichts zu befürchten!“

„Nicht genug, dass ich einem Treffen mit diesem Teufelsweib zugestimmt habe, nun soll ich auch noch wie ein Bettler vor ihr zu Kreuze kriechen?“

„Herr, das ist die Kleidung eines ehrwürdigen Kaufmannes ...

 

Ein Ruckeln geht durch seinen Körper. Er sitzt in einer Sänfte und schiebt mit zierlichen Fingern das kleine eingebaute Seitenfenster zur Seite, um dem aufgeregten Rufen und dem unangenehmen Schaukeln auf den Grund zu gehen. Sein Herz setzt einen Schlag aus, als er die wütende Menschenmasse erblickt, die sich um sein Gefährt drängt.

 „Wir verhungern und ihr seid schuld! Während ihr euch von unseren Steuern die Bäuche vollschlagt, haben wir nicht einmal genug, um uns selbst zu ernähren, geschweige denn unser Vieh!“, ruft ein aufgebrachter Mann mit einer Mistgabel in der Hand.

„Bitte habt Erbarmen, ich habe vier Kinder zu Hause und mein Mann ist krank!“, weint eine Frau.

„Mein Mann wurde zum Tode verurteilt, weil wir unsere Abgaben nicht aufbringen konnten. Am Morgen soll er hingerichtet werden! Bei den Göttern ich flehe euch an, bitte rettet ihn! Wir haben eine große Familie zu ernähren und ich bin schwanger, wir haben das Geld doch selbst so dringend gebraucht!“, jammert eine andere.

Die Wachen haben alle Mühe, sich den Weg frei zu bahnen...

 

Er schüttelt energisch den Kopf, um die fremde Erinnerung abzuschütteln. Dem blassen Gesicht der Haremsdame zu urteilen, war es die ihre. Frustriert presst er die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte er seine Wut laut herausgeschrien. So ungern er es sich auch eingestand, sein Onkel hatte Recht.

Es herrscht geschäftiges Treiben auf den Straßen, und dank ihrer Verkleidung nimmt man von ihrer kleinen Gruppe kaum Notiz. Zügig drängen sie sich an den hektischen Bürgern vorbei.

Hunger. Durst. Erschöpfung. Müdigkeit. Trauer.

Mit der Wucht eines Steinschlages stürmen die Empfindungen der Menschen um ihn herum mannigfach auf ihn ein, und er kann sich kaum auf den Beinen halten. Auch der Haremsdame steht der Schweiß auf der Stirn. Die Finger hat sie so fest in ihren Umhang gegraben, dass die Knöchel weiß hervortreten.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, greift er nach einer ihrer zarten Hände und verschränkt sie mit der seinen. Es ist ein Bedürfnis so natürlich wie die Luft, die er zum Atmen braucht. Sie ist die einzige die versteht, was in ihm vorgeht, die einzige, die es jemals verstehen wird. Überraschung spiegelt sich auf ihrem hübschen Gesicht und zaubert eine vornehme Röte auf ihre Wangen, dann schenkt sie ihm ein schwaches Lächeln. Anstatt die Geste zu erwidern, drückt er ihre Hand fester, ein Ausdruck seiner Hilflosigkeit – ehe er sie abrupt loslässt, als habe er sich verbrannt, und einen großen Schritt Abstand zwischen sie bringt. Glücklicherweise geben ihm die Visionen, die beinahe ununterbrochen auf ihn einströmen, keine Gelegenheit darüber nachzugrübeln, was genau er da gerade getan hat.

 

Eine Frau, die kläglich an der Schulter ihres Mannes weint. Sie stehen vor einem der großen Holzkreuze, die für die wöchentlichen Hinrichtungen genutzt werden. Ein junger Mann hängt leblos daran herab. Der junge Mann, wie er voll Freude seinem Vater auf dem Feld zur Hand geht.

Ein Mann, der in die abgemagerten Gesichter seiner Familie schaut. An diesem Tag sind die Teller mal wieder beinahe leer. Eine junge Frau, die konzentriert ein Stück Stoff bestickt.

Ein Henker, der …

 

Als sie zu den Häusern kommen, die sich in unmittelbarer Nähe der Stadtmauern befinden, treibt ihm der beißende Geruch von Dreck, Schweiß, Exkrementen und Krankheit beinahe die Tränen in die Augen. An jeder Straßenecke werfen sich knochendürre Männer und Frauen zu seinen Füßen nieder, flehen um milde Gaben. Unbeeindruckt läuft er weiter, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Huren und diebisches Gesinde. Was kümmert ihn dieser Abschaum? Sie haben sich ihre Lage schließlich selbst zuzuschreiben!

 Ein erschrockenes Keuchen der Haremsdame lenkt seinen Blick auf eine kleine Gestalt in einem dunklen Umhang, die vor einem besonders heruntergekommenen Gebäude auf jemanden zu warten scheint. Auch ihm entfährt unwillkürlich ein Laut des Entsetzens. Bilder von jener verfluchten Nacht am Lagerfeuer tauchen vor seinem geistigen Auge auf. Nie würde er den Anblick dieser Umhänge vergessen. Es ist die Hexe.

Kapitel 7

 

Ihr Gesicht ist beinahe vollständig von den Schatten ihrer Kapuze verborgen, nur die Mundpartie ist zu sehen, auf die sich nun ein kleines Lächeln legt.

„Folgt mir ins Haus. Dort können wir in Ruhe reden“, begrüßt sie ihre Gäste und verschwindet hinter der morschen Tür in ihrem Rücken.

Seine Hand legt sich wie von selbst zitternd vor unterdrückter Wut auf den Dolch, den er zu seinem Schutz in seinem Gürtel verborgen hält. Dieses respektlose Weib hat es nicht einmal für nötig befunden, ihn anzusprechen. Widerwillig folgt er der Hexe, behält die Hand allerdings, wo sie ist.

Das Innere des Hauses ließe sich bestenfalls als Ruine beschreiben. Einige alte, kaputte Möbel schmücken die vergilbten, löchrigen Wände, während ein Großteil der Decke bereits den Fußboden ziert. Licht spenden einige an den Wänden und auf dem Schutt aufgestellte Kerzen. Die verfallenen Fenster steuern kaum etwas zu der dämmrigen Beleuchtung bei. Die Hexe hat es sich inzwischen auf einem eingestürzten Deckenbalken bequem gemacht und klopft sich gemächlich den Schmutz aus ihrem Umhang.

„Kommen wir endlich zur Sache!“, lenkt er ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Was verlangt ihr für das Aufheben des Fluches, Weib? Geld? Macht? Was immer …“

Das traurige Kichern der Hexe unterbericht ihn.

„Wahrlich, es ist, als würde man einem Blinden einen Goldklumpen vor die Füße werfen“, stellt sie nüchtern fest. „Habt ihr denn aus den letzten Tagen wirklich nichts gelernt?“

„Hast du uns nur hergerufen, um uns mit unsinnigen Wortspielen zu langweilen? Was verlangst du, um den Fluch rückgängig zu machen?“

Seine Hand krampft sich enger um den Schaft des Dolches. Noch einmal würde er nicht fragen.  

Die Hexe seufzt leise.

„Es ist kein Fluch, was euch geschenkt wurde, sondern eine Gabe“, berichtigt sie ihn sanft. „Erst in dem Moment in dem ihr das erkennt, werdet ihr frei sein.“

Ehe er sich daran hindern kann, stürmt er mit gezücktem Dolch auf das Teufelsweib zu.

„Ihr glaubt wohl, ihr könnt mich zum Narren halten, was? Ich habe keine Lust mehr auf eure Spielchen! Nehmt den Fluch von mir, und ich werde euch einen raschen Tod schenken“, befiehlt er, die Spitze der Klinge an den Hals der Magierin gepresst.

Sie zuckt nicht einmal zusammen, als das spitze Metall sich in ihr zartes Fleisch bohrt.

„Mein Tod würde an eurer Lage nichts ändern“, gibt sie gelassen zurück. „Setzt die Gabe ein, wofür man sie euch geschenkt hat. Lernt, die Kostbarkeit des Lebens zu schätzen und wieder ein Mensch zu sein, anstatt das Monster, das in euch wohnt.“

Er stößt ein bitteres Lachen aus.

„Wie soll ich lernen, ein Mensch zu sein, wenn ihr mich zu einem niemand gemacht habt?“, fährt er sie an.

„Solange ihr mit der Gabe gesegnet seid, wird es euch und eurer Familie an nichts fehlen. Seid unbesorgt, eurer Läuterung wird nichts im Wege stehen“, erklärt die Hexe. „Außer euch selbst.“

Ohne den Dolch zu beachten, der noch immer an ihren Hals gepresst ist, erhebt sie sich und legt ihm zaghaft eine Hand an die Wange.

„Verschließt nicht länger eure Augen vor der Welt wie ein törichter Junge. Erkennt an, was ihr getan habt, und tut Buße. Das ist der einzige Weg. Der richtige Weg.“

Von blinder Wut getrieben, holt er mit der Waffe in seinen Händen aus, um sie der Hexe in ihr vorlautes Mundwerk zu treiben, aber ein kurzer, harter Schlag trifft sein Handgelenk. Der goldene Dolch fällt klappernd zu Boden. Das elende Weib hat seinen Angriff pariert.

„Nutzt den Weg zurück zum Palast, um über meine Worte nachzudenken. Seht, wie die Körper eurer Untertanen die Zeichen eurer Herrschaft am Leibe tragen. Seht.“

Die Hexe tritt einen Schritt vor ihm zurück und schenkt ihm ein mitfühlendes Lächeln. Keine Spur von Zorn liegt in ihren Worten, nur eine selige Ruhe, die ihn umso rasender macht.

„Möget ihr Frieden finden.“

Auf einen Schlag erlöschen sämtliche Kerzen im Raum. Die Magierin ist verschwunden.

 

 

Wut. Angst. Verzweiflung. Panik, wie ich sie noch nie in meinem Leben gefühlt habe, jagen durch meinen Körper. Ich, einer der mächtigen Dreizehn, komme mir hilflos vor wie ein Neugeborenes. Haare raufend falle ich auf die Knie, schreie meinen Kummer heraus, bis meine Stimme versagt. Ich bin verflucht.

Eine der Bettlerinnen schaut neugierig zum Fenster herein. Wieder strömt eine gewaltige Flut von Bildern durch meinen Kopf. Diese Schmerzen! Diese unwahrscheinlichen Schmerzen in meinem Kopf! Macht, dass es aufhört! Ich will so nicht weiterleben! Bitte, macht, dass es aufhört!

Klatsch.

Der Schmerz in meinem Kopf wird plötzlich von einem starken Ziehen auf meiner Wange abgelöst.

„Hannah?!“ Von weit her höre ich Klaus Stimme, kann aber nicht genau verstehen, was er sagt. „Hannah, bist du wieder bei mir? Hannah?!“

Ich blinzle einige Male verwirrt, ehe sich mein Blick aufklart und ich wieder im Hier und Jetzt gelandet bin. Mir ist schwindelig und ich fühle mich hundeelend. Klaus ist über mich gebeugt und tätschelt beruhigend meine Schulter.

„Atme ruhig ein und aus, alles ist gut. Es ist vorbei, okay?“

Er sieht mich beunruhigt an, bis ich mühevoll so etwas wie ein Nicken zu Stande bringe.

Erleichterung breitet sich auf seinen Zügen aus. Er lässt von mir ab, läuft hinter seinen Schreibtisch und füllt ein Glas mit Wasser und einer Tablette.

„Hier, trink. Das sollte helfen“, sagt er, während er mir das Glas entgegenstreckt.

Ich tue, was er sagt, und leere das Glas in einem Zug. Verwirrt stelle ich fest, dass ich nicht länger auf einem Stuhl sitze, sondern auf dem Boden knie wie in der Vision. Ich will aufstehen, aber ich brauche die Hilfe von Klaus, um wieder auf die Beine zu kommen. Schnell verpflanzt er mich zurück auf den Stuhl, auf dem ich zitternd in mir zusammensinke.

Einige Minuten herrscht Schweigen, während ich versuche, zumindest ansatzweise zu begreifen, was sich da gerade in meinem Kopf abgespielt hat. Ein kalter Schauer lässt mir die Haare zu Berge stehen, als ich versuche, das Gesehene Revue passieren zu lassen. Abwesend schlinge ich die Arme um mich. Ein Versuch Halt zu finden in dem Chaos, das mein Leben übernommen hat. Dreizehn mächtige Herrscherfamilien. Hexen. Ein Fluch. Was für ein Wahnsinn.

„Mir ist bewusst, dass du sehr viel zu verarbeiten hast“, durchbricht Klaus schließlich die Stille. „Ich denke es wäre das Beste, wenn wir morgen unsere Unterhaltung fortsetzen.“

 

 

 „Wir sind da, Herr“, lässt der Chauffeure leise verlauten.

Julian blinzelt einige Male überrascht, dann ist er wach. Er muss wohl eingeschlafen sein. Ein rascher Blick auf die Uhr verrät, dass es kurz vor Mitternacht ist. Eigentlich keine Zeit für ihn. Er kommt selten vor eins ins Bett. Andererseits hatten ihn die vergangenen zwei Tage mehr Kraft gekostet, als üblich. Er musste nicht nur auf seine Visionen achten – was bei Leibe schon schwer genug ist! –, sondern auch die Visionen von Hannah in Schach halten. Ich will schwer für Klaus hoffen, dass er für morgen bereits die ersten Übungsstunden angesetzt hat!, denkt er mürrisch.    

Als er aus dem Wagen steigt, erwarten Mark und die Diener ihn bereits.

„Ist alles erledigt?“, fragt er barsch.

„Jawohl, Herr“, gibt der Sekretär sofort zurück. „Isabellas Gepäck ist bereits auf dem Weg nach Paris. Sie selbst wird noch heute Nacht aufbrechen, sobald sie sich von ihr verabschiedet haben.“

„Gut.“

Er hält geradewegs auf ihr Zimmer zu. Besser, er bringt die Sache schnell hinter sich.

 

 

Isabella sitzt reglos auf ihrem Bett, hat die zur Faust geballten Hände in ihren Rock vergraben und versucht immer noch zu begeifern, was in den letzten beiden Tagen geschehen war.

Zwei Tage. Es hatte nur zwei lächerliche Tage gebraucht, um zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens in Nichts zu verwandeln.

Alles, wofür sie so hart gearbeitet hat, wofür sie so viele Entbehrungen hat in Kauf nehmen müssen, hat nun keinen Wert mehr für sie.

Mit Schaudern erinnert sie sich an die Worte zurück, die ihre Welt von einer Sekunde auf die andere in einen Scherbenhaufen verwandelt haben.

„Sie lebt.“

Sie, Julians Seelengefährtin. Die rechtmäßige Herrin des Hauses. Die Person, die zu ersetzten Isabellas Aufgabe gewesen ist.

Klaus hatte schließlich das Gerücht bestätigt, das durch das Haus gegeistert war, seit Julian ungewöhnlich früh von seinem morgendlichen Training zurückgekehrt war – mit einer jungen Frau im Gepäck. Mit ihr. Isabella hätte nie für möglich gehalten, dass man sie nach all der Zeit noch lebend ausfindig machen würde. Wie hat sie bloß mit dem Fluch überleben können? Sie ist doch damals noch ein kleines Kind gewesen!

Ein Klopfen ertönt und reißt Isabella aus ihren Gedanken.

Julian.

Sie versucht, ein Herein herauszuwürgen, aber es will ihr einfach nicht gelingen. Trotzdem öffnet sich die Tür und Julian tritt ein. Er trägt den schwarzen Smoking, den sie so sehr an ihm mag. Sein Gesicht gleicht wie immer einer undurchdringlichen Maske und es ist unmöglich, seine Gefühle zu deuten. Eine einzelne Träne rinnt ihr über die Wange, eine unausgesprochene Bitte. Schick mich nicht fort!

Julian lässt sich steif neben sie sinken und lockert den Knoten seiner Krawatte. Er sieht sie nicht an, sondern starrt stattdessen auf den Boden. Ein Ausdruck von Trauer?

Bei dem Gedanken macht ihr Herz einen schmerzhaften Satz. Julian hat ihr nie gesagt, dass er sie mochte, und auch sonst hat er nie viele Worte für sie übrig gehabt. Sie hat gelernt, sich damit zufrieden zu geben, dass die einzige Art von Zuneigung, die sie je von ihm erwarten konnte, die stille Akzeptanz ihrer Person an seiner Seite war. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet in diesem Moment seine harte Schale einen Riss bekommt.

„Was hast du jetzt vor?“, will Julian nüchtern von ihr wissen.

„Ich …“, haucht Isabella und gräbt ihre Finger fester in die Falten ihres Rockes. „Ich werde auf die Akademie meines Onkels gehen.“

„Hast du mit deinen Eltern schon darüber gesprochen?“

„Ja, sie wissen Bescheid“, erklärt sie. „Sie verstehen, warum ich mich so entschieden habe, und wünschen mir Glück.“

„Du wirst kein Glück brauchen. Du bist eine gute Kämpferin“, brummt Julian bestimmt und entlockt ihr damit ein zaghaftes Lächeln.

Der Kampfsport ist stets Isabellas größte Leidenschaft gewesen und das einzige Hobby, das sie sich neben den Pflichten, die sie als Julians Partnerin zu erfüllen hatte, hatte gönnen können. Ihr Onkel ist der Rektor einer Polizeiakademie und bereit, sie bei sich aufzunehmen. Die Ausbildung würde ihr hoffentlich die nötige Abwechslung geben, um nicht verrückt zu werden.

Einige Minuten sagt keiner von beiden etwas, bis Julian sich schließlich erhebt.

„Leb wohl, Isabella.“ Kein Es tut mir leid. Kein Ich werde dich vermissen. Kein Bitte bleib!.

Wieder meidet er ihren Blick, hat ihr nur den Rücken zugewandt. Er schickt sie fort. Er schickt sie tatsächlich fort.

Als er sich wieder zum Gehen wendet, kann Isabella nicht länger an sich halten. Schluchzend schlingt sie ihre Arme um seine Mitte und drückt sich an ihn.

„Ich liebe dich, Julian“, wimmert sie. „Ich liebe dich so sehr!“

 Julian hält in der Bewegung inne. Er wendet sich nicht aus ihrem Griff, macht jedoch auch keine Anstalten, ihr entgegen zu kommen. Reglos steht er da, während Isabella ihn zärtlich umschlungen hält.

„Muss ich wirklich fort von hier?“, fragt sie leise.

Julian schweigt.

„Ich … ich kann aufpassen, dass sie mich nicht sieht!“ schlägt sie hoffnungsvoll vor. „Ich …“ Unwillkürlich verstärkte Isabella ihren Griff. „Ich kann auch darauf achten, dass du mich nicht siehst.“

Sie würde alles tun, wenn sie nur an seiner Seite bleiben durfte.

„Nur bitte …“ schick mich nicht fort.

Sie bringt es nicht über sich, die Bitte auszusprechen. Es wäre das endgültige Eingeständnis, dass sie ihren Platz in diesem Haus verloren hat. Sie kann es unmöglich akzeptieren, will es einfach nicht akzeptieren. Wozu wäre dann all die Qual gut gewesen, die sie in diesem Haus erlitten hat? Warum hat man sie so brutal von ihren Eltern getrennt und zu diesem Leben gezwungen, nur um sie nun wie lästigen Abfall zu behandeln? Warum hat man sie gezwungen, einen Mann zu lieben, nur um sie nun von ihm zu trennen? Was ergibt das für einen Sinn? Nein, sie muss einfach bei ihm bleiben! Ohne ihn ist sie ein nichts. Ohne ihn ist ihr Leben sinnlos.

Mit einem kurzen, harten Ruck löst Julian ihre Arme von seinem Körper.

„Leb wohl“, wiederholt er nur, ehe er ohne ein weiteres Wort den Raum verlässt.

Isabellas Beine geben unter ihr nach und sie sinkt verzweifelt auf die Knie. Er hat sie nicht einmal eines letzten Blickes gewürdigt.

 

 

Julian massiert sich erschöpft den Nacken. Endlich Feierabend.

Isabellas Geständnis ist für ihn nicht überraschend gewesen, obwohl sie zuvor nie über ihre Gefühle gesprochen hatten. Ihre Beziehung war rein geschäftliche Natur gewesen, eine Notfalllösung. Der Fluch hatte ihm die Fähigkeit genommen, je wieder zu lieben, und Isabella war sich dieser bitteren Wahrheit stets bewusst gewesen. Nichts desto trotz war sie eine junge, intelligente, leidenschaftliche Frau, deren Herz im Gegensatz zu seinem frei war zu lieben, wenn immer es begehrt, und sie hatte getan, was jeder in ihrer Situation getan hätte, um nicht verrückt zu werden – sie hatte sich angepasst. Dass man sie praktisch gezwungen hatte, ihn zu lieben, ändert nichts an ihren Gefühlen. Eigentlich sollte er Mitleid für Isabella empfinden, aber dafür beneidet er sie zu sehr. Sie ist nun frei. Sie kann gehen, wohin sie will, tun, was immer ihr beliebt. Sie kann sich einen anderen Mann suchen. Begreift sie denn nicht, dass man ihr im Grunde genommen ein Geschenk gemacht hat?

Trauer. Resignation. Verzweiflung. Angst.

Mitten im Laufen hält er inne. Die Emotionen stürmen dermaßen stark auf ihn ein, dass seine Visionen für einen Moment vollkommen in den Hintergrund treten. Er dreht sich der Tür zu seiner Linken zu.

Hannah.

Klaus hat ihr also alles gezeigt. Natürlich hat man ihr ein Zimmer in der Nähe seines eigenen gegeben – als sei es noch nicht schlimm genug, dass er sich bald eines mit ihr würde teilen müssen!

Nachdenklich legt er seine Finger an das schwere Holz. Hannah. Seine Seelengefährtin. Die Hand ballt sich zu einer Faust. Sein größter Schmerz. Sie würde ihm nie ersetzten können, was sie ihm einst genommen hatte. Sie würde ewig dem Leben hinterher trauern, das er ihr entrissen hatte. Weinerlich. Nichtsnutzig. Schwach.

Mit der freien Hand greift er sich an sein Herz. Verräter. Als sie in seine Armen zusammengebrochen war, hatte seine Seele die ihre sofort erkannt. Ehe er richtig begriffen hatte, was er tat, hatte er sie zum Wagen getragen, auf seinen Schoß gebettet und sie mit zu sich genommen. Hatte sich an ihr Krankenbett gesetzt. Hatte ihre Hand gehalten. Hatte sich für einen kurzen, süßen Moment eingeredet, alles könnte wieder gut werden. Dann hatte er einen Blick in ihre Gedanken gewagt, und war jäh wachgerüttelt worden. Glück. Zufriedenheit. Ein anderer Mann. Ein Leben.

Er hätte es besser wissen müssen. Wann war das Schicksal schon einmal gnädig mit ihm gewesen? Hannah wird gegen ihre Bestimmung ankämpfen, wird gegen ihn ankämpfen. Außerdem wird es sie womöglich Jahre brauchen, ihre Fähigkeiten wenigstens ansatzweise verlässlich zu beherrschen. Sie ist bloß eine zusätzliche Belastung – und es gibt nichts, das er mehr verachtet, als Menschen, die ihm zur Last fallen.

Kapitel 8

 

Ich zwinge mich an dem Kamillentee zu nippen, den Klaus mir aufgedrängt hat. Mein Magen dankt es mir, denn es ist das erste, was er heute bekommt. Genau genommen seit vergangenen Nachmittag, denn das Abendessen habe ich auch nicht angerührt. Verflucht zu sein schlägt ganz schön auf den Magen.

„Ich kann mir vorstellen, dass du nach dem, was du gestern gesehen hast, sicher viele Fragen hast“, nimmt Klaus unser Gespräch vom Vortag wieder auf. „Also, was möchtest du wissen?“

„Wenn … wenn ich es richtig verstanden habe, gab es früher dreizehn mächtige Herrscherfamilien, die skrupellos über ihre Untertanen geboten. Um dem ein Ende zu bereiten, wurden sie von einer Gruppe … Magier mit dem Fluch belegt“, fasse ich zusammen, was ich durch die Vision erfahren habe, um mich noch einmal zu vergewissern.

Klaus nickt zustimmend.

Ich räuspere mich und fahre fort. „Wenn Mark… – ähm, ihr Neffe und ich füreinander bestimmt sind, bedeutet dass dann, ich bin so etwas wie die Wiedergeburt dieser Haremsdame?“, schlussfolgere ich.

„Der Fluch sucht sich seine Opfer nach dem Datum ihrer Empfängnis aus, das hat nichts mit Wiedergeburt zu tun“, widerspricht er meiner Mutmaßung. „Wenn das Familienoberhaupt das vierzigste Lebensjahr erreicht hat oder stirbt, nimmt der Fluch wieder einen Säugling in Besitz. Sobald das Kind dann das Erwachsenenalter erreicht hat und voll einsatzfähig ist … nimmt es seinen ihm vorherbestimmten Platz ein.“

„Dann gibt es eine Zeit lang zwei Verfluchte?“, frage ich verwundert. „Und was passiert mit dem Vorgänger? Wird der Fluch mit dem Alter schwächer?“

„Die meisten sind sehr … dankbar, wenn sie ihre Pflichten an die nächste Generation weitergeben können“, drückt Klaus sich vorsichtig aus. Es dauert etwas, bis ich die Bedeutung seiner Worte erfasse, dann begreife ich.

Ein männlicher Körper, der leblos vom Balken seines Bettes hängt.

„Sie … sie bringen sich um?“, spreche ich meine ungeheuerliche Vermutung aus. Mit angehaltenem Atem warte ich auf eine Antwort.

„ Jahre sind eine lange Zeit, besonders, wenn man nicht selbst über sie verfügen kann“, sagt er leise.

Würde ich irgendwann auch diesen Weg einschlagen? Dem Leben überdrüssig werden? Ich zwinge mich, den trüben Gedanken zu verdrängen und in der Gegenwart zu bleiben. Ein Schritt nach dem anderen.

„Sie sagten, es sei mein Schicksal, eine Markov zu werden“, gehe ich zu meiner ursprünglichen Überlegung zurück. „Wenn es nicht um Wiedergeburt geht … wie haben sie es dann gemeint?“

Ein flüchtiges Lächeln spielt um Klaus Mundwinkel, ehe er rasch wieder ernst wird. Verwirrt nehme ich einen weiteren Schluck von meinem Tee. Habe ich etwas Falsches gesagt?

„Bitte entschuldige. Es ist wirklich faszinierend, wie eng die Beziehung zwischen Seelengefährten ist, selbst in eurem speziellen Fall.“

Seelengefährten? Ich verstehe immer noch nur Bahnhof!

„Du hast dich bisher nur nach deiner Verbindung zu Julian erkundigt“, stellt er nüchtern fest. „Nach dem eigentlichen Fluch hast du noch gar nicht gefragt.“

Klaus hat Recht. Ich hatte mich bisher völlig auf Markov fixiert, anstatt das Gesamtbild zu betrachten. Ohne genau zu wissen, warum eigentlich, schießt mir die Röte in die Wangen. Normalerweise sieht mir ein so irrationales Verhalten nicht üblich.

„Im Grunde genommen hat das eine mit dem anderen zu tun“, beruhigt mich Klaus.

 

„Dann kam eine Frau zu mir. Sie berührte meine Stirn und sagte mir, ich werde von nun an euer einziges Weib sein und euer Schicksal wäre fortan das meine. Ich solle euch ausrichten, dass ich … dass dies ein Geschenk sei.“

 Ohne sich dessen bewusst zu sein, greift er nach einer ihrer zarten Hände. Sie ist die einzige die versteht, was in ihm vorgeht, die einzige, die es jemals verstehen wird.

 

Bruchstücke der Vision kommen wieder an die Oberfläche, und ich beginne zu begreifen.

„Damit der Herrscher seine Bürde nicht alleine tragen musste, wurde seine Partnerin auch verflucht“, erinnere ich mich. „Wenn der Fluch heute allerdings schon im Säuglingsalter zu Tage tritt …“, lasse ich den Gedanken in der Luft hängen.

„Ja, deine Überlegungen gehen in die richtige Richtung“, pflichtet Klaus mir bei. „Wie ich dir bereits erklärt habe, liegt es an dem Datum deiner Empfängnis, dass du auserwählt wurdest. Du bist auf den Tag genau drei Jahre jünger als Julian – so wie alle Frauen der Familienoberhäupter. Somit stand bereits bei deiner Geburt fest, dass du für Julian bestimmt bist, dass auch du die Bürde des Fluches in dir trägst.“

„Damit es nicht zur Inzucht kommt, muss das Mädchen vermutlich aus einer der anderen zwölf Familien stammen“, begreife ich.

„Gut, du beginnst zu verstehen.“

Wieder nippe ich an meinem Tee, muss die neuen Erkenntnisse erst einmal sacken lassen.

„Was genau ist nun dieser Fluch?“, stelle ich die Frage, die ich eigentlich schon zu Beginn hätte stellen müssen.

„Wie du bereits am eigenen Leib erfahren hast, wird jeder, der nicht zu einer der verfluchten Familien gehört, sich innerhalb eines Tages nicht mehr an dich erinnern“, beginnt Klaus. „Außerdem ist dein Körper wesentlich leistungsfähiger als der eines gewöhnlichen Menschen. Das wichtigste aber ist, dass du in der Lage bist, die Zukunft von anderen sehen zu können – und gegebenenfalls verhindern, dass diese eintritt.“

„Warum habe ich jetzt keine Visionen?“

Klaus stützt die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkt seine Hände – offenbar eine typische Geste für ihn.

„Julian hat bis zu seinem achten Lebensjahr gebraucht, um nicht mehr unter ständigen Kopfschmerzen zu leiden, und noch länger, ehe er es verstand, das Gesehene richtig zu interpretieren und sein Wissen einzusetzen“, erzählt er. „Wir hielten es daher für das beste, dich Schritt für Schritt an die Visionen zu gewöhnen. Julian blockiert sie momentan für dich, aber das erfordert eine immense Anstrengung von ihm und kann daher kein Dauerzustand bleiben.“

Ist das Grund genug für dich? Oder soll ich die Visionen zurückholen?, erinnere ich mich an Markovs Worte.

„Er … er blockiert mich?“

„Zwischen euch besteht eine außergewöhnliche geistige Verbindung. Telepathie, Gedankenkontrolle – nenne es, wie du willst. Julian nutzt diesen Pfad und fungiert als eine Art Mauer, die deinen Geist vor den Visionen schützt.“

„Er ist in meinem Kopf? Jetzt gerade?“

„Seit er dich gefunden hat.“

„Kann er ... kann er meine Gedanken lesen?“, erkundige ich mich peinlich berührt.

Klaus überlegt kurz.

„Wenn er es wollte bestimmt. Aber du wirst irgendwann genauso leicht in ihn eindringen können, er wird sich also davor hüten ihn Dingen zu wühlen, die nicht für ihn bestimmt sind.“

Ich will einen weiteren Schluck von meinem Tee nehmen, merke aber, dass er leer ist.

„Noch einen?“

Ich nicke. „Ja, bitte.“

Klaus steht auf und macht sich erneut an der Maschine in seinem Rücken zu schaffen.

„Was war, bevor ich blockiert wurde? Warum ist der Fluch erst zu Tage getreten, als ich mit eurer Familie in Kontakt kam?“

„Vermutlich eine Art Schutzmechanismus“, meint Klaus. „Es gab einen … Unfall in deinem Elternhaus und du wurdest von deinen Verwandten getrennt. Als kleines Kind hättest du so unmöglich alleine überleben können. Aber als du Julian begegnet bist, hat deine Seele ihn sofort erkannt und deine Kräfte wurden wieder freigesetzt. Dennoch hast du viel nachzuholen.“

„Wenn mein Training abgeschlossen ist, was wird dann von mir erwartet?“

Die Maschine beginnt, zufrieden zu surren, und Klaus kehrt zu seinem Platz zurück.

„Du wirst Julian auf seine täglichen Patrouillen begleiten und ihm helfen, das Leben so vieler Menschen wie möglich zum Guten zu wenden.“

„Warum ist der Fluch nicht schön längst gebrochen? Allein Mark... Julian muss doch inzwischen schon tausende Leben zum Positiven verändert haben? War es nicht das, was die Hexen erreichen wollten? Ein Gespür für die Bedürfnisse und Nöte der anderen zu schaffen und danach zu handeln?“

Klaus zuckt ratlos die Schultern.

„Das versuchen wir seit beinahe zweitausend Jahren herauszufinden“, gesteht er müde. „Wir können nur versuchen, Julians Arbeit und die der anderen Vergessenen bestmöglich zu maximieren in der Hoffnung, endlich Buße für die vergehen unsere Vorfahren getan zu haben.“

„Also besteht das Leben der Vergessenen aus nichts anderem als dem Versuch, den Fluch zu brechen?“, fasse ich zusammen.

„Ja. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“, stimmt Klaus mir zu. „Deshalb bringt ihm jeder aus der Familie solchen Respekt entgegen. Wir alle sind ihm auf ewig zu Dank verpflichtet, denn er hat die Last des Fluches alleine zu tragen. Er opfert sein Leben für den Versuch, unseren Kindern diese Bürde zu ersparen.“

„Was ist mit den Magiern? Hat man nicht versucht, noch einmal mit ihnen in Kontakt zu treten?“, will ich hoffnungsvoll wissen.

„Es gibt keine mehr“, meint Klaus schlicht. „Die Medizin entwickelte sich weiter, die Technik wurde fortschrittlicher – die Menschen begannen, ihre eigene Magie zu schaffen. Man war nicht länger auf fremde Wunder angewiesen, und die Magier wurden zu einer aussterbenden Rasse. Darwinsche Evolution.“

„Verstehe.“

Klaus reicht mir eine neue Tasse Tee.

„Was, wenn es zwischen … ihm und mir nicht funktioniert? Seelengefährten hin oder her, ich kenne ihn doch gar nicht!“

Du wirst ihm nie entkommen, egal, wie schnell oder weit du auch rennst. Er ist dein Schicksal. Aber was, wenn sich das Schicksal dieses Mal geirrt hatte?

„Es wird funktionieren“, ist alles, was Klaus erwidert.

 

 

Elena und Yvette schaffen es schließlich, mich doch zu einem verspäteten Frühstück zu nötigen. Danach gehe ich mit Elena meine Termine für den Tag durch.

 

10:00 Uhr: Autogenes Training

11:45 Uhr: Ausdauertraining

13:00 Uhr: Mittagessen

13:30 Uhr: Etiquettenlehre

14:45 Uhr: Unterweisung in erster Hilfe

16:00 Uhr: Autogenes Training 2

 

Bis zweiundzwanzig Uhr bin ich restlos ausgebucht. Nicht, dass ich solche stressigen Tage von meinem Beruf nicht gewöhnt wäre. Dennoch ist es etwas anderes, ob man seine Aktivitäten selbst plant, oder sie lediglich diktiert bekommt. Die ersten Tage mochten ja noch ganz interessant sein, aber auf Dauer …

Ich will mich gerade auf den Weg ins Bad machen, um mir für mein bevorstehendes Training etwas lässiges überzuwerfen – Yvette hatte mir am Morgen erneut ein elegantes Kleid zu Recht gelegt, als Elena sich vernehmlich räuspert.

„Ich werde dem jungen Herrn Markov mitteilen lassen, dass ihr euch bald auf den Weg zu eurem Training macht“, kündigt sie auf meinen fragenden Blick an. Es klingt beinahe wie eine Entschuldigung.

„Warum sollte das für ihn von Interesse sein?“, will ich verwirrt wissen.

„Nachdem Sie nun über ihre Situation in Kenntnis gesetzt wurden, wird er zu Trainingszwecken bereits einen Teil seiner geistigen Blockade lösen“, erklärt sie.

Wir hielten es für das beste, dich Schritt für Schritt an die Visionen zu gewöhnen. Julian blockiert sie momentan für dich, aber das erfordert eine immense Anstrengung von ihm und kann daher kein Dauerzustand bleiben.

„Oh … verstehe. Danke für die Vorwarnung.“

Ich gehe ins Bad, ziehe mir eine Jogginghose und ein Top über und fasse meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Anschließend bleibe ich vor der großen Spiegelfront stehen und blicke in das Paar ängstlicher, schwarzer Augen, das mir von dort entgegen starrt. Ohne, dass ich es verhindern kann, kommen die Tränen zurück. Ich kralle meine Finger fester um das Waschbecken.

„Madame, geht es ihnen gut?“, will Elena nach einigen Minuten besorgt wissen. Als ich nicht antworte, öffnet sie langsam die Tür.

„Madame?“

Rasch wische ich mir mit dem Arm übers Gesicht, sehe sie aber noch immer nicht an.

„Ich habe Angst“, gestehe ich leise.

Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter.

„Sie sind nicht alleine. Wenn Sie etwas brauchen … ich bin für Sie das.“

„Es gäbe da tatsächlich etwas.“

Ich wende mich Elena zu.

„Wäre es sehr schlimm von mir dich zu bitten, mich bei meinem Vornamen zu nennen?“

Ein kleines Stückchen Alltag, dass für mich zuvor so selbstverständlich gewesen war. Ein Hauch von Normalität, ein Anker, an dem ich festhalten konnte in einer Welt, die sich von heute auf morgen auf den Kopf gestellt hatte.

„Aber Madame, das wäre …“, will sie erst protestieren, aber dann verlieren sich ihre Worte. Sie hält kurz inne und sieht mich forschend an, ehe sie mir ein verständnisvolles Lächeln schenkt. „Ich denke, das ließe sich einrichten – zumindest, wenn wir unter uns sind.“

 

 

Obwohl die Visionen so dosiert auftreten, dass sie sich noch kaum überlappen, und eher leiser Hintergrundmusik ähneln, als einem vorbeifahrenden Güterzug wie beim ersten Mal, fällt es mir dennoch schwer, mich auf die geistigen Übungen zu konzentrieren. Hinzu kommt die Gewissheit, dass all diese Bilder irgendwo der Realität entsprechen. Zum Glück besitzt meine Lehrerin Frau Ashwani die Gelassenheit einer Heiligen, und ihre ruhige Art hilft mir, so etwas wie Entspannung zumindest recht nahe zu kommen. Ich beginne zu verstehen, welche Last Markov auf seinen Schultern zu tragen hat, und kann nicht umhin, seine kühle Gelassenheit zu bewundern – auch wenn das natürlich sein respektloses Verhalten mir gegenüber in keinster Weise entschuldigt!

„Als nächstes steht Ausdauertraining auf dem Programm“, erinnert Elena mich, nachdem ich Frau Ashwani verabschiedet habe. „Dein Trainer wird gleich hier sein. Sein Name ist Andre. Ich kann euch beide leider nicht persönlich miteinander bekannt machen, aber du wirst bestimmt mit ihm zu Recht kommen.“

Obwohl sie es zu verbergen versucht, meine ich, kurz ein trauriges Funkeln in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Im nächsten Moment ist sie schon aus der Tür gehuscht und lässt mich stirnrunzelnd im Sportraum zurück.

Wenige Minuten später betritt mein Trainer den Raum. Seine Berufung ist ihm anzusehen – Muskeln aus Stahl bedecken seinen breiten Oberkörper, der in ein enges Sportshirt gezwängt ist. Umso mehr fällt das zierliche Silberband an seinem Ringfinger auf, dass mir vage bekannt vorkommt und so gar nicht zu diesem Berg von Mann passen will.

„Es ist mir eine Ehre, ihre Bekanntschaft zu machen, Madame“, begrüßt er mich förmlich. „Ich bin Andre, ihr Personal Trainer.“

„Hannah“, stelle auch ich mich vor. „Die Ehre ist ganz meinerseits.“

Bei den Aufwärmübungen mache ich mich überraschend gut. Andre korrigiert gelegentlich meine Haltung, scheint aber ansonsten ganz zufrieden mit mir zu sein. Als er dann allerdings die Ecke mit den Geräten ansteuert, mache ich mich auf das Schlimmste gefasst.

„Ich … ich hab so was noch nie gemacht!“, gesteh ich, um das Trauerspiel, das gleich folgen würde, schon einmal zu entschuldigen. Fernöstliche Gene sei Dank, hatte ich immer die für asiatische Frauen typische zierliche Figur besessen, und ein übermäßiger Esser war ich auch noch nie gewesen - warum sich also im Sportstudio abrackern? Da verbrachte ich meine Zeit lieber mit meinen Bildbearbeitungsprogrammen!

Andre lacht und hält neben einem Laufband.

„Glauben Sie mir, es besteht nicht der geringste Grund zur Sorge. Kommen Sie.“

Skeptisch steige ich auf das Gerät.

„Wir schauen einfach, was Sie so schaffen“, versucht Andre, den Druck von mir zu nehmen. „Ich bin nicht hier, um Sie zu beurteilen, sondern um ihnen zu helfen, ihren Körper besser kennen und einschätzen zu lernen.“

„Ich werde Sie an ihre Worte erinnern!“, warne ich ihn, ehe er das Band startet.

Wieder ein Lachen. „Tun Sie das.“

Elena behält Recht. Andre entpuppt sich als äußerst umgänglicher Zeitgenosse. Um mir das Joggen zu erleichtern, plaudert er mit mir über alles Mögliche, bis wir uns schließlich ein einen leidenschaftlichen Diskurs über die Serie Game of thrones verlieren.

„… fand Khal Drogo so genial! Und diese Szene, in der Daenerys Bruder …“, bin ich gerade mitten im schwärmen, als Andre plötzlich mit einem breiten grinsen das Laufband anhält.

„Sehen Sie, eine halbe Stunde und sie sind noch nicht mal am Schwitzen“, stellt er leichthin fest. „Mal ganz davon abgesehen, dass ich heimlich die Geschwindigkeit hochgestellt habe.“

Wie zum Beweis hebt er seine Hand hoch, in der ein kleines Gerät liegt, offenbar eine Art Fernbedienung.

Ungläubig schaue ich auf die Uhr. Das können doch unmöglich mehr als 10 Minuten gewesen sein!

Tatsächlich, eine halbe Stunde.

„Aber wie …“, stottere ich verwundert.

„Genau so, wie Sie gestern über das Gatter getürmt sind“, erinnert er mich. „Der Fluch verleiht seinen Trägern eine übermenschliche Kondition. Sie ist da, auch wenn sie bisher noch keinen Gebrauch von ihr gemacht haben“, erklärt Andre.

Gestern. Ich kann kaum glauben, dass es nur einen Tag her ist, seit dieser Wahnisnn seinen Anfang genommen hat. So viel ist seither geschehen. Es kommt mir vor, wie die Erinnerung an ein anderes Leben – was es genau genommen auch irgendwie ist. Ein Leben, zu dem ich vermutlich nie wieder würde zurückkehren können …

„Geschichten scheinen sich in dieser Familie ja zu verbreiten wie ein Lauffeuer“, murmle ich anklagend, um den düsteren Gedanken beiseite zu schieben.

Andre zuckt lässig die Schultern.

„Leider ein notwendiges Übel, um alle Geschäfte der Familie optimal organisieren zu können. Es ist nicht immer leicht, aber man gewöhnt sich daran“, gesteht er, ehe er sich aufgeregt die Hände reibt.

„So, dann können wir ja jetzt mit dem spaßigen Teil des Trainings beginnen!“

In der restlichen uns verbleibenden Zeit gehe ich mit mehr Sportgeräten auf Tuchfühlung, als gut für einen Menschen sein kann. Andre will meine „Grenzen ausloten“, wie er es selbst ausgedrückt hat, und ich bin ernsthaft am überlegen, meinen ersten Eindruck von ihm noch einmal zu revidieren. Wie in Drillsergeant hetzt er mich unerbittlich von einem Gerät zum nächsten. Immer, wenn ich mich beschwere, zieht dieser fiese Kerl den Jogging-Joker und ich habe keine andere Wahl, als weiter zu machen.

„So, genug für heute Morgen“, beendet er endlich das Training. „Wie sehen uns um sechs nochmal.“

Ein angestrengtes Stöhnen ist die einzige Antwort, die er von mir erhält.

Kommentarlos reich er mir eine Wasserflasche. Wieder fällt mir der zierliche Ring ins Auge.

„Danke“, bringe ich mühevoll hervor, nachdem ich das Wasser gierig heruntergestürzt habe. Da fällt mir endlich ein, wo ich so ein Modell schon einmal gesehen hatte.

„Bist du … bist du mit Elena verheiratet?“

Kapitel 9

Er schaut liebevoll auf den Ring hinab, ehe er mir sein breitestes Lächeln schenkt. Also tatsächlich! Warum hatte Elena mir nichts davon gesagt?

„Sagen Sie ihr bitte nicht, dass Sie es wissen.“

Sein Lächeln ist verblasst.

„Hat man Sie schon über die Zwölf in Kenntnis gesetzt?“ will Andre von mir wissen.

„Sind es nicht dreizehn verfluchte Familien?“, korrigiere ich ihn.

„Also nein“, beantwortet er seine eigene Frage. „Ich fürchte ich bin nicht der richtige, um es Ihnen zu erklären – und bitte sprechen Sie auch Elena nicht darauf an. Sie werden bald verstehen, warum ich Sie darum bitte. Sie sollten Klaus oder den jungen Herrn danach fragen.“

„Ich werde ihr nichts davon sagen“, verspreche ich, auch wenn ich seine Besorgnis nicht nachvollziehen kann. Aber Andre erscheint mir nicht wie jemand, der sich leichtfertig Sorgen macht.

„Ich danke Ihnen.“

 

 

Anna, schaffst du es morgen nach deinem vierzehn Uhr Einsatz innerhalb von dreißig Minuten zurück nach Konstanz?, kontaktiert Julian in Gedanken eine seiner Zwölf, während er mit Mark noch einmal den Plan für den restlichen Abend durchgeht.

Ich denke, dass sollte kein Problem sein, Herr, kommt sofort eine Erwiderung.

Er bricht die Verbindung ab und konzentriert sich noch einmal auf die Visionen. Keine Veränderung.

„… um dreiundzwanzig Uhr am Karlsruher Bahnhof, das wäre dann der letzte Termin für heute“, beende Mark seinen Bericht.

Er nickt knapp, um die Worte abzusegnen.

„Warum siehst du mich so an?“

„Ich bewundere dich“, gibt Sophie frei heraus zu. „Dass du ständig auf so vielen Ebenen gleichzeitig agierst … Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne.“

Die Erinnerung sucht ungebeten ihren Weg zurück an die Oberfläche. In ihren strahlenden Augen hatte er erkannt, dass sie ernst meinte, was sie sagte.

Sophie. Sie hatte immer gewusst, wann er nach einem anstrengenden Tag aufmunternde Worte gebraucht hatte, ohne dabei jedoch seine Autorität zu untergraben. Die Erinnerung schmerzt. Er würde diese ruhige, aufmerksame Seele an seiner Seite vermissen.

Wie versteinert bleibt er im Türrahmen stehen und blickt in das verhasste Paar schwarzer Augen, das es erst so weit hatte kommen lassen. Hannah scheint nicht minder überrascht, ihn zu sehen. Das kann nur das Werk von Klaus sein. Denkt er wirklich, es sei so einfach?

Ohne ein Wort des Grußes nimmt et ihr gegenüber am Tisch Platz.

„Warum ist noch nicht aufgetragen?“

 

 

Ich balle die Hände zu Fäusten, bis meine Knochen schmerzen, um mich davon abzuhalten, Markov eines der Silbermesser, die so verführerisch vor mir ausgebreitet sind, in seine arroganten Züge zu rammen. Sobald er mich gesehen hatte, hatte sich wieder dieser verächtliche Glanz in seine Augen gestohlen, den er offenbar speziell für mich reserviert hat. Er hält es nicht einmal für nötig, mich zu grüßen. Ohne auf meine konstatierte Miene zu achten, setzt er sich mir gegenüber und verlangt wie ein verwöhnter kleiner Junge in dem für ihn typischen Befehlston nach seinem Essen.

Die Messer werden immer attraktiver, aber ich dränge meine Wut zurück. Er will mich nur provozieren, und ich werde ihm ganz bestimmt nicht so leicht in die Hand spielen!

„Danke, dass du mir hilfst, die Visionen einzudämmen. Das muss sehr schwer für dich sein“, schaffe ich in ruhigem Ton herauszubringen, obwohl alles in mir nach einem Tobsuchtsanfall schreit.

Nun ist es an Markov, konstatiert dreinzuschauen. Aber er hat sich rasch wieder unter Kontrolle.

„Du nützt mir nichts, wenn du schon am Anfang schlapp machst“, ist seine brutal ehrliche Erwiderung.

Seine Worte bohren sich wie tausende Nadeln in mein Herz. Warum geht es mir so nahe, was Markov sagt? Nein Hannah, du wirst jetzt nicht anfangen zu weinen! Nicht vor ihm! Niemals!

In diesem Moment kommen die Diener mit dem Essen herein, eine willkommene Ablenkung. Die nächsten Minuten verbringen wir schweigend, nur das Klappern des Bestecks durchbricht die betretene Stille. Dann wage ich mich erneut in die Höhle des Löwen.

„Da wir nun offensichtlich im gleichen Boot sitzen, sollten wir uns vielleicht etwas näher kennen lernen. Lass uns den holprigen Start einfach vergessen und nochmal von vorne anfangen“, schlage ich hoffnungsvoll vor. Ein Friedensangebot. In dem Kerl muss doch ein Fünkchen Menschlichkeit stecken, oder? „Ich bin Hannah, nett dich kennen zu lernen!“

Einladend strecke ich ihm meine Hand entgegen.

Markov stellt sein Weinglas ab, von dem er gerade genippt hat, und sieht mich mit zornfunkelnden Augen an.

„Wenn du glaubst wir wären ebenbürtig,“ – er speit das Wort geradezu aus – „nur weil alle in diesem Haushalt dich bereits wie meine Frau behandeln, bist du einfältiger, als ich angenommen hatte“, kommentiert er ungerührt. „Wir sind nicht ebenbürtig, und ich bezweifle, dass wir es jemals sein werden.“

Wieder nippt er an seinem Wein.

„Was das Kennenlernen anbelangt: Ich kenne dich bereits besser, als mir lieb ist, und du wirst mich gut genug kennen lernen, wenn wir verheiratet sind.“

Damit ist das Thema für ihn abgehakt.

Hätte ich die Bürde des Fluches nicht am eigenen Leib erfahren, wäre spätestens jetzt der Moment gewesen, ihm Drama reif mein Wasser überzukippen und aufgelöst aus dem Raum zu stürmen. So ist es am Ende schließlich nicht der Zorn oder die Verletztheit, die überwiegt, sondern Mitleid. War er jemals in seinem Leben unbeschwert gewesen? Hatte gelacht? Ich bezweifle es.

Der Typ muss wirklich vom Schicksal für dich bestimmt sein, wenn du dich so niedermachen lässt und er dir am Ende auch noch Leid tut, schelte ich mich in Gedanken und kann selbst nicht recht verstehen, was in mir vorgeht. Warum fühle ich mich in seiner Nähe immer so zu ihm hingezogen, obwohl mein gesunder Menschenverstand lauthals "Arschloch!" brüllt?

Sein Teller ist beinahe leer, als ich noch einmal den Mut aufbringe, etwas zu sagen.

„Was sind die Zwölf?“

Eine pragmatische Frage. Unverfänglich – sollte man meinen.

Ohne zu mir aufzusehen, kaut Markov gemächlich zu Ende, langt nach seiner Serviette, wischt sich mit der Eleganz des Knigge höchst persönlich die nicht vorhandenen Essensreste von seinem Mund und steht auf.

„Elena!“, ruft er so unvermittelt, dass ich zusammenzucke. Im nächsten Augenblick kommt sie ins Esszimmer gestürzt.

„Kläre sie bitte über die Zwölf auf!“, befiehlt er, wobei er das sie besonders abfällig betont.

„Ich habe aber dich gefragt, nicht Elena!“, erinnere ich ihn.

Ohne auf meinen Einwurf einzugehen, wendet er sich von mir ab und verlässt den Raum. Auch mir ist inzwischen gänzlich der Appetit vergangen. Erschöpft lasse ich meinen Kopf in die Arme sinken.

„Dieser Kerl macht mich wahnsinnig!“

 

 

Lass uns den holprigen Start einfach vergessen und nochmal von vorne anfange.

Beinahe wäre er auf ihr Friedensangebot eingegangen. Beinahe. Bis er sich mit aller Gewalt wieder darauf besonnen hatte, dass es für ihn so etwas wie Frieden nie geben würde – und das dies ihre Schuld war.

Er platzt ohne Vorwarnung in Klaus Büro. Der schaut verwirrt von seinen Unterlagen auf. Es ist nicht ungewöhnlich für ihn, abends noch zu arbeiten. Womöglich eine Angewohnheit aus seiner Zeit als einer der Zwölf.

„Julian, wie kann ich dir helfen?“

„Hör auf, dich in meine Beziehung zu Hannah einzumischen!“

Klaus richtet sich in seinem Stuhl auf und legt seine Lesebrille ab. Die Unterlagen sind vergessen.

„Ich dachte es wäre in deinem Interesse, etwas Zeit mit ihr zu verbringen“, gesteht er frei heraus.

„Ich habe dir schon mehr als einmal gesagt, dass du dir deine Gefallen schenken kannst!“, gibt Julian verächtlich zurück.

„Es ist nicht ihre Schuld was damals geschehen ist, Julian.“

„Sie hätte nach mir rufen können“, wirft er ein.

Obwohl Hannah gerade einmal drei Jahre alt gewesen war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie sofort instinktiv auf seine telepathischen Annäherungsversuche reagiert. Während seines zweiwöchigen Aufenthaltes in China war sie keine Sekunde von seiner Seite gewichen – sowohl mental als auch physisch, und als er sie schließlich wieder verlassen musste, hatte sie so bitterlich geweint, dass es ihm beinahe das Herz gebrochen hatte. Ihre kleinen Händchen hatten sich verzweifelt in seine Jacke gegraben, bis die Erwachsenen sie mit Gewalt von ihm weggezerrt hatten.

´ulian. ´ulian.

Immer wieder war ihr verzweifelter Ruf in ihn gedrungen, bis der Flieger zu weit weg für das kleine Mädchen gewesen war, um die Verbindung aufrecht zu erhalten.

Obwohl man es ihm verboten hatte, hatte er von da an jeden Morgen die geistige Verbindung zu ihr gesucht. Jeden Tag aufs Neue hatte er ungeheure Kraft darauf verwendet, sie über Kontinente hinweg zu erreichen, nur um sie für den Bruchteil einer Sekunde bei sich zu spüren, und jedes Mal hatte sie seinen Ruf mit einem fröhlichen Kichern begrüßt – bis das Kichern eines Tages ausgeblieben und stattdessen von panischen Schreien ersetzt worden war, und dann: Leere.

Er hatte immer geglaubt, das sei der Moment ihres Todes gewesen, aber sie hatte überlebt. Die grausige Schlussfolgerung war, dass sie ihn bewusst aus ihren Gedanken ausgeschlossen hatte. Im Moment ihrer größten Not hatte sie sich von ihm abgewandt, und während sie sich somit unwissend von dem Fluch befreit hatte, hatte sie ihn damit gleichzeitig zu einer trostlosen, einsamen Existenz voller Schmerz verdammt. Mehrfach hatte er damals versucht, sich das Leben zu nehmen, aber man hatte es immer verhindert.

„Sie war noch ein kleines Kind“, erinnert ihn Klaus sanft. „Hannah war kaum mehr als ein Baby, und der Anschlag muss sie zu tiefst verängstigt und traumatisiert haben. Du hast die Notizen des Arztes gelesen, bevor der Fluch sie vernichtet hat.“

„Die Dokumente haben nur gezeigt, was ich ohnehin schon wusste: Die Hannah, die meine Seelengefährtin war, gibt es nicht mehr, und nichts was du tust oder sagst wird sie mir je wieder bringen.“

„Du hast recht, nichts wird diesen furchtbaren Tag je ungeschehen machen“, stimmt Klaus ihm zu. „Aber Hannah ist immer noch Hannah. Ihr Herz und ihre Seele sind die gleiche, auch wenn sie nicht so sehr gelitten haben, wie deine. Lasst Vergangenes Vergangenes sein und fangt noch einmal von vorne an. Was hast du zu verlieren?“

Mein Herz, antwortet er in Gedanken. Und ein zweites Mal würde er den Verlust nicht ertragen.

 

 

Bitte sprechen Sie auch Elena nicht darauf an.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Markov sie bewusst in diese Situation gebracht hat. Doch warum sollte er ihr wehtun wollen? Was könnte er gegen die so diensbeflissene Elena haben?

„Du musst es mit nicht erklären!“, sage ich schnell zu Elena, die wie bestellt und nicht abgeholt neben dem Tisch steht.

Elena holt tief Luft, als wappne sie sich für einen bevorstehenden Kampf, ehe sie erwidert: „Irgendwann musst du es ohnehin erfahren.“

Ich seufze ergeben.

„Dann setz dich wenigstens zu mir. Das Salutieren kannst du dir für Mark… Julian aufheben.“

Ob ich mir das je abgewöhnen werde?

Elena nickt dankbar und nimmt auf dem Stuhl neben mir Platz.

„Es gibt einen Grund, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde, deine Sekretärin zu sein“, beginnt sie zu erklären. „Der Fluch … er hat sich über die Jahre, nun, nennen wir es mal weiterentwickelt. Die körperliche Überlegenheit der Verfluchten bildete sich immer stärker aus, und auch die Visionen wurde genauer und weitreichender – und somit zu einer Aufgabe, die unmöglich alleine zu bewältigen war. Niedere Diener und Sklaven wurden beauftragt, die Verfluchten zu unterstützen, aber ohne die modernen Fortbewegungsmittel und Kommunikationstechnologien kämpften sie auf verlorenem Posten.“

„Und da kommen die Zwölf ins Spiel?“, rate ich.

Elena nickt.

„Die Zwölf sind eine Reihe Männer und Frauen denen es vorherbestimmt ist, das Familienoberhaupt bei seiner Arbeit zu unterstützen“, klärt sie mich auf. „Unsere besondere Fähigkeit liegt darin, dass wir alle von Geburt an empathisch mit dem jungen Herrn verbunden sind. Wir können zwar keine Visionen sehen wie ihr, aber wir können telepathisch mit euch kommunizieren und eure Gefühle empfangen.“

„Dann ... dann bist du gewissermaßen auch verflucht?“

„Gewissermaßen“, stimmt sie mir etwas zögernd zu. „Sobald der junge Herr und du aber … Wir Zwölf sind nur auf ein Familienoberhaupt geprägt“, setzt sie erneut an.

Es dauert einige Sekunden bis ich begreife, worauf sie hinaus will. Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit, besonders, wenn man nicht selbst über sie verfügen kann, erinnere ich mich an Klaus Worte.

„Du meinst wenn … wenn er und ich sterben seid ihr frei?“, vermute ich.

„Ja, das sind wir“, stimmt sie mir zu. „Aber es ist nicht ganz so simpel, wie es sich jetzt für dich anhören mag. Wenn man den Großteil seines Lebens so eng mit einer Person verbunden ist, all seine Gefühle spürt als seine es die eigenen … Es wird sein, als würde ein Teil deiner Selbst verschwinden. Ich habe darüber einmal mit einer der letzten Zwölf gesprochen – kurz bevor sie mit ihrem Auto von der Straße abkam und verunglückte.“

Ich verstehe die Andeutung.

„Es kommt nicht so häufig vor wie bei den Oberhäuptern, aber oft genug“, bestätigt sie noch einmal meinen Verdacht.

„Warum hast du dann noch nie telepathisch mit mir kommuniziert?“, lenke ich das Gespräch auf ein weniger deprimierendes Thema.  

„Der junge Herr“, ist die knappe Antwort. „Er blockt nicht nur deine Visionen, sondern auch unseren Zugang zu dir. Telepathie erfordert Konzentration, und es wird dir zu Beginn schwer fallen, sie gezielt einzusetzen.“

Bei dem Gedanken daran, noch mehr in meinem Kopf verarbeiten zu müssen, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Schon jetzt habe ich mit den Kopfschmerzen zu kämpfen, die ich der gedrosselten Flut an Visionen zu verdanken habe, die seit diesem Morgen unablässig auf mich einströmt.

Wie soll ich das alles bloß schaffen?

Elenas Blick schweift abwesend zu ihrem Ehering und rückt somit meine eigentliche Frage wieder in den Fokus. Gedankenverloren streich sie über das Metall, bis sie sieht, dass mir diese Geste nicht entfallen ist. Als hätte ich sie auf frischer Tat ertappt, lässt sie ihre Hände auseinanderfahren und lächelt mich beschämt an.

„Eigentlich ist es den Zwölf verboten zu heiraten“, klärt sie mich auf. „Es wäre für uns eine viel zu große Ablenkung von unseren Pflichten. Bisher hat die Familie eine solche Heirat immer zu unterbinden gewusst, aber wir leben im 21 Jahrhundert und Andre … Er ist manchmal ein ziemlicher Dickschädel.“

„Das klingt doch nach einem Happy End“, kann ich ihre Traurigkeit noch immer nicht nachvollziehen.

„Sie können uns immer noch trennen“, wirft Elena ein. „Man hat unsere Heirat mehr oder weniger vorläufig auf Bewährung geduldet. Wenn meine Pflichten unter unserer Beziehung leiden sollten, würde der junge Herr keine Sekunde zögern, mich fortzuschicken. Deshalb halten Andre und ich Arbeit und Privatleben strikt getrennt.“

„Aber ihr seid zwei verheiratete Erwachsene verdammt – warum lasst ihr euch so von ihm rumkommandieren? Mitglied der Zwölf hin oder her, ihr habt doch Rechte!“

„Wenn er es darauf anlegt, kann keiner von uns Zwölf sich einem direkten Befehl von ihm widersetzen. Er würde mich irgendwo hinschicken, wo Andre mich nie finden würde.“

„Und du hättest keine Chance, seinen Befehl einfach zu ignorieren?“, kann ich es kaum fassen.

„Keine Chance“, stimmt sie mir traurig zu. „Ein weiterer Grund, warum wir uns nicht gerade für eine Beziehung eignen. Die Bedürfnisse des Familienoberhauptes werden für uns immer an erster Stelle stehen. Für einen Außenstehenden mag sich das verrückt anhören, aber unsere Seelen und unser Herz sind mit dem jungen Herrn in einer Weise verbunden, die weit über Liebe hinausgeht. Er ist unser Leben, so wie der Fluch das seine ist – besser kann ich es nicht beschreiben.“

Ich schüttle ungläubig den Kopf. Das klingt tatsächlich mehr als verrückt.

„Sollte der Fluch die Herrscher nicht ursprünglich von ihrem Größenwahn abbringen? Wie passt es da ins Bild, dass die Vergessenen über ihre Zwölf bestimmen können, wie es ihnen gerade in den Kram passt?“, überlege ich laut.

„Da wir nicht mit der Gabe der Vision gesegnet sind, können wir manche Situationen nicht in dem Maße einschätzen, wie das ein Vergessener könnte. Bei unseren Missionen geht es aber oft um Sekunden und wir dürfen nicht zögern – in solchen Momenten ist diese Kontrolle für den junge Herrn unabdingbar.“

„Wie genau laufen solche Missionen eigentlich ab?“, will ich wissen – immerhin werde ich irgendwann selbst einmal auf solche Missionen gehen, wenn ich es recht verstanden habe …

Elena vertröstet mich auf den nächsten Tag, an dem ein weiteres Gespräch mit Klaus angesetzt ist.

 

 

Es ist sieben Uhr und ich sitze gerade mit Elena beim Frühstück, als Klaus uns einen Besuch abstattet.

„Guten Morgen, Hannah“, wünscht er mir gut gelaunt.

„Guten Morgen“, gebe ich etwas verwirrt zurück und Elena, die wie von einer Tarantel gestochen aufspringt, schiebt entsetzt hinterher: „Verzeiht Herr, ich dachte, wir seien erst für zehn Uhr verabredet!“

„Das sind wir, das sind wir.“

Klaus macht eine beruhigende Geste mit seinen Händen.

„Aber ich habe die nächste Stunde überraschend frei bekommen und dachte, wir könnten unseren Termin vorverlegen. Ich muss heute Mittag noch nach Frankfurt, daher käme mir das sehr entgegen.“

Klaus führt mich nicht wie erwartet in sein Büro, sondern in einen abgelegenen Trakt des Anwesens, indem ich noch nie gewesen war. Wir betreten eine riesige, glasüberdachte Galerie mit zahllosen Gemälden und Fotografien in an den Wänden. Das Ganze erinnert an ein Museum. In der Mitte des Saals befindet sich eine Sitzbank, auf die Klaus sich niederlässt. Ich tue es ihm gleich.

Mir fällt auf, dass alle Bilder berühmte Persönlichkeiten zeigen: Albert Einstein, Caesar, Karl der Große, Marie Curie, Napoleon, …

„Alle Menschen, die du hier siehst, sind im Laufe ihres Lebens mit einem Vergessenen unserer Familie in Berührung gekommen“, lässt Klaus mit kaum verhohlenem Stolz verlauten. „Da Vinci traf durch unser Familienoberhaupt seine Mona Lisa. Caesar wurde von uns als junger Mann vor einem Attentat bewahrt. Königin Victoria entging durch unser zutun den Intrigen John Conroys und bestieg schließlich den englischen Thron. …“

Er fährt fort, noch einige weitere Geschichten hinter den Bildern zu erzählen, und ich höre gespannt zu.

„Jeder von uns kann am Ende seines Lebens Bilanz ziehen über das, was er erreicht hat“, beendet Klaus schließlich seine Ausschweifungen. „Dein Vermächtnis wird wir Erweiterung dieses Raumes sein.“

Ironie des Schicksals dass das einzige, das je an mich erinnern wird, die Bildnisse anderer sind.

„Wie genau läuft so eine Mission ab?“, wiederhole ich die Frage, die ich am Tag zuvor bereits Elena gestellt habe.

Klaus zuckt die Schultern.

„Du entschiedest, was nötig ist, und die Visionen weisen dir dabei den Weg.“

Innerlich verdrehe ich die Augen. Das kann alles und nichts heißen.

„Ein Beispiel?“, hake ich nach.

Klaus kann sich ein verschmitztes Lächeln ob meines ratlosen Gesichtes nicht verkneifen.

„Entschuldige. Es ist einfach so ungewohnt, den Fluch jemandem erklären zu müssen. Für mich ist er so selbstverständlich“, gesteht er. „Ein Beispiel, lass mich nachdenken … Na schön. Sagen wir du siehst ein kleines Mädchen, das am Wasser spielt, dann eine trauernde Mutter im Krankenhaus und schließlich eine Frau, die bei einer Verleihung des Nobelpreises neben einem der Empfänger steht. Was könnte man daraus machen?“

„Das Mädchen wird vermutlich ertrinken, wenn ich sie nicht rette, aber wie der Nobelpreis da ins Bild passt, verstehe ich nicht ganz“, überlege ich laut.

„Es könnte ein Blick in die alternative Zukunft des Mädchens sein. Vielleicht hat sie den Nobelpreisträger zu seinen Leistungen inspiriert“, hilft er mir auf die Sprünge.

„Ich sehe also, wie das Mädchen ertrinkt – was dann?“

„Zu allererst musst du abwägen ob die Vision es Wert ist, von dir Beachtung geschenkt zu bekommen. Das mag hart klingen, aber du wirst nun einmal nicht annähernd allen Menschen helfen können, die du siehst“, spinnt er sein Gedankenspiel weiter. „Als Nächstes musst du versuchen herauszufinden, wo die Vision sich ereignet hat. Keine Sorge, mit der Zeit wirst du so etwas wie einen inneren Radar entwickeln und den Ort instinktiv spüren können. Zum Schluss gilt es noch zu erwägen, wie du in der jeweiligen Situation am Geschicktesten eingreifen könntest, und ob du beziehungsweise ihr diesen Auftrag übernehmt oder einer eurer Zwölf. So grob die Theorie.“

„Wohnen die Zwölf alle in diesem Haus?“

„Nein, nein“, winkt Klaus rasch ab. „Sie sind in ganz Europa stationiert – das heißt in dem Teil Europas, der in den Aufgabenbereich unserer Familie fällt. Selbst in unseren Privatjets wären die Strecken meistens zu weit, besonders, wenn es eine kurzfristige Vision ist.“

Privatjets? Auch noch Mehrzahl? Wie viel Geld hat diese Familie eigentlich?

„Wann werde ich das erste Mal auf eine Mission gehen?“

„Nach eurer Hochzeit.“

Ich schlucke schwer. Stimmt, da war ja noch was …

„Zunächst wirst du Julian stundenweise begleiten und weiter Unterricht erhalten. Mit der Zeit wirst du dann in deine Aufgabe hineinwachsen.“

„Müssen er und ich … müssen wir wirklich gleich heiraten? Seelenverwandtschaft hin oder her, warum die Eile? Wir können doch auch erst einmal so zusammenarbeiten?“, schlage ich vor.

„Du bist für Julian bestimmt, du wurdest für ihn geboren – das ist kein chauvinistisches Gerede, sondern eine Tatsache“, legt er auf meinen empörten Blick nach. „Umgekehrt wird es für Julian nie eine andere geben als dich. Der Fluch hat noch nicht in dem Maße Besitz von dir ergriffen, dass du die Bedeutung dieser Worte ganz erfassen könntest, aber glaube mir: Ihr würdet beide nur unnötig leiden, wenn ihr euch voneinander fern hieltet. Warum sollte ich das zulassen?“

 

 

Elena und Yvette liegen sich in ihre Taschentücher schniefend in den Armen, während sie zu mir auf sehen. Es ist die erste Brautkleidanprobe. Eine namenhafte Designerin wurde beauftragt, mir ein Kleid nach meinen Wünschen auf den Leib zu schneidern, und es ist umwerfend geworden, schöner, als ich es mir je hätte erträumen können – also eigentlich die ultimative Erfüllung aller Mädchenträume. Doch ich fühle mich wie gefangen in dieser Masse aus weißer Spitze, betrachte mich beinahe widerwillig im Spiegel. Ich werde einen Mann heiraten, denn ich kaum kenne, ohne meine Familie, umgeben von Fremden. Mädchentraum? Von wegen!

„Sie sehen wunderschön aus, Madame!“, bringt Yvette zwischen zwei Schnäuzern hervor. Elena nickt zustimmend. „Atemberaubend. Der junge Herr wird …“

 

Ein belebter Marktplatz. Zwei Schülerinnen, die sich angeregt in einem Klassenzimmer unterhalten. Ein bellender Hund. Ein Pärchen im Kino, eng ineinander verschlungen. Eine kaputte Ampel. Ein Krankenwagen. Schreie. Weinen. Eine blutende Wunde. Ein Autowrack. Eine Biene, die eine Blüte bestäubt. Das Läuten einer Schulglocke …

 

Ich keuche vor Schmerz auf und halte mir die pochenden Schläfen, versuche verzweifelt ruhig zu atmen, wie ich es mit Frau Ashwani schon so oft geübt habe. Trotzdem dauert es minutenlang, bis der Schmerz und die Bilderflut nachlassen und ich meine Umgebung wieder wahrnehmen kann. Mittlerweile habe ich mich beinahe an diese Anfälle gewöhnt. Das ist nun schon der dritte heute. Im Laufe der vergangenen Woche hat Julian die Mauer um meinen Geist drastisch verkleinert. Die meiste Zeit gelingt es mir, die Visionen auf ein ertragbares Maß im Hinterkopf zu halten, aber manchmal sind die Bilder einfach zu stark und übermannen mich. Dann kann ich nur hilflos abwarten, bis es vorüber geht, und versuchen, den Schmerz bestmöglich zu ertragen.

Elena, Yvette und die Schneiderin sind mitfühlend an meine Seite geeilt, reden beruhigend auf mich ein. Ich blinzle die Tränen fort und konzentriere mich auf Elenas Mund. Langsam nehmen ihre Worte Gestalt an.

„… na! Hannah! Hören Sie mich? Hannah!“

Ich bringe so etwas wie ein Nicken zustande, woraufhin sich die drei Frauen sichtlich beruhigen.

Elena und Yvette helfen mir wieder auf die Beine.

„Geht es wieder?“, fragt Elena.

„Es geht wieder.“

 

 

Kapitel 10

„Ja, ich will.“

„Kraft des mir verliehenen Amtes erkläre ich sie hiermit zu Mann und Frau.“

Die Gäste erheben sich und applaudieren uns zu. Da mein Bräutigam keine Anstalten macht, auch nur einen Finger an mich zu legen, muss ich die Initiative ergreifen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, lege ihm eine Hand an die Wange, so dass er mich ansehen muss, und küsse ihn sanft auf die andere.  

Zwei Wochen ist es nun her, dass ich in dieses Haus gezogen bin. Von dem Fluch erfahren habe, der auf mir lastet. Mein altes Leben gegen ein Leben an der Seite eines Mannes getauscht habe, dessen Herz aus Eis zu bestehen scheint. In dieser Zeit habe ich viel geweint. Warum ich? Warum so? Warum mit ihm? Bis ich schließlich zu der simplen Erkenntnis gelangt war, dass die Dinge nun einmal so liegen, wie sie liegen. Kein Traum. Keine Geisteskrankheit. Grausame Realität. Was also tun? Mein Leben als Heulboje zubringen?

Bestimmt nicht! Die oberste Regel der Photographie lautet: Es gibt keine schlechten Motive, nur schlechte Winkel. Ich muss nur lernen, die Dinge in ein günstigeres Licht zu rücken – meinen Ehemann eingeschlossen, der noch nichts von seinem Glück ahnt.

Markov ist wie erstarrt, sieht mich verdattert an. Bei den wenigen Malen, die wir uns vor der Hochzeit noch über den Weg gelaufen waren, hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu demütigen und zur Weißglut zu treiben, mich von sich zu stoßen, so gut er es nur vermochte. Dennoch fühlte ich mich bei jeder Begegnung mehr zu ihm hingezogen, auch wenn ich es hasse, mir das eingestehen zu müssen. Markov scheint von solchen Problemen unbehelligt. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, verbittert zu sein und sich selbst zu bemitleiden, als dass er sich auf diese Sache zwischen uns einlassen könnte. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu hoffen, dass er die Hand, die ich ihm anbiete, irgendwann ergreifen wird.

Ohne die miesepetrige Miene meines frisch Angetrauten zu beachten, hake ich mich bei ihm unter. Es ist mein Hochzeitstag, verdammt, und ich werde mich amüsieren – mit oder ohne Bräutigam! Zähneknirschend lässt er diese intime Geste über sich ergehen und wir verlassen unter tosendem Applaus die Kirche.

Der Empfang findet im Ballsaal des Hauses statt, der dem Anlass entsprechend hergerichtet wurde. Runde, geschmückte Tische bilden einen Kreis um eine großzügige Tanzfläche, und ein zehn Mann Orchester steuert klassische Klänge bei. Viel zu dekadent für meinen Geschmack. Markov dagegen scheint es gerade so akzeptabel zu finden. Er lässt den Blick beinahe gelangweilt über die Pracht schweifen, vermutlich auf der Suche nach einem Haar in der Suppe, während er mich zur Tafel am Kopfe des Saales führt, die für uns bestimmt ist.

Das Menü eines Sternekoches wird aufgetischt – was auch sonst? – und zum Nachtisch folgt das Anschneiden der Hochzeitstorte, bei dem ich es mir nicht verkneifen kann, in der letzten Sekunde meine freie Hand über die meines Mannes zu legen, was mir ein paar funkensprühender Augen und eine amüsierte Hochzeitsgesellschaft einbringt. Als alle Mäuler gestopft sind ist es an uns, die Tanzfläche mit dem obligatorischen Hochzeitstanz zu eröffnen, den ich tatsächlich halbwegs ansehnlich und zu meinem Stolz gänzlich stolperfrei über die Bühne bringe.

„Darf ich um die Ehre bitten?“

Mein Etikettelehrer Herr Frank verbeugt sich grazil, hält mit einladend eine Hand entgegen und sieht Markov erwartungsvoll an.

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“

Aus jeder Silbe ist herauszuhören, dass er das Angebot nur zu gerne annimmt, dankbar für jede Sekunde, die er nicht mit mir verbringen muss.

Ein neues Stück setzt ein und ich muss mich wieder auf mein Kleid und die Schritte konzentrieren.

Über die Schulter meines Tanzpartners sehe, wie ein untersetzt wirkender, älterer Mann den Ballsaal betritt. Zunächst verharrt er und sicher am Eingang, verschafft sich einen Überblick über die Szene, als suche er jemanden, ehe er schließlich Markov ins Visier nimmt. Der Mann kommt mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen haben könnte. Als Markov den Fremden bemerkt, tritt ein Ausdruck auf sein Gesicht, gegen den die Blicke, mit denen er mich für gewöhnlich beäugt, beinahe harmlos zu bezeichnen sind. Verachtung. Ich habe noch nie Verachtung in so reiner Form gesehen.

Die beiden wechseln nur wenige Worte, und mit jedem scheint der Mann kleiner und kleiner zu werden. Er sieht kurz zu mir herüber, daraufhin gibt Markov ihm offensichtlich endgültig den Rest und er sagt gar nichts mehr. Klaus ist inzwischen herbeigeeilt und versucht, seinen Neffen zu beruhigen, aber der lässt wie immer nicht mit sich reden. Schließlich sieht der Mann offenbar keine andere Möglichkeit und tritt den Rückzug an.

„Kennen die diesen Mann?“, frage ich Herr Frank.

„Das ist ihr Schwiegervater.“

 

 

Ich weiß nicht genau, warum ich mich aus dem Saal geschlichen habe. Echte Neugier? Mitleid? Für eine kurze Pause von diesem ganzen Protz und Prunk mit all seinen schicken Benimmregeln? Um Markov endgültig zum Explodieren zu bringen? – Vermutlich ein bisschen von allem.

Mein Schwiegervater sitzt auf einer Bank im Foyer, hat sichtlich niedergeschlagen den Kopf gesenkt und nestelt nervös mit seinen Fingern herum. Ich räuspere mich verlegen und er sieht zu mir auf. Mehrmals blinzelt er, als traue er seinen Augen nicht.

„Madame?“, fragt er schließlich leise.

„Bitte sagen Sie doch Hannah zu mir, schließlich sind wir doch jetzt eine Familie!“ Ich zögere einen Moment. Was mag zwischen ihm und seinem Sohn wohl vorgefallen sein? „Kann ich mich ein bisschen zu Ihnen setzen?“

„A-aber selbstverständlich! Es wäre mir eine Ehre!“

Er rutscht ein Stück zur Seite und ich setze mich. Jetzt, da ich ihn von Nahem sehe, verstehe ich warum ich das Gefühl hatte, ihn zu kennen: Satte, braune Haare, markante Gesichtszüge – Markov ist seinem Vater praktisch wie aus dem Gesicht geschnitten, nur wesentlich sportlicher gebaut und natürlich um einiges jünger.

Mein Schwiegervater hat aufgehört, nervös mit seinen Fingern zu spielen, und ich sehe, dass er etwas hält. Ein Foto. Eine junge, vor Freude strahlende Frau mit eisblauen Augen, langen, blonden Haaren und einem Baby auf dem Arm.

„Das ist Julians Mutter“, erklärt er. „Das Baby ist der Sohn eines Bekannten, der etwas älter ist als Julian. Da wir keine Fotos von unserem eigenen Sohn haben können, stelle ich mir vor, dass er es ist. So habe ich ihn zumindest in Gedanken immer bei mir.“

Er wendet mir seinen Kopf zu, ein flehender Ausdruck in den Augen.

„Ich weiß ich habe kein Recht, dich darum zu bitten, nach allem, was ich meinem Jungen angetan habe, aber bitte siehe einem verzweifelten Vater seinen Egoismus nach …“, er nimmt meine Hände in seine „…Pass gut auf unseren Julian auf, kannst du das für mich tun? Du bist doch das einzig Gute, was er hat! Lass nicht zu, dass er noch länger alleine ist! “

Tränen steigen in seine Augen.

„Meine Frau und ich waren … wir waren schwach. Wir konnten nicht … Wir konnten es einfach nicht!“, gesteht er und bricht schließlich schluchzend zusammen.

Ich lege beruhigend meine Arme um den völlig aufgelösten Mann und tätschle behutsam seinen Rücken. Ich spüre, dass es ihm aufrichtig leid tut was er glaubt, an seinem Sohn verbrochen zu haben.

„Ich verspreche, dass ich auf ihn Acht geben werde, so gut ich

kann.“

 

 

„Was tust du hier draußen?“

Markov hat die Augenbrauen finster zusammengezogen und die Arme verschränkt. Seufzend erhebe ich mich. Sein Vater war bereits vor einer viertel Stunde gegangen, aber der Gedanke, ein paar Minuten nur für mich zu haben, war einfach zu verlockend gewesen. Nun ist es aus mit der Ruhe.

„Frische Luft schnappen“, erwidere ich leichthin. „Keine Sorge, ich laufe dir schon nicht weg!“

Eigentlich ist es als Scherz gemeint, doch über Markovs Augen legt sich ein dunkler Schatten. Angst. Er jagt auf mich zu und packt grob mein Handgelenk.

„Ich mag es nicht, wenn ich nicht weiß, wo du bist. Du wirst in Zukunft darauf achten, immer in Sichtweite von mir oder einem der Zwölf zu sein, verstanden?“, tadelt er mich wie ein kleines Kind.

Es sollte mich ärgern, dass er sich wieder einmal wie der Nabel der Welt aufführt, aber stattdessen entschlüpfen mir ein schüchternes Lächeln und ein kleinlautes „Mhm“. Vielleicht fange ich doch langsam an, ihm etwas zu bedeuten …

Markov sieht mich nur fragend an und schüttelt dann irritiert den Kopf.

 

 

„Ähm … also … Gute Nacht“, stammle ich, als Markov mich nach unserer Hochzeitsfeier bis vor mein Zimmer begleitet. Elena und Mark sehen mich verdutzt an, Markov verdreht die Augen und brummt etwas in sich hinein wie „schon wärs“, ehe er meine Hand packt und mich weiterschleift.

„Hey, was …?“, beschwere ich mich, während er mich bis in den nächsten Gang hinter sich her zerrt. Nach vier Türen bleibt er stehen.

„Mark, du kannst gehen. Elena, helfe ihr aus dem Kleid, dann kannst du dich ebenfalls zurückziehen“, ordnet er an, lässt mich los und verschwindet in dem fremden Zimmer.

Mark und Elena nicken gehorsam, verbeugen sich und Mark entfernt sich. Elena bleibt mit mir zurück. Da fällt bei mir der Groschen.

Ich soll mit ihm in einem Zimmer schlafen?“, erkenne ich entsetzt, worauf das hier offensichtlich hinauslaufen soll.

„Ihr seid verheiratet“, gibt Elena zurück, als würde das alles erklären.

„Ich dachte die Hochzeit hätte eher … Wie soll ich sagen? – symbolischen Charakter. Ich meine ich kenne den Mann gerade Mal seit zwei Wochen – und wir können uns bisher nicht einmal besonders gut leiden! Das …“, mit einer vagen Geste umfasse ich die Tür, „… das geht nun wirklich zu weit!“

Elena ergreift meine Hand und drückt sie beruhigend.

„Mach dir keine Sorgen, zwischen euch beiden wird sich alles so fügen, wie es vorherbestimmt ist.“

„Das ist total irre, Fluch und Seelenverwandtschaft hin oder her!“, beharre ich. „Ihr könnt unmöglich von mir verlangen, dass ich …“

„Vertraust du mir?“, unterbricht Elena mich ruhig.

Wie kann sie das fragen? In den vergangenen vierzehn Tagen ist Elena für mich beinahe wie eine Schwester geworden. Tag und Nacht war sie für mich da, tröstete mich, hielt meine Hand. Ich will mir nicht ausmalen, wie ich diese schreckliche Zeit ohne sie überstanden hätte …  

„Natürlich vertraue ich dir, das weißt du!“

„Dann geh zu deinem Mann.“

„Aber …“, setze ich noch einmal an.

„Du hast selbst gesagt, ihr kennt euch quasi gar nicht, aber daran wird sich auch nichts ändern, wenn ihr euch weiter aus dem Weg geht, meinst du nicht?“

 

 

Mit wenigen geschickten Handgriffen hat Elena mich aus dem Kleid geschält, und ehe ich begreife, wie mir geschieht und wie zum Teufel ich mich freiwillig auf diesen Irrsinn einlassen konnte, verabschiedet auch sie sich für die Nacht und lässt mich allein in der Höhle des Löwen zurück.

Markov ist noch immer im Bad zu Gange, als ich bettfertig aus meinem komme – zum Glück hat jeder von uns sein eigenes. Obwohl es schon spät ist und ich jeden Schlaf brauche, den ich bekommen kann, ist mir nicht danach zu Mute, gleich ins Bett zu gehen. Die Tatsache, dass ich es mir fortan mit einem gewissen jemand werde teilen müssen, macht es nicht gerade attraktiver.

Kurzerhand entschließe ich mich dazu, noch ein wenig meine neue Bleibe unter die Lupe zu nehmen. An das Schlafzimmer schließt ein beinahe doppelt so großes Wohnzimmer an, dessen Blickfang eine Bibliotheksecke mit zwei deckenhohen Bücherregalen sowie ein Billardtisch und eine Sofaecke mit gigantischem Fernseher ist. Bei letzterem kann ich mir kaum vorstellen, dass es je Verwendung gefunden hat – Markov kommt mir nicht wie ein Filmefanatiker vor, von Videospielen ganz zu schweigen. Gedankenverloren schlendere ich am Billardtisch vorbei auf die Bücher zu. Neugierig ziehe ich einige hervor, deren Namen mir etwas sagen. Tolstoi, Kafka, Goethe … Eine Jane Austen suche ich hier vermutlich vergeblich.

Erschrocken fahre ich zusammen, als sich von hinten eine warme Hand auf meine legt und sie daran hindert, ein weiteres Buch aus dem Regal zu ziehen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um danach den Turbo einzulegen.

„Es ist spät. Geh ins Bett“, brummt Markov knapp.

Die Wärme verschwindet, die Hand wird zurückgezogen.

Nur in eine Pyjamahose gekleidet steht er hinter mir, sein nackter, muskulöser Oberkörper nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich spüre, wie mir augenblicklich die Röte in die Wangen schießt. Warum muss dieser Mistkerl auch noch so verdammt heiß aussehen?

Ein überlegenes, kühles Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Er weiß nur zu gut um seine Wirkung auf andere. Gemächlich schlendert er zurück ins Schlafzimmer.

Jetzt stecke ich in einer Zwickmühle. Wenn ich ihm nicht folgte, glich das einer Kapitulation, wenn ich es tat … Nun, wenn ich es tat, hieß das, in den nächsten Minuten mit ihm in einem Bett zu landen.

Na schön, Augen zu und durch! Es führt ja doch kein Weg dran vorbei!

Ich bemühe mich um ein gleichgültiges Auftreten und folge ihm. Ohne ihn anzusehen lege ich meine Weste ab, sodass ich nun lediglich in mein Nachthemd gehüllt bin, das einem weißen Baumwollkleid ähnelt, und schlüpfe so schnell ich kann unter meine Decken.

Eine Welt für eine Pyjamahose!

„Ähm … Tja dann … Schlaf gut“, stottere ich verlegen, während ich rasch meine Nachttischlampe ausschalte.

Plötzlich legt sich für einen kurzen Moment ein schweres Gewicht auf meinen Oberkörper und das Licht geht wieder an. Markov hat beide Hände neben meinem Kopf abgestützt und ist über mich gebeugt.

„Ich sagte geh ins Bett. Von Schlafen war keine Rede.“

 

Kapitel 11

In Markovs Augen liegt ein beinahe animalisches Funkeln, das mir den Atem raubt. Keine Abscheu. Verlangen.  

Der vernunftbegabte Teil meines Denkens will sofort empört etwas erwidern, wäre da nicht dieser verräterische triebgesteuerte Teil, der blitzschnell aus seiner Deckung schießt und jegliche Bedenken zur vollkommenen Unwichtigkeit degradiert. Ich habe schon viel zu lange keine Erlösung mehr gefunden, und nun ist da dieser unglaublich gutaussehende Mann – mein Mann – und will mich. Der ziehende Schmerz zwischen meinen Schenkeln könnte nicht deutlicher zeigen, dass mein Körper ihn auch will.

Warum eigentlich nicht? Mein innerer Hedonist hat Blut geleckt. Der Fluch. Die Hochzeit. Die Visionen. All die hochtrabenden Erwartungen der Familie. Lass diesen ganzen Mist einmal hinter dir und gönn dir die Zerstreuung. Vergiss für einen Moment die Welt, die dich vergisst.

Ich kralle meine Hände fester ins Bettlacken, schließe die Augen und warte darauf, dass Markov den ersten Schritt tut.

Und warte. Und warte.

Die Matratze hebt sich und ein verächtliches Schnauben ertönt von der anderen Seite des Bettes. Verwirrt blinzle ich und öffne die Lider. Ein Paar eisblauer Augen ist auf mich gerichtet. Kalt. Gefühllos. Das Funkeln ist erloschen.

„Wer hätte gedacht, dass in der unschuldigen, kleinen Fotografin so ein verdorbenes Mädchen steckt?“, höhnt er, sich meiner Empfindungen nur zu bewusst. „Ich muss dich enttäuschen. So nötig habe ich es zum Glück nicht.“

Er wendet sich von mir ab und rollt sich auf die Seite.

„Schlaf gut.“

Er hat mich vorgeführt. Nach Strich und Faden.

Wortlos schalte ich meine Nachttischlampe aus, wende ihm ebenfalls den Rücken zu und lasse den Tränen freien Lauf. Ich presse meine Lippen so fest zusammen wie ich kann, um zumindest ein Schluchzen zu unterdrücken. Mit diesem Mann bin ich nun verheiratet.

 

 

Schwarz. Vollkommene Dunkelheit. Ein Traum?

Ein kleines Licht erscheint in mitten der Finsternis. Ich will darauf zugehen, aber da packt mich etwas unvermittelt am Arm und hält mich zurück.

„Deine Kleidung. Stelle dir etwas vor, womit du unter Leute gehen kannst“, befiehlt Markov.

Natürlich, wer auch sonst. Er sieht wie immer tadellos aus, trägt eine dunkelgraue Anzughose, eine weise Bluse und ein passendes Jackett während ich – ich sehe prüfend an mir hinab und schlage peinlich berührt meine freie Hand vors Gesicht – wie sollte es auch anders sein, noch immer in mein freizügiges Nachthemd gehüllt bin. Ein Alptraum also, und auch noch einer von der ganz üblen Sorte.

Verärgert entwinde ich mich seinem Griff.

„Verschwinde! Kannst du mich nicht wenigstens in meinen Träumen in Ruhe lassen?“, schimpfe ich verärgert.

„Das ist kein gewöhnlicher Traum, sondern der geistige Treffpunkt der dreizehn Oberhäupter“, erklärt Markov genervt, als hätte ich mir das auch selbst denken können. „Ich wäre dir also dankbar, wenn du uns beiden nicht die Blöße geben würdest, den anderen in diesem Aufzug entgegenzutreten.“

„Den Anderen?“, wiederhole ich entsetzt. „Die anderen Oberhäupter sind hier?“

Markovs Blick ist Antwort genug.

„O-okay, ähm … Kleidung! Was hast du gesagt? Ich soll mir vorstellen, was ich tragen will?“

Will er mich wieder auf den Arm nehmen? Im Moment habe ich keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen.

Markov seufzt.

„Schließ die Augen, atme tief durch und stelle dir vor, was du jetzt gerne tragen würdest. Spüre es auf deiner Haut. Stelle es dir bildlich vor“, leitet er mich an.

Ich tue, was er sagt, und kann es kaum fassen, als ich die Augen öffne und tatsächlich in das marineblaue Kleid gehüllt bin, dass Yvette mir bei meiner Ankunft im Haupthaus bereitgelegt hatte.

„Wahnsinn…“, staune ich.

„Komm, man erwartet uns bereits“, fordert Markov mich unbeeindruckt auf.

Schnell schließe ich zu ihm auf und wir gehen dem Licht entgegen. Wie in der Vision von den ersten Vergessenen, die Klaus mir gezeigt hat, entpuppt sich das Licht als gigantisches Lagerfeuer, vor dem bereits zwölf weitere Paare versammelt sind. Aller Aufmerksamkeit ruht – wie sollte es auch anders sein – auf mir, und es kostet mich alle Mühe dem Drang zu widerstehen, mich hinter Markov zu verstecken.

Die Männer und Frauen sind ein buntes Mischmasch sämtlicher Ethnien und sehen allesamt aus, wie aus einem Hochglanzmagazin entsprungen. Eigentlich ein atemberaubender Anblick – wären da nicht diese kalten, gefühllosen Mienen, mit denen sie mich mustern, und die der von Markov in nichts nachstehen. Das Ganze erinnert irgendwie an die Kinder aus dem „Dorf der Verdammten“. Unheimlich.

Vielleicht ist das alles doch bloß ein abgefahrener Traum, schießt es mir hoffnungsvoll durch den Kopf. Bitte lass es wenigstens dieses Mal nur ein abgefahrener Traum sein!

Ein Mann löst sich aus der Truppe und tritt einige Schritte auf uns zu, seinem Aussehen zu urteilen stammt er aus dem nahen Osten.

„Brüder und Schwestern, obwohl wir kaum noch zu hoffen wagten, ist unsere Gemeinschaft nun endlich wieder komplett“, richtet er die Stimme an die Anwesenden. „Dennoch dürfen wir das Ausmaß des Schadens, den unsere Sache durch diesen tragischen Zwischenfall erlitten hat, nicht unterschätzen.“

Nicht gerade ein herzliches Willkommen, aber was hatte ich auch erwartet?

Er fixiert einen asiatisch aussehenden Mann um die vierzig.

„Dieser Vorfall muss restlos aufgeklärt werden. Ich denke ich spreche im Namen aller wenn ich sage, dass sich so etwas unter keinen Umständen wiederholen darf!“

„Die Aufklärung des Falles hat in unserer Familie noch immer höchste Priorität. Wir haben unsere besten Leute darauf angesetzt“, versichert der Angesprochene. Bedeutet das, er ist das Oberhaupt meiner leiblichen Familie?

Ein zustimmendes Murmeln geht durch die Reihen.

„Sie kann sich noch immer an nichts von damals erinnern?“, will der Wortführer dann von Markov wissen.

„Nein, leider nicht.“

„Verstehe. Wie geht ihr Training voran?“

Hallo? Sie steht direkt neben euch und kann alles hören!

„Den Umständen entsprechend. Es gestaltet sich wie erwartet schwierig, aber wir sind zuversichtlich und sie ist bereit, zu lernen“, erwidert Markov trocken.

„Mehr können wir für den Moment wohl nicht erwarten“, gibt er sich mit Markovs Antwort zufrieden.

„Ich werde euch selbstverständlich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten.“

„Natürlich.“

Von einem Moment auf den nächsten wie auf ein unsichtbares Zeichen hin lösen sich die Vergessenen in Luft auf und ich bleibe mit Markov alleine am Feuer zurück.

„Wir sehen uns morgen“, ist alles, was er sagt, ehe ich erneut in undurchdringliches Schwarz gehüllt werde und zurück in einen unruhigen Schlaf falle.

 

 

Pünktlich um fünf klingelt der Wecker. Dieses Mal ist es allerdings nicht Yvettes sanfte Stimme, die das nervige Läuten begleitet, um mir einen guten Morgen zu wünschen, sondern ein gebrummtes „Aufstehen!“. Einen Augenblick später wird mir unsanft das Deckbett weggerissen.

„Schlafen …“, nuschle ich sehnsuchtsvoll in mein Kissen, ehe mir auch das geraubt wird.

Ich quittiere die Aktion mit einem unzufriedenen Stöhnen, rolle mich weg von dem Störenfried und kugle mich unbeeindruckt in der Mitte des Bettes wieder zusammen.

Plötzlich schieben sich zwei starke Arme unter mich und ich werde hochgehoben.

„Was…?“, setzte ich verwirrt an und will mir grade den Schlaf aus den Augen blinzeln, als ich abrupt losgelassen werde – und in einer Wanne mit warmem Wasser lande.

Hustend rapple ich mich auf. Jetzt bin ich hellwach.

„Sag mal geht´s dir eigentlich noch gut?“, schimpfe ich empört.

„Die Eingewöhnungszeit ist vorbei. Wir sind jetzt verheiratet und ich erwarte, dass du geflissentlich deinen Pflichten nachkommst“, erwidert Markov kühl.

„Der Wecker hatte erst ein Mal geklingelt!“, werfe ich verständnislos ein.

„Und du hast nicht darauf reagiert.“

„Ja aber es…“

„Wir stehen beim ersten Klingelschlag auf, verstanden?“, unterbricht er mich unwirsch.

„Aber …“

Verstanden?“

„Ja, verstanden!“, gebe ich zähneknirschend zurück, da er mir sonst keine Ruhe lassen würde.  

„Dann halte dich nächstens auch daran!“, mahnt er mich und verlässt das Bad. Wie kann man bloß so früh schon so extrem schlecht gelaunt sein?

Natürlich sitzt Markov schon beim Frühstück, als ich mich angezogen habe und das Esszimmer betrete.

„Es wäre nett gewesen, wenn du mich vor gestern Nacht vorgewarnt hättest“, sage ich, nachdem ich mich zu ihm gesetzt habe. „Kommen die Oberhäupter regelmäßig zu solchen Treffen zusammen?“

„Es gibt jedes Jahr kurz vor Neujahr ein Treffen und nach jeder Hochzeit, um die Neuen in unserer Mitte zu begrüßen. Manchmal treffen wir uns auch außerhalb der Reihe, wenn es einen dringenden Notfall gibt“, erklärt er, wobei er mit jedem Wort signalisiert, wie lästig ihm die Aufgabe des Lehrers ist.

„Triffst du dich auch gelegentlich mit einem anderen Oberhaupt allein?“

„Wenn es eine Schwierigkeit gibt, die sein und mein Gebiet betrifft. Gelegentlich kommt auch so etwas vor.“

„Ah … okay.“

Der Rest des Frühstücks verläuft schweigend.

„Ich habe Elena und Mark heute noch gar nicht gesehen …“, stelle ich verwundert fest, als ich Markov zum Wagen folge. Heute Morgen werde ich ihn zum ersten Mal für einige Stunden bei seiner Arbeit begleiten.

„Elena geht ihren eigenen Aufträgen nach, und was Mark betrifft …“, er deutet mit dem Zeigefinger auf die schwarze Limousine in der Auffahrt. Unter der Uniform des Fahrers, der vor dem Wagen auf uns wartet, verbirgt sich ein bekanntes Gesicht.

„Oh …“, erwidere ich geistreich. „Also wird Elena mich ab jetzt nicht mehr begleiten?“

„Sie sollte dir nur die Eingewöhnung erleichtern, und das hat sie getan. Mark ist der erste unter den Zwölf und somit der einzige, der direkt mit uns zusammenarbeitet“, antwortet Markov. „Wie ich Elena kenne hat sie dir nichts davon gesagt, weil sie dir die Hochzeit nicht vermiesen wollte.“

Ja, das würde zu ihr passen, denke ich traurig.

„Yvette wird dich fortan über deine Trainingszeiten auf dem Laufenden halten“, schiebt Markov nach.

Mark hält mir indes galant die Wagentüre auf und ich steige ein. Die Sitze sind aus feinstem Leder, es gibt eine Minibar und von der Decke ragt ein kleiner Bildschirm herab, auf dem leuchtend (1) Bäckerei steht. Während wir das Grundstück verlassen stelle ich mit Schrecken fest, dass dies seit Markov mich hierher gebracht hat das erste Mal ist, dass ich das Haus verlasse – und zwar nicht nur, um im Garten etwas frische Luft zu schnappen.

„Vor drei Tagen hatte ich eine Vision von einer Bäckerei, in der in einer halben Stunde ein Feuer ausbrechen wird“, richtet Markov schließlich zum ersten Mal das Wort an mich, während wir losfahren. „Ich gehe davon aus, du erinnerst dich nicht?“

Wir beide wissen, dass es keine Frage war.

„Nein, das tue ich nicht“, antworte ich ihm dennoch betont gelassen. Wollen doch mal sehen, wer hier den längeren Atem hat! „Was hat dich dazu bewogen, gerade in diesem Fall einzuschreiten? Und woher weißt du, wann genau das Feuer ausbrechen wird?“

„Ich habe kurz danach eine Säuglingsstation gesehen“, erklärt Markov. „In dem Feuer wird eine schwangere Frau umkommen. Es geht hier darum, ein neues Leben zu bewahren. Wer weiß, was später einmal aus dem Kind wird? Alle anderen Vorkommnisse, die sich um dieselbe Zeit ereignen sollen, haben lediglich die Beeinträchtigung von bereits lebenden Personen zur Folge. Zu deiner zweiten Frage: In der brennenden Backstube hing eine Uhr, und auf einer Tafel waren die Sonderangebote der Woche aufgeführt mit den jeweiligen Tagen daneben. In der Auslage waren besonders viele Muffins, Montag gibt es beim Kauf von drei Muffins einen Mengenrabatt – also Montagmorgen.“

Wie kann er sich bloß all diese Details merken? Und woher weiß er, worauf er zu achten hat, wenn doch gleichzeitig so viele andere Bilder noch durch seinen Kopf jagen?

„Du wirst lernen müssen, ebenfalls auf diese Dinge zu achten“, schiebt er selbstgefällig nach.

Ein leichtes Prickeln fährt durch meinen Kopf, und ich weiß instinktiv, dass es von ihm kommt, auch wenn sein Blick teilnahmslos auf den Sitz vor ihm gerichtet ist. Für einige Sekunden tritt eine Vision besonders in den Vordergrund.

 

Feuerwehrsirenen. Eine ausgestorbene Bäckerei. Rauch. Regale, Öfen und verbrannter Teig – eine Backstube. Das verzweifelte Röcheln einer Frau.

Der Flur eines Krankenhauses. Eine junge Frau auf der Säuglingsstation, die selig lächelnd ein kleines Mädchen auf ihren Armen trägt.

 

„Visionen, die wir einmal empfangen haben, können wir jederzeit wieder an die Oberfläche holen. Es ist auch mir nicht immer möglich, schon beim ersten Mal alle notwendigen Eindrücke zu sammeln“, erklärt Markov.

„Kannst du … Kannst du es mir bitte noch einmal zeigen?“, frage ich vorsichtig. Weder die Uhr, noch die Sonderangebotstafel oder die Muffins im Verkaufsraum sind mir aufgefallen. Markov gibt einen genervten Laut von sich, wie er es so oft tut, bevor er mir ein zweites Mal die Bilder übermittelt.

Obwohl ich nun vorgewarnt bin und weiß, worauf ich zu achten habe, rasen die Eindrücke, die ich von ihm empfange, so schnell vorbei, dass es unmöglich scheint, auf irgendwelche Details zu achten. Zumindest habe ich es dieses Mal geschafft, aus den Augenwinkeln eine Uhr an der der Wand zu erhaschen, auch wenn ich die Uhrzeit nicht lesen konnte. Frustriert balle ich meine Hände zu Fäusten. Wie schafft Markov das nur?

„Wir Vergessenen besitzen ein fotografisches Gedächtnis“, wirft Markov ein, als habe er meine Gedanken gelesen. „Da deines für gut zwanzig Jahre lahmgelegt war und du dich noch an die Visionen an sich gewöhnen musst, wird es seine Zeit dauern, bis du deines zumindest ansatzweise gebrauchen können wirst. Auch das wirst du noch lernen müssen.“

Ich blinzle überrascht, als er sich abschnallt. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass der Wagen angehalten hat.

„Wir sind da, Madame“, informiert mich Mark freundlich.

Rasch schnalle auch ich mich ab und folge Markov in die Bäckerei. Die ältere Dame hinter dem Tresen sieht ihren neuen Kunden mit kaum verhohlenem Staunen an. Man kann es ihr nicht verübeln. Mit seinem eleganten Nadelstreifenanzug und dem forschen Blick gleicht Markov eher einem CEO oder einem Schauspieler als dem klassischen Bäckereibesucher.

„Wir hätten gerne ein Vollkornbrot“, ordert er knapp, ohne eine Miene zu verziehen. Der Satz klingt eigenartig aus seinem Mund, komplett fehl am Platz. Beinahe … normal. Was bezweckt er damit? Ich überlege ernsthaft, ob ich ihn daran erinnern soll, dass im hinteren Teil des Hauses gerade jemand verbrennt.

Es dauert einige Sekunden, bis die Verkäuferin sich aus ihrer Schockstarre gelöst hat und ihre Sprache wiederfindet.

„Ähm … ja. … Ähm … Welches hätten sie denn gerne?“

„Das Mehrkornbrot dort drüben.“ Er deutet mit dem Finger darauf. „Aber holen sie uns ein Frisches“, schiebt er leichthin nach.

Die Frau guckt ihn an, als habe sie sich verhört.

„Die … die Brote sind frisch“, stammelt sie verlegen.

„Nicht frisch aus dem Ofen“, präzisiert er ungeniert, als verhielte er sich nicht gerade wie der größte Snob auf Erden. „Ich möchte nichts, dass schon in der Auslage gelegen hat.“

„Warten sie bitte einen Augenblick, ich werde sehen, was ich für sie tun kann …“, gibt die Verkäuferin sichtlich neben sich zurück und huscht in die Backstube.

Kaum ist sie außer Sicht, wendet sich Markov zum Gehen und verlässt seelenruhig den Laden. Mark hält ihm bereits die Wagentüre auf.

„Das … Das war´s?“, frage ich verdutzt, nachdem ich zurück an seine Seite geeilt bin.

Er schiebt mich an sich vorbei in den Wagen und wir fahren sofort wieder los. Der Text auf dem Bildschirm springt von (1) Bäckerei zu (2) Kindertagesstätte Regenbogen.

„Was hattest du erwartet? Dass ich die Frau todesmutig aus den Flammen rette wie Superman?“

Peinlich berührt sacke ich in meinem Sitz zusammen und verkneife mir, was mir auf der Zunge liegt: Ja, irgendwie schon.

„Sollten wir nicht wenigstens dort bleiben, bis ein Krankenwagen eingetroffen ist?“

„Das Feuer ist noch nicht ausgebrochen. Die Verkäuferin wird nach dem Brot sehen und dann merken, dass der Ofen falsch eingestellt wurde“, gibt er gelangweilt zurück. „Wenn möglich greifen wir immer ein, bevor es überhaupt zu einem Vorfall kommen konnte.“

Deshalb hatte er sich also so unausstehlich benommen. Er wollte die Frau lediglich in den hinteren Teil des Ladens locken.

„Aber wie kannst du dir so sicher sein, dass sie es tatsächlich merkt?“, lasse ich nicht locker.

Markov reibt sich mit der rechten Hand genervt über die Schläfe. Ich bin überrascht, als er mir schließlich doch antwortet.

„Die Frau leidet vermutlich unter einer Zwangsstörung – oder zumindest unter einem ausgeprägten Ordnungswahn“, stellt er fest, als wäre das doch für alle Welt ersichtlich und hätte mir sofort auffallen müssen. „Die Backwaren wurden peinlich genau in Reih und Glied einsortiert, und auch alles andere lag ordentlich an dem ihm zugewiesenen Platz. So jemand übersieht keine falsche Einstellung an einem Backofen, den er sich ansieht.“

Dem Kerl entgeht auch gar nichts.

„Danke, dass du es mir erklärt hast.“

Anstelle einer Erwiderung schließt er die Augen und lehnt sich in seinem Sitz zurück.

Während der nächsten zwei Stunden, die ich mit Markov verbringe, geht es nicht viel spannender zu: Er macht unter anderem eine Kindergärtnerin auf eine lose Schraube an einem Spielgerüst aufmerksam, redet fünf Minuten mit einem älteren Mann um ihn daran zu hindern, die Straße zu überqueren und von einem Auto erfasst zu werden, und lässt absichtlich vor den Augen eines abergläubischen Studenten ein Centstück fallen, um diesem wieder neuen Lebensmut zu geben. Dennoch sind es Handlungen, die das Schicksal eines einzelnen grundlegend verändern, und deren Planung Markov all sein Können abverlangt.

Je öfter er mir bei einem Fall wieder bis ins Detail erklärt, was für ihn längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, die Visionen zurückholt und sie Schritt für Schritt mit mir durchgeht, desto mehr bezweifle ich, dass ich je selbstständig dazu in der Lage sein werde. Obwohl Markov die ganze gedankliche Arbeitet leistet, bin ich es am Ende, der der Schädel brummt.

Als Mark mich schließlich wieder zu Hause absetzt, kann ich meine Erleichterung kaum verbergen. Im Vergleich zu Markovs Arbeitsalltag ist mein Training die reinste Erholung. Yvette steht in der Auffahrt und erwartet uns bereits, um mich in Empfang zu nehmen.

„Sie ist noch lange nicht so weit“, stellt Markov fest, keine Spur von Verständnis in seinem Tonfall. „Arrangiere für die nächsten Wochen verstärktes mentales Training. Es hat keinen Wert, wenn sie mich so begleitet.“

„Sehr wohl, junger Herr“, erwidert Yvette mit einer ehrfürchtigen Verbeugung.

Ohne ein Wort des Abschiedes fährt er die getönten Scheiben hoch und der Wagen setzt sich wieder in Bewegung.

 

Kapitel 12

 

Geh zum Heidelberger Hauptbahnhof, Gleis 7. Ein Mann will sich vor einen Zug werfen!

Beinahe verschlucke ich mich an dem Tee, den ich gerade mit Frau Ashwani genieße. Markov. Jede Faser meines Körpers springt auf seinen mentalen Ruf an, mein ganzes Sein konzentriert sich von einer Sekunde auf die andere nur noch auf ihn. Es ist das erste Mal seit jenem Tag, als er mich zu sich geholt hat, dass er telepathisch mit mir in Kontakt tritt.

 

Der Heidelberger Hauptbahnhof. Ein Mann mittleren Alters in einem schwarzen Anzug am Bahngleis.. Teilnahmslos starrt er vor sich hin.

Ein ICE. Schreie. Blut. Ein lebloser Arm über einer Schiene.

Der Mann leger gekleidet auf einem Sofa, einen Laptop auf dem Schoß und eine Frau in seinen Armen. Beide lächeln zufrieden.

 

Wortlos stürme ich aus dem Zimmer. Wenn Markov ausgerechnet mich um Hilfe bittet … Ich habe nicht viel Zeit!

Mit dem speziellen Generalschlüssel, den ich immer bei mir trage, kann ich nicht nur allen Türen des Hauses öffnen, sondern auch jedes in der Garage zur Verfügung stehende Auto starten – so hat man es mir zumindest gesagt. Ob dem tatsächlich so ist, werde ich wohl gleich herausfinden.

Zum Glück steht für eben solche Notfälle immer ein Auto in der Auffahrt bereit. Heute ist es ein silberner Porsche. Tatsächlich passt der Schlüssel. Rasch stelle ich den Sitz ein und mache mich mit der Schaltung vertraut. Als ich losfahre, hat man das eiserne Gatter bereits für mich geöffnet.

Obwohl es von der Villa eigentlich nur ein Katzensprung bis in die Innenstadt ist und ich nach Möglichkeit auf Seitenstraßen ausweiche, um dem Berufsverkehr zu entgehen, brauche ich dennoch fast fünfzehn Minuten zum Bahnhof. Nachlässig parke ich den zweifellos sündhaft teuren Wagen an der erstbesten Stelle, die mir ins Auge springt – ein Strafzettel ist momentan mein geringstes Problem. So schnell, wie mich meine Füße tragen, jage ich durch die unerschöpflichen Menschenmassen zu dem Gleis aus der Vision.

Es dauert einige Sekunden, bis ich den Mann schließlich unter all den fremden Gestalten ausmache: Mittleres Alter, schwarzer Anzug, teilnahmsloser Blick – genau, wie vorhergesehen. Mein Herz dröhnt vor Aufregung beinahe schmerzhaft in meiner Brust, während ich fieberhaft überlege, was ich als nächstes tun soll. Eigentlich wäre mein erster Impuls, so viele Bahnmitarbeiter wie möglich zu informieren oder durch Feueralarm den Bahnhof lahmzulegen, aber eine der wenigen Regeln, die Markov mir bei unserem gemeinsamen Ausflug mitgegeben hatte, war, dass wir immer möglichst unauffällig unsere Aufträge verrichten sollten. So wenig Aufsehen erregen, wie möglich. Daher beschließe ich, dass Übel direkt bei der Wurzel zu packen.

Bemüht beiläufig schlendere ich in die Richtung des Mannes, versuche, mich ihm nicht zu häufig zuzuwenden. Mir bleiben noch vier Minuten, bis der ICE einfährt. Als ich schließlich bei ihm angekommen bin, atme ich einmal kurz tief durch und ergreife dann seine Hand, ehe ich es mir anders überlegen kann.

Der Mann ist so in sich gekehrt,  dass er einige Sekunden braucht um zu realisieren, dass seine linke Hand nicht länger ihm alleine gehört.

„Kann ich ihnen helfen?“, fragt er tonlos, beinahe mechanisch. Es klingt, als habe er dieser Welt längst den Rücken gekehrt, befinde sich bereits Jenseits von Empfindungen wie Trauer und Schmerz. Eine Hülle ohne richtigen Inhalt, gerade so noch funktionstüchtig. Eine kompromisslose Kapitulation an das Leben, an eine Chance, irgendwann der unbeschwerte Mann auf dem Sofa zu sein. Wie soll ich ihn bloß aus diesem finsteren Loch herausholen? Soll ihn von einer Aussicht auf Glück überzeugen, die er sich in seiner derzeitigen Position nicht einmal ansatzweise vorstellen kann?

„Tun sie es nicht.“

Direkt. Schonungslos. Ein Appell an die Vernunft, die einzige Idee, mit der ich spontan aufwarten kann.

Unwillkürlich verstärke ich meinen Griff um seine Hand.

„Ich weiß nicht, welcher Schmerz sie hierher geführt hat, aber glauben sie mir: Er wird vergehen! Es wird besser werden und irgendwann … irgendwann werden sie wieder lächeln können, das verspreche ich ihnen!“

Der Mann sieht mich mit großen, verständnislosen Augen an, über denen noch immer der trübe Schleier der Teilnahmslosigkeit hängt.

„Vertrauen sie mir!“, flehe ich.

„Wie eigenartig …“, murmelt er leise, der Tonfall im Vergleich zu seinen Worten allerdings völlig unbeeindruckt. „Ich war nie ein besonders gottesfürchtiger Mann, und doch … Sollten Engel nicht Flügel haben?“  

„Es ist nie zu spät, zu glauben!“, springe ich dankbar auf das biblische Thema an. Wenn er mich wirklich für einen Engel hält, kann ich vielleicht so zu ihm durchdringen …

„Ist es das wirklich?“ Eine Frage voll verborgener Hoffnung, gestellt mit der tiefen Unsicherheit eines vom Schicksal zutiefst gebeutelten Menschen.

„Das ist es! Glauben sie!“

Die Lippen des Mannes verziehen sich zu einem sanften Lächeln, und er drückt meine Hand, eine Geste der Dankbarkeit. Die grauen Schatten der Apathheit sind aus seinem Blick gewichen, um einer düsteren Traurigkeit Platz zu machen. Eine Welle der Erleichterung erfasst mich. Das Leben hat ihn wieder, auch wenn vermutlich noch ein langer, steiniger Weg vor ihm liegt, bis sein Lächeln dazu fähig sein wird, auch wieder seine Augen zu erreichen.

„Dann glaube ich daran, dass dein Gott mir meine egoistische Tat verzeihen wird.“

Zu spät erkenne ich, dass ich mich geirrt habe, erkenne, dass es nicht Traurigkeit ist, die aus seinen Zügen spricht, sondern Bedauern. Blitzartig befreit sich der Mann aus meinem Griff, breitet die Arme aus und springt direkt vor den gerade einlaufenden ICE. Das Ganze geht so schnell, dass ich nur fassungslos dastehen kann und dabei zusehen, wie sein Körper von dem Zug regelrecht zerfetzt wird. Ein Schrei des Entsetzens bleibt mir in der Kehle stecken, im Gegensatz zu einigen anderen Zeugen.

Plötzlich ist das Gleis in hellem Aufruhr. Alle Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die Tat eines Mannes, den bis eben niemand wahrgenommen zu haben scheint. Am Rande bekomme ich mit, wie sich eine riesige Menschentraube um mich herum ansammelt.

„Ruft einen Krankenwagen!“

„Ist er tot?“

„Was ist passiert?“

„Ein Terroranschlag?“

„Er ist einfach gesprungen!“

Die unzähligen Stimmen verschwimmen zu einem einzigen Gewirr aus Tönen, das sich mir zentnerschwer auf die Schultern legt. Ich habe versagt. Ich bin schuld am Tod eines Menschen.

Finger graben sich grob in meinen Oberarm, zerren mich durch eine endlos wirkende Wand von Körpern.

Wut. Markov.

Wortlos stolpere ich hinter ihm her. Auch er schweigt. Erst, als er mich neben sich auf die Rückbank seines schwarzen Dienstwagens verfrachtet und Mark sich bereits wieder in den Verkehr eingefädelt hat, macht er den Mund auf.

„Was habe ich eigentlich erwartet? Dass du tatsächlich mal etwas richtig machst?“

Ein überhebliches Lachen.

„Ich hätte es besser wissen sollen.“

„Es … es tut mir so furchtbar leid!“, krächze ich kleinlaut.

„Das macht den Mann aber nicht wieder lebendig, oder?“

„Ich … ich dachte, er hätte es sich anders überlegt“, versuche ich, mich zu rechtfertigen. „Ich dachte, meine Worte hätten ihn überzeugt …“

Worte?“, äfft er mich verächtlich nach. „Der Mann war fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, und du glaubst ernsthaft, ein paar Worte einer dahergelaufenen Fremden würden ihn vom Gegenteil überzeugen können?“

„Was hätte ich denn sonst tun sollen?“

Es kostet mich alle Mühe, die Tränen, die bereits in meinen Augenwinkeln lauern, zurückzuhalten.

„Ihn packen, bevor er springen kann. Zuerst seinen Plan mit physischer Kraft verhindern, ehe du es mit psychologischem Gefühlsgesäusel versuchst“, folgt die nüchterne Antwort auf dem Fuße.

„Es tut mir leid …“, kann ich nur hilflos wiederholen.

„Gewöhne dich besser an dieses Gefühl! Wenn du so weiter machst, wird der Mann nicht der Letzte sein, dessen Leben du zerstört hast!“

 

 

Es ist wie üblich beinahe Mitternacht, als alle Aufträge für den Tag abgearbeitet sind. Noch eine heiße Dusche und dann endlich ins Bett, wo Hannah im Gegensatz zu ihm bereits selig ihren Feierabend genießen würde. Ein flüchtiger Blick durch das nachtdunkle Zimmer belehrt ihn allerdings eines Besseren. Hannahs Bettseite ist leer.

Behutsam streckt er seine geistigen Fühler nach ihr aus, damit sie seinen Zugriff nicht bemerken würde, und stellt zu seiner Erleichterung fest, dass sie sich im angrenzenden Wohnzimmerbereich aufhält.

Trauer. Schuldgefühle. Der Selbstmordfall macht ihr zu schaffen. Es wäre so einfach zu ihr zu gehen, ihr über das seidige, schwarze Haar zu streichen, sie zu küssen und ihr zu versichern, dass der Umgang mit einem potentiellen Selbstmörder ein Feingefühl und Gespür verlangte, das selbst er wohl nie perfektionieren würde. Das dieser Fehler unter Umständen genauso gut auch ihm hätte passieren können. Dennoch wird er nichts davon tun.

Nein, er hatte sich geschworen, sich nie wieder derlei Gefühlen hinzugeben. Mochte er sich in diesem Moment noch so sehr nach Hannah sehnen, mit ihr leiden – der Schmerz würde vergehen und seine Seele zu der tröstenden, eisigen Ruhe zurückfinden, die er sich über die Jahre so eisern antrainiert hat. In der es ihn nicht kümmert, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wann ihn zum letzten Mal jemand fürsorglich in die Arme genommen hat, anstatt heuchlerisch vor ihm zu Kreuze zu kriechen. In der so etwas Sinnloses wie Hoffnungen, Träume und Wünsche erst gar kein Einlass gewährt wird. In der es weder Leid noch Trauer gibt und sein angeschlagenes Herz sicher ist vor allem, was es endgültig zersplittern könnte.

Die heiße Dusche ist eine Wohltat. Beiläufig nimmt er mit Elena und Oliver Kontakt auf, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie auf ihre mitternächtlichen Aufträge vorbereitet sind. Es ist eine Ausnahme, dass er gezwungen ist, gleich zwei seiner Zwölf zu solch unchristlicher Stunde auszusenden, aber er hatte die Visionen mehrmals eingehend überprüft und entschieden, dass keine der beiden leichtfertig ignoriert werden kann. Das Schicksal schläft nun einmal nicht.

Menschliche Körper dagegen schon. Mag er einem gewöhnlichen Menschen an Stärke und Ausdauer auch weit überlegen sein – auch ein Vergessener hat Grenzen. In diesem Fall ist er dafür sogar ausnahmsweise dankbar. Der Schlaf ist für ihn seit er denken kann das Schönste am Tag. Keine Bilder. Keine Gefühle. Wundervolles Nichts. Als Kind hatte er sich so immer das Leben nach dem Tod vorgestellt, das Paradies. Hatte mehr als einmal versucht, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Heute ist er dieser kindlichen Selbstsucht längst entwachsen, und doch sind da diese Momente – wenn er an der Ampel wartet und ein Laster herannahen sieht, wenn er auf dem Balkon eines Hochhauses steht, beinahe jedes Mal, wenn er beim Essen ein Messer in den Händen hält – in denen er für den Bruchteil einer Sekunde wieder zu diesem Jungen wird.  

Mit handtuchfeuchten Haaren lässt er sich erschöpft in die Kissen sinken und die dunklen Erinnerungen an die Kindheit, die er nie hatte, ziehen. Zeit, der Welt den Rücken zu kehren, solange es ihm die Nacht erlaubt.

Zehn Minuten später sieht er entgeistert auf seinen Wecker. Obwohl der Tag ihn wie immer vollkommen ausgelaugt hat, will es ihm nicht gelingen, den verdienten Schlaf zu finden. In der Regel schläft er ein, sobald sein Kopf die Kissen berührt.

Trauer. Schuldgefühle.

Mehr und mehr überlagern Hannahs Empfindungen die Visionen, bis sie alles sind, an was er denken kann. Unruhig wälzt er sich hin und her, versucht, den Fokus seiner Gedanken zurück auf die Visionen zu lenken.

Trauer. Schuldgefühle.

Es ist ein aussichtsloser Kampf. Seit der Hochzeit war er jeden Abend neben einer bereits tief ins Traumland eingetauchten Hannah eingeschlafen, was die Gelüste des Seelengefährten in ihm zumindest bis zu einem gewissen Maß in Schach gehalten hatte. Nun, da sie nicht da ist, läuft dieser verhasste Teil seines Selbst Amok in seinem Inneren, wird nicht eher Ruhe geben, bis er bekommen hat, wonach es ihm verlangt.

Sie ist doch nur im Raum nebenan, verdammt! Reicht es dir nicht, dass ich mir schon ein Zimmer mit ihr teile? Dass sie bald jeden verfluchten Tag meines Lebens ständig an meiner Seite stehen wird?, klagt er wütend den unsichtbaren Feind in seinem Inneren an.

Trauer. Schuldgefühle.

Natürlich nicht!, beantwortet er seine eigene Frage, wirft fluchend die Decken von sich und steht auf.

Hannah hat sich auf einem der Sessel in der Fernsehecke zusammengerollt. Als er an sie herantritt, sieht sie verwundert zu ihm auf, die Augen viel zu groß für ihr zierliches Gesicht und gerötet vom vielen Weinen. Um ihre Füße hat sie feine, weiße Verbände geschlungen. Stimmt, als er sie am Bahnhof aufgesammelt hatte, war sie barfüßig unterwegs gewesen. Nach seinem Ruf hatte sie offenbar alles stehen und liegen lassen, um so schnell wie möglich zu dem Mann aus der Vision zu gelangen. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich etwas Passendes anzuziehen, geschweige denn, sich irgendwelche Schuhe überzustreifen. Wie konnte jemand nur so unbedarft sein? So etwas lächerliches, barfuß und in Jogakleidung aus dem Haus zu stürmen! Lächerlich … und irgendwie liebenswert.

Mit versteinerter Miene beugt er sich zu ihr herab, um sie auf seine Arme zu nehmen. Anstatt zu protestieren, wie er es von ihr erwartet hat, schließt sie nur die Augen und lässt sich erschöpft gegen seine Brust sinken. Eine wohlige Wärme breitet sich in seinem Inneren aus. Nur einmal. Nur einmal ihre Nähe genießen. Nur einmal das Kinn in ihren seidigen Haaren vergraben. Nur einmal über diese weichen Wangen streichen und diese hässlichen Tränen fortwischen. Nur einmal so tun, als wäre sie tatsächlich Dein, flüstert die Stimme des Seelengefährten ihm verschwörerisch zu, will ihn in Versuchung führen.

Niemals!

„Habe ich nicht gesagt, du sollst dich immer in Sichtweite von mir oder einem der Zwölf aufhalten?“, erinnert er Hannah streng, während er sie zurück in ihr gemeinsames Schlafzimmer bringt. „Ich mag es nicht, wenn ich mich wiederholen muss, verstanden?“

Ein knappes, schwaches Nicken.

„Gut!“

Behutsam setzt er sie auf der Matratze ab und deckt sie zu.

„Das nächste Mal, wenn ich nach Hause komme, will ich dich im Bett sehen.“ Keine Frage, ein Befehl. „Vor dir liegt noch eine Menge Training, daher solltest du die Nachtruhe intensiv nutzen. Jetzt schlaf, es ist spät!“

Wie durch ein Wunder gelingt es ihm, sich abzuwenden und den Verlockungen von Hannahs sinnlichem Körper zu widerstehen. Aber es ist nur ein kleiner Sieg, dessen ist er sich wohl bewusst. Er ist weit empfänglicher für diese Frau, als er es je gedacht hätte. Doch je mehr er dagegen ankämpft, desto stärker fühlt er sich zu ihr hingezogen. Er kann nicht länger die Augen vor der unausweichlichen Realität verschließen: Früher oder später wird der Seelengefährte in ihm die Oberhand gewinnen und einfordern, was er rechtmäßig für das seine hält. Trotzdem wird er kämpfen – bis zum bitteren Ende!

 

 

Nairobi, 17:27 Uhr

 

Nervös nimmt er einen Zug von seiner Zigarette und wirft ungeduldig einen Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten. Es kommt ihm vor, als wiege die Knarre in der Innentasche seiner Jacke tonnenschwer.

„Niemand aus diesem Haus muss zu Schaden kommen, darauf gebe ich dir mein Wort!“, hatte der Fremde zu ihm gesagt, nachdem er ihm sein unmoralisches Angebot unterbreitet hatte. Aber was, wenn man ihn doch fasst? Wenn ihm bei seiner Flucht keine andere Wahl bleibt?

„Das Hausmädchen wird dich unbemerkt rein und wieder raus schleusen. Der Plan ist idiotensicher!“

Nachdem er schließlich zugestimmt hatte – wie hätte er bei der großzügigen Bezahlung auch Nein sagen können?, hatte sein Auftraggeber ihm die Tasche mit der schwarzen Kleidung und der Waffe gereicht und war wieder in der Dunkelheit verschwunden. Auf die Frage hin, warum er nicht etwas von seinen eigenen Sachen anziehen könnte, hatte der Mann nur gebrummt: „Willst du nun das Geld, oder nicht?“, und damit war die Sache besiedelt gewesen.  

Gerade als er den letzten Zug nimmt, biegt ein Auto in die Seitengasse. Der teure, europäische Wagen kommt direkt vor ihm zum stehen. Eine junge Frau in Dienstmädchenuniform entpuppt sich als Fahrerin.

„Nette Kiste“, begrüßt er seine unbekannte Komplizin, während er die Reste des Glimmstängels unter seinen Schuhsohlen verschwinden lässt.

Ohne auf seine Worte einzugehen, läuft die Frau zum Kofferraum und öffnet ihn.

„Bist wohl nicht die Gesprächigste, was?“

Irgendetwas an ihr kommt ihm nicht geheuer vor. Die merkwürdig steife Körperhaltung, der abwesende Blick, … und sie ist noch so unglaublich jung. Er hatte im Laufe seines Lebens schon reichlich krummes Zeug gedreht, um auf der Straße zu überleben, aber so etwas wie dieser Auftrag ist selbst ihm noch nicht untergekommen. Dennoch hatte sich dieses junge Ding, dessen Aussehen die Unschuld selbst zu verkörpern scheint, dazu entschlossen, eine Rolle in diesem makabren Spiel zu übernehmen.  

„Mach bloß schnell, kapiert? Ich will da drin nicht versauern müssen!“, brummt er, ehe er mühsam in das Hintere des Wagens klettert und sich von der stummen Schönheit dort einschließen lässt.

Außer den Geräuschen des Motors und dem Quietschen der Reifen dringt nichts zu ihm in die Dunkelheit durch. Erst, als seine Komplizin ihn knapp zwanzig Minuten später in einer Garage aus seiner ungemütlichen Lage befreit, weiß er, dass der Plan aufgegangen ist. Er ist im Haus.

Sein geheimnisvoller Auftraggeber hatte nicht übertrieben, als er meinte, bei den „Opfern“ handle es sich um vermögende Zeitgenossen. Er hat noch nie zuvor so viele teure Autos auf einem Fleck gesehen. Eins dieser Teile, und er hätte für den Rest seines Lebens ausgesorgt … Umso erstaunlicher, dass es im Anwesen keine Kameraüberwachung gibt, wie man ihm zu seinem Erstaunen immer wieder versichert hat.

„Sagen wir, die Familie pflegt einen … ungewöhnlich engen Kontakt zum Personal. Ihm wird quasi blind vertraut. Nur der äußere Teil des Anwesens unterliegt strengster Bewachung. Bist du erst einmal drin, ist die größte Hürde genommen“, waren die Worte seines Auftraggebers gewesen.

Loyale Belegschaft hin oder her, dass dieses Familie noch nie überfallen wurde, grenzt an ein Wunder!

Womöglich tue ich der Familie sogar einen Gefallen damit, wenn ich sie einmal aus ihrer heilen rosa Wölkchen Welt herausreiße…, überlegt er abwesend.

Die junge Frau räuspert sich und bedeutet ihm mit einem ungeduldigen Nicken, ihr zu folgen. An der Tür, die vermutlich die Garage mit dem Wohnbereich verbindet, signalisiert sie ihm mit einem warnenden Blick, kurz zu warten. Rasch geht sie voran um sich zu vergewissern, dass die Luft rein ist, dann winkt sie ihn zu sich. Neben der Tür steht ein Putzwagen bereit, wie sein Auftraggeber es ihm vorausgesagt hat, um ihn unbemerkt durch die Flure zu transportieren. Schnell schlüpft er in den ausgehölten Schrank, der noch immer unangenehm nach Putzmitteln müffelt, bevor ihn jemand sieht.

„Hey Mali! Wir haben dich beim Abendessen vermisst! Hab gehört, du hattest Besorgungen in der Stadt zu erledigen …“, vernimmt er plötzlich die dünne Stimme einer Frau, kaum dass er in seinem neuen Versteck verschwunden ist.

Der Wagen kommt zu einem Halt. Sein Herz beginnt, wie wild zu rasen. Sind sie aufgeflogen?

„Ja, hat leider etwas länger gedauert, als geplant … Ich hoffe, ihr habt mir noch was übrig gelassen!“, erwidert seine Komplizin. Sie klingt warm und freundlich, wie man es aus ihrem Äußeren schließen würde. Keine Spur von Nervosität oder der passiven Kälte, die sie ihm gegenüber gezeigt hatte. Eine oscarreife Darstellung. Die Frau ist ein verdammtes Chamäleon und vermutlich nicht halb so unschuldig, wie er zunächst angenommen hat, wie ihm im Nachhinein dämmert.

„Dann lass ich dich mal besser fertig machen, bevor du heute gar nicht mehr zu deinem Essen kommst. Wir sehen uns später!“, verabschiedet sich die Kollegin wieder.

„Bis dann.“

Erleichtert atmet er aus. Sie hat keinen Verdacht geschöpft.

Einige Male hört er seine Komplizin noch jemandem einen flüchtigen Gruß zurufen, aber der Wagen bleibt – außer für eine kurze Aufzugfahrt – nicht mehr stehen, bis sie ihr Ziel erreicht haben: eine Abstellkammer für das Hauspersonal. Da jedes Hausmädchen seinen eigenen Putzwagen zur Verfügung hat, war er in diesem Teil so sicher wie nur irgend möglich. Jetzt muss er nur noch die nächsten Stunden still hier ausharren, bis es Zeit ist für seinen großen Auftritt.

 

 

Eine Stunde nach Mitternacht, es ist so weit. Wie abgemacht, schickt ihm seine Komplizin eine Nachricht auf sein Handy: Tu es. Soll wohl so viel heißen wie: Die Luft ist rein.

Etwas unbeholfen klettert er aus dem Wagenschrank und dehnt seine teilweise eingeschlafenen Glieder. Einzig dem Licht vom Ziffernblatt seiner Uhr verdankt er es, dass er in dem fensterlosen Kämmerchen überhaupt etwas sehen kann. Wie befohlen streift er sich die Lederhandschuhe und die Maske aus seiner Jackentasche über und befreit die Knarre aus ihrem Halfter. In diesem Aufzug kommt er sich vor wie ein professioneller Auftragskiller.

Denk nicht drüber nach! Tu einfach, was man die aufgetragen hat! Zwei Kugeln in der Wand und du bist 25.000 Schilling reicher!, versucht er, sich Mut zuzusprechen. Nicht drüber nachdenken!

Langsam öffnet er die Tür. Der Gang ist dunkel und niemand zu sehen. Wie gerne wäre er bei Tag einmal durch dieses protzige Anwesen gewandert, um es in all seiner Pracht bewundern zu können. Allein das, was er im spärlichen Licht seiner Uhr erkennen kann, lässt ihn ehrfürchtig die Luft anhalten. Teure, feine Holzmöbel und Gemälde säumen die Wände, wo man hinsieht, ganz zu schweigen von den edlen Leuchtern an der Decke. Manche Menschen haben eben einfach verdammt viel Glück …

„Die Kammer liegt am Ende eines Ganges. Folge ihm bis zur dritten Tür links. Sie ist größer als die übrigen, du solltest sie daher leicht erkennen können“, erinnert er sich an die Anweisung, die er erhalten hat.

Tatsächlich, eine Tür ist etwas größer als die anderen und in einen dickeren Rahmen eingefasst – hier muss es sein.

„Tu so, als würdest du dich an der Tür zu schaffen machen. In wenigen Minuten wird ein Hausmädchen um die Ecke kommen, um eine nächtliche Routinerunde zu drehen. Sobald sie dich bemerkt hat, ziehst du deine Nummer ab.“

Aufgeregt fährt er sich mit der freien Hand übers Gesicht, um sicher zu gehen, dass auch jeder Winkel von der Maske bedeckt ist, checkt noch einmal, ob er die Pistole auch richtig entsichert hat. Dann legt er seine Hand auf den Türknopf und beginnt mit seinem Schauspiel.

Es kann kaum mehr als eine Minute vergangen sein, als ein Licht am anderen Ende des Ganges erscheint und plötzlich abrupt inne hält.

„H-hey, wer sind sie? Was tun sie hier?“, schallt die perplexe Stimme einer Frau zu ihm heran.

Showtime.

„Verdammt!“, grummelt er so laut, dass sie ihn hoffentlich hören konnte, um den Anschein zu verstärken, sie habe ihn tatsächlich bei etwas unterbrochen.

Er holt tief Luft, dann schießt er einmal in die Wand und einmal in den Boden vor der Bediensteten, hofft, dass sie den Wink verstehen und ihm nicht folgen würde.

„Sobald du geschossen hast, lauf zurück in Richtung Putzkammer. Dort wird deine Komplizin auf dich warten, um dich wieder rauszubringen.“

Sein Herz macht vor Erleichterung einen Satz, als er die junge Frau im angrenzenden Flur stehen sieht. Er sprintet geradewegs auf sie zu. Jetzt nur noch so schnell wie möglich hier raus!

Ihr Gesichtsausdruck ist kühler denn je, doch als er sie erreicht hat, wechselt er so unvermittelt, dass er vor Schreck beinahe über seine eigenen Beine stolpert. In ihren Augen zeichnet sich Furcht ab – echte, unverfälschte, lebendige Furcht, ehe sie einen panischen Schrei ausstößt. Instinktiv schließt sich seine Hand fester um die Waffe, will die Bedrohung ausschalten. Adrenalin jagt durch sein Blut, rauscht in seinen Ohren. Was geht hier vor sich?

Dem Dienstmädchen entgeht nicht, was ihr gleich blüht. Noch bevor er richtig zu einem Schuss ansetzen kann, hat sie sein Handgelenk gepackt, ihm mit einem flinken Kick ihres Fußes den Boden unter den Beinen weggerissen und ihn kopfüber aus dem Fester gestoßen. Das Geräusch von splitterndem Glas malträtiert seine Trommelfelle, während er realisiert, dass sie sich im dritten Stock befinden. Diesen Sturz kann er unmöglich überleben.

Niemand aus diesem Haus muss zu Schaden kommen, darauf gebe ich dir mein Wort!

Nun erst versteht er die volle Bedeutung dieser Worte: Er ist niemand aus diesem Haus.

Kapitel 13

Nach drei weiteren Wochen intensiven Trainings hat sich Markov inzwischen widerwillig dazu bereiterklärt, mich ihn zumindest wieder einige Stunden am Tag begleiten zu lassen. Die zwei Sicherheitsmänner, die uns gegenüber sitzen, lassen ihren Blick keine Sekunde von uns. Obwohl der Wagen getönte Scheiben hat, tragen beide Sonnenbrillen, die es einem unmöglich machen, aus ihren Mienen das Geringste zu entnehmen. Ich komme mir immer mehr vor, wie ein teures Objekt aus einem Museum, anstatt ein menschliches Wesen. Markov dagegen scheinen die neuen Sicherheitsmaßnahmen nicht zu stören. Er scheint sie nicht einmal richtig wahrzunehmen.

Nachdem vor drei Tagen ein Anschlag auf die Vergessenen Südafrikas verübt wurde und gewisse Indizien wohl darauf hindeuten, dass auch wir übrigen zwölf Paare in Gefahr sein könnten, wurden die Sicherheitsmaßnahmen drastisch erhöht. Die täglichen Gesundheitschecks, Bodyguards, die uns nun auf Schritt und Tritt verfolgen, und Doubles, die alles, mit dem wir in Berührung kommen, vorher selbst testen, sind noch nicht einmal das Schlimmste. Alles, was Markov und ich tun – und ich meine wirklich alles – ist seither auf das Genauste geplant. Mal das Training mit Andre spontan an die frische Luft verlegen? Fünf Minuten länger frühstücken, um noch ein wenig mit Yvette zu quatschen? Ein anderes Kleid anziehen als das, was man mir morgens bereitgelegt hat? Einen anderen Weg durchs Haus nehmen als den, der vorher für mich geplant wurde? Undenkbar! Es war eine Sache gewesen, kaum Freiheiten zu haben, keinerlei Freiheiten mehr zu haben war ein Tod, den ich meinen ärgsten Feind nicht wünschen würde.

Ich würde gerne mit Markov darüber sprechen, wie sehr mir diese neue Situation zu schaffen macht, aber ich weiß, er würde das nur wieder als Chance betrachten, mir meine Unfähigkeit vor Augen zu führen, wie er es so gerne tut. Klaus ist vollauf damit beschäftigt, mit den anderen Oberhauptvertretern die Vorfälle in Südafrika zu untersuchen und sich neue Verrücktheiten auszudenken, wie er unser Leben sicherer machen könnte. Er würde meinen Empfindungen wohl kaum Gehör schenken, so versessen wie er darauf ist, unser Leben könnte in Gefahr sein. Bleiben nur noch Yvette oder einer meiner Lehrer, aber die stehen wie alle anderen in dieser Familie vollkommen unter Klaus Pantoffel und könnten wohl kaum etwas für mich ausrichten.

Ich fühle mich so unendlich hilflos, so ausgelaugt, dass ich abends nicht einmal mehr die Kraft habe, mich in den Schlaf zu weinen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie lange ich diese Situation noch ertragen kann!

Ich blinzle und wende den Blick von den zwei dunklen, eindringlichen Gläsern vor mir ab, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich muss mich auf unsere Visionen konzentrieren. Die Selbstbemitleidung muss bis später warten.

Unser nächster Auftrag ist ziemlich simpel: Ein Kind, das sich in der Schriesheimer Altstadt verlaufen hat, zurück zu seiner Mutter bringen. Die Limousine hält auf dem großen Parkplatz gegenüber der Feuerwehr. Markov hilft mir galant aus dem Wagen und hakt mich bei sich unter. Wie immer, wenn er mich berührt, fährt diese verräterische Hitze durch meinen Körper und ich kann für einen Moment keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber dann sehe ich dieses aufgesetzte Lächeln in seinem Gesicht und erinnere mich daran, dass das alles für ihn nur ein Spiel ist.

„Warum ist es dir eigentlich so wichtig, in der Öffentlichkeit immer den Gentleman zu geben? Es ist ja nicht so, als würden wir die Leute je wieder sehen …“, kann ich nicht mehr an mich halten und spreche den Gedanken zum ersten Mal laut aus. So sehr ich es auch versuche, kann ich zu meinem Bedauern nicht verhindern, dass Bitterkeit in meiner Stimme mitschwingt.

„Harmonisch wirkende und höfliche Menschen erregen erwiesenermaßen weniger Aufsehen und man bringt ihnen mehr Vertrauen entgegen“, gibt er kühl zurück.

Ich verdrehe gedanklich die Augen. Natürlich steckt hinter seinem Gebaren wohlüberdachtes Kalkül. Was habe ich auch erwartet? Freundlichkeit? Träum weiter, Hannah!

Zielstrebig laufen wir in Richtung der Gasse, in der das kleine, verängstigte Mädchen aus unserer Vision bereits auf uns wartet. Die Arme um die Knie geschlungen, hat sich das Kind an die Wand eines Hauses gekauert. Ich schätze sie um die vier. Dicke Tränen kullern ihr zartes, kindliches Gesicht herab, während der kleine Körper von einem Schluchzer nach dem nächsten geschüttelt wird und die blonden, geflochtenen Zöpfchen, die über ihre Schultern hängen, hin und her wippen.

Markov löst meine Hand von seinem Arm und tritt langsam auf das Mädchen zu. Er beugt sich zu ihr hinab.

„Hey kleine Lady“, versucht er, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

Das Kind wischt sich noch einmal kräftig mit den Fäustchen die Tränen aus den Augen, dann sieht es Markov verschüchtert an.

„Ich bin Julian. Und wie heißt du?“, fragt er mit einer Stimme, die wohl jede Frau zum Schmelzen gebracht hätte.

„L-Lilly“, stottert das Mädchen nach kurzem Zögern.

„Du hast einen wirklich schönen Namen, Lilly“, schmeichelt er sich weiter bei ihr ein.

„I-Ich … Ich w-will zu meiner M-mama!“, bringt die Kleine schluchzend heraus.

„Wollen wir sie zusammen suchen gehen? Sie würde sicher nicht wollen, dass du alleine herumläufst, oder?“, bietet Markov süßlich an und streckt ihr einladend eine Hand entgegen. Seine Stimme klingt so entwaffnend ehrlich, dass beinahe ich ihm seine Sorge abgekauft hätte, wäre da nicht unser Gespräch von gerade eben gewesen.

Der Mann weiß wahrscheinlich nicht einmal, wie man Aufrichtigkeit und Mitgefühl buchstabiert, schießt es mir durch den Kopf. Ob er schon immer so war?

Ich stelle mir einen fünfjährigen, despotischen Markov vor, der in einem feinen, maßgeschneiderten Anzug die Gänge des Haupthauses entlang schreitet, um dem Personal giftige Blicke zuzuwerfen und hier und da einen Befehl zu bellen. Die Vorstellung ist so realistisch, dass mir beinahe ein Kichern entschlüpft.

Vermutlich schon, beantworte ich meine eigene Frage.

Das Mädchen überlegt kurz und mustert abschätzend mit ihren großen, vom Weinen ganz verquollenen Augen, was ihr dargeboten wird, ehe sie unsicher ihre Hand in seine legt.

„J-ja.“

Markov zögert keine Sekunde, erhebt sich und zieht die Kleine mit auf die Beine. Dann bückt er sich erneut, um mit seiner freien Hand beruhigend über den Kopf des Mädchens zu tätscheln.

„Wir finden deine Mama ganz schnell, das verspreche ich dir, Lily!“  

„G-ganz ehrlich?“, hakt sie nach.

„Ehrenwort!“

Julian reckt ihr seinen kleinen Finger hin und die beiden besiedeln ihr Versprechen. Er sieht das Mädchen mit unglaublicher Wärme im Blick an, mit Freundlichkeit und Nachsicht, und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich doch versucht zu glauben, ein Fünkchen Aufrichtigkeit in seinem Handeln zu erkennen.

„W-wer ist das?“, will das Mädchen wissen, als es mich schließlich hinter Markov bemerkt.

„Oh, nur eine Freundin“, gibt er verächtlich lächelnd zurück. Da geht er dahin, der Glaube ...

 

 

Das Wasser hört auf, gegen den Boden zu trommeln. Die Türen der Dusche werden aufgeschoben. Der betörenden Duft von reiner Männlichkeit gepaart mit Dampf und dem herben Aroma von Shampoo und Duschgel dringt seicht an meine Nase, weckt dunkle Fantasien in mir. Wie immer spüre ich, wie die Röte in meine Wangen schießt. Bei Zeiten komme ich mir vor, als würde mich diese Sache mit den Seelengefährten zurück in einen hormongeplagten liebeskranken Teenager verwandeln, der seine Gedanken und Gefühlen völlig machtlos gegenübersteht. Ich versuche, meine erotischen Gedanken rasch beiseite zu drängen, um mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, was mir nach einigen Anläufen auch gelingt – immerhin ist es nicht der erste Abend, an dem ich diese Ausspionierungsnummer durchziehe. Schranktüren werden geöffnet und geschlossen. Zähne werden geputzt. Stoff reibt über Haut: Eine Schlafanzughose wird angezogen. Dann ist das leise Klacken eines Türgriffes zu hören. Markov kommt zurück ins Schlafzimmer.

Während ich, was meine geistigen Kräfte anbelangt, noch immer in den Kinderschuhen stecke, sieht es beim Umgang mit meinen physischen Kräften ganz anders aus. Nicht nur meine Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit sind inzwischen geradezu übermenschlich. Je mehr Kontrolle ich über meinen Körper gewinne, desto ausgeprägter werden auch meine Sinne. Hören, Fühlen, Riechen, … – wenn ich mich konzentriere, kann ich Dinge wahrnehmen, die ich mir früher nie erträumt hätte.

Ich spüre, wie das Bett leicht nach unten sinkt, als Markov sich darauf nieder lässt. In wenigen Schlucken lehrt er das Glas mit dem Schlafmittel, das uns in der Nacht helfen soll, die Visionen zurückzudrängen und einigermaßen erholsamen Schlaf zu finden. Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht, kann den bitteren Geruch des Medikamentes förmlich auf der Zunge schmecken. Widerliches Zeug. Aber es hilft.

Ich höre an seinen tiefen, regelmäßigen Atemzügen, wann der Schlaf ihn übermannt hat, und steige vorsichtig aus dem Bett, um mich in das angrenzende Wohnzimmer zu schleichen. Da man mir von Haus aus keine Freiheiten mehr zugesteht, hatte ich entweder die Möglichkeit, endgültig wahnsinnig zu werden, oder mir selbst eine Freiheit zu nehmen. Da tagsüber ständig dutzende von Leuten um mich herum wuseln, gibt es nicht den Hauch einer Chance, irgendetwas ungesehen zu machen – bleibt nur noch abends. Meistens mache ich es mir auf einem Sessel vor dem Fernseher bequem und sehe mir via Videothek eine Serie oder einen Film an oder vergnüge mich ein bisschen mit einer der Konsolen. Nichts Weltbewegendes, aber für mich inzwischen der schönste Teil des Tages. Eine Stunde, die nur mir allein gehört und ansonsten niemandem. Nicht Klaus und den Lehrern mit all den Verpflichtungen im Schlepptau, die meine neue Familie mir aufgebürdet hat. Nicht Markov. Nicht all den hilfsbedürftigen Menschen da draußen. Nur mir ganz allein. Wenn man mir das auch noch nehmen würde … Daran wage ich erst gar nicht zu denken. Es fällt mir in dieser Zeit sogar leichter, den Visionen Einhalt zu gebieten, als sonst. Fast so, als würden sie mir diese Auszeit gönnen - was natürlich ein alberner Gedanke ist!

Heute ist mir nach einem Film, und so durchforste ich auf der Suche nach Inspiration ziellos die Videothek. Bei Coppolas „Dracula“ bleibe ich schließlich stehen. Perfekt. Passt zu meiner derzeitigen Weltuntergangsstimmung, wie ich finde. Ich will gerade die Datei starten, da fällt mir der alte Kandellaber auf der Anrichte neben dem Fernseher ins Auge, der bei meiner Auswahl ja geradezu danach schreit, angezündet zu werden. Kurzerhand springe ich auf und durchforste die oberen Schubladen der Anrichte nach einem Feuerzeug. Zu meiner Freude werde ich tatsächlich in der zweiten fündig. Schließlich drehe ich den Kerzenständer noch etwas, damit ich ihn von meinem Lieblingsplatz auf dem Sofa gut sehen kann – und muss mit aller Gewalt einen Schreckensschrei unterdrücken, als ohne Vorwarnung der Schrank samt Wand ein Stück auf mich zukommt. Entsetzt stolpere ich zurück und lande unsanft auf dem harten Holzfußboden.

Was zum …?

Ungelenk rapple ich mich auf und nähere mich langsam dem merkwürdigen Spalt, der zum Vorschein gekommen ist. Das Verschieben des Kerzenständers hat offensichtlich das Öffnen einer Geheimtüre verursacht. Und ich dachte tatsächlich, ich hätte mittlerweile sämtliche Geheimnisse dieser Familie gelüftet!

Neugierig schiebe ich die Tür/Wand ein Stück weiter auf, sodass ich ohne Probleme hineinsehen kann. Ein alter Gang kommt zum Vorschein, der gut und gerne einem Gruselschloss entsprungen sein könnte, Stilecht mit Spinnenweben, wohin man sieht, und Fackelständern an den kargen Steinwänden.

Muss wohl ein Überbleibsel aus der Zeit sein, als das Haus erbaut wurde, überlege ich. Wohin der wohl führt?

Meine Spekulationen werden jäh unterbrochen, als eine Ratte von der Größe eines Chihuahuas aus der Dunkelheit auftaucht, in die sie sogleich wieder verschwindet, sobald sie mich wahrgenommen hat. Ich beiße die Zähne zusammen, winkle die Arme an und wippe nervös mit den Beinen, um nicht loszuschreien, wie ein kleines Mädchen. Damit wäre die Überlegung dann vom Tisch, dem Ursprung des Tunnels auf den Grund zu gehen.

Ich drehe den Kandelaber zurück in seine ursprüngliche Position und der Spalt schließt sich. Diese Erfahrung kann ich wohl unter ziemlich ekelig, aber auch ziemlich cool verbuchen.

 

 

Sirenengeheul. Markov und ich werden von einer Hand voll Sicherheitsmännern durch das Haus gezerrt.

Markov und ich in einem Flugzeug, aber etwas ist falsch. Wir fliegen in …

Dunkelheit.

 

Ich habe schon mehr als einmal in meinen Visionen Menschen qualvoll sterben sehen. Dennoch ist es das erste Mal, dass das Gesehene bei mir eine regelrechte Panikattacke auslöst, und das nicht nur, weil ich das erste Mal meine eigene Zukunft zu Gesicht bekommen habe – was eigentlich gar nicht möglich sein dürfte! Das Sirenengeheul ist das Zeichen dafür, dass es jemand auf Markov und mich abgesehen hat, und dieser jemand irgendwie ins Haus gelangen konnte. Ein kugelsicherer Helikopter soll uns in solch einem Fall sofort zu einem sicheren Versteck bringen – das wir laut meiner Vision allerdings nie erreichen würden. Als sei das alles nicht schon schlimm genug, wird meine Vorhersage innerhalb der nächsten Minuten eintreffen, dessen bin ich mir sicher.

Wie in Trance jage ich ins Schlafzimmer, um Markov zu wecken. Obwohl ich ihn in meiner Angst ziemlich grob bei den Schultern packe, wie ich an meinen weiß hervortretenden Knöcheln zu spät bemerke, bekomme ich ihn nicht wach. Eigentlich ist das Schlafmittel so eingestellt, dass es lediglich beruhigungsfördernd wirken soll, anstatt uns in einen Koma ähnlichen Zustand zu versetzen. Da erinnere ich mich, dass der Geruch der Medizin heute etwas anders war, als sonst. Vorhin habe ich mir nichts dabei gedacht, habe es für Einbildung gehalten. Misstrauisch schiele ich zu dem noch vollen Glas auf meinem Nachttisch und konzentriere mich auf den Geruch. Ja, da ist definitiv eine süßliche Note, die sonst nicht da ist!

Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das Bild fügt sich zu einem entsetzlichen Ganzen zusammen und ein ungeheuerlicher Verdacht keimt in mir auf: Der Attentäter ist nicht ins Haus gelangt – er muss aus dem Haus kommen! Das würde alles erklären: Das verstärkte Schlafmittel, den manipulierten Helikopter und das er sich offenbar an uns erinnern kann. Nur jemand aus dem inneren Zirkel der Familie wäre zu etwas derartigem fähig. Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen? Warum sind Klaus, Markov oder jemand anders nicht schon früher darauf gekommen?

„Wach auf! Bitte, du musst aufwachen, hörst du? “, flehe ich den bewusstlosen Markov verzweifelt an. „WACH AUF!“

Wach auf, Julian!

Etwas rührt schwach an meinen Geist. Markov. Ich muss unbewusst unsere telepathische Verbindung benutzt haben.

Etwas stimmt nicht! Wir sind in Gefahr!, versuche ich, dem mentalen Pfad zu folgen, und hoffe inständig, dass irgendetwas zu ihm durchdringt. Du musst aufwachen! Lass mich nicht allein!

Seine Lider beginnen, schwach zu flattern, und ich spüre dass er nach Kräften versucht, das Bewusstsein wieder zu erlangen. Vergebens. Verdammt, der Alarm muss jede Sekunde losgehen, uns läuft die Zeit davon!

Ohne groß darüber nachzudenken, lege ich mir seinen Arm um die Schulter und hieve ihn hoch. Es gibt für uns nur einen Weg, lebend hier heraus zu kommen: allein. Klaus und die Sicherheitsleute würden meinem Verdacht niemals Gehör schenken – mir, der unerfahrenen Neuen, die schon bei ihrem ersten Einsatz kläglich versagt hatte, und Markov ist mir in seinem momentanen Zustand auch keine Hilfe. Mir bleibt also nichts anders übrig, als selbst die Heldin zu spielen.

Stöhnend schleife ich Markov ins Wohnzimmer. Mir fällt nur ein Ort ein, an den wir flüchten können. Noch während ich den Kandelaber wende, um den geheimen Gang freizulegen, den ich vor einer Woche zufällig entdeckt habe, ertönt wie aus dem Nichts gellend das Geheul der Sirenen. So schnell ich kann zwänge ich mich mit Markov durch die Öffnung, lasse ihn unsanft zu Boden sacken und schiebe die Wand von innen wieder an ihre angestammte Position. Im nächsten Moment höre ich, wie die Türen zu unseren Privaträumen aufgerissen werden. Die Wachmänner stürmen in Scharen herein und rufen nach uns. Mit wild pochendem Herzen lasse ich mich neben Markov sinken und bete, dass sie uns hier nicht finden. 

Kapitel 14

 

Schränke werden geöffnet. Flüche werden laut.

„Julian? Hannah? Wo seid ihr?“, mischt sich eine vertraute Stimme unter die übrigen. Klaus. „Wir müssen euch von hier fort bringen, ihr seid in Gefahr!“

„Sie müssen durch das Fenster geflohen sein, aber sie können noch nicht weit sein“, mutmaßt jemand. „Warum halten sie sich nicht an den Notfallplan?“

„Das würde ich auch gerne wissen …“, brummt Klaus, und mir stellen sich unwillkürlich die Nackenhaare auf. Er ist wütend, und zwar so richtig wütend. So habe ich ihn noch nie erlebt. „Yvette, trommle so viele der Zwölf zusammen, wie möglich. Sie sollen sich sofort mit Julian in Verbindung setzen! Wir müssen die beiden so schnell wie möglich finden, wir dürfen keine Zeit verlieren!“

Mist, die Zwölf – an die hatte ich gar nicht mehr gedacht!

Ich taste in der Finsternis nach Markovs Gesicht und umrahme es mit meinen Händen. Vermutlich ist es vollkommen sinnlos, aber womöglich vereinfacht mir körperliche Nähe zu ihm ja das, was ich als nächstes Vorhabe. Es ist zumindest einen Versuch wert.

Julian, du darfst niemandem der Zwölf Einlass in deine Gedanken gewähren, hörst du?, sende ich ein mentales Appell, in das ich all meine Konzentration lege. Bitte, du musst mir vertrauen, nur dieses eine Mal!

Wieder rührt etwas schwach an meinen Gedanken, und ich hoffe, das als Einwilligung interpretieren zu können. Doch mir bleibt keine Zeit, diesen kleinen Erfolg meiner Fähigkeiten zu feiern. Selbst wenn Julian die Zwölf vorerst aus seinem Geist ausschließen kann, ist damit noch nicht gesagt, wie lange. Wir können uns nicht ewig hier drin verstecken.

Lass … lass mich zurück, hallt Markovs sonst so gebieterische Stimme beängstigend dünn in meinem Kopf wider. Ich spüre wie er verzweifelt versucht, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Bring dich … Sicherheit …

Ja, lass ihn hier! Er hat es dir sogar selbst vorgeschlagen! So kommst du mit ihm ohnehin nicht weit!, meldet sich der egoistische Teil meines Selbst sofort begeistert zu Wort. Das ist die Chance, ihn endlich loszuwerden! Soll er doch sehen, wohin all seine klugen Sprüche ihn gebracht haben! Du bist ohne den Kerl viel besser dran! Jetzt, wo er zum ersten Mal auf dich angewiesen ist, spielt er den fürsorglichen Ehemann, aber später wird er dich wieder wie Dreck behandeln!

Ja, vermutlich wird er das, und vermutlich wäre ich ohne ihn besser dran. Doch dann würde ich dasselbe tun, das er schon vor langer Zeit getan hatte: Aufgeben. Und ich bin nun einmal nicht jemand, der einfach aufgibt – selbst so einen hoffnungslosen Fall wie Markov. Mein kleiner Sturrkopf, hatte Mama mich immer liebevoll geneckt. Die Erinnerung lässt mich wehmütig lächeln.

Vergiss es!, sende ich Markov zurück, drehe mich um, um mich mit dem Rücken vor ihn hin zu knien, und ziehe seine Arme neben meinem Gesicht nach vorne, bis sein kraftloser Oberkörper an meinem lehnt und sein Kopf auf meiner Schulter ruht.

Was …?

Versuch dich festzuhalten, so gut es geht!, ist meine einzige Warnung an ihn.

Ich nehme einen kräftigen Atemzug, ehe ich unter Markovs Oberschenkel greife, mich nach vorne beuge und meine gesamte Kraft auf mein Vorhaben fokussiere.

1, 2, 3 … und hoch!

Ich schaffe es tatsächlich, mit Markov auf dem Rücken zurück auf die Beine zu kommen, wäre allerdings fast wieder hinten umgekippt, als auf einen Schlag die Fackeln an der Wand Feuer fangen. Ich habe Markov während unserer Aufträge schon Dinge teleportieren oder verbiegen sehen, ich weiß also, dass unsere Fähigkeiten auch auf solchen Gebieten beinahe unbegrenzt sind, wenn wir es benötigen. Es ist allerdings das erste Mal, dass ich selbst etwas Derartiges auslöse. Verwundert blinzle ich in die Flammen. Es ist wohl wie damals, als ich über den Zaun getürmt bin, überlege ich.

Bedächtig beginne ich, die steilen Stufen hinabzusteigen, und warte auf Markovs unausweichlichen Wutausbruch – der zu meiner großen Überraschung ausbleibt. Die Tatsache, dass er sich nicht mental über diese demütigende Fortbewegungsweise beschwert, ist ein weiteres Indiz dafür, wie erschreckend schwach seine momentane körperliche Verfassung ist. So schwach, dass er sogar mir die Führung überlässt.

Was, wenn es nicht nur eine Überdosis Schlafmittel, sondern ein Gift ist?, schießt es mir panisch durch den Kopf.

Selbst wenn dem so wäre, könntest du im Moment nichts für ihn tun, versuche ich, pragmatisch zu bleiben. Wir müssen von hier weg. Über alles andere kannst du dir noch immer das Hirn zermartern, wenn wir in Sicherheit sind!

Glücklicherweise halten sich die Ratten heute außer Sichtweite. Nur die unzähligen Krabbeltierchen, die die Wände entlang huschen, machen mir zu schaffen. Mehrmals müssen wir riesige Spinnennetze passieren, und ich muss jedes Mal wieder mit aller Macht an mich halten, um nicht lauthals los zu kreischen.

„Du bist schwerer, als ich erwartet hab!“, stoße ich zwischen den Zähnen hervor, um die Stimmung etwas aufzulockern und mich von dem Getier abzulenken, das um uns herum kreucht und fleucht. Da taucht um die Ecke bereits die nächste gesponnene Hölle auf. Ernsthaft?

Die Treppe ist länger, als ich erwartet habe, und Markov wird nicht leichter. Gerade als ich mich frage, wie lange ich sein Gewicht wohl noch werde tragen können, kommt endlich der Treppenabsatz in Sicht. Meine Freude über diesen Anblick hält sich allerdings in Grenzen, denn die letzte Stufe mündet direkt in einer Wand. Prüfend tippe ich mit meinem Fuß daran. Gestein. Festes, hartes, unbewegliches Gestein. Eine Sackgasse.

Wahrscheinlich ist hier irgendwo ein weiterer Mechanismus eingebaut, so wie der Kerzenständer

Ich versuche mich zunächst am Naheliegensten: den Fackeln an den Wänden. Ich drehe, ziehe und drücke sie in alle nur erdenklichen Richtungen. Nichts.

Wäre ja auch zu schön gewesen!

Dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Die Treppen oder die Wand. Ich trete ein Stück näher an die vermeintliche Sackgasse heran und nehme das Gestein genauer in Augenschein. Zunächst kann ich nichts Ungewöhnliches finden, bis mich ausgerechnet die Spinnen auf die richtige Spur bringen. Mir fällt auf, dass alle meine achtbeinigen Freunde von der rechten Wandseite zur linken laufen, nie umgekehrt. Ich verfolge die Spur der Tiere zurück, und da sehe ich es: Die Spinnen krabbeln aus einem für das menschliche Auge unsichtbaren Spalt in der Mauer, dort wo das Gestein des Gangs in das der Wand übergeht. Ich schlucke meinen Ekel herunter und drücke mit einer Hand so fest ich kann gegen den Spalt. Nichts. Dennoch spüre ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Bei einem erneuten kritischen Blick über die Wand fällt mir auf, dass ein Backstein etwas weiter aus der Wand ragt, als die anderen. Bingo!

Weil meine Arme Markovs Last mittlerweile kaum noch stemmen können und ich deshalb nicht noch einmal wage, eine Hand zu entbehren, bücke ich mich ein Stück und drücke mit der Schulter gegen die Stelle.

Ich warte.

Wieder Nichts. Dabei bin ich mir dieses Mal so sicher gewesen!

Vielleicht war es nicht fest genug …, weigere ich mich, diese erneute Niederlage zu akzeptieren. Frustriert gehe ich einige Stufen zurück, nehme Anlauf und werfe mich so fest ich kann gegen den hervorstehenden Stein. Ein leises Krachen ertönt, und ehe ich richtig begreifen kann, was passiert, beginnen Steine auf uns herabzuregnen. Ich schaffe es nicht mehr, den Schwung abfangen, und als die Wand schließlich nach vorne kippt, nimmt sie Markov und mich mit sich.

Unsanft landen wir in etwas Nassem. Das Wasser ist nicht besonders hoch, stinkt allerdings bestialisch. Als ich mich aufgerappelt und mir die ominöse Flüssigkeit aus den Augen gerieben habe erkenne ich dank zwei weiteren Fackeln auf der anderen Seite der Falltür, dass wir offenbar in der Kanalisation gelandet sind. Das würde auch den beißenden Geruch erklären. Die Tür hat sich automatisch wieder hinter uns geschlossen, es gibt also kein Zurück mehr. Das Mauerwerk des Tunnels, der sich zu beiden Seiten von uns erstreckt, sieht ungewöhnlich dunkel aus, und als ich es mit der Hand berühre erfahre ich auch, warum: Moos. Alles ist mit Moss überwachsen. Dieses Kanalsystem muss schon seit Jahren außer Betrieb sein!

Ich richte Markovs schlaffen Leib auf und lehne ihn an die Wand, um zumindest seinen Oberkörper aus der Dreckbrühe heraus zu halten. Seine Haut fühlt sich eiskalt an. Das hast du nun davon, dass du nachts immer deinen Sixpack zur Schau stellen musst! Ohne genau zu wissen, warum, ziehe ich meine Weste aus, die nur leicht durchnässt ist, und lege sie ihm um die Schultern. Anschließend überprüfe ich seinen Puls. Regelmäßig. Gut.

Ich kann dich nicht viel länger tragen, deshalb werde ich erst mal alleine nach einem Ausgang suchen. Wenn ich einen gefunden habe, komme ich zurück und hole dich.

Keine Antwort.

Ob er mich gehört hat? Andererseits ist es ja nicht so, als könne er in seinem derzeitigen Zustand wegrennen …

Ohne das Licht der beiden Fackeln ist es hier unten beinahe stockfinster, was die Sache nicht gerade leichter macht. Zudem muss ich mir genau einprägen, wie ich gelaufen bin, um später wieder den Weg zurück zu finden. Mit den Händen hangle ich mich an der moosigen Wand entlang in der Hoffnung, irgendwann auf eine Leiter zu stoßen. Ich habe das Gefühl, eine halbe Ewigkeit durch dieses stinkende Gewässer zu warten, ehe ich endlich fündig werde. Allerdings keine Leiter, sondern noch besser: Eine Tür.

 

 

Ein Gemisch der merkwürdigsten Sinneseindrücke schlägt auf ihn ein: Er spürt weichen Stoff auf seiner Brust, obwohl er noch im Bett liegt und eigentlich immer oben ohne schläft. Er spürt die warmen Strahlen der Sonne auf seinen Liedern, obwohl der Wecker eigentlich immer klingelt, wenn es noch dunkel ist. Die Visionen sind da, aber noch immer wie hinter einem dichten Schleier verhüllt, obwohl sie morgens eigentlich immer am Stärksten sind. In der Luft liegt der Geruch von unzähligen Duftkerzen, frischem Kaffee und einem süßen Frühstück, obwohl es eigentlich nach einer Mischung aus Holz, Rasierwasser, frischen Blumen und Zitrone riechen sollte. Und … summt da etwa jemand?

Zum ersten Mal in seinem Leben empfindet er ein Gefühl der völligen Desorientierung. Selbst als vor drei Monaten seine tot geglaubte Seelengefährtin wie aus dem nichts vor ihm aufgetaucht war, hat er nicht so empfunden. Er hat sie einfach mitgenommen, sie zurück dorthin gebracht, wo sie hingehörte. Er hat sich an die Regeln gehalten. Die Regeln, die der Fluch ihm aufbürdet. Die Regeln, die er bisher jeden einzelnen Tag seiner kläglichen Existenz befolgt hat – bis zu diesem Morgen.

Er versucht, die Augen aufzubekommen, doch sie wollen ihm nicht gehorchen. Sein Körper fühlt sich unendlich schwach an und er ist noch immer so schrecklich müde. Allein, sich die Geschehnisse des vergangenen abends zurück ins Gedächtnis zu rufen, kommt einen enormen Kraftakt gleich, doch es gelingt. Mögen die Erinnerungsfetzen noch so bruchstückhaft sein, sind sie doch im Moment das einzige, das Ordnung in dieses unerklärliche Chaos bringen kann.

 

Er fühlt sich nach der Einnahme des Schlafmittels anders als sonst. Der Leibarzt der Familie muss die Dosis verändert haben. Da das nicht zum ersten Mal passiert, denkt er sich nichts Besonderes dabei. Er würde lernen, sich daran zu gewöhnen. Der Arzt weiß, was das Beste für ihn ist.

 

Hannah versucht hektisch, ihn zu wecken, rüttelt schmerzhaft an seinen Schultern. Vermutlich ohne es zu merken sucht sie nebenher den geistigen Kontakt zu ihm. Ihre Gedanken sind beherrscht von Angst und Panik. Er will zu ihr zurückkehren, will aufwachen, aber es ist, als wolle er durch eine meterdicke Wand stoßen. Er spürt, wie sein Arm um schlanke Schultern gelegt wird und sein Oberkörper aufgerichtet. Die Furcht tobt wie ein wildes Tier in Hannah, überträgt sich auf mentalem Weg auch auf ihn. Ehe er begreift, warum, konzentriert er sich mit aller Macht darauf, sich zumindest halbwegs auf den Beinen zu halten, um ihr so die Arbeit zu erleichtern.

 

Sirenengeheul, laut und durchdringend.

 

Julian, du darfst niemandem der Zwölf Einlass in deine Gedanken gewähren, hörst du?, hallt Hannahs verzweifelte Bitte durch seine Gedanken. Tatsächlich versucht jemand, sich grob Zugang zu seinem Kopf zu verschaffen, aber es gelingt ihm, denjenigen abzuwehren. Mehrmals. Etwas stimmt hier nicht, etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Hannah muss fort von hier, weg von der Gefahr. Wenn ihr etwas zustoßen würde …

Lass mich zurück!, fleht er unter Aufwendung seiner letzten Kraftreserven.

Vergiss es!

Diese verdammte Frau!

 

Hannah trägt ihn auf dem Rücken.

 

Etwas Hartes kollidiert mit seiner Schulter, bevor er in etwas Nassem landet. Beißender Geruch steigt ihm in die Nase. Sanfte Hände heben ihn hoch und drücken ihn gegen eine feuchte, kühle Wand. Etwas Warmes legt sich um seine Schultern. Dann das Geräusch von Schritten in Wasser.

 

Das sanfte Rauschen von Autos. Befindet er sich auf der Autobahn?

 

Er liegt auf einem Bett und jemand fährt ihm mit einem weichen Handtuch über den Bauch.

  Schlaf jetzt, es ist alles gut!  

Wieder sucht Hannah automatisch den geistigen Kontakt zu ihm. Die Angst und Panik von zuvor sind verschwunden, nur etwas Sorge um sein Wohlergehen verfinstert ihre Gedanken. Offenbar ist die Gefahr überstanden. Dankbar ergibt er sich endlich dem Schlaf.

 

Ihre schlimmsten Befürchtungen haben sich also bestätigt: Es ist nun tatsächlich auch zu einem Anschlag auf Hannah und ihn gekommen. Der Vorfall in Südafrika war nur der Anfang gewesen. Aber Hannah hat sich, soweit er aus den wirren Erinnerungsfetzen schließen kann, ganz offensichtlich nicht an das Notfallprotokoll gehalten, das man für eben solche Fälle ausgearbeitet hatte. Das heißt der Ort, an dem er sich gerade aufhält, ist weder das Haupthaus, noch das Sicherheitsversteck.

Diese Erkenntnis ist es schließlich, die ihm den nötigen Energieschub gibt, die Augen zu öffnen und sich zitternd in eine aufrechte Position zu stemmen. Warum hat sich Hannah nicht an das Protokoll gehalten – und wo zur Hölle hat sie ihn hingebracht?

 

 

Während ich dem Rührei beim fröhlichen Dahinbrutzeln in der Pfanne zusehe und leise die Songs aus dem Radio mitsumme, kämpfen in meinem Innern die widerstreitigsten Gefühle um die Vorherrschaft.

Da wäre zunächst einmal unbändiges Glück: Ich bin erfolgreich einem Anschlag entkommen, und als wäre das allein nicht schon Grund genug zur Freude, habe ich mich damit vorläufig von den strikten Regeln, die mir als Vergessene auferlegt worden sind, befreit. Noch vor wenigen Monaten hätte ich nie für möglich gehalten, mich einmal so darüber zu freuen, mir im Pyjama selbst das Frühstück machen zu dürfen. Ja, die kleinen Freuden des Lebens …

Auf der anderen Seite steht die Schuld: Habe ich richtig gehandelt, als ich mich gegen das Protokoll gestellt habe? Habe ich die richtigen Schlüsse gezogen? Und dann die Visionen. All die Schicksale, die ich nun nicht würde ändern können, die Markov nicht würde ändern können. Eine Frau wird in wenigen Minuten ihr Baby verlieren, weil sie eine Treppe herabstürzen wird. Für eine Jugendliebe wird es kein Wiedersehen geben, denn wir werden nicht da sein um zu verhindern, dass sich die beiden um Haaresbreite verpassen. Ein alter Mann wird einen Schlaganfall erleiden und nicht mehr im Stande sein, seine Tochter zum Altar zu führen. Unendlich viele Gesichter. Unendlich viele, tragische Schicksale. Andererseits passieren solche Dinge doch unentwegt, oder nicht? Wir können sie meist nur nicht sehen … Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich so egoistisch denke? Ist es herzlos von mir, …?

Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönt aus der Richtung des Schlafzimmers und lässt mich erschrocken zusammenfahren. Markov.

Sofort schalte ich den Herd aus und renne zu ihm. Er liegt zusammengesunken neben dem Bett, begraben unter dem Vorhang samt Vorhangstange. Offenbar ist es ihm gelungen aufzustehen, aber er ist noch immer zu schwach, um zu laufen. Auf der Suche nach Halt muss er nach der Gardine gegriffen haben, überlege ich.

Mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich Markovs Gestalt unter dem Stoffberg freigelegt habe: Blut. Viel Blut. Er hat sich eine hässliche Platzwunde an der Stirn zugezogen. Erleichtert stelle ich fest, dass seine Augen leicht geöffnet sind, sein Blick ist allerdings unfokussiert.

„Kannst du … kannst du mich hören?“, frage ich zaghaft und streichle beruhigend über seine am Boden liegende Hand. Anstatt mir zu antworten, greift er nach meinem Handgelenk und drückt kräftig zu. Erleichtert sacke ich in mir zusammen.

„Komm, wir schaffen dich erst einmal wieder zurück ins Bett!“

Obwohl seine Stärke im Vergleich zum Vorabend schon beträchtlich zugenommen hat, wäre er ohne meine Hilfe wohl nicht weit gekommen. Mühsam helfe ich ihm zurück aufs Bett und hole den Erste-Hilfe-Kasten aus dem angrenzenden Bad. Sein Blick ist inzwischen etwas klarer geworden, die Lider allerdings noch immer nur leicht geöffnet. Klaglos lässt er das Verarzten über sich ergehen, zuckt nicht einmal zusammen, als ich Desinfektionsmittel auf die offene Wunde tupfe.

So ein unglaublich schönes, männliches Gesicht. Aber ohne jegliches Leben.  

„So, das war´s schon“, lobe ich ihn, während ich Tuben, Pflaster und Verband wieder ordnungsgemäß verstaue. „Du hast bestimmt Hunger. Ich hab uns Frühstück gemacht, ich geh es nur schnell …“

„Wo sind wir?“, unterbricht Markov mich mit krächzender Stimme.

„Ich erzähl dir alles beim Essen, okay?“

Als ich vom Bett aufstehen will, halten mich kräftige Finger um mein Handgelenk zurück.

Wo. Sind. Wir?“, wiederholt er ungeduldig, speit jedes Wort einzeln aus.

Ruckartig mache ich mich von ihm los und verschränke die Arme vor der Brust. Kaum, dass er gerade so bei Bewusstsein ist, spielt er wieder den Tyrann. Unfassbar. Einfach unfassbar!

„Eigentlich wollte ich so nett sein und mein Frühstück mit dir teilen, aber ich glaube, ich habe es mir anders überlegt.“ Kurz bevor ich das Zimmer verlasse, kann ich mir nicht verkneifen noch hinzuzufügen: „Es gibt da übrigens so was das nennt sich Geduld. Solltest du mal ausprobieren, ist angeblich sogar eine Tugend.“

Dann marschiere ich hoch erhobenen Hauptes davon und schlage mit einem lauten Knall die Tür hinter mir zu. Oh Mann, fühlt sich das gut an!

 

 

Sie wird zurückkommen. Gleich wird die Tür aufgehen, sie wird zurückkommen und sich für ihre Respektlosigkeit entschuldigen, ist sich Julian sicher.

Tick. Tack. Tick. Tack.

Lautstark kämpft dich der Zeiger der Wanduhr von einer Sekunde zur nächsten, als wolle er ihn mit Absicht reizen.

Tick. Tack. Tick. Tack.

Die Tür bleibt zu.

Fünf Minuten.

Zehn Minuten.

Fünfzehn Minuten.

Keine Hannah.

 

Er öffnet verschlafen die Augen. Noch genau drei Minuten, bis der Wecker klingelt, wie jeden Morgen. Aufgeregt konzentriert er sich auf die geistige Verbindung zu Hannah, kann es kaum erwarten, ihr fröhliches Kichern zu hören. Ein Kichern, das für ihn mittlerweile wie zu einer Droge geworden ist, der Schlüssel zu einer Welt, in der es sich zu leben lohnt. Eine Welt, in der nicht nur Dunkelheit existiert, sondern ein Funken Hoffnung. Liebe. Seine Seelengefährtin. Sein einziger Grund, sich für die Qual des Fluches und das Leben zu entscheiden.

Er runzelt angestrengt die Stirn. Hat er heute etwas falsch gemacht? Das Kichern, wo bleibt das Kichern? 

Hannah?

Ahhh …! Ihr verzweifelter Schrei fährt ihm durch Mark und Bein.

HANNAH!

Angst. Panik. Dann: Stille.

 

Mit schweißnassen, zittrigen Händen fährt er sich frustriert übers Gesicht, wischt sich die verräterischen Tränen aus den Augenwinkeln, die die Erinnerung mit sich gebracht hat. So sehr er auch versucht hatte, Hannah und sich selbst zu belügen: Er braucht sie. Gott, er braucht sie so sehr! Wenn er sie noch einmal verlieren würde … Nein, er kann sie nicht noch einmal verlieren!

Aber sie hat ihn mit sich genommen, oder? Nachdenklich fasst er sich an das Pflaster auf seiner Stirn. Sie ist sofort zu ihm geeilt, als er gefallen war, hat ihn verarztet. Ja, sie wird wiederkommen!

Aus Sorge wird Wut. Wut über seine erbärmliche, körperliche Verfassung, seine Hilflosigkeit. Wut auf Hannah, die sich dieser Tatsache nur zu bewusst ist. Das Blatt hat sich zu ihren Gunsten gewendet, sie hält nun alle Fäden in der Hand – und vorläufig gibt es nichts, was er dagegen hätte tun können!

Kapitel 15

Mit einem breiten Siegerlächeln setzte ich mich an die Kücheninsel und mache mich seelenruhig an meinem Frühstück zu schaffen. Soll dieser Despot ruhig mal seine eigene Medizin kosten! Die Brötchen, die ich zuvor frisch aus dem Ofen geholt habe, sind mittlerweile so weit abgekühlt, dass ich sie essen kann. Ich beschmiere mir eins großzügig mit Nutella, nehme einen großen Bissen und seufze zufrieden auf. Mmm… So was von lecker!

Im Haupthaus war das Essen stets streng reglementiert gewesen, auch schon vor dem Anschlag in Afrika. Es gab genau bemessene Mahlzeiten, penibel darauf abgestimmt, was mein Körper dem Arzt zufolge gerade benötigte. Natürlich war das so gut wie nie Nutella und dergleichen gewesen … Zugegeben, den Ernährungsstil, den ich zuvor gepflegt hatte, konnte man wohl nicht gerade als gesund bezeichnen, aber hey, ich bin in einer Konditorei aufgewachsen – die Versessenheit mit Süßem wurde mir quasi in die Wiege gelegt! Außerdem habe ich es nie übertrieben, und negativ auf mein Gewicht ausgewirkt hat es sich auch nicht. Und mal ehrlich: Ohne die ein oder andere kleine Sünde wäre das Leben doch nur halb so schön, oder?

Eine Stunde später erbarme ich mich schließlich und befinde, dass ich Markov nun genug habe schmoren lassen. Obwohl er es bei Leibe nicht verdient hat, krame ich im Schrank nach einem großen Holztablett und bereite auch für ihn ein Frühstück zu. Da ich nicht weiß, was seine Vorlieben sind, packe ich von allem etwas drauf, das ich auftreiben kann. Dann wage ich mich in die Höhle des Löwen.

Wie nicht anders erwartet, empfängt mich aus dem Bett ein wütender, eisiger Blick, sobald ich das Zimmer betrete.

„Guck mich nicht so beleidigt an! Du weißt genau, dass du dir die Suppe selbst eingebrockt hast!“, begrüße ich ihn nicht minder geladen. „Hier, Frühstück. Was möchtest du trinken? Kaffee? Tee? Orangensaft? Ist alles da.“

Ich mache mich schon auf ein bissiges Kommentar seinerseits gefasst, als er durch zusammengebissene Zähne lediglich knapp hervorstößt: „Orangensaft und Kaffee. Ein Schuss Milch, kein Zucker.“

Es ist das erste Mal, dass Markov etwas Persönliches von sich preisgegeben hat, wie ich abwesend bemerke. Nichts Weltbewegendes zwar, aber immerhin etwas.

Ich kenne dich bereits besser, als mir lieb ist, und du wirst mich gut genug kennen lernen, wenn wir verheiratet sind. Die traurige Wahrheit aber ist, dass mir dieser Mann noch immer genau so fremd ist, wie am Tag unserer Hochzeit. Unantastbar, wie Supermann in seiner Eisfestung. Wir es mir je gelingen, das Eis zum Schmelzen zu bringen?

Bevor ich das Trinken hole will ich ihm helfen, sich aufzusetzen, aber er schlägt meine Hände weg.

„Fein, wie du meinst. Bin gleich wieder da.“

Als ich eine Minute später wie gewünscht mit einer großen Tasse Kaffee und einem Glas Orangensaft zurückkomme, kämpft Markov noch immer damit, sich in eine aufrechtere Position zu bringen. Ungläubig verdrehe ich die Augen. Sturer Esel!

Ich schaue mir das Spektakel eine Zeit lang schweigend an, ehe ich mich erbarme und ihm erneut zu Hilfe eile, bevor der Kaffee noch kalt wird. Wieder will er mich wegstoßen, aber dieses Mal lasse ich mich davon nicht beeindrucken. Letztlich bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich widerstrebend auf die Hilfe einzulassen.

„Hat gar nicht wehgetan, oder? Es hat noch niemanden umgebracht, Hilfe anzunehmen, weißt du?“

„Würdest du jetzt wohl bitte die Freundlichkeit besitzen mich darüber aufzuklären, wo ich gerade bin?“, fragt er gezwungen höflich, meine kleine Stichelei bewusst ignorierend. Auch dem Essen schenkt er keine Aufmerksamkeit.

Seufzend lasse ich mich neben ihn auf die Bettkante sinken.

„Wie fühlst du dich?“

„Blendend.“ Eine glatte Lüge. Seine Stimme klingt noch immer beängstigend dünn, auch wenn er bemüht ist, den taffen Kerl raushängen zu lassen. „Und wenn du endlich aufhören würdest, mich hinzuhalten, ginge es mir noch besser.“

„Woran kannst du dich noch von letzter Nacht erinnern?“

„Du hast versucht, mich zu wecken, aber ich konnte mich nicht bewegen“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Dann ging der Alarm los. Irgendwie hast du uns beide durch einen Tunnel aus dem Haus geschleust. Mir war kalt … Dann erinnere ich mich erst wieder daran, dass ich in diesem Zimmer aufgewacht bin.“

„Okay, du isst und ich erzähle – abgemacht?“

Argwöhnisch beäugt Markov das Tablett, als befürchte er, es könnte ihn jeden Moment anspringen.

„Ich hab mir nicht die Mühe gemacht, dich mit mir aus dem Haus zu schleusen, nur um dich jetzt zu vergiften. Keine Sorge!“

Demonstrativ greife ich nach einem Vollkornkeks und stecke ihn mir in den Mund.

„Also, abgemacht?“

Anstelle einer Antwort nimmt er sich ebenfalls einen Keks.

„Ich hatte eine Vision … von uns“, beginne ich meine Ausführungen. „Ich wusste, dass der Alarm bald losgehen würde, und dass die Maschine, die uns in einem solchen Fall in Sicherheit fliegen sollte, unseren Tod bedeuten würde. Ich bin sofort zu dir gerannt, um dich zu wecken, aber …“

„Du warst nicht im Bett“, unterbricht Markov mich, Feststellung und Anklage zugleich, die arktisch blauen Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet.

„Nein, ich war nicht im Bett, doch …“

„Deshalb hattest du das Schlafmittel noch nicht eingenommen“, unterbricht er mich erneut. „Wo warst du? Als ich heimkam …“, lässt er den Satz in der Luft hängen.

„Wenn du es genau wissen willst: Ich hab mich ins Wohnzimmer geschlichen, um ein bisschen für mich zu ein“, gebe ich ungeniert zu. Als ob das jetzt wichtig wäre!

„Du hast nur getan, als würdest du schlafen“, versteht er, jedes Wort spitz wie eine Klinge. „Und vermutlich nicht zum erstem Mal …“

„Jedenfalls war mir schnell klar, dass irgendetwas faul ist und dich offenbar jemand absichtlich ruhig gestellt hat“, fahre ich unbeirrt fort. „Sobald mir klar war, dass dieser jemand nur jemand aus dem engeren Umfeld des Haupthauses sein konnte, war der ursprüngliche Notfallplan endgültig vom Tisch und ich wusste, ich muss uns beide irgendwie unbemerkt fortschaffen und …“

„Warum hast du Klaus oder einem der Zwölf nicht einfach von deiner Vision erzählt?“, will Markov wissen. „Ihr hättet gemeinsam einen anderen Fluchtplan entwickeln können!“

„Ich hatte Angst, sie würden mir nicht glauben. Außerdem … Außerdem könnte der Verräter jeder sein – ich konnte niemandem trauen!“

„Du hättest Klaus vertrauen sollen!“, bemerkt er barsch. „Ist dir überhaupt ansatzweise bewusst, was du mit deiner überstürzten Aktion angerichtet hast? Oder war dir das Wohnzimmer inzwischen einfach nicht mehr genug, um mal allein zu sein?“

„Wenn dem so wäre, hätte ich dich wohl kaum mitgenommen, oder?“, erwidere ich giftig. Warum kann dieser verbohrte Idiot nicht wenigstens einmal aufhören nach Gründen zu suchen, mich zu kritisieren? „Und was Klaus angeht: Du und ich wissen, dass er mir das nie geglaubt hätte! Ein Verräter aus den Reihen der eigenen, ach so verehrten Familie, die ihm doch über alles geht!“    

Darauf bleibt Markov stumm. Ich mopse mir gedankenverloren einen weiteren Keks.

„Eigentlich hatte ich das auch von dir erwartet. Dass du mir nicht glaubst, meine ich. Aber du …“ Ich sehe ihn dankbar an. „… du hast mir geglaubt. Ich weiß dass du nach Kräften versucht hast, mir zu helfen. Ich konnte es spüren. Warum hast du das getan?“

Markov zuckt lässig die Schultern.

„Man hat mich unter starke Drogen gesetzt. Ich hätte in der Situation wohl jedem vertraut“, versucht er, die Sache klein zu reden. „Ich war wie in einem Delirium, sonst hätte ich diesem Irrsinn mit Sicherheit einen Riegel vorgeschoben!“

„Und die Vision? Das Flugzeug wäre abgestürzt, Hundertprozent!“

„Wahrscheinlich hast du die Vision von jemand anderem für eine eigene gehalten“, hat Markov die Sache gleich abgefertigt. „Wir haben keine Visionen von uns selbst, das weißt du!“

„Kannst du beweisen, dass sie von jemand anderem war? Hast du sie auch gesehen?“

Ein resigniertes Ausatmen. „Nein.“

„Dann könnte ich uns mit meiner überstürzten Aktion ja vielleicht tatsächlich das Leben gerettet haben, schon mal daran gedacht?“

Ich sehe ihm an, dass er noch immer an seinem Standpunkt festhält und meine Entscheidung für ihn ein großer Fehler ist, aber er entschließt sich, das Thema vorerst auf sich beruhen zu lassen. So kommen wir nicht weiter.

„Du hast also entschieden, dass du niemandem trauen kannst – was dann?“

„Wie es der Zufall will, habe ich vor einigen Tagen in unserem Zimmer einen Geheimgang entdeckt, während ich abends ... naja, mir mal wieder eine Auszeit gegönnt habe. Ich wusste nicht, wo er hinführt, aber welche Alternative hätte ich gehabt? Ich bin also mit dir durch den `Tunnel` geflohen, der schließlich in eine alte Kanalisation gemündet hat. In einem verwilderten Waldstück gab es noch einen alten Zugang, durch den wir wieder ins Freie gelangt sind. Man hat schon nach uns gesucht, ich musste schnell handeln. Ich hab also das nächstbeste Auto geknackt und bin drauf losgefahren.“

Im Nachhinein klingt das Ganze mehr als abenteuerlich, und hätte ich es nicht selbst erlebt, hätte ich es wohl nicht glauben können. Oh Mann, wann ist mein Leben bloß zu einem James Bond Film mutiert?

„Du hast ein Auto geknackt?“

„Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen“, gebe ich leichthin zurück. „Was hätte ich sonst tun sollen? Ein Taxi rufen? Die hätten uns beide sofort in die Ausnüchterungszelle gesteckt, so wie wir ausgesehen haben!“

„Du hast ein Auto geknackt – einfach so?“, wiederholt er perplex.

„Ist gar nicht so schwer, wie man glaubt, zumindest bei etwas älteren Autos. Ein bisschen Fingerspitzengefühl, eine Haarnadel und voilà !“ Auf Markovs verstörten Gesichtsausdruck füge ich hinzu: „Ich kannte da mal so jemanden. Lange Geschichte … Jedenfalls fiel mir nur ein Ort ein, an dem wir sicheren Unterschlupf finden könnten: Die Wohnung einer Freundin in Frankfurt. Kat ist Model und ständig auf Reisen, sie ist praktisch nie zu Hause. Sie lässt allerdings öfter Freunde bei sich übernachten, wenn sie gerade in Frankfurt sind, daher kannte ich die Zahlenkombination vom Türschloss."

„Ich werde einen der Zwölf kontaktieren, damit man uns von hier wegholt …“, verkündet Markov fest, kaum dass ich geendet habe. Am liebsten hätte ich ihn frustriert durchgeschüttelt. Hat er mir überhaupt zugehört?

Warum musstest du ihn auch mitnehmen? Da siehst du, was du von deiner Großherzigkeit hast!, schelte ich mich selbst.

„Warte!“ Ich packe ihn flehentlich am Arm. „Gegenvorschlag: Warum versuchst du nicht, vorher mit einem der anderen Vergessenen Kontakt aufzunehmen?“

Ich habe da so eine Ahnung. Zugegeben, es ist weit hergeholt, aber die einzige Möglichkeit, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

„Was hast du zu verlieren?“

Es folgt eine angespannte Pause.

„Ich glaube einfach nicht, dass ich das tue ...“, lenkt er tatsächlich ein.

„Danke, danke, danke!“, kann ich meine Erleichterung nicht im Zaum halten.

Er schüttelt genervt meine Hände ab.

„Ich muss mich konzentrieren!“

Sofort lasse ich ihn los, lächle unschuldig und halte ihm meine Handflächen hin wie jemand, der sich ergibt.

„´tschuldige.“

Markov schließt die Augen. Ich warte gespannt, versuche an seiner Mimik abzulesen, was vor sich geht.

Anspannung. Dann … Verwirrung? Anstrengung? Und am Ende: Entsetzen. Seine Gesichtsfarbe wird zusehends blasser, seine Atmung geht unruhig.

Plötzlich reißt er die Augen wieder auf, und in ihnen steht die blanke Angst geschrieben.

„Was hast du gesehen?“

Keine Reaktion, nur panisches Hecheln.

„Julian, was hast du gesehen?“, versuche ich es erneut und umfasse sein Gesicht, sodass er gezwungen ist, mich anzusehen.

„Nichts“, kommt nach einer gefühlten Ewigkeit leise zurück, so leise, dass ich ihn beinahe nicht gehört hätte. „Ich habe nichts gesehen, wie damals, als ...“

… er mich verloren hat, beende ich seinen Satz in Gedanken.

„Nichts“, wiederholt er gespenstig ruhig, fast schon apathisch. „Gar nichts.“

„Vielleicht versuchst du es einfach bei jemand anderem?“, schlage ich bemüht gelassen vor. „Nur weil es bei einem nicht geklappt hat...“

„Bei niemandem“, korrigiert er. Seine Augen scheinen durch mich hindurchzusehen, als sei er noch nicht ganz ins Hier und Jetzt zurückgekehrt. „Es hat bei niemandem geklappt, verstehst du? Bei niemandem … bei niemandem ...“

Wie eine kaputte Schaltplatte murmelt er immer wieder das Gleiche vor sich hin.

„... nichts … bei niemandem … nichts … gar nichts ...“

Er steht völlig unter Schock. Von dem sonst so reservierten Markov, der immer alles im Griff zu haben scheint, ist nichts mehr zu sehen. Vor mir sitzt ein zutiefst verstörter Mann, ein hilfloser Mann. Der Anblick ernüchtert mich, drückt sich schmerzhaft auf mein Herz. Ich habe mir zwar geschworen, ihn von seinem hohen Ross runter zu holen, aber nie hätte ich freiwillig dafür einen solch hohen Preis gezahlt, ihm solchen Schmerz zugefügt.

Zaghaft streichle ihm über den Rücken.

„Es … es ist alles okay! Ich bin bei dir, du bist nicht allein! Wir stehen das gemeinsam durch!“

Starr verharrt er unter meiner Berührung, aber zumindest hört er auf, gruselig vor sich hin zu murmeln.

„Du bist nicht allein ...“

 

 

Wie ist das möglich? Wie kann so etwas möglich sein? Ein Albtraum … Das Ganze kann nur ein furchtbarer Albtraum sein! Er kann keinen der Zwölf anderen erreichen, weder die Männer noch die Frauen, als seien sie wie vom Erdboden verschluckt. Als seien sie … Nein, das kann einfach nicht sein! Er weigert sich, ihren Tod auch nur in Erwägung zu ziehen! Es muss an den Drogen liegen – das ist die einzige, vernünftige Erklärung! Der Fehler liegt bei ihm, seine Kräfte mussten sich erst erholen! Sie funktionieren offenbar noch nicht richtig! Denn wenn sie es doch tun … Nein, einfach undenkbar!

Am Rande bekommt er mit wie Hannah versucht, beruhigend auf ihn einzureden, ihn berührt, aber er kann einfach nicht die Kraft aufbringen, etwas zu erwidern. Was, wenn sie tatsächlich Recht behält? Wenn der Täter jemand aus der Familie ist, jemand, den er kennt? Jemand, dem er vertraut hat? Wenn sie ihm tatsächlich das Leben gerettet hat? Das Schlafmittel … wie hätte ein Außenstehender etwas in das Schlafmittel mischen können? Es muss irgendeinen Weg geben, es muss einfach …

Er merkt es sofort, als Hannah verstummt und die Arme sinken lässt. Was hat sie eben gesagt? Er versucht, sich an ihre letzten Worte zu erinnern, aber die Laute wollen nicht zurückkommen. Sie schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln, streichelt ihm noch einmal ermutigend über die Schulter und verlässt das Zimmer.

Wäre ihm nicht sein Stolz im Weg gestanden, hätte er sie aufgehalten, noch bevor sie von seiner Seite hätte weichen können. Hätte ihr gesagt, dass er sich im Moment nichts sehnlicher wünschte, als noch etwas länger ihre beruhigende Stimme zu hören, ihre sanften Hände auf sich zu spüren. Hätte ihr gestanden, wie sehr er sie brauchte, jetzt, da seine Welt in Scherben liegt, da alles, an was er je geglaubt hat, keine Bedeutung mehr zu haben scheint. Stattdessen verharrt er auf der Stelle wie eine Statue, den Blick gedankenverloren ins Nirgendwo gerichtet, während die Qualen ihn von innen zerfressen. Ja, wäre da nicht diese lästige Sache mit dem Stolz …

Erst, als die Tür sich irgendwann wieder öffnet – waren Minuten vergangen, seit Hannah das Zimmer verlassen hatte? Stunden? – löst er sich aus seiner Starre.

Hannah.

„Mir ist eine Idee gekommen, wie wir mit dem Haupthaus sicher Kontakt aufnehmen könnten!“, verkündet sie fröhlich, klettert neben ihn aufs Bett und hält ihm breit grinsend einen Laptop hin. „Genug Trübsal geblasen! Lust auf eine Runde World of Warcroft?“

 

 

Markov sieht mich an, als wären mir gerade zwei Köpfe gewachsen, er hat mir also zugehört. Ein guter Anfang.

„Das ist ein MMORPG, ein Multiplayer Rollenspiel, das man Online zocken kann“, erkläre ich vorsorglich.

Ich platziere den Laptop auf meinem Oberschenkel so, dass er eine gute Sicht hat.

„Und das sind wir.“

Ich deute auf den Bildschirm, aus dem uns eine freizügig gekleidete Elbenfrau anzüglich entgegen lächelt.

„Ich hatte nicht viel Zeit für das Charakterdesign, aber dafür ist sie …“

Krach.

Ich fahre erschrocken zusammen. Wie aus dem Nichts ist die Glühbirne der Nachttischlampe neben mir zerplatzt. Ein Blick auf Markovs vollkommen unbewegte, wütende Miene verrät mir, woher der Wind weht. Zumindest brütet er nicht mehr abwesend vor sich hin, wobei ich mir nicht sicher bin, ob explodierendes Glas die bessere Alternative ist ...  

„Wenn das ein Scherz sein soll – und das hoffe ich für dich!, ist es kein besonders guter!“, zischt er, die Stimme rau vor unterdrücktem Zorn.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein ernsthaftes Aggressionsproblem hast? Ich hab´s nur gut gemeint und wollte dich auf andere Gedanken bringen – aber den Fehler mach ich nicht noch einmal, verlass dich drauf!“, schnauze ich nicht minder zornig zurück. „Ganz davon abgesehen, dass ich es ernst gemeint hab. Hättest du mich ausreden lassen, wüsstest du das!“

„Fein, und wie soll uns dieses MMORPG deiner Meinung nach weiterhelfen?“

„Es stimmte nicht ganz, dass ich niemandem im Haupthaus trauen kann“, gestehe ich. „Es gibt eine Person, von der ich mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass sie nichts mit dem Anschlag auf uns zu tun hatte: Andre.“

Andre? Warum ausgerechnet er?“

„Er wusste als einziger von meinen nächtlichen Auszeiten und dem Tunnel. Wir verstehen uns ganz gut und unterhalten uns während des Trainings immer und…“ …warum zum Teufel habe ich das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen, mich mit einem anderen Mann nett unterhalten zu haben? Außerdem ist Andre mein Trainer und obendrein verheiratet! Also weiter im Text: „Jedenfalls hätte er wissen müssen, dass die Drogen eventuell nur bei dir Wirkung zeigen würden.“

„Du willst also versuchen, über dieses Spiel mit Andre Kontakt aufzunehmen?“, schlussfolgert er.

Ich nicke zustimmend.

„Was macht dich so sicher, dass er auftauchen wird?“

„Es ist bloß eine Vermutung. Die Hoffnung, dass er dieselben Schlüsse gezogen hat, wie wir.“ Ich zucke entschuldigend die Achseln. „Ich habe nie behauptet, der Plan sei perfekt, aber zumindest ist es ein Plan.“

„Hast du schon nachgesehen, ob sein Spieler on ist?“

Auf meine überraschte Miene fügt er schnaubend hinzu: „Computerspiele sind ein wichtiger Teil unserer heutigen Gesellschaft; gewisse Grundkenntnisse auf diesem Gebiet zu besitze, ist daher unabdingbar.“

War klar, dass da wieder so was kommen muss. Das ist so typisch für diesen berechnenden Narzissten!

„Er ist zurzeit nicht in unserem Areal. Zumindest noch nicht“, muss ich zugeben.

Kevaella Stormsword“, liest er beinahe gequält den Namen unseres Avatars und macht dabei ein Gesicht, als habe er in eine saure Zitrone gebissen. „Warum hast du diesen lächerlichen Namen gewählt?“

„Ist die weibliche Form von Andres Spielernamen.“

Ein abfälliges Grunzen. Kein Fantasy-Fan also, warum verwundert mich das bloß nicht?

„Dann bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als zu warten“, erkennt er missmutig an.

„Sieht ganz so aus …“

 

 

„Bist du gegen irgendwelche Nahrungsmittel allergisch?“, fragt Hannah nach einigen Minuten in das erwartungsvolle Schweigen hinein. „Es lässt sich immerhin noch nicht absehen, wie lange dieses Situation anhält, und wenn ich für uns koche, sollte ich das wissen, oder?“, schiebt sie rechtfertigend nach.

„Bin ich nicht“, ist seine knappe Erwiderung. Wenn er etwas verabscheut, dann ist es Smalltalk. Man sollte sagen, was man zu sagen hat – nicht mehr und nicht weniger. Warum auch? Zeitverschwendung.

„Gut.“

Wieder Schweigen.

„Gibt es etwas, das du nicht so gerne isst?“

„Ich esse, weil mein Körper es braucht. Ich habe keine Präferenzen.“

„Ich mag keine Pilze, die schmecken so eklig!“, beklagt er sich bei seiner Kinderfrau und beäugt traurig sein Mittagessen. Pilzrisotto.

„Pilze enthalten viele essentielle Aminosäuren, Vitamine und Mineralstoffe, die gut für euren Körper sind, junger Herr“, lautet die pragmatische Erwiderung der älteren Dame, die ihn mit ihrem penibel aufgesteckten Dutt und der Hakennase immer ein wenig an eine Hexe erinnert. „Ihr seid ein Vergessener, eure Gesundheit ist euer höchstes Gut! Ihr könnt es euch nicht leisten, wählerisch bei diesen Dingen zu sein, darüber haben wir doch schon gesprochen!“

„Ich mag Pilze trotzdem nicht!“

Bockig schiebt er den Teller von sich und verschränkt die Ärmchen vor der Brust.

„Wie Ihr meint.“

Die Kinderfrau klatscht zweimal laut in die Hände und das Essen wird abgeräumt.

„Dann geht es heute eben ohne Abendessen ins Bett.“

„Aber ich habe Hunger!“

„Das hättet Ihr euch überlegen sollen, bevor Ihr euch so unmöglich aufgeführt habt!“

Unbarmherzig zieht sie seinen Stuhl zurück, langt grob nach seinem zierlichen Händchen und schleift ihn hinter sich aus dem Speisesaal.

„Nein, bitte, ich hab doch Hunger! Bitte!“

Er versucht verzweifelt, sich gegen die übermächtig erscheinende Erwachsene durchzusetzen.

Klatsch.

„Wollt Ihr euch wohl benehmen?

Konsterniert hält er sich mit der freien Hand die schmerzende Wange.

„Kommt jetzt, es ist Zeit für euren Musikunterricht …“

„Da wir das Thema Essen nun ausreichend erörtert haben: Könnten wir uns nun wieder auf das Wesentliche konzentrieren?“, löst er sich von der Erinnerung.  

Schweigen.

Dieses Mal allerdings sieht Hannah nicht auf den Bildschirm auf ihrem Schoß, sondern sie sieht unentwegt ihn an.

„Wenn du nicht willst, dass noch eine Lampe explodiert, hör auf mit diesem Unsinn!“, mahnt er sie, als er es schließlich nicht mehr aushält. Diese Frau ist zum aus der Haut fahren!

Anstatt auf ihn zu hören, streckt sie ihm ihren Arm entgegen und legt eine Hand auf seine Stirn, während sie die andere auf ihre eigene legt. Einen Moment lang ist er wie erstarrt. Ihre Berührung ist zart wie eine Feder und ihre Haut so weich ... so unglaublich weich …

„Du hast leichtes Fieber“, stellt sie fest, Besorgnis in ihrer Stimme.

Wütend greift er nach ihrem Handgelenk.

„Fass mich nie wieder ohne meine Erlaubnis an, verstanden?“, funkelt er sie zornig an.

Ohne ein Widerwort entzieht sie ihm ihre Hand und reibt sich gedankenverloren ihr schmerzendes Gelenk, während ihre satten, braunen Augen seinem durchdringenden Blick tapfer standhalten. Was mag in diesem sturen Kopf nur vor sich gehen?

Da ertönt ein Pling aus dem Bildschirm.

 

Kevaellor Stormsword: „Hannah?“

 

 

Kapitel 16

Er ist gekommen. Andre ist tatsächlich gekommen.

 

Kevaella Stormsword: Andre?, tippe ich mit vor Aufregung zitternden Fingern.

Kevaellor Stormsword: Ja, ich bin´s. Geht es dir gut? Ist Julian bei dir?

Kevaella Stormsword: Uns geht´s gut.

Kevaellor Stormsword: Schreib mir auf keinen Fall, wo ihr seid! Es kann gut möglich sein, dass mein Computer überwacht wird. Deshalb haben wir auch nicht viel Zeit … Julian und du seid in großer Gefahr! Letzte Nacht wurde in sämtlichen Haupthäusern Alarm ausgelöst – und kein einziges Paar hat es in ihr sicheres Haus geschafft! Die Flugzeuge hat man am frühen Morgen ausgebrannt an irgendwelchen abgelegenen Orten gefunden, mitsamt den Leichen der Bodyguards. Die Paare dagegen sind einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Keine Leichen, keine Lebenszeichen, nichts. Auch die jeweiligen Zwölf schaffen es nicht, Kontakt zu ihnen herzustellen.

 

Ausdruckslos entzieht Markov mir den Laptop. All meine Befürchtungen sind nun traurige Gewissheit.

    

Kevaella Stormsword: Gibt es eine Vermutung, wer dahinter steckt?, schreibt er an meiner statt.

Kevaellor Stormsword: Sicher ist nur, dass es sich um eine Tätergruppe handelt, und das sie verdächtig gut über die Organisationsstrukturen der Haupthäuser informiert sein muss. Kommt also unter keinen Umständen zurück, solange wir nicht mehr wissen! Jeder könnte in den Anschlag verwickelt gewesen sein, ihr würdet ins offene Messer laufen! Taucht eine Zeit lang unter. Habt ihr eine Bleibe?

Kevaella Stormsword: Vorerst. Aber wir brauchen Geld.

Kevaellor Stormsword: Ihr könnt mein Konto benutzen. Julian weiß die Zugangsdaten.

 

Ich werfe Markov einen fragenden Blick zu.

„Fotografisches Gedächtnis, du erinnerst dich? Falls ich mich einmal ausweisen muss, wurden mir regelmäßig bestimmte persönliche Daten von einigen Männern aus meinen näheren Umfeld zugänglich gemacht: Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Kontodaten und so weiter“, erklärt er nüchtern.

Wenn man wie ich die meiste Zeit im Haupthaus verbrachte, wo die Probleme der „Außenwelt“ von einem fern gehalten werden, kann man leicht die ganze Tragweite des Fluches aus den Augen verlieren. Ich hatte bisher so viel mit meinem physischen und psychischen Training um die Ohren, dass ich an solche banalen Dinge des Alltags gar nicht mehr gedacht habe.

 

Kevaella Stormsword: Was denkt Klaus über die Sache?

Kevaellor Stormsword: Er will das Offensichtliche nicht wahr haben, wie viele hier, sucht verzweifelt nach igendwelchen abstrusen alternativen Theorien. Ich kann es ja selbst kaum fassen, aber wie man es auch dreht und wendet: Niemand von außerhalb hätte so etwas planen und durchführen können! Klaus wird also bald nicht mehr drum herum kommen, die eigenen Reihen ins Visier zu nehmen. Andererseits ist sein Zögern verständlich. In über zweitausend Jahren Familiengeschichte hat es nie einen vergleichbaren Fall gegeben!  

Kevaella Stormsword: Wie können wir uns wieder mit dir in Verbindung setzen?

Kevaellor Stormsword: Am Sichersten wird sein, ihr besorgt euch ein Prepaid-Handy. Wir machen jetzt besser Schluss, bevor die IT-Leute im Haus Verdacht schöpfen … Ich bin froh das es euch gut geht. Passt auf euch auf!

 

Andres Elf macht auf dem Absatz kehrt und läuft davon. Markov logt unseren Avatar aus und reicht mir den Laptop. Auch wenn er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, sehe ich ihm an, wie sehr in Andres Worte mitgenommen haben.

„Der Saft ist leer“, sagt er schließlich, ohne mich anzusehen.

Verwirrt von dem unerwarteten Themenwechsel brauche ich einen Moment bis ich begreife, dass er das Glas auf dem Nachttisch meint.

„Vermutlich, weil du ihn all getrunken hast“, gebe ich unbeeindruckt zurück. Im Haupthaus mochte man ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen haben, aber das kann er sich bei mir abschminken. Ich spiele hier bestimmt nicht die Dienstmagd für diesen stoischen Esel. „Auch ein `Bitte` hat übrigens noch niemanden umgebracht“, schiebe ich süßlich lächelnd nach.

Gelassen, beinahe gelangweilt wendet er mir den Kopf zu, doch in den blauen tiefen seiner Augen funkelt es bedrohlich.

„Man sollte kein Spiel beginnen, das man nicht gewinnen kann“, warnt er mich.

„Du kannst von mir aus so viele Reden schwingen, wie du willst, aber das macht das Glas auch nicht voller.“

Ehe ich ihn daran hindern kann, stemmt er sich hoch, schwingt die Beine über die Bettkante und steht schwankend auf. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig zu ihm, um zu verhindern, dass er an diesem Tag zum zweiten Mal den Boden küsst. Sobald ich ihn zurück auf das Bett bugsiert habe, verpasse ich ihm wütend einen Faustschlag auf die Brust.

„Du bist so ein Volldidiot!“

Schweiß läuft seine Stirn hinab, die Augen hält er geschlossen. Bestens – klar, von wegen! Hier ist gar nichts bestens!

„Fein, du hast gewonnen! Ich geh dein blödes Glas auffüllen, bevor du dich noch selbst umbringst!“

Als ich zurück ins Zimmer komme, hat er sich auf die Seite gerollt und sich übergeben. Sein Gesicht ist aschfahl, seine Arme verzweifelt um seinen Bauch geschlungen.

Wieder und wieder krampft er sich zusammen, würgt und erbricht sich. Ich kann nicht viel mehr tun, als ihn zu stützen, Tücher zum Säubern zu bringen und ihm gut zuzureden, bis er eine gefühlte Ewigkeit später endlich erschöpft in sich zusammen sackt. Obwohl er verzweifelt versucht, dagegen anzukämpfen, entwischen ihm einige Tränen.

Angst. Schmerz. Einsamkeit. Schwäche. Hilflosigkeit.

Für den Bruchteil einer Sekunde empfange ich seine Gefühle so klar, als seien es meine eigenen. All die Gefühle, die er ansonsten stets so mühsam unterdrückt, verborgen hält unter einer Schicht kühler Unnahbarkeit.

Da Markov es trotz allem sicherlich nicht gutheißen würde, wenn ich ihn umarmte, tue ich das einzige, was für sein überdimensionales Ego wohl noch im Rahmen des Erträglichen sein dürfte, um ihm Trost zu spenden: Ich ergreife seine Hand und drücke mitfühlend zu. Als ich sie zurückziehen will, drückt er schwach zurück.

 

 

Warum?

Seit Hannah wieder in sein Leben getreten ist, kommt es ihm vor, als stelle er sich diese Frage am laufenden Band. Warum musste sie ihn verlassen, nur um Jahre später als weitere Last auf seinen Schultern zurückzukehren? Warum war ihr eine solch glückliche Kindheit in der „normalen“ Welt vergönnt gewesen und ihm nicht? Warum schlägt sein Herz immer unwillkürlich schneller, wenn er sie nur ansieht, obwohl er sie doch verachtet? Warum fühlt er sich jedes Mal so lebendig, wenn er mit ihr gestritten hat? Warum kann er sich mittlerweile schon gar nicht mehr vorstellen, diese nervige Frau nicht mehr an seiner Seite zu haben? Und warum … Warum um alles in der Welt sorgt sie sich um ihn, der stets nur Grausamkeit für sie übrig hatte, rettete ihm sogar das Leben?

Während er sich gestern nach seinem zweiten missglückten Aufstehversuch mehrmals übergeben hatte – vermutlich Nebenwirkungen des starken Schlafmittels, war Hannah keine Sekunde von seiner Seite gewichen. Geduldig hatte sie ihm geholfen, sich zu säubern, und immer sanft seinen Rücken gestreichelt, wenn ein neuer Anfall ihn geschüttelt hatte. Am Abend war dann das starke Fieber gekommen, eine Erkältung, die er sich bei ihrer Flucht eingefangen haben musste. Ohne auch nur an Schlaf zu denken hatte Hannah unermüdlich darum gekämpft, das Fieber zu senken, hatte ihm regelmäßig ein kühles Tuch auf die Stirn gelegt, ihm Wadenwickel gemacht, dafür gesorgt, dass er etwas trank, bis sie sich vergewissert hatte, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Erst am frühen Morgen ist sie schließlich völlig erschöpft an seinem Krankenbett eingeschlafen.

Da liegt sie nun, hat die Hand weiterhin tröstlich um seine geschlungen, als könne selbst der Schlaf sie nicht daran hindern, ihrem Patienten beizustehen. Sie sitzt noch immer auf dem Stuhl, den sie sich herbeigeschafft hat, ruht allerdings mit dem Oberkörper auf der Matratze, bei ihm. Ihre langen dunklen Haare sind wie ein Fächer um sie ausgebreitet. Wild und ungezähmt schlängeln sie sich in alle Richtungen. Einige Strähnen reichen bis über seinen Arm. Er nimmt eine davon und lässt sie zwischen seinen Fingern hindurch gleiten.

Warum machst du es mir so schwer, dich zu hassen?

Die schwarze Masse bewegt sich. Verschlafen hebt Hannah den Kopf, braucht einige Sekunden, um sich zu orientieren. Sobald sie sieht, dass er wach ist und sie beobachtet, läuft sie rot an und setzt sich ruckartig auf.

„Guten Morgen“, wünscht sie ihm verlegen und kämmt rasch mit den Fingern ihre wilde Mähne zu Recht.

Es muss am Fieber liegen, überlegt er, dass diese simple Geste ein warmes Prickeln in seinem Bauch auslöst. Was ist denn schon sexy an verknoteten, ungepflegten Haaren? Isabella war immer vor ihm aufgestanden, um sich für ihn vorzeigbar zu machen und ihm einen solchen Anblick zu ersparen. Sie hätte es auch nie gewagt, einen einfachen Pferdeschwanz oder lässige Hochsteckfrisuren zu tragen, wie Hannah es zu tun pflegt, oder gar die Haare offen zu lassen. Ihr Aussehen war stets tadellos gewesen … und dennoch hatte er bei ihr nicht einmal ein solches Prickeln verspürt.

„Du bist noch immer ziemlich warm, aber deine Haut ist nicht mehr so furchtbar blass wie gestern. Auch die Platzwunde scheint gut zu verheilen“, stellt sie fest, nachdem sie provisorisch mit der Hand seine Temperatur gemessen hat.

„Ich geh schnell neues Wasser und ein frisches Pflaster holen.“

Als sie mit einer Schüssel kühlem Wasser aus dem Bad zurückkommt, legt sie ihm einen frischen nassen Waschlappen auf die Stirn und tauscht das Pflaster an seiner Schläfe aus.

„Hast du Hunger? Soll ich dir was zum Frühstück machen? Du hast gestern immerhin den ganzen Tag nichts herunterbekommen … Ah, warte, ich weiß! Ich glaube, ich hab im Schrank Zwieback gesehen. Ich mach dir einen guten Tee dazu, dass sollte dein Magen vertragen!“

Schon ist sie mit einem breiten Lächeln aus dem Zimmer gehuscht. Hannah lächelt viel, fällt ihm auf. Er ist noch nie zuvor einem Menschen begegnet, der so unerträglich fiel lächelt. So unbeschwert lächelt. Ein Überbleibsel aus ihrer Zeit in der „normalen“ Welt, vermutlich. Wie lange würde sie es sich wohl noch bewahren können?

Fünf Minuten später steht ein Tablett mit dampfendem Tee und einem Teller voller Zwieback auf dem Nachttisch. Auch sich selbst hat Hannah einen Tee gemacht.

Langsam stemmt er sich in eine aufrechtere Position. Dennoch wird ihm etwas schwindelig, und er muss für einige Sekunden die Augen schließen.

„Wie fühlst du dich? – Und ich schwöre wenn du blendend sagst, bringe ich Lampen zum Platzen!“

„Als ob“, kann er nicht anders, als sie zu necken.

Hannah verdreht die Augen und er meint, sie „elender Besserwisser“ nuscheln zu hören.

„Das Schlimmste ist überstanden. Noch ein Tag Bettruhe und ich bin wieder fit“, schiebt er hinterher.

„Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche!“, gibt Hannah skeptisch zurück. „Du hast noch immer Fieber und wer weiß, wie viel von diesem ominösen Schlafmittel noch in deinem Körper steckt“, gibt sie zudem besorgt zu bedenken. „Ich kann mir vorstellen wie frustrierend es für dich sein muss, untätig hier rumzuliegen, aber das wichtigste ist jetzt, dass du wieder vollständig gesund wirst, meinst du nicht?“

„Das ist nicht meine erste Erkältung, und ich kenne meinen Körper. Morgen bin ich wieder fit.“

„Es ist, als würde man gegen eine Wand reden!“ Frustriert wirft Hannah die Hände in die Luft. „Tu, was du nicht lassen kannst, aber ich kratze dich bestimmt kein drittes Mal vom Boden auf!“

 

 

„Aufstehen!“, dringt eine bekannte, männliche Stimme in meinen Schlaf ein.

Im nächsten Moment sitze ich kerzengerade im Bett, ein Reflex, den ich mir über die vergangenen Wochen angeeignet habe.

„Ich bin wach!“, rufe ich noch halb im Schlaf, die mollig warme Decke beschützerisch an mich gedrückt, damit man sie mir nicht entreißen kann.

„Gut, dann zieh das an und mach uns Frühstück. Wir müssen bald los.“

Ein Kleiderbündel wird auf meinen Schoß geworfen.

Müde reibe ich mir die Augen und erkenne, dass ich nicht auf einem Bett, sondern auf einem Sofa sitze. Stimmt: die Flucht, die Wohnung … und das Fieber! Schlagartig kommt alles zurück.

„Hey, warte!“

Markov ist bereits im Bad, als ich aufhole.

„Was …?“, setzt er an.

Ich fasse an seine Stirn – und kann es kaum glauben: Das Fieber ist abgeklungen! Auch sein Gesicht ist kein Vergleich mehr zum Vortag. Die Haut sieht rosig und gesund aus. Es ist, als sei nie etwas gewesen.

Genervt schubst er mich unsanft von sich, sodass ich fast rücklings in die Badewanne geplumpst wäre, hätte ich mich nicht rechtzeitig am Wannenrand abgefangen.

„Frühstück. Jetzt!“, befiehlt et barsch.

Offensichtlich ist er über den Berg und zu seinem charmanten alten Ich zurückgekehrt.

„Träum. Weiter!“, gebe ich wütend zurück und knalle die Tür hinter mir zu. Dieser … Dieser … Argh!

Ich brüte gerade wütend über meinem zweiten Kaffee, da kommt Markov zurück. Beinahe hätte ich mich verschluckt, als ich ihn sehe. So ungern ich es auch zugebe: Er sieht verdammt heiß aus in dem schlichten, blau rot karierten Hemd, das er gewählt hat. Dazu die lässige Jeans, die Sneakers und die nachlässig nach hinten gekämmten Haare. Er sieht fast menschlich aus! Typisch Kat, keine Anzüge und dergleichen für ihren Freund im Schrank zu haben, schmunzle ich.

„Warum bist du noch nicht angezogen?“

„Ist dir eigentlich klar, dass bisher in jedem deiner Sätze ein Befehl mitgeschwungen hat? Guten Morgen, Hannah! Danke, dass du mir das Leben gerettet und mich gesund gepflegt hast, Hannah! Lass uns zusammen frühstücken, Hannah! - ernsthaft, es kann doch nicht so schwer sein, einen netten, normalen Satz zu formulieren, oder?“

Ein stechender Schmerz fährt durch meinen Kopf. Die Kaffeetasse entgleitet meinen Händen und zerschellt klirrend auf den Fließen. Ich werde grob an den Oberarmen gepackt, vom Stuhl gezerrt und mit dem Rücken an den Kühlschrank gepresst.

Ich habe nie darum gebeten, von dir gerettet zu werden!“, zischt Markov und starrt zornig auf mich herab. „Ich wünschte, du wärst damals mit deinen Eltern verbrannt! Deine bloße Anwesenheit widert mich an!“

Er drückt mich mit seinem Oberkörper noch enger an den Kühlschrank, gräbt seine Finger schmerzlich in mein Fleisch.

„Also ja, es fällt mir verdammt schwer, mich zivilisiert mit dir zu unterhalten, denn am liebsten würde ich dir eigenhändig den Hals umdrehen!“

Warum tust du es dann nicht einfach?“

Noch während mein Selbsterhaltungstrieb entsetzt auf die Barrikaden steigt und an meinen Menschenverstand appelliert, Öl ins Feuer zu gießen sei in diesem Fall nicht unbedingt die beste Idee, purzeln die Worte einfach so weiter aus mir heraus.

„Wir sind allein. Du könntest behaupten, es sei ein Unfall gewesen...“

Mein Selbsterhaltungstrieb steht mittlerweile kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

„Glaub mir, nichts würde ich im Moment lieber tun, und wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte“, er beugt sich noch weiter zu mir herunter, bis sein Mund beinahe mein Ohr berührt, „würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!“

Abrupt lässt er von mir ab. Zittrig sinke ich in die Knie, nun, da mich nichts mehr aufrecht hält.

Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!

Tränen treten in meine Augen, lassen meine Sicht für den Bruchteil einer Sekunde verschwimmen, ehe sie sich befreien. Hätte er mir ein Messer ins Herz gerammt, wäre der Schmerz vermutlich derselbe gewesen.

„Aber bedauerlicherweise ist das nicht der Fall. Ob es mir passt oder nicht: Ich bin auf deine Fähigkeiten angewiesen! Also tu uns beiden den Gefallen und mach es nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.“

„Was … was habe ich getan, dass du mich so sehr hasst?“

Über das strahlende eisige Blau seiner Augen legt sich ein dunkler Schatten. Verächtlich schaut er auf mich herab.

„Du hast mich verraten.“

Verraten? Wann bitte …?“, setzte ich verwirrt an, kann den Satz allerdings nicht zu Ende bringen, da Markov sich mitten in meinen Worten von mir abwendet. Er holt das Kleiderbündel, das ich achtlos auf dem Wohnzimmertisch zurückgelassen hatte, und wirft es mir in den Schoß.

„Anziehen. Wir gehen in fünf Minuten los.“

„Nein.“

„Wie bitte?“

Nein“, wiederhole ich stur, wische mir die letzten Tränen aus den Augen und rapple mich zu meiner vollen Größe auf. „Ich werde uns beiden jetzt den Gefallen tun und von hier verschwinden!“

Die Lichter an der Decke flackern für einen kurzen Augenblick bedrohlich auf.

„Du magst dich, was deine Mordgelüste angeht, vielleicht beherrschen können aber ich fürchte meine Selbstbeherrschung ist gerade dabei, sich zu verabschieden.“

Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!

In einer Symphonie aus zerberstendem Glas splittern auf einen Schlag sämtliche in die Decke eingelassene Glühbirnen. Lediglich das düstere Morgenrot erleuchtet noch das Zimmer. Einen endlos wirkenden Moment lang sehen wir uns in die Augen, kaltes, arrogantes Blau trifft auf verletztes, wütendes Braun. Dann jage ich, ohne ein weiteres Wort, an Markov vorbei aus der Wohnung. Die Tatsache, dass er mich nicht aufhält, ist der Beweis dafür, dass es dieses Mal tatsächlich ich war, die das Licht zum erloschen gebracht hat.

 

Kapitel 17

Mich im Pyjama der Öffentlichkeit zu präsentieren, mutiert allmählich zu einem Hobby von mir, schießt es mir düster durch den Kopf. Zumindest hab ich mir geistesgegenwärtig ein Paar Sneakers geschnappt, ehe ich aus der Tür bin – ich lerne langsam dazu!

Erleichtert stelle ich fest, dass das Auto, das ich `geliehen` habe, noch immer friedlich dort parkt, wo ich es zwei Nächte zuvor abgestellt habe. Auch der Benzinstand ist auf meiner Seite.

Zeit, dich nach Hause zu bringen, mein Freund.

Beim Einstellen der Spiegel fällt mir auf, dass ich eine blutige Schramme auf der Wange habe. Gedankenverloren fahre ich mit der Hand über die Wunde. Der Glasregen.

Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!

Es war nie zu übersehen gewesen, dass Markov mich nicht besonders gut leiden konnte. Dennoch hatte er mich zu sich geholt, mich geheiratet, mich gewarnt, nicht von seiner Seite zu weichen. Das kleine, romantisch veranlagte Mädchen in mir, das noch an ein „Glücklich bis an ihr Lebensende“ glaubt, hatte die hässliche Realität einfach nicht wahr haben wollen.

Du wirst ihm nie entkommen, egal, wie schnell oder weit du auch rennst. Er ist dein Schicksal.

Die Sache hat nur einen Haken: Ich bin nicht mehr die Hannah, die als Markovs Seelengefährtin geboren wurde, und werde es nie wieder sein. Markov war sich dieser Tatsache von Anfang an nur zu bewusst gewesen.

Du hast mich verraten.

Ich bin eine Hannah, die über zwanzig Jahre ein normales Leben geführt hat, die lachen kann, spontan und optimistisch sein, träumen – und darüber wird er nie hinwegkommen können. Er will es erst gar nicht versuchen. Der Hass ist inzwischen zu einem Teil seines Lebens geworden, aber ich werde nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

 

 

Erschöpft hält sich Julian den Kopf. Das Fieber ist wieder da. Der Tag hat seinem geschwächten Körper stärker zugesetzt, als er erwartet hat. Er wirft einen frustrierten Blick auf die Küchenuhr. Es ist noch nicht einmal neun. Wäre er jedoch länger geblieben, hätte sein Kreislauf erneut versagt.

Das Licht der Abendsonne bricht sich in dem Meer aus Glasscherben, das noch immer den Boden bedeckt. Hannah. Seit ihrem überstürzten Abgang am Morgen hat er nichts mehr von ihr gehört. Sich blindlings in die Arbeit zu stürzen hatte geholfen, die Gedanken an sie zu verdrängen, die Sorgen, für die er sich so sehr verachtet. Jetzt drängen sie sich dafür umso mehr mit aller Macht in den Vordergrund.

Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Wenn ihr unbekannter Feind sie entdeckt hat?

Er muss sich einfach vergewissern, dass es ihr gut geht!

Wütend schlägt er mit der Faust auf die Kücheninsel.

Ich solle euch ausrichten, dass ich … dass dies ein Geschenk sei, und ihr … ihr tätet gut daran, dieses Geschenk wertzuschätzen“, erinnert er sich an die Worte einer der ersten Seelengefährtinnen. Ein Geschenk – von wegen! Diese elende Frau ist schlimmer, als jeder Fluch der Welt es je sein könnte!

Behutsam heftet er sich mental an ihre Fersen.

 

Ein älterer Mann in abgetragener Kleidung – allem Anschein nach ein Obdachloser, der an einem Flussufer entlang schlendert. Ein Fiepen, das aus Richtung Wasser kommt, erregt kurz seine Aufmerksamkeit, aber er hält es für Einbildung und wendet sich ab.

Ein gepflegter Mann im besten Alter, der in einer kleinen Küche Hundefutter zubereitet.

 

Offenbar eine Vision, um die Hannah sich gerade kümmert. Möglichst unauffällig taucht er in ihre unmittelbaren Gedanken ein und hält sich dort im Hintergrund, während Hannah das Schicksal des Mannes zum Besseren wendet. Sie macht ihn auf den Welpen in Not aufmerksam, den jemand achtlos in einem Karton in die Uferböschung geworfen hat, redet ihm gut zu, das Tier zu behalten – und hat Erfolg. Der Mann entschließt sich, das Tier zu sich zu nehmen.    

„Aber was, wenn ich etwas falsch mache? Ich hatte noch nie einen Hund …“, äußert sich der Mann besorgt.

Hannah krault dem Welpen, der nun im warmen Arm seines neuen Herrchens friedlich vor sich hin schlummert, zärtlich übers Fell.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden das bestimmt super machen! Schauen Sie, der Kleine hat längst sein Herz an Sie verloren. Schenken Sie ihm ein Stück von ihrem und alles wird sich fügen!“

Der Mann sieht den Welpen liebevoll an.

„Wie könnte ich diesen winzigen Stöpsel nicht in mein Herz schließen?“, gibt er lächelnd zurück. „Oh, jetzt haben wir uns bei all der Aufregung nicht einmal vorgestellt! Ich bin Jakob.“

Er streckt Hannah seine Hand entgegen.  

„Hannah“, erwidert sie die Geste.

Hannah hat tatsächlich die richtigen Schlüsse aus der Vision gezogen, hat sogar den Ort der Vision ausfindig gemacht, und das ganz alleine – etwas, dass er ihr zugegebener Maßen nie zugetraut hätte! Er wäre allerdings an dieser Stelle längst auf dem Weg zu seinem nächsten Auftrag gewesen, anstatt sich an solch unnützen Lappalien wie Smalltalk mit einem Obdachlosen aufzuhalten. Der Mann würde sie doch ohnehin bald wieder vergessen haben, warum also Zeit in ein Gespräch investieren, das einen nicht weiter bringt? Dennoch kann er nicht anders, als der Unterhaltung weiter zu folgen.

„Dir habe ich es zu verdanken, dass ich auf meine alten Tage nochmal Vater geworden bin. Ich besitze kaum etwas, aber wenn es irgendwann etwas gibt, das ich für dich tun kann, um meinem Dank Ausdruck zu verleihen…“

„Ich hab doch gar nichts gemacht!“, winkt Hannah verlegen ab. „Du bist hier der Held!“

„Bitte, ich würde mich wirklich gerne bei dir erkenntlich zeigen!“, beharrt Jakob.

Hannah zögert kurz.

„Nur raus damit, Kindchen!“, ermutigt er sie.

„Ich … ich hatte einen Streit mit meinem Freund und bin abgehauen“, gesteht sie schließlich. „Wäre es okay, wenn ich heute Nacht bei dir bleibe? Ich habe keine Bekannten in der Gegend und ich … ich kann einfach nicht zurück zu ihm.“

Am Ende bricht ihre Stimme. Jakob streichelt ihr tröstend mit seiner freien Hand über die Schulter.

„Ich denke, das lässt sich einrichten …“

Heute Nacht wird Hannah also nicht zurückkommen. Aber dass sie diesem Jakob über den Weg gelaufen ist, war pures Glück, und liefert ihr keine Dauerlösung. Irgendwann wird sie gezwungen sein, zu ihm zurückzukehren. Ja, ihr wird gar keine andere Wahl bleiben …

 

 

Satt und zufrieden tätschle ich mir den Bauch. Zum Frühstück hat der gutmütige Jakob einen Hefezopf mit mir geteilt, den er bei seiner allmorgendlichen Runde durch die Einkaufspassage von einer Bäckerei erbettelt hat. Die Reste des Gebäcks hat er mir zusammen mit einer Flasche Wasser und einem Jutebeutel als Abschiedsgeschenk mit auf den Weg gegeben. Wie gerne hätte ich ihm gesagt, dass die Adoption von Mogli sein Leben sehr bald zum Positiven verändern wird, dass der Welpe ihm den nötigen Schubs geben wird, der Straße endlich den Rücken zu kehren. Dann bestünde allerdings die Gefahr, eben jene Zukunft wieder zu zerstören, und vermutlich würde er mir ohnehin nicht glauben.

Ich nehme einen tiefen, ruhigen Atemzug, wie ich es bei Frau Ashwani gelernt habe, und versuche eine Vision, die ich am Abend zuvor empfangen habe, zurückzuholen. Auch wenn die Bilderfluten mir teilweise immer noch Kopfweh bereiten, bin ich der Wucht der unzähligen Eindrücke zumindest nicht mehr hilflos ausgeliefert, sondern beginne zu verstehen, wie ich mich in ihrer Mitte zu Recht finden kann. Mittlerweile gelingt es mir halbwegs, wichtigere von unwichtigen Visionen zu unterscheiden, und sie sogar bei Bedarf ein zweites Mal heraufzubeschwören. Gestern zum ersten Mal ganz auf mich alleine gestellt zu sein war genau das, was mein angekratztes Ego gebraucht hat. Ich weiß jetzt, dass ich es auch ohne Julians Hilfe schaffen kann.

 

Ein kleiner Junge in einem roten Flash-Shirt und mit einer Kette mit ungewöhnlichem Schlüsselanhänger, der aufgeregt Playmobilfahrzeuge in einer Spielzeugabteilung bestaunt.

Ein herunterfallender Karton. Der Junge bewusstlos im Krankenhaus, ein dicker Verband um den kleinen Kopf.

Ein Teenager mit derselben ungewöhnlichen Kette um den Hals, der in einer Garage voller Tatendrang an einem auseinandergenommenen ferngesteuerten Auto herumbastelt und es wieder zum Laufen bringt. Ein Mann mit der Kette, der in einem schicken Anzug auf einer großen Bühne am MIT einen Vortrag hält.  

 

In Gedanken gehe ich langsam alles durch, was ich aus der Vision lesen kann: Dem grellen, weißlichen Licht und den gelben Preisschilder zu urteilen, befindet sich das Kind vermutlich im Toys “R” Us. Die digitale Armbanduhr am Handgelenk des Jungen zeigt Do., 9:47 Uhr an, ich habe also noch eine knappe halbe Stunde. Der einzige Toys “R” Us, den ich im Umkreis von Heidelberg kenne, befindet sich an der Czernybrücke, was zum Glück nicht sehr weit von meinem momentanen Standort entfernt ist. Also los!

Obwohl ich mir meiner Sache ziemlich sicher bin, pocht mein Herz vor Aufregung, als ich das Geschäft betrete. Noch ist von dem Jungen keine Spur, aber ich bin früh dran. Um mich etwas abzulenken, streife ich in Erinnerungen schwelgend an den Barbies, den BABY borns und der Elektroabteilung vorbei. Früher war ich oft mit meinen Eltern hier. Damals kam es mir vor, wie das Paradies auf Erden. Heute erscheint mir diese Zeit wie ein ferner, wundervoller Traum. Wie sehr ich die beiden vermisse. Die Gespräche mit Mama. Die unzähligen Stunden mit Papa in der Backstube.

Ich gehe in die menschenleere Puzzleecke, lasse mich gegen eines der Regale sinken und versuche erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten. Ich fühle mich so schrecklich einsam, hilflos und verloren. Warum musste ich bloß an jenem Morgen Markov begegnen?

„Mama, kann ich in mir die Playmobilsachen anschauen?“, reißt mich die Stimme eines kleinen Jungen aus meiner tristen Grübelei. Dieses rote Flash-Shirt – Es ist das Kind aus meiner Vision!

Rasch wische ich mir mit dem Ärmel übers Gesicht, um die Überbleibsel meines kleinen Zusammenbruchs verschwinden zu lassen, und rapple mich wieder auf.

„Von mir aus, aber du bleibst da, bis ich dich hole – verstanden?“, gibt die Mutter ihre Einwilligung.

„Verstanden!“ Der Kleine nickt eifrig und saust in Richtung der Playmobilregale davon. Die Mutter sieht ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden ist, ehe sie sich abwendet, um sich ihren eigenen Besorgungen zu widmen.

Unauffällig mache ich mich auf, dem Jungen zu folgen, während ich mir einen Plan zu Recht lege, wie ich ihn am besten von der schicksalhaften Stelle weg locken kann.

Ich gehe direkt auf das Kind zu, räuspere mich und beuge mich zu ihm herab.

„Hey, kannst du mir kurz helfen?“, bitte ich gespielt ratlos und bete, dass er mir die Nummer abkauft. „Ich möchte für meinen kleinen Cousin ein Lego-Set aussuchen, aber ich weiß nicht, was Jungs in eurem Alter so gefällt.“

Der Kleine legt die Stirn in Falten, als denke er angestrengt über meine Bitte nach.

„Meine Mama hat gesagt, ich soll nicht mit Fremden reden“, gibt er zögernd zurück.

Kein Wunder, dass aus dem später ein Neunmalklug wird!

„Ich bin mir sicher, deine Mama hat nichts dagegen, wenn du mir nur kurz hilfst – sie ist ja nicht weit weg!“, bleibe ich hartnäckig.

„Meine Kindergärtnerin Frau Huber hat das aber auch gesagt, und die ist nicht da“, lässt auch er nicht locker.

Argh… warum machst du es mir so schwer? Das ist nur zu deinem Besten!

„Auch wenn Frau Huber nicht hier ist, hätte sie bestimmt ebenfalls nichts dagegen, wenn du mir schnell hilfst“, versuche ich nach Kräften, einen ruhigen Ton zu behalten.

„Kennst du etwa Frau Huber?“, fragt der Kleine überrascht.

„Nun ja … also …“

Ich ringe gerade um eine zufriedenstellende Antwort für den Jungen, da nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie sich über mir etwas bewegt. Verdammt, es ist zu spät!

Reflexartig stürze ich nach vorne, nehme das völlig perplexe

Kind im Sprung in die Arme und lande äußerst schmerzhaft auf den kühlen Fliesen. Ein ohrenbetäubendes Krachen folgt, und als ich aufsehe türmt sich dort, wo eben noch der Kleine gestanden hat, ein Haufen schwerer Kartons voller Spielzeug.

„Oh Gott, ist alles in Ordnung? Sind Sie verletzt?“, kommt eine entsetzte Verkäuferin herbeigeeilt.

„Du blutest ganz dolle!“, stellt der Junge erschrocken fest und deutet auf mein Bein. Ich muss es mir beim Sturz aufgeschürft haben.

„Ist halb so wild!“, beruhige ich ihn und lasse mir von der Angestellten aufhelfen. „Nur eine kleine Schramme.“

„Ein Glück, dass Sie da waren! Kaum auszudenken, was hätte passieren können …“, ringt die Angestellte um Fassung.

Maximilian!“, ruft eine aufgewühlte Frauenstimme aus der kleinen Menge Schaulustiger, die sich inzwischen um uns angesammelt hat. „Oh Gott, Maximilian, mein Schatz!“

Die Mutter drückt den Kleinen liebevoll an ihre Brust, den Blick voll Grauen auf die Kartons am Boden geheftet. Offenbar hat sie eins und eins zusammengezählt.

„Vielen Dank! Vielen, vielen Dank!“, sagt die Frau an mich gewandt, Tränen in den Augen.

Ich will gerade etwas erwidern, da fällt mir eine Angestellte ins Auge, die etwas abseits des Geschehens hektisch in ihr Handy spricht. Zuerst glaube ich, sie will einen Notarzt allarmieren und will zu ihr gehen, um sie davon abzuhalten, da dringen einige Wortfetzen an mein Ohr.

„ … Asiatin, wie Sie gesagt haben … Junge gerettet … trägt nur Jogginganzug …“

Es besteht kein Zweifel, wer da am anderen Ende der Leitung sitzt. Verdammt, das Haupthaus hat seine Augen und Ohren überall! Ich muss schleunigst von hier verschwinden!

Sobald sie bemerkt, dass ich auf sie aufmerksam geworden bin, setzt sie ein unschuldiges Lächeln auf, stockt kurz und redet dann übertrieben laut weiter.

„Ähm … Ja, wir bräuchten die Bestellung wirklich dringend!“, schauspielert sie miserabel. „Es wäre toll, wenn sie schon morgen liefern könnten, ginge das? …“

Ich erwidere das Lächeln, als würde ich ihr dieses Theater abnehmen, und trete langsam den Rückzug an, damit sie keinen Verdacht schöpft.

„Warten Sie, ich hole rasch etwas, um die Wunde zu versorgen!“, will die Verkäuferin, die mir als erste zu Hilfe geeilt ist, mich aufhalten.

„Danke, aber das ist nicht nötig! … Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch ganz dringend wo hin muss!“, weise ich sie ab, mit der unkreativsten Entschuldigung überhaupt.

„Aber die Wunde könnte sich entzünden …“

„Es ist wirklich nett, dass sie sich Sorgen machen, aber ich werde mich selbst darum kümmern!“

Mit diesen Worten lasse ich die etwas verwirrte Frau stehen und mache mich in Richtung Kasse davon. Ich bin gerade dabei, mit der Rolltreppe ins Parkhaus zu fahren, um durch den Hinterausgang zu türmen, da betreten vier Männer in schwarzen Anzügen das Gebäude – und einer von ihnen ist Mark.

Sobald unsere Augen sich begegnen beginne ich, zu rennen.

„Hannah, bleibt stehen!“, befiehlt er, während die Männer mir nachjagen. „Warum lauft ihr vor uns davon?“

Ich spüre, wie jemand versucht, mental mit mir in Verbindung zu treten. Da ich meine Kraft und Konzentration lieber für meine Flucht einsetze, hat Mark leichtes Spiel.

Hannah, bitte! Wir sind eure Familie! Wir wollen euch doch nur helfen!, appelliert er an mich.    

Ihr habt einen Verräter in eurer Mitte, gebe ich anklagend zurück.

Was redet Ihr da für einen Unsinn? Ist Julian etwa der gleichen Meinung? Mit der Hand gibt er den anderen Männern Zeichen, wie sie mich am Besten in die Enge treiben können. Mit eurer Flucht macht ihr die Arbeit von Generationen zu Nichte, ist euch das eigentlich klar? Das ist Wahnsinn!

Jemand hat Julian etwas ins Schlafmittel, lasse ich ihn wissen. Nur eine Person aus dem inneren Zirkel der Familie wäre zu etwas Derartigem fähig gewesen!

Dann werden wir diese Person gemeinsam ausfindig machen!, versucht er es weiter.  

Vielleicht bist du ja die Person!, ist meine provozierende Erwiderung. Es könnte jeder sein, verstehst du? Ich würde freiwillig zurück in die Höhle des Löwen gehen!

Es ist bedauerlich, dass Ihr so wenig Vertrauen in uns habt … Ich will das nicht tun Hannah, wirklich nicht, aber Ihr lasst mir keine andere Wahl!

„Jetzt!“, schreit er unvermittelt, und hinter diversen Autos kommen noch mehr Männer zum Vorschein. Es dauert nicht lange, bis einige von ihnen mich eingekreist haben und ich in der Falle sitze.

„Ganz ruhig, Hannah!“

Mark kommt auf mich zu, die Hände in einer Geste des Friedens erhoben. Er nickt zwei seiner Leute hinter mir zu und im nächsten Augenblick werde ich grob an den Armen gepackt. Panik erfasst mich und meine Instinkte übernehmen die Kontrolle.

Mit einem kurzen, kräftigen Ruck, den die Männer nicht haben kommen sehen, entziehe ich mich ihrem Griff, verpasse dem rechten einen kräftigen Tritt in den Magen und seinem Kollegen einen ordentlichen Kinnhacken. Den Überraschungsmoment ausnutzend entwische ich durch die offen gewordene Stelle in der Formation, die einer der beiden hinterlassen hat.

„Ihr nach, lasst sie nicht entkommen!“, schallt Marks Befehl durch die Garage.

So schnell meine Beine mich tragen laufe ich zur Ausfahrt. Als ich kurz zurückblicke um zu sehen, wie weit meine Verfolger mir auf den Fersen sind, laufe ich beinahe in den Einkaufswagen einer ahnungslosen Kundin, die gerade dabei ist, ihr Auto zu beladen. Dabei gerät der volle Wagen gefährlich ins Wackeln.

„Hey, passen Sie doch auf!“, ruft die Frau mir empört nach. „Das ist ein Parkhaus und keine Rennstrecke!“

„Verzeihung!“, brülle ich ihr hechelnd zu.

Endlich kommt der Ausgang in Sicht. Draußen wartet allerdings schon Verstärkung: Mindestens sechs weitere Männer nähern sich mir aus allen erdenklichen Richtungen.

Mist! Es sind einfach zu viele!

Ein Motorradfahrer fährt rechts ran und kommt direkt vor mir abrupt zum stehen.

„Schnell, steig auf!“, befiehlt der Fremde und hält mir einen Helm hin, wie er selbst einen auf hat. Einen Motorradanzug trägt er nicht, sondern eine einfache Lederjacke und Jeans. Ich habe also die Wahl zwischen einer Horde Männer des Haupthauses und einem unbekannten Biker.

Was habe ich schon zu verlieren?

Schnell ziehe ich mir das schwere Ding auf den Kopf, springe hinten auf und schlinge die Arme um die Hüften meines unbekannten Retters.

 

 

Etwas rührt ängstlich an seinem Geist. Hannah. Da sie sich nicht direkt an ihn wendet, hat sie vermutlich unbewusst den Kontakt zu ihm hergestellt. Dennoch schiebt er sofort die Vision beiseite, um die er sich gerade noch gekümmert hat, um seiner Gefährtin all seine Aufmerksamkeit zu schenken.  

„Hannah, bleib stehen!“ Der Anführer seiner Zwölf. Mark. Beinahe versagen die Beine ihm den Dienst. Oh Gott, man hat sie gefunden!

Es könnte jeder sein, verstehst du? Ich würde freiwillig zurück in die Höhle des Löwen gehen!, schallt Hannahs verzweifeltes Apell durch seine Gedanken. Er fühlt ihren hämmernden Puls, als sei es sein eigener.

Es ist bedauerlich, dass ihr so wenig Vertrauen in uns habt … Ich will das nicht tun Hannah, wirklich nicht, aber ihr lasst mir keine andere Wahl!, droht Mark.

Ein schmerzhafter Griff um seine Arme – nein, ihre Arme. Panik. Blanke Panik.

„Ihr nach, lasst sie nicht entkommen!“

Erleichterung durchströmt ihn. Das bedeutet, Hannah ist ihnen entwischt!

Mist! Es sind einfach zu viele!

Hat man sie erneut umzingelt?

Ein Fremder auf einem Motorrad. Will er ihr etwa zu Hilfe eilen? Ein kurzes Zögern.

Was habe ich schon zu verlieren?

Dann bricht die Verbindung so plötzlich ab, wie sie gekommen ist.

 

 

„Gut festhalten“, befiehlt der Fremde.

Gerade als einer der Männer uns erreicht hat und nach mir greifen will, gibt er Vollgas. Zu schnell zwingt uns der Verkehr der Innenstadt jedoch eine rote Ampel auf.

„Mit wie vielen Wagen folgen sie uns?“, fragt der Biker.

„Drei, soweit ich erkennen kann.“

„Bist du schon einmal Motorrad gefahren?“

Ich schüttle den Kopf.

„Nein.“

Das darauffolgende kurze Schweigen des Fremden sagt mehr als tausend Worte: Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Flucht.

„Das wichtigste ist, dass du ruhig und gerade sitzen bleibst, und in den Kurven meinen Bewegungen folgst. Auch wenn die Kurve noch so scharf erscheint – richte dich nicht auf, halte dich an mich, okay?“

„Verstanden!“, gebe ich mutiger zurück, als mir momentan zu Mute ist. Vielleicht liegt es an der beruhigenden, warmen Stimme, die der Fremde an sich hat.

„Gut. Wenn ich Vollgas gebe, werde ich vorher deutlich mit den Schultern zucken, damit du vorgewarnt bist. Kurz vor einer Rechtskurve werde ich mit dem rechten Arm deinen antippen, bei einer Linkskurve umgekehrt. Aber das allerwichtigste: Du musst mir vertrauen!“

Leichter gesagt, als getan, aber was habe ich für eine Wahl?

Inzwischen hat die Ampel wieder auf Grün geschaltet und mich somit vor einer Antwort bewahrt.

Zunächst sieht es nicht gut für uns aus. Um uns tauchen immer mehr verdächtige, schwarze Wagen auf, denen wir nur mit teilweise geradezu kriminell verkehrswidrigen Manövern entwischen können. Aber mein mysteriöser Retter lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er scheint sich hier in der Gegend genauestens auszukennen, nutzt jede noch so verwinkelte Seitenstraße, bis wir schließlich auch den letzten Wagen unserer Verfolger irgendwo in Rohrbach abgehängt haben.

Doch mein fremder Retter bleibt auf der Hut. Autobahn und Hauptstraßen nach Möglichkeit meidend, tuckern wir über diverse Landstraßen und Städte, bis er schließlich in eine Autowerkstatt in Dossenheim einbiegt und zum Stehen kommt. Erleichtert löse ich meine Arme von seinen Hüften und befreie ihn somit von meinem angstvollen Klammergriff. Autos sind definitiv mehr meine Kragenweite.

Als wir absteigen kommt einer der Mechaniker, die gerade in der Werkstatt zu Gange sind, fröhlich auf uns zu geschlendert. Er scheint meinen Retter zu kennen.

„Ah, mein Bruder hat mich schon vorgewarnt, dass ich im Laufe des Nachmittags mit dir rechnen kann!“, begrüßt er uns.

Endlich nimmt der Fremde seinen Helm ab, und eine braune Sturmfrisur kommt zum Vorschein, die mir vage bekannt vorkommt. Doch er hat mir noch immer den Rücken zugewandt, so dass ich sein Gesicht nicht sehen kann.

„Er hat was gut bei mir! Richte ihm nochmal meinen Dank aus!“

„Werde ich. Du hast sein Baby hoffentlich gut behandelt!“

Er hat das Motorrad geliehen? Aber warum …? Schnell fällt bei mir der Groschen. Natürlich, so kann man es nicht zu ihm zurückverfolgen! Der Typ weiß wirklich verdächtig genau, worauf er sich hier eingelassen hat …

Der braunhaarige Fremde gibt der Maschine einen freundschaftlichen Klaps.

„Keine Sorge, ist noch alles dran“, gibt er gelassen zurück. Nur ich höre das unterschwellige Gerade so heraus.

„Ziemlich mutiges Outfit für eine Motorradspritztour!“, wendet sich der Mechaniker nun auch an mich.

„War eine ziemlich, ähm … spontane Sache, das Ganze …“

Er nimmt meine Erwiderung mit kaum verhehltem Schmunzeln hin.

„Frauen!“, murmelt er kopfschüttelnd.

„Dein Bruder meinte, ihr habt auch immer ein paar alte Wagen da, die verschrottet werden“, lenkt der Fremde die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Könnten wir uns vielleicht so einen für die nächsten Tage mieten? Meine Freundin“, er deutet mit dem Daumen über die Schulter auf mich, „ist gerade zu Besuch hier und hätte gerne ihr eigenes Auto, aber sie hat noch nicht lange ihren Führerschein gemacht und traut sich nicht, ein Auto zu mieten.“

Der Mechaniker lacht.

„Klar, warum nicht! Sucht euch einen der Opas aus!“, willigt er ein.

„Super, danke!“

„Ach was, kein Thema!“

Dann endlich dreht sich der Fremde zu mir um.

„Komm, suchen wir dir einen Opa!“

Es ist Noah.

Kapitel 18

Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und ich bemühe mich, die Geste ungezwungen zu erwidern – immerhin sind wir ja Freunde.

Wir entscheiden uns für einen silbernen Golf: klein, aber fein. Noah wickelt mit dem Mechaniker die Formalitäten ab und fünf Minuten später sind wir wieder auf der Straße. Mir schwirren so viele Gedanken im Kopf herum, dass ich gar nicht weiß, wo anfangen.

Noah erinnert sich offensichtlich an mich, also muss er irgendwie zu Markovs Familie gehören. Könnte er mich womöglich sogar absichtlich in Markovs Arme getrieben haben an jenem Morgen? Aber er hat mir geholfen, zu entkommen … Argh, das ergibt doch alles keinen Sinn! …

„Ich gehöre nicht zu Julians Familie, wie du wahrscheinlich vermutest, aber ich weiß von dem Fluch“, beginnt Noah schließlich von selbst, meine unausgesprochenen Fragen zu beantworten.

Ich erinnere mich an das merkwürdige Glitzern in seinen Augen, als ich Markov das erste Mal erwähnt habe. Es war also doch keine Einbildung gewesen.

„Dann … dann hast du mich damals absichtlich mit ihm zusammen gebracht?“, spreche ich das Offensichtliche aus.

„Ja“, gesteht er.

„Aber wie ist das möglich? Wie kannst du als Außenstehender von dem Fluch wissen?“

„Weil ich ein Nachfahre derjenigen bin, die ihn ausgesprochen haben.“

Ich sehe ihn fassungslos an. Mache den Mund auf, um etwas zu sagen. Mache ihn wieder zu. Noah ist ein Magier?

Man war nicht länger auf fremde Wunder angewiesen, und die Magier wurden zu einer aussterbenden Rasse. Darwinsche Evolution. Hat Klaus mich etwa angelogen?

„Du … du bist ein Magier? Ich … ich dachte, ihr wärt ausgestorben …“

„Sind wir auch – zumindest so gut wie“, stimmt er mir zu. Über seine sonst so gelassenen Züge legt sich ein dunkler Schatten. „Ich bin der letzte meiner Art.“

Der letzte seiner Art. Ein Magier. Ein waschechter Magier. Das muss ich erst einmal verdauen.

„Warum hast du mir vorhin geholfen? Woher wusstest du überhaupt, dass ich in Schwierigkeiten stecke?“

„Ich hab heute im Café gearbeitet und dich alleine durch die Hauptstraße laufen sehen“, in diesem Outfit fügt sein Blick hinzu, „da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Also bin ich dir gefolgt.“

„Du wusstest, wann Julian morgens Sport machen würde, und du weißt, dass ich unter normalen Umständen nie ohne Julian unterwegs sein würde – du bist ziemlich gut über unsere Familie informiert“, kann ich nicht umhin, festzustellen.

„Ihr seid nicht die einzigen, die schon seit Jahrhunderten versuchen, den Fluch zu brechen.“

„Warum solltet ihr euren eigenen Fluch aufheben wollen?“

Ich kann nicht verhindern, dass eine anklagende Note in meinen Worten mitschwingt. Noahs Vorfahren sind dafür verantwortlich, dass wir Vergessenen kein Leben haben, sondern täglich für die Sünden unserer Ahnen bezahlen müssen, für Sünden, die nicht unsere eigenen sind, längst vergangene Sünden. Sie sind schuld daran, dass man mir mein Leben genommen hat.    

„Der Zauber hätte eigentlich nach wenigen Monaten wieder verblassen sollen“, gibt er zu. „Den Herrschern sollte eine bittere Lektion erteilt werden, mehr nicht. Doch der Fluch ist stattdessen immer stärker geworden, hat eine Generation nach der nächsten überdauert, ein Eigenleben entwickelt.“

„Der Fluch ist also das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Zaubers?“, fasse ich verärgert zusammen. „Mit anderen Worten: Deine Vorfahren haben schlampig gearbeitet!“

„Ich fürchte, es ist ein wenig komplizierter als das.“

„Oh, ich hab Zeit!“, gebe ich schnippisch zurück.

„Unsere magischen Fähigkeiten entspringen der Natur“, beginnt er mit ruhiger Stimme zu erklären. „Wir lassen uns von ihr leiten, arbeiten mit den Energien, die sie uns zur Verfügung stellt. Man braucht ein sehr feinfühliges Gespür, um sich mit Mutter Natur zu verbinden, Geduld und Ausgeglichenheit. Deshalb gab es auch mehr Frauen als Männer, an die die besonderen Gaben meiner Art weitergegeben wurden. Was ich damit sagen will: Wir können nicht einfach irgendein lateinisches Wort von der Leine lassen und dann Dinge zum Schweben bringen oder ähnliches. Was wir tun ist weitaus komplexer und gewissen Regeln unterstellt. Die oberste lautet: Wir arbeiten stets mit Mutter Natur, nie gegen sie.“

Noah wirft mir einen eindringlichen, unheilverkündenden Blick zu.

„Bei dem Zauber, den man über die Herrscherfamilien gelegt hat, wurde allerdings eine einmalige Ausnahme gemacht.“

Er sieht wieder auf die Straße, seine Stirn in Falten gelegt.

„Man hat euch die Fähigkeit verliehen, in das Innere anderer zu blicken und damit in gewisser Weise mit anderen zu verschmelzen. Ein Körper, ein Geist, so will es die Natur. In euren Körpern gehen nun allerdings die Geister anderer Menschen quasi ein und aus. Je länger der Zauber währte, desto mehr unnatürliche Energien sammelten sich in euren Körpern, und desto stärker wurde der Fluch. Als meine Vorfahren die Ungeheuerlichkeit ihres Tuns begriffen hatten, war es bereits zu spät, und der Fluch ließ sich nicht mehr rückgängig machen.“

„Gibt es denn keine Möglichkeit, diese negativen Energien irgendwie wieder … ich weiß auch nicht, abzusaugen?“, frage ich hoffnungsvoll.

Noah schüttelt betrübt den Kopf.

„Die Art von Magie, die der Fluch bei euch erzeugt, unterscheidet sich grundlegend von unserer Magie. Das ist als würdest du mich bitten, chinesisch zu lesen, mit der Begründung, dass ich auch deutsch lesen kann“, versucht er mir zu erklären. „Außerdem ist es ja auch schon ein paar Jährchen her, dass der Zauber gewirkt wurde. All unser Wissen beruht auf uralten, ungenauen Quellen und Mund zu Mund Erzählungen. Nicht gerade die ideale Arbeitsgrundlage.“

Naturmagie. Geister. Unnatürliche Energien. Ich massiere mir die pochenden Schläfen. Zauberei ist wohl wirklich eine Mathematik für sich.

„Aber warum habt ihr Magier euch all die Jahre versteckt, anstatt direkt mit uns Vergessenen zusammen zu arbeiten? Wäre das nicht das Naheliegensten?“, kann ich nicht nachvollziehen.

„Zunächst haben meine Vorfahren genau das versucht, wurden allerdings aus Furcht zurückgewiesen. Später kam es tatsächlich kurz zu einer Zusammenarbeit, doch es stellte sich heraus, dass man sich nur an uns Rächen wollte.“

Seine Hände krallen sich fester ums Lenkrad, sein Ton allerdings bleibt freundlich.

„Die verfluchten Familien haben uns an die Menschen verraten, haben mit der Inquisition gemeinsame Sache gemacht. Vermutlich haben sie gehofft, der Fluch würde verschwinden, wenn auch wir verschwinden. Uns blieb also nichts anderes übrig, als aus dem Verborgenen heraus zu agieren.“

„Dann sind wir daran schuld, dass ihr …“, setze ich schockiert an.

„Unserer Reihen haben schon lange vor dem Mittelalter begonnen, sich zu dezimieren“, erklärt er bekümmert. „Es gab immer weniger von uns, die die Stimme von Mutter Natur hören konnten. Es war ein unausweichlicher Prozess. Ihr habt höchstens etwas Öl ins Feuer gegossen, das ist alles.“

„Und … und du bist dir ganz sicher, dass du der letzte deiner Art bist?“

„Ähnlich wie die Verbundenheit, die zwischen euch Vergessenen besteht, können auch wir andere von uns spüren. Wir können zwar nicht mental miteinander kommunizieren, aber wir können uns über die Elemente Nachrichten schicken. Es ist schwer zu beschreiben …“

Er hält kurz inne um zu überlegen, wie er am besten fortfährt.

„Jedenfalls hatte ich als Kind immer jemanden, der im Wasser oder durch Pflanzen zu mir gesprochen hat, der mir einen frischen Wind gesendet hat oder einen Sonnenstrahl, wenn ich mal einen nötig hatte. Je älter ich wurde, desto weniger solche Nachrichten habe ich allerdings erhalten. Die letzte bekam ich vor zehn Jahren.“

„Es tut mir leid, das zu hören.“

Er zuckt lässig die Schultern, in seinen Augen liegt allerdings ein trauriger Glanz.

„Alles vergeht irgendwann, das ist der Kreislauf der Dinge.“

„Was ist mit deinen Eltern? Kann keiner der beiden die … die Natur hören?“, verwende ich dieselben Worte wie Noah.

„Mein Vater ist ein gewöhnlicher Mensch und meine Mutter … Sie hatte die Gabe, aber sie hat sie zurückgewiesen.“

„Warum?“, entwischt es mir, bevor ich es zurückhalten kann. Ich spüre, dass das Thema ihm nahe geht.

„Ich denke, dass unsere Art ausstirbt hat gute Gründe“, setzte er nach einigen Minuten nachdenklichen Schweigens an. „In der aufgeklärten kapitalistischen Industriewelt, in der wir heute leben, ist kein Platz mehr für unsere Art der Magie. Heute ein Leben mit dieser Gabe zu führen ist meistens mehr Fluch als Segen - verzeih die Wortwahl.“

„Aber du hast sie noch, deine Magie. Du hast dich dafür entschieden.“

Er schenkt mir ein schräges Lächeln, seine Züge hellen sich etwas auf.

„Ich war schon immer ein Sonderling.“

Unwillkürlich wandern auch meine Mundwinkel ein Stück nach oben. Noahs ruhige, ehrliche, abgeklärte und doch humorvolle Art hat etwas seltsam Beruhigendes an sich, und zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, mal wieder richtig durchatmen zu können.

„Da du jetzt weißt, zu wem du dich aufs Motorrad gesetzt hast: Warum haben dich die Schlipsträger vorhin eigentlich verfolgt?“, kommt er zum eigentlichen Grund unseres Wiedersehens zurück.

Ich erzähle ihm von den Anschlägen, unserer Flucht und dem Streit mit Julian.

„Und Julian konnte keinen der anderen erreichen?“, hakt er ungläubig nach.

„Nein. Er war völlig verstört, nachdem er es versucht hat …“, erinnere ich mich fröstelnd. „Hast du schon einmal von einem ähnlichen Vorfall in der Vergangenheit gehört?“

„Nicht, dass ich wüsste“, gesteht er. „Ihr habt also keine Ahnung, wer hinter dem Ganzen stecken könnte?“

„Nicht die leiseste …“

„Zumindest stehen die Chancen gut, dass die anderen noch leben. Ich bin mir sicher Julian hätte es gespürt, wenn dem nicht so wäre“, ist Noah überzeugt.

„Du meinst, jemand hat sie entführt? Alle gleichzeitig?“, spinne ich seine Gedanken weiter.

„Ich kann mir auch keinen Reim draus machen, aber deinen Erzählungen zufolge sieht es für mich ganz danach aus.“

Einerseits bin ich erleichtert zu hören, dass vermutlich noch Hoffnung für die anderen Oberhäupter besteht. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich etwas Gutes ist, wenn ich mir die brutale Vorgehensweise der Täter vor Augen führe, die auch vor unschuldigen Opfern nicht zurückschrecken.

„Die Flugzeuge hat man am frühen Morgen ausgebrannt an irgendwelchen abgelegenen Orten gefunden, mitsamt den Leichen der Bodyguards“, waren Andres Worte gewesen.

Was versprechen sie sich bloß davon?

„Jedenfalls kann so etwas keine Einzelperson durchgeführt haben“, zieht Noah denselben Schluss wie Andre. „Da muss eine gut organisierte Truppe hinter stecken, und denen wird es gar nicht schmecken, dass Julian und du ihnen durch die Lappen gegangen seid.“

Markov und ich in einem Flugzeug, aber etwas ist falsch. Wir fliegen in …

Dunkelheit.

Ein Schauder des Grauens schüttelt meinen Körper. Ja, diese Typen verstehen definitiv keinen Spaß.

„Sag mal, wo fahren wir eigentlich hin?“

„Nach Mannheim, zu mir nach Hause. Da können wir in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.“

 

 

Julian klatscht sich einen Schwall eiskaltes Wasser ins Gesicht.

Ein Fremder auf einem Motorrad.

Ein kurzes Zögern.

Was habe ich schon zu verlieren?

Wut pumpt durch sein Adern wie ächzende Säure. Ehe er es sich versieht, hat er mit dem Arm ausgeholt und die Faust in den Spiegel über dem Waschbecken geschlagen. Obwohl seine Hand voller Blut ist, spürt er keinen Schmerz. Der Schmerz in seinem Inneren ist so gewaltig, das alles andere dagegen verblasst.

Hannah bei einem anderen Mann. Bei einem fremden Mann. Wer ist er? Was will er von ihr?

Seit sie sich am Morgen in ihrer Angst unwissentlich mit ihm verbunden hat, kann er an nichts anderes mehr denken. Nachdem die Verbindung abgebrochen ist, hat er in den seither vergangenen zwei Stunden ununterbrochen versucht, sie zu erreichen – vergebens. Es will ihm einfach nicht gelingen, zu ihr durchzudringen. Er kann Hannah spüren, aber es ist, als befinde sich eine Mauer um ihren Geist, der ihn beharrlich daran hindert, den letzten Schritt zu tun, um zu ihr zu gelangen.

Die Gedanken an Hannah haben selbst die sonst so übermächtigen Visionen in den hintersten Winkel seines Denkens verbannt – und seine Fähigkeit, rationelle Entscheidungen zu treffen, gleich mit. Denn wäre er noch bei Verstand, wäre er jetzt da draußen und würde Leben verändern, anstatt sich in diesem Apartment zu verkriechen und einer Frau hinterher zu trauern.

„Ich wünschte, du wärst damals mit deinen Eltern verbrannt!“

Ist er dieses Mal tatsächlich zu weit gegangen? Er würde sich doch niemals ernsthaft Hannahs Tod wünschen, dass musste sie doch wissen! Die ganze Situation war einfach so schrecklich frustrierend gewesen! Welcher Mann musste sich schon von seiner Frau retten lassen? Er hatte sich in seiner Ehre gekränkt gefühlt, und dann Hannahs trauriges Gesicht …

„Es kann doch nicht so schwer sein, einen netten, normalen Satz zu formulieren, oder?“

Wenn es nach dem Seelengefährten in ihm gegangen wäre, hätte er sie jederzeit mit liebevollen Worten überschüttet, aber wieder einmal hatte dieser törichte Stolz die Oberhand gewonnen. Wie sehr er sich wünscht, seine Worte rückgängig machen zu können!

„Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!“

Ein erneuter Faustschlag in den Spiegel.

Irgendwann wird sie wieder Kontakt zu ihm aufnehmen müssen – und dann wird er sie finden und diesen elenden Mistkerl auf dem Motorrad umbringen!

 

 

„Bevor wir reingehen …“

Noah verharrt zögernd vor der Tür, den Schlüssel bereits in der Hand.

„Ich hab nicht besonders oft Besuch, und mit dem Ordnung halten hab ich es nicht so“, warnt er mich vor und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Dann schließt er auf.

Ein kleiner Gang kommt zum Vorschein, dessen linke Wand von Jacken an einem Aufhänger überquillt. Darunter stehen ein dutzend Paar Schuhen an der Wand.

„Du kannst deine einfach dazustellen.“

Ich nicke, schlüpfe aus meinen Sneakers und stelle sie zu den anderen.

Der Gang endet in einer offenen, kleinen Küche mit Fenster, die etwas an das Labor einer Kräuterhexe erinnert. Überall stehen Töpfe mit kleinen Pflänzchen, Holzschalen mit Mörsern und anstelle eines Vorhangs hängt getrocknetes Grünzeug vor dem Fernster. Das passt so gar nicht zu dem Image des Hipster-Machos, dass ich bei unserer ersten Begegnung von ihm gewonnen habe. Auf einem Regal stehen neben Gewürzen eine Reihe kleiner Fläschchen mit diversen unappetitlich aus-sehenden Flüssigkeiten darin.

„Ich gebe zu sie schmecken nicht besonders gut, und du kannst dich damit weder in eine andere Person verwandeln, noch jemanden in dich verliebt machen, aber sie können trotzdem in der ein oder anderen Situation ganz nützlich sein.“

Er stellt sich dicht hinter mich – etwas anderes lässt der kleine Raum auch nicht zu – und deutet mit dem Finger auf ein Gläschen mit grün-grauer Substanz darin.

„Der hier zum Beispiel hilft, die Nerven zu beruhigen.“

Er deutet auf ein weiteres mit bräunlicher Flüssigkeit.

„Und das hier hilft, Schmerzen jeglicher Art zu lindern.“

„Wer hat dir das beigebracht?“

„Meine Großmutter. Ein bisschen hab ich mir auch selbst angelesen. Ist so was wie ein Hobby.“

„Ist deine Großmutter auch …?“

„Sie war …“, korrigiert er mich.

Ich drehe mich zu ihm um und lege ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm.

„Oh … das tut mir leid …“

Noah steht nicht einmal einen halben Schritt von mir entfernt. Unter meiner Hand kann ich deutlich die Wärme seines großen, männlichen Körpers spüren. Rasch ziehe ich meine Hand wieder zurück. Das Schlimme ist, dass ich das nicht etwa tue weil ich fürchte, ihm damit zu nahe getreten zu sein, sondern weil mich mit einem Mal das lächerliche Gefühl überkommt, Markov zu betrügen.

Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!

Pah, dieser Blödmann hat es nicht verdient, dass ich auch nur einen Gedanken an ihn verschwende!

„Ich, ähm… ich sehe mir mal das Wohnzimmer an, okay?“

Ich dränge mich an Noah vorbei in den zweiten, großzügigeren Teil des Raumes. Das Wohnzimmer ist ein buntes Sammelsurium alter Möbel: Ein Sessel aus den Sechzigern steht neben einer abgewetzten grau-braunen Couch aus den Neunzigern und einen viktorianisch anmutenden Regal, in dem weitere ominöse Fläschchen stehen und diverse Bücher. Neben einem Flachbildfernseher – eines der wenigen modernen Dinge hier – reiht sich Schallplatte an Schallplatte, an einer Wand hängen drei alte Skatboards. Der Couchtisch ist übersät mit weiteren Büchern: BWL-Lektüre gepaart mit einem Krimi, dem zweiten Teil von Eragon und einem Kräuterlexikon. Das einzig regelmäßige hier ist, dass es keine Regelmäßigkeit gibt.

„Du studierst tatsächlich BWL?“

Ich kann mir nicht helfen, aber das scheint so gar nicht zu Noahs etwas exzentrischer Art zu passen. Jemand, der seine Wohnung so einrichtet, in einem Anzugträgerjob?

„Meine Eltern leiten eine kleine Werbeagentur, die mein Großvater gegründet hat. Irgendwann will ich in das Familienunternehmen mit einsteigen.“

Er lacht, als er mein ungläubiges Gesicht sieht.

„Im Betrieb geht es sehr familiär zu und unsere Kunden sind meist unkonventionelle Kleinunternehmen. Es ist ja nicht so als plane ich, Vorstandschef der Deutschen Bank zu werden.“

Ich stimme in sein Lachen mit ein.

„Ach so, verstehe. Klingt nach einem schönen Plan.“

„Finde ich auch“, gibt er fröhlich zurück.

Man merkt Noah an, dass er mit seinem Leben im Reinen ist. Vielleicht habe ich deshalb so schnell Vertrauen zu ihm gefasst, weil er mich mit seiner Unbeschwertheit irgendwie an mein früheres Leben erinnert. Werde ich je wieder so empfinden können?

„Setz dich doch!“ Er deutet auf die Couch. „Möchtest du was trinken?“

„Hast du Bier da?“, frage ich hoffnungsvoll.

Schuldbewusst knabbere ich an meiner Lippe. Eigentlich ist den Vergessenen Alkohol verboten, weil es die Gehirnaktivität beeinträchtigt und damit die Visionen. Aber ich habe immerhin nicht vor, mich abzuschießen, und ein Bier hat noch niemandem geschadet, oder?

„Pur oder soll ich dir einen Radler machen?“

„Ein Radler wäre toll, danke!“

Noah macht sich an seinem Kühlschrank zu schaffen und kommt kurz darauf mit einem großen Humpen für mich und einer Flasche für sich zurück. Er reicht mir das Glas und lässt sich in den Sessel neben dem Sofa fallen. Freudig nehme ich einen großen Schluck und stöhne verzückt auf.

„Ich mag die Wohnung“, gesteh ich nach einigen Minuten stummen Genießens. „Sie passt zu dir: Ein bisschen verrückt, aber liebenswert.“

Ich nehme einen weiteren Schluck von meinem Radler. Was würde ich dafür geben, einfach den ganzen Tag so unbeschwert mit Noah hier zu sitzen und Bier zu trinken, doch die Visionen, die durch meinen Kopf jagen, erinnern mich jede Sekunde schmerzlich daran, dass mein Leben sich nicht länger danach richtet, was ich mir wünsche.

„Was jetzt?“, stelle ich die Frage in den Raum.

„Stehst du eher auf rote oder auf blonde Haare?“

Noahs Gesicht ist völlig unbewegt, doch aus seinen Augen funkelt der Schalk.

„Ich .. ähm … r-rot, denke ich“, überlege ich verwirrt.

„Ein Rotschopf also … interessant.“

Er sieht mich verschwörerisch an.

„Okay, falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich kann dir gerade so was von nicht folgen!“

„Ich denke, das erste was wir tun sollten ist, an deiner Tarnung zu arbeiten“, hilft er mir auf die Sprünge.

Ich fasse mir entsetzt in die Haare, als ich begreife, worauf er hinauswill.

„Du meinst …!“

„Genau das!“

 

 

Knapp eine Stunde später sitze ich in einem Friseursalon und schaue ungläubig meinem nunmehr rothaarigen Pendant entgegen. Noah hat bei seiner Nachbarin ein paar Klamotten für mich ausgeliehen, sodass ich inzwischen meinen Jogginganzug gegen eine bequeme Jeans mit legerem Bohemien-Top eingetauscht habe.

„Nicht übel“, kommentiert Noah. „Was meinst du?“

„Das ist so … merkwürdig.“

Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein. Es ist das erste Mal, dass ich mir die Haare gefärbt habe.

„Aber ich glaube, ich finde es gar nicht so übel. Ich könnte mich dran gewöhnen.“

Wie Markov wohl auf diese Veränderung reagieren würde? Wahrscheinlich würde es ihm nicht gefallen …

„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kannst du deinem Körper so etwas antun? Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie viele schädliche Chemikalien in so einem Farbstoff enthalten sind?...“  

So etwas in der Art würde er wahrscheinlich sagen. Aber warum mache ich mir darüber überhaupt Gedanken? Es ist nicht länger wichtig, was er von den Dingen hält!

Ich fahre mir gedankenverlorenen mit den Fingern durch die Haare. Zumindest wird man mich nun nicht mehr so leicht nur an meiner Frisur erkennen können. Ein kluger Zug von Noah.

Ich war viel zu sehr durch den Wind gewesen, um überhaupt auf so eine Idee zu kommen.

 

Eine Frau mit Buggy in der Mannheimer Einkaufspassage, die sich gerade angeregt unterhält. Eine herannahende Straßenbahn. Ein kleiner Junge auf den Gleisen. Der entsetze Blick des Fahrers.

Ein Sänger in einem ausverkauften Stadion. Tausende Fans jubeln ihm zu, stimmen in seine emotionalen Texte mit ein.

 

„…nah? Hannah, alles okay?“

Noah ist besorgt vor mir in die Knie gegangen, eine Hand fürsorglich auf meine Schulter gelegt.

„Alles okay, nur eine Vision. Ich muss sofort los!“

Die Uhr am Handgelenk der Frau hat 12:51 Uhr angezeigt, mir bleiben also nur knapp fünfzehn Minuten. Der Stärke der Vision zu urteilen besteht kein Zweifel daran, dass sie sich heute ereignen wird. Verdammt, warum habe ich nicht schon früher auf die Vision geachtet?

„Warte, wo musst du hin? Ich fahre dich!“

 

Kapitel 19

„Die Planken hier in Mannheim, an der Ecke Paradeplatz.“, gehe ich dankbar auf Noahs Angebot ein.

„Dann los!“

Wir schaffen es gerade noch in letzter Sekunde, das drohende Unheil abzuwenden. Von da an jagt eine Vision die nächste. Noah besteht darauf, mich zu begleiten, und obwohl ich mich schuldig fühle, da er für mich die Uni schwänzt, bin ich dankbar für die helfende Hand und die angenehme Gesellschaft. Abends kehren wir schließlich völlig erschöpft in seine Wohnung zurück.

„Ich hab im Bad ein paar frische Handtücher und Sportklamotten von mir für dich bereitgelegt. Alles andere findest du in den Schränken. Wenn du sonst noch etwas brauchst, sag einfach Bescheid.“

„Mach ich, danke.“

Glücksseelig strahle ich die Dusche an. Seit drei Tagen habe ich mich nicht mehr richtig waschen können. Da lernt man wieder die einfachen Dinge des Lebens zu schätzen!

Natürlich sind Noahs Sachen um Längen zu groß, aber sie sind bequem und die Hose lässt sich schnüren.

Wie immer begrüßt mich Noah mit einem Lächeln, als ich aus dem Bad komme. Er sitzt auf dem Sofa und ist gerade in ein Buch vertieft. Ich setze mich zu ihm und lege wie er die Füße auf den Tisch. Es ist seltsam, aber schon bei unserer ersten Begegnung habe ich mich sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Jetzt, da ich einen ganzen Tag mit ihm verbracht habe, hat sich das Gefühl noch verstärkt. Ich vertraue ihm bedingungslos und das, obwohl er doch im Grunde ein vollkommen Fremder für mich ist – mal ganz davon abgesehen, dass seine Vorfahren meine Vorfahren verflucht haben! Noah strahlt so eine unglaubliche Wärme und Freundlichkeit aus, wie ich es selten bei jemandem erlebt habe.  

„Warum hast du nicht gerne Besuch bei dir?“ Es ist ein laut ausgesprochener Gedanke. Noah entspricht nicht gerade dem klassischen Einzelgängertyp.

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast heute Morgen gesagt, du hast nicht oft Besuch, daher …“, lasse ich den Satz unvollendet.

Noah klappt sein Buch zu und fährt mit den Fingern gedankenverloren über den Einband.

„Es ist nicht so, dass ich Besuch nicht mag. Es ist wegen dem, was ich bin. Wegen meiner Fähigkeiten.“ Seine Finger verharren mitten in der Bewegung. „Manchmal, wenn ich mich besonders wohl und glücklich fühle und nicht aufpasse, passieren Dinge … Und dann noch die Kräuterküche – nicht gerade unauffällig“, schiebt er scherzhaft nach.  

Dinge?“

„Es ist schwer zu beschreiben …“

Ein spitzbübisches Grinsen legt sich auf seine Züge.

„Am besten ich versuche, es dir zu zeigen!“

Er steht auf, knippst die zwei Stehlampen links und rechts neben dem Fernsehschrank an und schaltet die große Deckenbeleuchtung aus, was den Raum in angenehmes Dämmerlicht hüllt. Anschließend geht er zur Kommode mit dem Schaltplattenspieler und legt auf.

Hello darkness my old friend …

The Sound of Silence von Simon & Garfunkel – wie schön.

Noah setzt sich wieder zu mir, legt die Beine hoch und schließt entspannt die Augen. Ich lasse mich tiefer in die Kissen sinken und tue es ihm gleich, gespannt auf das, was nun kommen soll.

… In restless dreams I walked alone, Narrow streets of Cobblestone …

Das dämmrige Licht und die ruhige Melodie machen mich schläfrig. Hätte das Lied nicht geendet, wäre ich vermutlich eingeschlafen. So öffne ich enttäuscht die Augen, die mir zugefallen sind – und da sehe ich es: Das dämmrige Licht kommt nicht länger von den zwei Lampen, sondern von hunderten kleinen Lichtern, die wie Glühwürmchen durch die Luft schweben. Der Anblick ist atemberaubend!

„Wow … Das … das ist unglaublich!“

Noah hebt eine Hand in die Luft und einige der kleinen Lichtkügelchen fliegen augenblicklich herbei, um dem Ruf ihres Meisters zu folgen. Er lässt die Lichter ausgelassen über seiner Handfläche durch die Luft tanzen, und ich kann nicht anders als näher heranzurücken, um das Spektakel von ganz nah zu betrachten. Nach einigen Minuten lässt er sämtliche Lichter zurück zu den Stehlampen schweben, um sich wieder zu den zwei ursprünglichen Lichtquellen in den Glühbirnen zu verschmelzen.

„Du bist die erste Person, der ich je einen solch intimen Einblick in meine Fähigkeiten gewährt habe – abgesehen von meinen Eltern und meiner Großmutter“, gesteht Noah leise. „Meine Tante war ebenfalls eine Magierin, doch sie hat den falschen Menschen vertraut. Sie hat sich in einen Mann verliebt, der sich letztlich als Wissenschaftler entpuppt und ihr Geheimnis an die Regierung verraten hat. Dieses Erlebnis hat ihr das Herz gebrochen, und sie hat ihre Magie verloren. Die Regierung hat nach einiger Zeit ihre Nachforschungen eingestellt, aber meine Tante hat bis heute nicht wieder die Stimme der Natur vernommen. Ich weiß nicht, ob ich ohne meine Magie leben könnte …“

„Es muss sehr einsam sein, ständig seine wahre Natur vor allen anderen verbergen zu müssen.“

Und obwohl so viel Schmerz und Einsamkeit in ihm wohnt, hat er stets für jeden ein Lächeln übrig.

„Zu sagen es wäre leicht, wäre gelogen“, stimmt er mir traurig zu. „Aus Angst, ich könnte mich in meiner Verliebtheit verraten, habe ich bisher bewusst auf eine feste Beziehung verzichtet, aber als ich dich damals im Café getroffen habe, wusste etwas in mir sofort, dass du anders bist … Erst, als du mir von dieser Foto erzählt hast, ist mir dann allerdings bewusst geworden, wie anders.“

„Du … du hast also nicht nur mit mir geflirtet, weil du wusstest, dass ich eine Vergessene bin?“

Warum beginnt mein Herz mit einem Mal, so schnell zu schlagen?    

„Nein, es war mir ernst“, gesteht er frei heraus. „Du hast mich fasziniert, vom ersten Moment an.“

Ein ungläubiges Kopfschütteln.

„Da verliebe ich mich in die eine Frau, die ich nicht haben kann … Ironie des Schicksals, oder?“

Aufrichtige, strahlend grüne Augen bohren sich in meine. „Nachdem ich wusste, dass du Julians verlorene Seelengefährtin bist … Er ist deine zweite Hälfte, so will es euer Schicksal, die Natur der Vergessenen. Ich musste das Richtige tun.“

„Schicksale lassen sich ändern.“ Wenn ich etwas aus den vergangene Monaten gelernt habe, dann das!

„Die Natur nicht.“

„Unsere bloße Existenz ist gegen die Natur, waren das nicht deine Worte?“, wende ich ein.

„Selbst wenn sie nicht natürlichen Ursprungs sein mag, unter-liegt auch eure Magie gewissen Regeln.“

„Mein Verschwinden hat diese Regeln für mich geändert“, erinnere ich ihn.

„Für eine Zeit lang …“

„Es hat auch mich verändert! Ich bin nicht mehr die Hannah, die ich einmal war,… die ich sein sollte.“ … Die für Julian geboren wurde.

Vor kurzer Zeit war ich noch eine ganz normale junge Frau, und plötzlich bin ich die Seelengefährtin des Oberhauptes einer verfluchten Familie, die mich behandelt wie ein kaputtes Werkzeug, das es zu reparieren gilt. Als ob ich mein Altes Ich einfach so auslöschen könnte!

Tränen treten in meine Augen.

„Bitte entschuldige. Es war ein langer Tag und ich bin müde“, lüge ich, während ich mir wütend die lästigen Tränen wegwische. „Ich gehe jetzt besser ins …“

Doch Noah lässt mich nicht ausreden, sondern zieht mich unvermittelt in seine Arme.

„Wein ruhig.“ Fürsorglich streichelt er mir über den Kopf. „Es ist okay, zu weinen.“

Nun ist es dahin mit meiner Selbstbeherrschung. Ich kralle meine Hände in sein Shirt und tue genau das, lasse alles raus, was sich in den vergangenen Monaten bei mir angestaut hat. Ich weine, heule wie ein Baby, schniefe und schluchze hemmungslos vor mich hin, während Noahs Arme mich festhalten und trösten.

Als die Tränen schließlich versiegt sind, treffen sich unsere Blicke, Blicke, aus denen dieselbe Einsamkeit spricht. Ich wehre mich nicht, als Noah sich zu mir vorbeugt, um mich zu küssen.

Vergib mir, Julian. Leb wohl.

Ein greller Blitz, gefolgt von einem Donnerschlag, der die Erde zum Beben bringt, lässt mich plötzlich erschrocken zusammenfahren. Auch Noah lässt schlagartig von mir ab und blickt beunruhigt hinaus in den stürmischen Nachthimmel, der bis eben noch so friedlich gewesen war. Etwas stimmt hier nicht …

Wieder ertönt ein ohrenbetäubendes Krachen, dieses Mal allerdings scheint es näher, genauer gesagt in diesem Haus. Ängstlich greife ich nach Noahs Hand, ehe die Tür zur Wohnung mit einem gewaltigen Schlag aus den Angeln gehoben wird – und Markov hereintritt.

Für den Bruchteil einer Sekunde spüre ich, wie etwas an meinem Geist rührt, bevor mein Schutzwall brutal niedergerissen wird. Markov dringt mit einer solchen Wucht in mich ein, dass es sich anfühlt, als würde mein Kopf jeden Augenblick in Fetzen gerissen.

Wut. Angst. Enttäuschung. Trauer – seine Gefühle schlagen mit der Macht eines Vorschlaghammer auf mich ein.

Etwas Feuchtes, Warmes läuft meine Nase hinab, und als ich es mit meiner zittrigen Hand aufhalten will stelle ich verängstigt fest, dass es Blut ist. Verzweifelt versuche ich mich zu konzentrieren, um einen neuen Schutzwall zu errichten, mich irgendwie abzuschirmen, aber ich habe nicht den Hauch einer Chance. Die Schmerzen sind kaum auszuhalten, schlimmer als alles, was die Visionen mir je abverlangt haben. Markov ist vollkommen außer Kontrolle.

„… nah?! Han… was … ? … nah?! …. Gott … Blut… !“

Noahs Stimme geht im Schleier meiner Qualen unter, bis diese schließlich alles sind, was ich noch wahrnehmen kann. Meine Sicht beginnt bereits zu verschwimmen, und die Ränder meines Sichtfeldes schwarz zu werden, als sich zwei eisblaue Punkte direkt vor mein Gesicht schieben.  

 

 

Obwohl Hannahs qualvolle Schreie ihm durch Mark und Bein fahren kann er sich nicht davon abhalten, tiefer in ihren Geist vorzudringen. Er muss so tief hinein, dass sie ihn nie wieder würde ausschließen können. Dass sie ihm nie wieder würde davonlaufen können. Dass sie nie wieder einen anderen Mann in ihren Gedanken würde haben können, als ihn.

Vergib mir, Julian. Leb wohl.

Wieder und wieder hallen die Worte ihres unbewusst gesendeten Abschieds in seinem Kopf wider. Beinahe wäre er zu spät gekommen. Beinahe. Allein bei dem Gedanken daran, dass dieser elende Dreckskerl ihr so nahe gekommen ist, dass er es gewagt hat sie, seine Hannah, zu berühren, hätte er am liebsten laut aufgebrüllt und den Fremden mit bloßen Händen erwürgt. Es kostet ihn alles, was er an Selbstbeherrschung aufbringen kann, den Mann nicht anzurühren.

Wenn dir dein Leben lieb ist, nimm die Hände von meiner Frau!“, hört er sich mit mühevoll unterdrückter Wut zu dem Fremden zischen, der noch immer seine widerlichen Hände an seiner Seelengefährtin hat.

Sofort rückt der Mann von Hannah ab und hebt abwehrend die Hände in die Höhe. Beinahe schade, denn hätte er sie nur eine Sekunde später zurückgezogen, hätte Julian seine Mordfantasien definitiv in die Tat umgesetzt.

„Ich tue, was du sagst, aber bitte …!“

Der Mann sagt etwas zu ihm, aber die Worte interessieren ihn nicht länger. Hannah. Endlich ist er bei seiner Hannah!

Gefährlich langsam durchmisst er den Raum, bis er bei ihr ist. Die Hände hat sie zu Fäusten geballt und in ihr wundervolles, dichtes Haar gekrampft, die vor Schmerzen glasigen Augen angstvoll auf ihn gerichtet. Zärtlich wischt er mit dem Daumen etwas von dem Blut beiseite, dass inzwischen beinahe seinen Weg zu ihren Lippen gefunden hat – Lippen, auf die nur er ein Anrecht hat, ehe er erobert, was er schon vor so langer Zeit hätte für sich beanspruchen sollen.

Du bist mein!

Hannah wehrt sich gegen den Kuss, will zurückweichen, was ihn nur umso aggressiver werden lässt. Mit der einen Hand hält er unbarmherzig ihren Kopf, die andere ist eisern um ihre Hüfte geschlungen, sodass es kein Entkommen für sie gibt.

Du bist mein!

Er würde es so lange in Hannahs Gedanken wiederholen, bis auch sie daran glaubt, bis sie begreift, was das Wort Seelengefährten wirklich bedeutet. Bis sie begreift, wie sehr er sie braucht, wie sehr er sie liebt.

Du bist mein!

Als er den Kuss schließlich beendet stellt er erfreut fest, dass er sich mit Hannah wieder in der Wohnung in Frankfurt befindet – genauer gesagt im Schlafzimmer. Er muss sich mit ihr zusammen zurück teleportiert haben, so wie er sich nach ihrer letzten mentalen Botschaft irgendwie automatisch zu ihr teleportiert hatte. Als Jugendlicher hatte er einmal etwas Ähnliches geschafft. Damals galt es, ein Baby aus einem brennenden Haus zu befreien. Er war zu spät eingetroffen und die Flammen hatten bereits überall zu wüten begonnen. Der Säugling hatte aus vollem Halse geschrien, dass man ihn bis hinunter auf die Straße hatte hören können, hatte so sehr am Leben festgehalten, und ehe er es sich versehen hatte, hatte er das Kind auf den rußigen Armen und übergab es der Feuerwehr. Heute allerdings war es sein eigenes Leben, dass er retten musste, sein Herz.

Er nimmt die völlig erschöpfte Hannah auf seine Arme, trägt sie zum Bett und setzt sie behutsam darauf ab. Erst jetzt, da der Sturm in ihm sich etwas gelegt hat, wird ihm bewusst, dass sie ihre schwarzen Haare gegen rote eingetauscht hat. Obwohl er ihre natürliche Farbe bevorzugt, hat dieses Rot etwas. Feurig. Temperamentvoll. Warm. Es passt zu ihr.

Liebevoll streicht er mit den Fingerspitzen über ihre noch immer völlig verängstigten Züge, bis er schließlich bei ihrem verlockenden Mund stehen bleibt.

Du bist mein!

Dieses Mal geht er sanfter vor, aber nicht weniger fordernd. Er drängt sie mit seinem muskulösen Körper zurück, bis ihr nichts anderes übrig bleibt, als sich ganz auf die Matratze sinken zu lassen.

„Julian, bitte …“

Beschämt senkt sie ihren Kopf, nicht länger in der Lage, seinem besitzergreifenden Blick stand zu halten. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein heißeres Flüstern. Da er noch immer in ihren Gedanken ist fühlt er den inneren Kampf, den sie mit sich ausfocht, als sei es sein eigener: Das heftige Verlangen der Seelengefährtin nach ihrem Partner auf der einen, kühle Rationalität auf der anderen Seite. Sie müsste ihn doch hassen, will ihn hassen, und dennoch räkelt sich ihr Körper angeregt unter seinem, verlangt nach mehr, nach allem.

Hör auf zu denken und überlass deinem Körper die Kontrolle, haucht Julian verführerisch in ihren Geist. Um seinen Punkt zu unterstreichen, beugt er sich weiter zu ihr hinab und legt eine Spur zarter Küsse von ihrem Halsansatz bis zu ihrem Ohr, der sie bei jeder Berührung erschauern lässt, während er ihre Hände neben ihr auf das Bett drückt, um sie an Ort und Stelle zu halten. Überlass mir die Kontrolle. Ich weiß, dass du es willst. Und du weißt es auch.

Er spürt, wie ihre Gegenwehr beginnt, zu bröckeln.

Nur ich kann dir alles geben, was du brauchst, alles, was du dir schon immer erträumt hast, wonach du dich heimlich sehnst. Du musst mich nur lassen. Lass es zu. Ein sinnliches Versprechen. Ein Befehl. Lass es zu.

Ich hab Angst.

Ihre dunklen Augen bohren sich flehend in seine, lassen sein Herz unwillkürlich schneller schlagen. Hannah ist der überwältigenden Lust der Seelengefährtin in ihr hilflos ausgeliefert und sich dieser Tatsache nur zu bewusst, versucht noch immer, sich dagegen zu wehren, ein Begehren zu verstehen, dass ein normaler Mensch nie würde nachvollziehen können.

Ich habe auch Angst, gibt er zu. Ich habe noch nie in meinem Leben so stark für jemanden empfunden, jemanden so sehr begehrt. Aber ich kann mich nicht länger vor dieser Begierde verschließen. Ich brauche dich, Hannah. Ich brauche dich so sehr!

Jetzt ist es raus. Er hat emotional vollkommen blank gezogen, hat ihr sein tiefstes Inneres offenbart.

Bevor sie etwas erwidern kann, erobert er erneut ihren unwiderstehlichen Mund, um ihr zu zeigen, dass sein Geständnis keine leeren Worte waren – und sie erwidert den Kuss.

 

 

Ich brauche dich, Hannah. Ich brauche dich so sehr!

Ich fühle die Aufrichtigkeit seines Geständnisses an der Wärme seiner Haut, an seiner harten Männlichkeit, die Markov aufreizend gegen meine empfindsame Mitte presst, an dem Hunger in seinem Blick, der Sehnsucht, die meiner eigenen in nichts nachsteht.

Ich brauche dich so sehr! – und ich brauche ihn!

Ehe ich es mich versehe, erwidere ich seinen Kuss. Die Rationalität hat sich endgültig verabschiedet, mich vollständig der Gnade meiner Gelüste ausgeliefert, die sofort begierig die Führung übernehmen.

Dann nimm mich.

Ich unterbreche den Kuss, um ihm eindringlich in die Augen zu sehen, um ihm das unbändige Verlangen deutlich zu machen, das mein Herz quält, das mich von innen heraus zu zersprengen droht.

Nimm mich, mein Seelengefährte.

Begleitet von einem animalischen Brüllen reißt er mir mit einem einzigen Ruck die Hose vom Leib, allzu bereit, meinem Befehl nachzukommen. Auch meinem Spitzenhöschen gegenüber zeigt er kein Erbarmen. Als ich schließlich völlig ungeschützt vor ihm liege, stößt Markov ein erregtes Knurren aus und entledigt sich rasch seiner eigenen Kleidung. Wie von alleine wandert meine Hand zu seinem entblößten, steifen Fleisch. So hart. So bereit. So männlich.

Kurz lässt er mich gewähren, dann zerrt er meine Hand ungeduldig zurück auf das Kissen.

Sag mir, wie sehr du mich willst, wie sehr du mich liebst. Sag es!

Bitte … bitte, ich halte es nicht mehr aus!, wimmere ich, will ihn endlich in mir spüren, Erlösung finden. Mein Körper fühlt sich an, als würde er in Flammen stehen.

Sag es!, wiederholt er unbarmherzig.

Ich will dich und ich liebe dich so sehr, dass ich an nichts anderes mehr denken kann! Und jetzt bitte …, antworte ich verzweifelt.

Als er mit zwei kräftigen Fingern leicht in meine intimste Stelle eindringt, kann ich ein Stöhnen nicht unterdrücken.

Ja … Ja, bitte …!, stammle ich lustvoll.

Du bist so bereit für mich … So unglaublich heiß und bereit.

Ja … Ja, das bin ich …

Seine eisblauen Augen funkeln mich an, leuchten voll Leidenschaft, voll Liebe, ehe sein Mund erneut den meinen erobert und er gleichzeitig mit einem einzigen, harten Stoß in mich eindringt. Noch nie in meinem Leben hat sich etwas so gut angefühlt, so richtig. Ich begreife, dass ein Teil von mir schon immer ihm gehört hat, immer ihm gehören wird. Erst gemeinsam sind wir vollständig.

Ich bin dein Schicksal, so wie du das meine bist, stimmt er mir zu. Niemand wird dich je so lieben können, wie ich es kann.

Wir finden sofort zu einem gemeinsamen Rhythmus. Ich dränge mich fester an ihn, spüre seine Muskeln, seine Kraft. Mit jeder Vereinigung treibt er mich höher, bringt mich der Erlösung näher, bis wir beide gleichzeitig den Höhepunkt erreichen und ich erschöpft unter ihm erschlaffe.

Er hebt seine Hand unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen.

„Du bist mein!“, keucht er atemlos.

 

 

Bristol, 23:10Uhr

 

Sie soll jung und gesund aussehen. Am besten Anfang zwanzig. Vergewissere dich, dass sie ausschließlich mit Kondom oder Spirale verhütet – keine Pille, keine Spritze, nichts Dauerhaftes!“

Jung lässt sich machen. Das mit dem gesund Aussehen und dieser Verhütungssache ist schon eine härtere Nuss, aber nichts, was nicht zu schaffen ist – und die bloße Verschleppung einer hübschen Hure wäre ja auch zu langweilig gewesen! Neben der fürstlichen Entlohnung und den ultimativen Adrenalinkicks sind es schließlich genau jene Herausforderungen, die ihn schon immer an seinem Job reizen. Das unmögliche möglich machen. Töten. Stehlen. Verprügeln. Ein ums andere Mal diesen elenden Weicheiern von Polizisten ein Schnippchen schlagen. Hach, wie er sein Söldnerbusiness liebt!

Bei zwei Frauen hatte er schon Pech gehabt. Beide hatten stolz verkündet, die Pille zu nehmen. Womöglich hat er ja bei der magischen Drei Glück. Es dauert nicht lange, da fällt ihm eine weitere potentielle Kandidatin ins Auge: jung, ordentliches Make-up, sauberer blonder Pferdeschwanz, rotes Cocktailkleid mit weitem Ausschnitt und ein bemüht laszives Lächeln das verrät, dass die Gute noch am Anfang ihrer fragwürdigen Karriere steht. Er fährt zur Seite und sobald sie seinen Blick erwidert, nickt er zu sich in den Wagen.

„Na Kleine, bereit für einen wilden Ritt?“

„Immer, Süßer!“

„Wie sieht´s bei dir mit Verhütung aus?“, hackt er lässig nach.

„Spirale und Kondom“, gibt sie sofort zurück.

„Und sonst?“

„Ähm … reicht dir das nicht?“

Bingo. Er hat sein Mädchen gefunden.

„War nur ein Scherz, Herzchen!“ Er öffnet ihr die Beifahrertür. „Steig ein!“

Er fährt, bis er eine abgelegene Seitenstraße zwischen zwei Bürogebäuden entdeckt.

„Damit wir ungestört sind, wir zwei!“, erklärt er mit einem versöhnlichen Lächeln.

„Bist wohl ein Schüchterner, was?“, kauft die Schlampe ihm seine aalglatte Lüge ohne weiteres ab.

„Ha, ha, … Du hast mich erwischt!“

„Wie willst du´s machen? Rückbank?“, versucht die Kleine, sich professionell zu geben.

Umso besser. Dann muss er ihren schlaffen Körper später nicht erst wieder zurück schleifen, nachdem er sie betäubt hat.

„Du kannst Gedanken lesen, mein Engel!“

 

Kapitel 20

Oh Gott, was hab ich getan?, ist der erste klare Gedanke, den ich am nächsten Morgen fassen kann, nachdem ich mich dunkel an die Geschehnisse des vergangenen Abends zurück erinnert habe. Ich hatte Sex – mit Markov!  

Im einen Moment bin ich kurz davor, Noah zu küssen, im nächsten taucht Markov wie aus dem nichts auf, zaubert mich irgendwie gewaltsam zurück nach Frankfurt, säuselt etwas von Liebe – und ich lasse mich wie ein dummes, naives Mädchen darauf ein und steige mit ihm ins Bett. Das Schlimmste daran ist, dass es mir auch noch gefallen hat! Naja, gefallen trifft es nicht ganz, unglaublich wäre wohl der passendere Begriff. Phänomenal. Eine Offenbarung. Oh man, was stimmt bloß nicht mit mir?

Hätte ich etwas angehabt, hätte ich mir wenigstens einbilden können, das Ganze sei nur ein furchtbarer Albtraum gewesen – doch ich bin splitterfasernackt! Der einzige Lichtblick: Ich bin alleine im Schlafzimmer.

Ich will mir gerade die Bettdecke um den Körper wickeln und mir etwas zum Anziehen aus dem Schrank holen, als sich die Tür öffnet und Markov mit einer großen, dampfenden Tasse in der Hand eintritt. Instinktiv ziehe ich die Bettdecke höher und hebe sie mir krampfhaft mit den Armen vor die Brüste. Markov trägt nur seine Schlafanzughose, was mir zusätzlich die Röte in die Wangen schießen lässt. Geht es eigentlich noch peinlicher?

„Guten Morgen“, begrüßt er mich und – ich kann meinen Augen kaum trauen – schenkt mir die Andeutung eines Lächelns. Offenbar ist auch er in der Nacht voll auf seine Kosten gekommen. In seinem Ton schwingt eine ungewöhnlich freundliche Note mit, auch wenn weiterhin kühle Herablassung dominiert. „Ich hab dir Kaffee gemacht.“

Er stellt die Tasse neben mich auf den Nachttisch und setzt sich zu mir aufs Bett. Als ich augenblicklich ein Stück zurückweiche, legt sich ein Schatten über Markovs eisblaue Augen.

„Ich … ich würde mich gerne anziehen“, bringe ich mühevoll hervor und weiche beschämt seinem Blick aus.

Er versteht den Wink, nickt und verlässt tatsächlich wieder das Zimmer. Erleichtert lasse ich die Schultern sinken und starre ihm ungläubig nach. Ein Markov, der auf meine Bedürfnisse eingeht – einfach so? Vielleicht träume ich ja doch …

Trotzdem schließe ich zur Sicherheit das Zimmer ab, bevor ich mir rasch eine Jeans und ein Shirt überwerfe. Anschließend erledige ich meine morgendliche Badroutine.

Das war ein einmaliger Ausrutscher!, versuche ich, meinem skeptischen Spiegelbild glaubhaft zu machen. Markov hat mich in einem emotional schwachen Moment erwischt, hat mich geistig manipuliert. Der Fluch hat mich dazu gebracht, diese dämliche Seelengefährten-Sache.

Ich kralle die Hände fester um das Waschbecken.

Es wird nicht noch einmal vorkommen!

Er ist da draußen, halb nackt!, höhnt meine innere Zweiflerin. Du verfällst ja schon bei seinem bloßen Anblick in Paralyse, und seien wir mal realistisch: Wenn er es darauf anlegen sollte, dich wieder zu verführen, würdest du ihn früher oder später gewähren lassen – das weißt du!

Mein Intellekt hätte dem nur zu gerne widersprochen, meine weiblichen Gelüste lecken sich jedoch bereits bei der bloßen Vorstellung daran gierig die Lippen.

Dann muss ich eben dafür sorgen, dass es erst gar nicht so weit kommt!

Wie sehr wünsche ich mir in diesem Moment, dass auch ich mich einfach so wegteleportieren könnte. Da diese Möglichkeit leider flach fällt, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf altmodische Weise die Flucht zu ergreifen. Ich hole noch einmal tief Luft, ehe ich hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer in Richtung Wohnungstür presche. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, dass Markov auf dem Sofa sitzt und fern sieht. Automatisch beschleunige ich meine Schritte, bis mich eine kräftige Hand von hinten packt und zum Stehen zwingt. Wäre ja auch zu schön gewesen!

„Wo willst du hin?“

„Kann dir doch egal sein!“, gebe ich gleichgültig zurück und will ihm meinen Arm entziehen, was aber nur zur Folge hat, dass Markovs Griff sich festigt.

„Hannah, sieh mich an!“, fordert er.

Ich zerre fester, winde mich, bis er mich ungeduldig zu sich herumwirbelt und auch meinen anderen Oberarm packt.

Sieh mich an!

Sobald er in meinen Geist eindringt erstarre ich, kneife die Augen zusammen und mache mich auf Schmerzen gefasst – die ausbleiben.

„Es ist mir aber nicht egal!“ Eine angespannte Pause. „Du bist mir nicht egal!“

„Jetzt, wo du herausgefunden hast, dass jemand anderes sich für das Spielzeug interessiert, das du so achtlos beiseite geworfen hast, ist es also plötzlich gut genug für dich?“, fahre ich ihn wütend an.

Die Wut hilft die Tränen zurück zu halten, die mich bei den Gedanken an seine zahllosen brüsken Zurückweisungen zu überwältigen drohen. Jede einzelne davon war wie ein Stich in mein Herz gewesen, und bei jeder einzelnen hatte er es genau auf diesen Schmerz abgesehen.

Wieder versuche ich, mich zu befreien.

Lass mich endlich los!“, schreie ich verzweifelt. „Lass mich …!“

Unvermittelt zieht Markov mich enger an sich und bringt mich mit einem Kuss zum verstummen. Ich balle meine Hände zu Fäusten, will mich wehren, doch es ist zwecklos. Dieser elende … !

Er gibt meine Lippen erst frei als ich aufhöre, gegen ihn anzukämpfen, mich seiner Stärke unterwerfe. Was bleibt mir auch anderes übrig?

„Ich liebe dich, Hannah!“, gesteht er unverblümt. Das strahlende Blau seiner Augen scheint geradezu Funken zu sprühen. „Ich habe dich von der ersten Sekunde an geliebt, so sehr, dass es mir Angst gemacht hat! Ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte …“ Verzweifelt ringt er nach Worten. „Ich …“

Ich habe dich von der ersten Sekunde an geliebt!

Genau dieselben Worte hat Daniel damals zu mir gesagt, nachdem ich ihn beim Fremdgehen erwischt hatte.

Du bist die Frau meiner Träume! Ich hatte einfach Angst, mich festzulegen, aber jetzt weiß ich, dass du die Eine für mich bist! Bitte Hannah, du musst mir glauben!

Ein Glück, dass ich es nicht getan habe, denn der Kerl unterhielt offenbar einen halben Harem, wie ich später erfahren durfte.  

„Du kannst dir dein schleimiges Gesülze sparen! Ich glaube dir kein Wort!“, gebe ich unbeeindruckt zurück. Diese arroganten Typen sind doch alle gleich! Markov kann es nur nicht ertragen, dass ich ihn zuerst verlassen habe!

Endlich schaffe ich es mich von ihm loszureißen, indem ich ihm mein Knie in den Magen ramme. Aus mit der netten Tour!

Ich bin schon fast bei der Haustür, da werde ich erneut von hinten gepackt. Offenbar war ich nicht böse genug. Markov wirft mich grob über seine Schultern und trägt mich zurück zum Schlafzimmer.

„Lass mich sofort runter!“ Ich trommle wie eine Wilde mit den Händen auf seinen Rücken. „Lass mich runter!“

Er wirft mich aufs Bett, als wäre ich ein Sack Kartoffeln, und beugt sich unheilvoll über mich.

„Ich verlange nicht, dass du mir sofort glaubst, und du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein“, räumt er ein, „aber ich werde nicht noch einmal zulassen, dass du wegen mir blindlings davon läufst und dich in Gefahr begibst. Wer weiß was passiert wäre, wenn dieser Fremde dir nicht geholfen hätte! Und wo willst du schlafen? Auf der Straße?“

Ich verschränke bockig die Arme.

„Deine Sorge um mich ist wirklich rührend, aber unbegründet. Ich war in Sicherheit und es ging mir blendend, als du gestern wie aus dem nichts aufgetaucht bist, oder?“, erinnere ich ihn.

„Das ist also dein Plan? Dich von einer Wohnung zur nächsten zu schlafen?“, schnaubt er verächtlich.

„Mein Plan ist es bei einem Mann zu bleiben, der mich behandelt, wie ich es verdiene!“, feuere ich zurück.

Markov beugt sich noch weiter zu mir vor, bis unsere Nasenspitzen sich beinahe berühren. Ich weiche nicht zurück, weigere mich, erneut klein bei zu geben.

„Zu schade, dass dieser Mann dich inzwischen vergessen hat!“, speit er verächtlich aus.

Nun hat sich das kleine bisschen Freundlichkeit von zuvor endgültig verabschiedet, sein Ton ist eisiger denn je.

Selbstsicher wie immer, was? Aber dein Spott wird dir gleich vergehen!

Ein arrogantes Lächeln stielt sich auf meine Lippen. Dieser Sieg ist mir sicher.

„Zu deiner Info: Sein Name ist Noah und er hat mich nicht vergessen, er wird mich nicht vergessen. Noah ist ein Magier.“

Markov verengt die Augen zu bedrohlichen Schlitzen.

„Es gibt keine Magier mehr, das weißt du.“

„Fast“, präzisiere ich. „Noah ist der letzte seiner Art.“

Schock. Angst. Dieser Schlag hat gesessen!

Ich spüre wie Markov unverzüglich in meinen Geist eindringt, um sich von der Wahrheit meiner ungeheuerlichen Behauptung zu überzeugen. Ich konzentriere mich auf das, was Noah mir erzählt hat, auf die Lichtshow und unser erstes Treffen, gebe ihm freiwillig, wonach er sucht, bevor er es sich gewaltsam nehmen kann.

Jäh entfährt Markov ein animalisches Knurren und ehe ich richtig begreifen kann, was passiert ist, liege ich kerzengerade auf dem Bett, Markov bedrohlich über mir kauernd.

Du wirst nie wieder auch nur in die Nähe von diesem Mann gehen!“, grollt er und hat alle Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten.

„Das hast du nicht zu entscheiden!“, lasse ich mich von ihm nicht einschüchtern. „Und geh gefälligst runter von mir!“

Ich stemme mich gegen seinen unbarmherzigen Griff, aber zur Antwort werden meine Hände nur noch tiefer ins Kissen gedrückt.

„Du bist meine Frau. Du gehörst mir. Ich alleine habe über dich zu entscheiden!“, erwidert er arrogant.

„Ich gehöre niemandem!“

Süffisant lächelnd beugt er sich zu meinem Ohr hinab.

„Ich glaube, dein Körper ist da aber anderer Meinung“, haucht er verführerisch, sendet mir in Gedanken Erinnerungen der letzten Nacht, erotische Bilder, Echos unserer geteilten Leidenschaft. Unwillkürlich durchläuft mich ein wohliges Schaudern. Die Seelengefährtin in mir zerrt verzweifelt an ihren Ketten, lässt Hitzeströme durch meine Blutbahnen jagen, schmerzhaftes Verlangen.

Ich will das nicht! Bitte …

Eine einsame Träne rinnt meine Wangen hinab. Das ist einfach alles so falsch!

Ich liebe dich nicht!

Verzweifelt versuche ich, mich ein letztes Mal gegen seinen Griff zu wehren, stemme mich mit aller Macht gegen die Arme, die mich niederdrücken.

Ich liebe dich nicht!

Dann passiert alles ganz schnell: Der Druck auf meine Handgelenke lässt nach, ein lautes Krachen ertönt und Markov stöhnt gequält auf. Er liegt zusammengekauert auf der anderen Seite des Raumes und rührt sich nicht mehr. Irgendwie habe ich es geschafft, ihn zwei Meter durch die Luft zu katapultieren – die perfekte Chance, um endlich von hier zu verschwinden! Leider macht mein dämliches Gewissen mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung …

Fluchend eile ich mit ängstlich klopfendem Herzen zum verletzten Markov. Reglos liegt er da, an seiner Schläfe klafft eine hässliche Wunde. Als er sich schließlich ächzend regt, durchströmt mich gegen meinen Willen pure Erleichterung.

„Es tut mir so furchtbar leid, das war keine Absicht! Kannst du dich ausetzen?“, erkundige ich mich besorgt.

„Das gibt ein paar ordentliche blaue Flecken, doch ich werde es überleben“, gibt er trocken zurück.

Vorsichtig helfe ich ihm, sich aufzurichten.

„Du hättest dir sonst was brechen können! Das wollte ich wirklich nicht!“

Noch immer bin ich tief geschockt über meine brutale Tat und die Macht, die dahinter steckt. Markov reißt ein Stück aus seiner Pyjamahose, drückt es sich auf die blutende Wunde und lehnt sich dann sichtlich erschöpft an den Wandschrank in seinem Rücken. Ich tue es ihm gleich. Waffenstillstand – zumindest fürs Erste.

„Mir tut es auch leid.“ Er stützt lässig die Ellenbogen auf die angewinkelten Knie und sieht mich entschuldigend an. „Alles. Ich war verbittert, und das habe ich an dir ausgelassen. Der Fluch hat mich übermütig werden lassen, da ich mir sicher sein konnte, dass du mich nicht verlassen würdest. Dann ist der Anschlag passiert, die Regeln haben sich geändert, und als mich gestern dein mentaler Abschied erreicht hat, wurde mir auf einen Schlag erschreckend bewusst, dass du mich jetzt sehr wohl verlassen kannst. Da sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt ...“

Eine Entschuldigung aus Markovs Mund? Es geschehen noch Zeichen und Wunder!

„Liebst du ihn? Den Magier?“ Er stellt die Frage ruhig, beinahe beiläufig, doch ich fühle deutlich die Anspannung, die unter seiner Haut brodelt.

„Ich liebe ihn nicht – zumindest noch nicht“, antworte ich ehrlich. „Aber ich mag ihn sehr, und ich würde mich gerne in ihn verlieben.“

„Was ich vorhin gesagt habe, ist die Wahrheit. Ich liebe dich, Hannah, und ich würde alles dafür tun, dass du mir eine zweite Chance gibst. Uns.“

„Eben wolltest du mich noch vergewaltigen!“, erinnere ich ihn barsch.

Markov fährt sich frustriert mit der Hand übers Gesicht.

„Habe ich dir weh getan?“

Mir ist nicht bewusst, dass ich mir abwesend die Handgelenke reibe, bis Markovs schuldbewusster Blick mich darauf hinweist.

„Es ist schwer sich an einen Moment zu erinnern, in dem du das nicht getan hast!“

Einige Minuten sagt keiner mehr etwas. Schweigend sitzen wir nebeneinander, ohne uns anzusehen.

„Warum hast du mich in jener Nacht mit dir genommen?“

„Ein berufsbedingter Heldenkomplex. Masochistische Tendenzen. Dummheit – such dir was aus!“, gebe ich schulterzuckend zurück.

„Jedenfalls … Danke dafür.“

Erst eine Entschuldigung und jetzt auch noch ein Dankeschön? So langsam wird es echt unheimlich! Vielleicht hat er sich härter den Kopf an gehauen, als gedacht …

„Ist dir eigentlich klar, dass das die erste normale Unterhaltung ist, die wir führen, seit wir uns kennen?“, stelle ich erschreckend fest.

„Eine ziemlich traurige Bilanz“, stimmt er mir zu.

Traurig trifft es nicht einmal annähernd!“

„Jämmerlich? Armselig? Erbärmlich?“, schlägt er vor.

Gegen meinen Willen kann ich mir ein kleines Lachen nicht verkneifen.

„Ein bisschen besser“, lenke ich ein.

„Du siehst hübsch aus, wenn du lächelst, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

Ein Kompliment? Es ist amtlich: Markov ist verrückt geworden!

„Und ansonsten sehe ich nicht hübsch aus?“, frage ich provozierend.

„Du siehst natürlich immer wunderschön aus!“, rudert er rasch zurück.

„Schleimer!“, lache ich.    

„Der Beste!“, präzisiert er.

Wie oft habe ich mich gefragt, welche Person wohl unter der unnahbaren Eisschicht verborgen sein mag – oder ob da überhaupt noch ein Fünkchen Menschlichkeit existiert! Nun, da ich einen kurzen, zaghaften Blick auf diese Person werfen konnte, muss ich mir erschrocken eingestehen, dass mir weit mehr gefällt, was ich sehe, als ich je für möglich gehalten hätte. Doch ein kleiner Moment der Verbundenheit kann nicht so einfach über Monate der Grausamkeit hinwegtäuschen. Das Gewicht unliebsamer Erinnerungen wiegt schwer.

Ich winkle ebenfalls die Knie an und suche seinen Blick.

„Warum jetzt?“, werde ich wieder ernst. „ Ich habe dir so viele Möglichkeiten gegeben, dich zu ändern … Warum ausgerechnet jetzt?“

„Weil ich ein arroganter, verwöhnter, stolzer Idiot war, der nicht aus seiner Haut konnte. Der nicht zu schätzen wusste, was direkt vor ihm lag, bis es nicht mehr da war. Ich habe nur mich und meinen Schmerz gesehen, für alles andere war ich blind.“ Ein schonungsloses Geständnis. „Ich weiß, dass ist keine Entschuldigung, aber es ist das einzige, das ich dir geben kann: Die Wahrheit.“

Ich spüre, dass sein Bedauern echt ist, dass er wirklich bereut, was er getan hat, aber das ändert nichts an den Tatsachen, an den Wunden in meinem Herzen.

„Du hast mich verletzt Julian, sehr verletzt.“ Bei der bloßen Erinnerung beginnt meine Stimme, zu zittern. „Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll, dir zu vergeben, oder ob ich dir überhaupt je vergeben kann.“

„Fang an, wo du willst, wie du willst – solange du es nur versuchst.“ Er schenkt mir ein trauriges Lächeln. „Mehr kann ich nicht von dir verlangen.“  

Er rappelt sich auf und hält mir die Hand hin.

„Ich gehe davon aus, deinen Kaffee hast du nicht angerührt. Würdest du einen mit mir zusammen trinken, wenn ich dir noch einen machen würde?“

Ich ergreife seine Hand und lasse mich von ihm auf die Beine ziehen.

„Wenn du noch was zu essen drauflegst, bin ich dabei.“

Ein gemeinsames Frühstück ist ein Anfang, mit dem ich leben kann. Was danach kommt … Nun, wir werden sehen. Außerdem zehrt Streit am frühen Morgen an den Kräften.

„Sollte sich machen lassen.“

 

Kapitel 21

Eine frisch gebackene Mutter im Kreissaal, die glücklich ihr Neugeborenes an die Brust drückt, ihr Mann an ihrer Seite. Eine Krankenschwester in einem Zimmer voller Babybetten, die gerade einem ihrer kleinen Patienten die Flasche gibt. Ein Großvater, der zum ersten Mal überglücklich seinen Enkel in die Arme schließt.

Eine ungepflegt aussehende Frau mit wildem Blick und einer Pistole in der zitternden rechten Hand, die im Fahrstuhl Richtung Entbindungsstation fährt. Der Kreissaal von zuvor, Schüsse, Schreie, Blut. Krankenhauspersonal, das panisch durch die Gänge rennt. Die Krankenschwester blutüberströmt am Boden. Der Großvater drückt seinen Enkelsohn mit entsetztem Blick fester an sich, bevor sich Schmerz darauf abzeichnet.

 

Markov und ich sehen uns geschockt an, ehe wir synchron zur Wanduhr schauen. Die Uhr im Kreissaal war auf 11:03Uhr gestanden, uns bleiben also noch etwas mehr als neunzig Minuten. So viel zum Thema Frühstück.

„Weißt du, welches Krankenhaus?“, frage ich hoffnungsvoll, während Markov sich rasch die Hände abwäscht – er war gerade beim Obstschälen gewesen.

„Das Klinikum in Schwetzingen“, ist Markov sich sicher.

„Kannst du uns da hin teleportieren?“

„Ich besitze diese Fähigkeiten nur in Ausnahmefällen“, gibt er bedauernd zu und schüttelt den Kopf.

„Und das ist kein Ausnahmefall für dich?“

„Es ist … kompliziert.“

„Das ist es immer …“, seufze ich frustriert. „Wie sollen wir bloß rechtzeitig dahin kommen? Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln schaffen wir das nie!“

Inzwischen haben wir die Wohnung verlassen und hechten zum Fahrstuhl.

„Ich habe uns gestern mit Andres Kontodaten ein Auto besorgt.“

Von seinem Finger baumelt ein Autoschlüssel.

 

 

„Hattest du heute Morgen schon andere … große Visionen?“, will Hannah wissen, meidet dabei jedoch den direkten Blickkontakt zu ihm und sieht abwechselnd nervös auf ihren Schoß und aus dem Fenster. „Ich meine Visionen, die so wichtig waren, dass sie sich in den Vordergrund gedrängt haben … Du weißt schon.“

Es ist das erste Mal, dass sie etwas sagt, seit sie losgefahren waren. Auch das gemeinsame Frühstückzubereiten zuvor war von peinlich berührtem Schweigen überschattet gewesen. Zumindest hatte sie nicht noch einmal versucht, wegzulaufen.

„Nein, nichts Dramatisches … Warum fragst du?“

„Seit wir untergetaucht sind habe ich das Gefühl, die Visionen sind weniger geworden. Nein, weniger ist das falsche Wort, es ist eher als … als passten sie sich unserer Situation an“, sucht Hannah nach den richtigen Worten. „Die Visionen beschränken sich auf einen kleineren Radius, und manchmal sind sie fast verschwunden. Als ich mit dir geflohen bin, zum Beispiel, oder als ich dich gepflegt habe. Oder heute Morgen, als wir … Naja, jedenfalls ist mir das erst später so richtig bewusst geworden. Ist das nur bei mir so?“

„Nein, das ist mir auch schon aufgefallen“, gesteht er. „Ich kann mir das auch nur mit einer gewissen Flexibilität des Fluches erklären. Um dein Leben zu schützen, hat er schließlich über ein Jahrzehnt lang vollkommen ausgesetzt.“

„Ja, das hat er …“, gibt Hannah gedankenverloren zurück.

Schließlich kann sie sich doch überwinden, den Blick vom Fenster abzuwenden und direkt auf ihn zu richten.

„Warum bist du eigentlich immer so rigoros deinen Pflichten als Vergessener nachgegangen? Ich meine was war oder ist deine Motivation?“ Aus ihren dunklen, braunen Augen spricht aufrichtige Neugier, doch ihm entgeht nicht, dass ihre Lider vor Unbehagen noch immer etwas gesenkt sind. „Hattest du nie das Verlangen, einfach alles hinzuschmeißen und das Schicksal Schicksal sein zu lassen? Letztlich ist es doch wie in den Nachrichten: Wir sehen diese ganzen fürchterlichen Sachen zwar, aber sie passieren ja nicht direkt vor unserer Nase. Im Grunde haben sie nichts mit uns zu tun.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, sieht sie rasch zurück auf die Straße.

„Das klang jetzt sicher furchtbar … Ach, vergiss einfach, dass ich was gesagt hab!“, rudert sie schnell zurück und hebt sich peinlich berührt die Hand vors Gesicht.

„Nein, die Frage ist durchaus berechtigt.“

Auch wenn er weiß Gott nicht gerade scharf darauf ist, sie zu beantworten. Aber wenn er das mit Hannah wieder hinbiegen will, muss er anfangen, mit ihr zu reden, sie verstehen zu lassen.

Unwillkürlich krampft er die Hände fester ums Lenkrad.  

„Ich muss neun gewesen sein, da bin ich tatsächlich einmal in Streik getreten“, beginnt er, zu erzählen, ehe er es sich anders überlegen kann. „Ich habe mich geweigert, in den Unterricht oder auf eine Mission zu gehen, hab mich in meinem Zimmer eingeschlossen und keinen Finger gerührt. Aber …“

Er bemüht sich, den fetten Kloß in seinem Hals unbeachtet zu lassen. Noch nie hat er mit jemandem über diesen Vorfall gesprochen. Im Haus war er danach einfach totgeschwiegen worden, und dafür war er mehr als dankbar gewesen.

„Aber … was?“, hakt Hannah nach einigen Minuten zaghaft nach, zwingt ihn, die düsteren Erinnerungen in Worte zu fassen.

„Auch wenn ich nicht mit den Zwölf kooperieren wollte, waren meine mentalen Kräfte noch nicht in dem Maße ausgereift, dass ich sie ganz aus meinen Gedanken ausschließen konnte, wann immer es mir beliebte. Sie haben die Arbeit einfach ohne mich verrichtet. Das ging drei Tage so … Dann hatte Klaus genug.“

Er sorgte als stellvertretendes Oberhaupt stets dafür, dass alle Familiengeschäfte reibungslos verliefen, und das mit durchschlagendem Erfolg. Kaum ein Preis war ihm dafür zu hoch, wenn er überzeugt war, dass am Ende das Ergebnis stimmte. Auch in diesem Fall hatte er sich nicht verrechnet.  

„Du hast eben gesagt, es ist wie in den Nachrichten. Nun, Klaus hat damals dafür gesorgt, dass es nicht mehr so ist. Ich hatte die Vision einer jungen Auszubildenden, die nach Feierabend in einer verlassenen Seitenstraße vergewaltigt und ermordet wurde. Klaus hat seine Verbindungen spielen lassen und ihre Leiche ins Haupthaus geschafft.“

Die Tür zu seinem Zimmer wird aufgestoßen und zwei Männer treten auf ihn zu und packen ihn grob an den Oberarmen.

„Was fällt euch ein? Lasst mich sofort los! Wisst ihr überhaupt, wer ich bin? Ich bin das Familienoberhaupt!“

Unnachgiebig schleifen ihn die Männer nach draußen, ignorieren seine Befehle.

„Eure leeren Drohungen könnt ihr euch sparen – ihr dürft mich nicht verletzen! Ich habe keine Angst vor euch!“, blafft er sie weiter hochmütig an.

Man bringt ihn in den Keller, wo Klaus bereits auf ihn wartet.

„Ich bedauere, dass es so weit kommen musste, Julian, aber du hast mir keine andere Wahl gelassen“, begrüß er ihn mit undurchdringlicher Miene. Er nickt in Richtung des Raumes zu seiner Rechten und die Männer zerren ihn hinein. Der Raum entpuppt sich als leergeräumte Vorratskammer. Leer – bis auf die junge Frau, die in der Mitte der Kammer reglos auf dem Boden liegt.

„Sieh sie dir gut an! Sie musste sterben, weil du dir zu fein warst, ihr zu helfen! Sieh dir an, was dein Egoismus angerichtet hat!“, schiebt Klaus kalt hinterher.

Die Männer lassen ihn so abrupt los, dass seine Knie von dem plötzlichen Gewicht nachgeben und er ungelenk auf den staubigen Boden sackt. Bevor er sich wieder aufrappeln kann, geht das Licht aus, er hört hinter sich die Tür ins Schloss fallen und dann das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels. Ohne der Frau Beachtung zu schenken, rennt er zurück zur Tür und hämmert wütend dagegen.

„Lasst mich hier raus! Macht die Tür auf! Ich bin das Familienoberhaupt! Macht die Tür auf, ich befehle es euch!“

Doch die Tür bleibt verschlossen. Selbst nach stundenlangem Schreien und Klopfen tut sich nichts. Völlig erschöpft und schweißgebadet lässt er sich schließlich auf den Boden sinken. Sollen sie ihn doch mit einer Leiche in dieses Loch sperren – es ist ja nicht so, als hätte er zuvor noch nie eine gesehen! Er wird sie einfach weiterhin ignorieren. Irgendwann würde Klaus klein bei geben müssen. Er konnte ihn nicht ewig hier im Keller einsperren.

Stunde um Stunde kriecht dahin. Irgendwann muss er eingenickt sein, denn als er die Augen öffnet, steht neben ihm ein Tablett mit einem deftigen Mittagessen und einer Flasche Wasser. Zornig schleudert er den Teller mit dem Essen gegen die Tür, setzt sich hin und schläft weiter.

Fünf Tage geht das so. Mittlerweile hat der Verwesungsgeruch eingesetzt, und obwohl er sich konsequent geweigert hat, etwas außer Wasser zu sich zu nehmen, dreht sich ihm bei dem bestialischen Gestank der Magen um. Mehrmals muss er würgen, spuckt Galle.

„Es ist nicht meine Schuld.“

Woher dieser gekrächzte, jämmerliche Satz auf einmal kommt, kann er selbst nicht recht beantworten. Er schiebt es auf die Langeweile, den Hunger, das schwache Licht, dass die zwei winzigen Fenster spenden, und die immer dünner werdende Luft.

Er steht auf und schleppt sich zu der Toten, sieht ihr zum ersten Mal in das entstellte, leblose Gesicht.

„Wärst du nicht in so eine gottverlassene Gegend gegangen, wärst du jetzt noch am Leben!“, schnauzt er sie abfällig an. „Was kann ich denn für deine Dummheit, du dämliche Gans!“

Vor seinem geistigen Auge taucht wieder und wieder ihre fröhliche, ausgelassene Miene auf, während sie in Alten- und Kinderheimen gemeinnützige Arbeit leistet. Eine Zukunft, die es nun nie geben wird. Eine Zukunft, die er hätte schaffen können. Stattdessen starren ihm tote Augen entgegen, ein Körper gezeichnet von Spuren brutaler Gewalt. Der Täter hatte sie leiden lassen. Der Tod war am Ende eine Gnade für sie gewesen. Sie hatte unvorstellbare Qualen erlitten, während er in seinem Zimmer gesessen und der Welt die kalte Schulter gezeigt hatte.

„Hör auf, mich so anzustarren!“

Tränen treten in seine Augen.

„Es ist nicht meine Schuld! Es ist nicht meine Schuld!

Jetzt, da er einmal ihr Gesicht gesehen hat, will es ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ihr lachendes Gesicht. Ihr lebloses Gesicht. Ihr lachendes Gesicht. Ihr lebloses Gesicht …

Verzweifelt fällt er vor der Leiche auf die Knie und bricht in haltloses Schluchzen aus.

„Vergib mir! Bitte, bitte vergib mir!“    

Hannahs erschrockenen, blassen Zügen zu urteilen, muss er versehentlich die Erinnerung mit ihr geteilt haben. Er war durch die Zwölf daran gewöhnt, ständig mit jemandem in geistigem Austausch zu stehen, eine Gewohnheit, die er sich bei seiner unerfahrenen Seelengefährtin dringend würde abgewöhnen müssen.

„Noch heute sehe ich ihr Gesicht ganz klar vor mir: die glasigen, vor blankem Entsetzen weit aufgerissenen Augen, die blauen Flecken, die Schrammen … Ich war Schuld an ihrem Tod.“ Ein leises, beinahe geflüstertes Geständnis. Ja, er war Schuld am Tod eines Menschen, und er hatte sich geschworen, eine derartige Schuld nie wieder auf seine Schultern zu laden, nie wieder in solch verlorene Augen blicken zu müssen. „Danach habe ich meine Bestimmung nie wieder in Frage gestellt.“

„Glaubst du das heute immer noch? Dass es deine Schuld war?“, fragt Hannah.

„Ich hätte sie retten können …“, setzt er tonlos an.

„Klaus hätte sie auch retten können. Die Zwölf hätten sie retten können“, wendet Hannah ruhig ein – zu ruhig. Empörung. Wut. „Außerdem warst es nicht du, der sie vergewaltigt und ermordet hat, oder? Es war nicht deine Schuld! Du warst damals noch ein Kind!“

„Ein Kind, das seinen Platz noch nicht kannte“, verteidigt er Klaus, obwohl er sich ins Geheim darüber freut, dass Hannah für ihn Partei ergreift.

„Was Klaus getan hat, war einfach nur grausam! Er hätte einen anderen Weg finden müssen!“, beharrt sie.

„Der Zweck heiligt manchmal die Mittel“, entgegnet er überzeugt. „Klaus ist für mich wie ein Vater. Das Ganze hat ihn ebenso mitgenommen, wie mich. Er hat getan, was er zum Wohle aller für das Richtige hielt.“

„Und was ist mit deinem Wohl?“, schießt Hannah aufgebracht zurück. „Vergessener hin oder her – du bist trotzdem ein menschliches Wesen!“

Mitleid. Sorge. Hannah sorgt sich um ihn, auch wenn sie sich dessen in ihrer aufgebrachten Stimmung vermutlich nicht bewusst ist. Sein Herz macht einen beinahe schmerzhaften Satz. Er war für alle immer nur das Familienoberhaupt, der Vergessene. Noch nie hatte sich jemand so für ihn eingesetzt, darauf bestanden, ihn als fühlendes, selbstständiges Individuum zu betrachten. Doch so sehr in Hannahs Protest in diesem Fall auch freut – er ist nun einmal der Vergessene, und so sehr ihm diese Tatsache auch missfällt, sie lässt sich nun einmal nicht ändern.

„Du bist noch nicht lange genug in unserer Welt, um so etwas verstehen zu können …“,

„Vielleicht sehe ich gerade deswegen Dinge, die du längst nicht mehr siehst“, kontert sie nuschelnd, dann, lauter: „Was hast du eigentlich mit deiner Hand angestellt?“

Ein Themenwechsel. Vermutlich das Beste. Keiner der beiden würde so schnell von seinem Standpunkt abzubringen sein.

Julian folgt Hannahs Blick zum Schaltknüppel und seiner rechten Hand, die er am Vortag nachlässig mit einem Verband umwickelt hatte.

„Ich musste etwas Dampf ablassen und war unvorsichtig“, antwortet er ehrlich.

„Der Badspielegel!“, ruft sie verstehend aus. Natürlich war ihr der kaputte Spiegel aufgefallen. „Ich hab mich schon gewundert …“

 

 

„Wie sieht eigentlich dein Plan aus?“, will ich von Markov wissen. Wir biegen gerade in den Parkplatz der Klinik ein. Uns bleibt noch fast ein halbe Stunde, der Verkehr war auf unserer Seite.

„Ich fange die Frau im Fahrstuhl ab, entwaffne sie und übergebe sie dem Krankenhauspersonal“, erwidert er knapp, selbstsicher wie eh und je, während er gekonnt einparkt. „Vorher sondieren wir noch die Umgebung, nur für den Notfall. Immerhin haben wir noch etwas Zeit tot zu schlagen, die können wir auch sinnvoll nutzen.“

Ich war schon oft genug mit Markov unterwegs und weiß aus erster Hand, dass er nicht nur große Reden schwingt. Es gibt kaum etwas, dass dieser Mann nicht kann, und ich habe noch nie erlebt, dass er eine Situation falsch eingeschätzt hat. Dennoch ist meinem Magen nicht ganz wohl bei der Geschichte.

Eine ungepflegt aussehende Frau mit wildem Blick und einer Pistole in der zitternden rechten Hand. Schüsse, Schreie, Blut.

Ohne Vorwarnung greift Markov nach meiner Hand und entreißt mich so meinen trüben Überlegungen.

Du bist in der neunten Woche und wir sind seit einem Jahr verheiratet.

Um nicht aufzufallen, will er dem Klinikpersonal also das glückliche Pärchen vorspielen – nichts Neues. Die Art allerdings, wie er meine Hand hält, dagegen schon. Nicht aggressiv und arbeitsmäßig wie sonst, sondern sanft und fast … liebevoll.

Hör auf, einfach in meinen Kopf reinzuplatzen!, schimpfe ich, um mich schnell auf andere Gedanken zu bringen, lasse meine Hand allerdings in seiner.

Gewohnheit, entschuldige. Nächstes Mal klopfe ich vorher an, verspricht er mir gespielt ernst begleitet von einem Lächeln, das tausend Schmetterlinge durch meinen Bauch jagt.

Reiß dich gefälligst zusammen, Hannah! Da macht der Typ ein bisschen auf Mitleid und lässt einmal den Fürsorglichen raus hängen und du lässt dich gleich einlullen!, will die Stimme der Vernunft in mir dem Frieden nicht trauen. Er ist immer noch Markov! Der Markov, der dich in den vergangenen Monaten behandelt hat, wie der letzte Dreck, der deine Gefühle mit Füßen getreten hat – und muss ich dich ernsthaft an den Vorfall gestern Abend erinnern?

Wenn ich mit den Zwölf Kontakt aufnehmen könnte, würdest du vermutlich längst irgendwo verrotten!

Die Schmetterlinge verschwinden. Ja, er ist immer noch Markov.

Auf der Entbindungsstation zieht er seine übliche Charmebolzen-Nummer ab.

„Wir möchten uns erst einmal alleine einen Eindruck von der Station verschaffen, wenn sie gestatten“, weist er die Hilfe der Hebamme, der wir als erstes ins Auge gefallen sind, freundlich ab. Den Satz garniert er noch mit einem strahlenden Lächeln, woraufhin die Frau ohne zu zögern stotternd ihr Einverständnis gibt.

„Oh, a-aber n-natürlich! Schauen Sie sich ruhig so lange um, wie … wie Sie wollen!“

Mit einem eifersüchtigen Blick auf mich und sichtbar geröteten Wangen zieht sie wieder von dannen. Ich verdrehe genervt die Augen. Dass er auch immer so maßlos übertreiben muss!

Klopf, klopf.

Ich beiße mir auf die Lippen, um mir ein Grinsen zu verkneifen. Nicht einlullen lassen, Hannah!, rufe ich mich zur Ordnung. Bleib stark!  

Herein.

Eifersüchtig?

Hättest du wohl gerne!

Markov beugt sich zu mir hinab und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

Stimmt.

Dieser unmögliche …! Reflexartig will ich ihn von mir stoßen, aber er ist schneller und zieht mich in eine unnachgiebige Umarmung.

Ich weiß, du traust mir nicht – und das habe ich weiß Gott verdient, aber ich meine es ernst, Hannah. Ich liebe dich. Ich will mit dir noch einmal von vorne anfangen.

Du hast recht, ich traue dir nicht, kein Stück!

Ich will mich aus der Umarmung lösen, doch es ist hoffnungs-los.

Ich werde nicht aufhören dir die süßen Worte zu schenken, die du verdienst. Immer und immer wieder werde ich sie dir schenken, und irgendwann wirst du ihnen trauen.

Pah, träum weiter!

Widerwillig entlässt er mich aus seiner Umarmung, die Hand allerdings noch immer mit meiner verschränkt und den Blick seiner strahlend blauen Augen schmerzlich intensiv auf meine gerichtet. Mit der freien Hand fährt er unvermittelt durch meine offenen Haare und fängt eine Strähne ein.

„Diese Farbe steht dir wirklich gut.“

Immer noch Markov! Immer noch Markov!, bete ich wie ein Mantra vor mich hin, da die blöden Schmetterlinge kurz vor einer Rückkehr stehen.

Er lässt die Hand sinken, lächelt entwaffnend und zieht mich weiter. Als wir das Babyzimmer passieren, bleibe ich vor der großen Glasscheibe stehen. Die Schwester aus der Vision hat bereits ihre Arbeit aufgenommen und füttert den ersten hungrigen Säugling. Traurig bestaune ich die kleinen Wunder, von denen mir nie eines vergönnt sein wird. Markov legt mir mitfühlend den Arm um die Schulter und zieht mich enger an sich.

„Komm Schatz, gehen wir weiter.“

Ausnahmsweise befolge ich seinen Befehl ohne Wiederworte.

Nach unserem Stationsrundgang gehen wir in die Cafeteria.

„Warte hier. Ich komme dich abholen, sobald ich fertig bin.“

„Okay“, verspreche ich, froh, ihm endlich meine Hand entziehen zu können. Anstatt mich allerdings befreit zu fühlen, fühle ich mich bedrückter als zuvor.

Wilde Augen. Schüsse. Blut.

Markov tätschelt mir beruhigend den Kopf.  

Mach dir keine Sorgen!

Mach ich nicht! - Und du hast das Anklopfen vergessen!, schiebe ich hinterher, um von der Lüge abzulenken.

Bitte verzeih. Alte Gewohnheiten sind eben schwer tot zu kriegen, aber ich gelobe Besserung!

Sobald er aus meiner Sicht verschwunden ist, fühle ich mich noch mieser.

Du hättest ihm wenigstens ein obligatorisches `Pass auf dich auf´ zugestehen können, oder?, empört sich mein Gewissen über meinen kindischen Stolz. Und war diese Zurechtweisung wirklich nötig?

Ja, war sie!, schnauzt mein Stolz zurück.

 

 

Augenscheinlich gelassen sitzt Julian auf einem der bereitgestellten Sofas im Eingangsbereich und liest Zeitung, doch der Anschein trügt. Er ist vollkommen auf die Eingangstür fixiert. Niemand, der dieses Krankenhaus betritt, entgeht seiner Aufmerksamkeit. Nicht mehr lange. Die Frau muss jede Sekunde das Krankenhaus betreten.

Ein älteres Ehepaar Arm in Arm … Ein Mann mit einem bunten Blumenstrauß in der Hand … Eine Frau mit zwei kleinen Kindern, gefolgt von einer Frau mit ungepflegtem Äußeren und verstörtem Blick – Showtime!

Langsam legt Julian die Zeitung beiseite und folgt der zukünftigen Attentäterin möglichst unauffällig zu den Aufzügen. Eine Hand hat sie in die Jackentasche gegraben, vermutlich befindet sich die Waffe darin. Sie wartet, bis sie glaubt, einen Fahrtstuhl für sich alleine zu haben. Im letzten Moment vereitelt er ihren Plan und schlüpft mit einem gewinnenden Lächeln zu ihr in die Kabine.

Die Augenbrauen der Frau ziehen sich skeptisch zusammen, ihre Körperhaltung wechselt schlagartig von verträumt zu alarmiert. Ihre Psyche mag tief gestört sein, dennoch verfügt sie offenbar über einen außergewöhnlichen Scharfsinn. Trotzdem hat sie keine Chance gegen ihn.

Julian bleibt gelassen, lässt sie glauben, die Oberhand zu haben, doch kaum dass sie die Pistole aus ihrem Versteck geholt hat, stürzt er sich auf sie und entwendet ihr mit einem geschickten Griff die Waffe. Anstatt allerdings verblüfft zu sein, verpasst sie ihm unvermittelt einen heftigen Tritt gegen das Schienbein, der ihn überrascht zurücktaumeln lässt, greift in die andere Jackentasche, zückt ein Messer und zielt auf seine Kehle. Überrumpelt von dieser Abgebrühtheit schafft Julian es nicht mehr rechtzeitig, die Frau ein zweites Mal zu entwaffnen, sondern nur noch, reflexartig zum Schutz den Arm vor sich zu halten, wofür er sogleich die Rechnung erhält. Schmerzhaft dringt die scharfe Klinge in sein Fleisch, doch der Schmerz hilft ihm, sich wieder zu fassen. Bevor die Frau ein zweites Mal auf ihn einstechen kann, verpasst er ihr mitleidlos einen rechten Hacken, der sie bewusstlos zu Boden sinken lässt. In dem Moment öffnen sich die Türen.

 

    

Warum dauert das so lange?

Nervös reibe ich mir den Arm. Ich hätte schwören können, vorhin kurz einen fürchterlichen Schmerz von dort aus gespürt zu haben.

Ihm wird doch nichts passiert sein, oder?

Nicht im Stande, noch länger still sitzen zu bleiben, springe ich auf und flaniere den Gang vor der Cafeteria auf und ab. Jedes Mal wenn ich höre, dass sich die Fahrstuhltüren öffnen, schaue ich erwartungsvoll hinüber, nur um anschließend wieder enttäuscht den Kopf zu senken. Eine halbe Stunde. Markov ist nun schon eine gute halbe Stunde weg.

Wieder öffnen sich die Türen eines Aufzuges. Wieder Fehlalarm.

Komm schnell ins Treppenhaus, hallt es drängend in meinem Geist wieder. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Markov ist okay.

Ich zögere keine Sekunde und renne zum nächsten Treppenhauszugang, wo Markov gerade die Stufen heruntergestürzt kommt.

„Wir müssen sofort hier weg! Eine der Schwestern hat mich erkannt!“, erklärte er kurz angebunden, greift nach meiner Hand und rennt weiter.

„Was … was meinst du damit?“, hechle ich bei dem Versuch, mit seinem zügigen Tempo mitzuhalten.

„Vermutlich hat Klaus sämtliche öffentlichen Einrichtungen in der Gegend gebeten, nach uns Ausschau zu halten, oder eigene Leute dort postiert.“

Da verstehe ich.

Eine Angestellte fällt mir ins Auge, die etwas abseits des Geschehens hektisch in ihr Handy spricht. Einige Wortfetzen dringen an mein Ohr.

„ … Asiatin, wie Sie gesagt haben … Junge gerettet … trägt nur Jogginganzug …“, erinnere ich mich an die Geschehnisse des Vortags. Kaum fünf Minuten später stand Verstärkung samt einem der Zwölf auf der Matte. Uns bleibt also nicht viel Zeit.

Ich fühle etwas feuchtes, klebriges an meinen Fingern. Als ich auf unsere verschränkten Hände blicke stelle ich erschrocken fest, dass es sich dabei um Blut handelt. Erst jetzt bemerke ich den großen, dunklen Fleck auf seinem Shirt etwas unterhalb des Ellenbogens. Der Schmerz war also doch keine Einbildung gewesen.

„Du bist verletzt!“

„Eine kleine Fleischwunde, ist halb so wild.“

Die Menge an Blut, die er verliert, spricht allerdings eine andere Sprache.

„Bist du dir wirklich sicher, dass die Schwester dich erkannt hat?“, frage ich hoffnungsvoll.

„Ganz sicher!“

Verdammt!

Inzwischen sind wir im Erdgeschoss angelangt. Markov drängt mich hinter ihm zu bleiben und sieht nach, ob die Luft rein ist.

„Ich kann noch niemanden sehen. Beeilen wir uns!“

Zügigen Schrittes verlassen wir die Klinik. Glücklicherweise fällt niemandem Markovs Verletzung auf. Gerade als wir an unserem Auto angelangt sind, fahren drei schwarze Wagen auf den Parkplatz. Bevor Markov Einwände erheben kann, nehme ich ihm die Schlüssel aus der Hand.

„Ich fahre.“

Es ist das einzige, was wir momentan für seine Verletzung tun können: Den Arm ruhig stellen. Mit unseren Verfolgern im Nacken bleibt Markov nichts anderes übrig, als mein Diktat zu

akzeptieren. Widerwillig nimmt er auf dem Beifahrersitz Platz.

Ich warte, bis die drei Autos geparkt haben, ehe ich langsam losfahre, um keinen Verdacht zu erregen. Zunächst geht mein Plan auf, doch als wir an einem der Neuankömmlinge vorbeifahren und der Mann einen Blick ins Innere unseres Wagens wirft, blitzt in seinen Augen gefährliche Erkenntnis auf und er kommt sofort schreiend auf uns zu.

„Gib Gas!“, befiehlt Markov überflüssigerweise, denn genau das tue ich gerade.

 

Kapitel 22

 

Julian, bist du es?

Armin. Einer seiner Zwölf.

Julian, bit …

Rasch schirmt er Hannahs und seinen Geist ab. Ihr Blick ist angestrengt auf die Straße geheftet, offenbar hat sie nichts von dem mentalen Zugriff gespürt. Ein Glück, sie ist so schon verängstigt genug.

Alles in ihm sträubt sich gegen die Errichtung dieser unnatürlichen Mauer, drängt ihn, Armins Stimme zurückzuholen. Die Beziehung zu seinen Zwölf war stets geschäftsmäßiger Natur gewesen, wie auch seine Beziehung zu Isabella, wie seine Beziehung zu jedem in der Familie, nichts Emotionales. Dennoch hatte er tagtäglich mit ihnen gesprochen, sei es nun physisch oder mental, seine Gedanken zu den Visionen mit ihnen geteilt und manchmal … manchmal an besonders dunklen Tagen unwillkürlich seinen Schmerz. Die Zwölf waren stets kompromisslos hinter ihm gestanden, hatten ihm nach Kräften den Rücken gestärkt. Eine solche Verbindung, so kühl und abgeklärt sie auch gewesen sein mag, hinterlässt Spuren, ob es einem passt oder nicht.

Geschickt fährt Hannah durch ein Labyrinth aus Seitenstraßen, um ihre Spur zu verwischen. Zudem hat sie schnell reagiert und ihnen so einen kleinen, aber bedeutenden Vorsprung verschafft. Am Ende geht ihre Rechnung auf.

„Wir haben sie abgehängt“, versichert er ihr schließlich auf der Landesstraße Richtung Mannheim, nachdem er vorsichtig nach Armins Geist getastet und sich vergewissert hat, dass dem tatsächlich so war.

Bei seinen Worten weicht sichtbar die Anspannung aus ihrem Körper. Hannah fragt nicht, woher er dieses Wissen nimmt, vertraut ganz auf seine Fähigkeiten. Wahrscheinlich ist sie sich dessen nicht einmal bewusst, dennoch freut es ihn.

„Blutet es noch?“

Sie wirft einen besorgten Blick auf seinen verletzten Arm.

„Ein bisschen.“

„Was ist passiert? Wurdest du angeschossen?“

„Die Waffe konnte ich ihr entwenden, aber sie hatte noch ein Messer. Damit hatte ich nicht gerechnet.“

„Die Pistole konntest du ihr also abnehmen, aber nicht so ein … so ein dummes Messer?“ Obwohl sie sich bemüht, vornehmlich wütend und herablassend zu klingen, gelingt es ihr nicht, über die Angst und die Sorge, die sie damit zu verbergen sucht, hinwegzutäuschen. „Und warum hast du so lange gebraucht?“

„Ich musste dem geschockten Personal erst einmal die Situation erklären und sie ausreichend vor der Attentäterin warnen“, verteidigt er sich. „Anschließend musste ich dann möglichst unauffällig mit einer zentimetertiefen Stichwunde im Arm türmen und das, obwohl sämtliche Schwestern darauf bestanden, mich zu versorgen.“

Er in seiner Pyjamahose in ihrem Ehebett, umgeben von einem Dutzend spärlich bekleideter Krankenschwestern, die sich lasziv um ihn ranken.

Es dauert einen Moment bis Julian begreift, dass diese absurde Szene nicht seinem eigenen Geist entsprungen war, sondern eine von Hannahs Projektionen ist. Ihm entfährt ein belustigtes Prusten, während Hannahs Wangen die Farbe von Chili annehmen. Wie kann sie etwas so Lächerliches auch nur denken? Als ob es für ihn jemals eine Andere geben könnte!

„Hör endlich auf, ständig in meinen Kopf zu schauen! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“, rechtfertigt sie kleinlaut ihre alberne Fantasie.

Du hast mir den Gedanken übermittelt, ich wasche meine Hände in Unschuld!“

Das feurige Rot weicht so schnell aus ihren Wangen, wie es gekommen ist. Sie wirkt nachdenklich. Was hat diesen abrupten Stimmungsumschwung bewirkt?

„Ich habe dich zuvor noch nie richtig lachen gehört.“ Eine traurige Feststellung. Schnell wird auch er wieder ernst.

„Es ist nicht jeder eine Frohnatur wie du.“

Anders als seine Seelengefährtin hatte er nie die Chance bekommen zu lernen, fröhlich zu sein. Erst sie hatte Lachen in sein Leben gebracht, Freude, Glück – zumindest soweit es einem Vergessenen eben möglich war, diese Gefühe zu empfinden.

Hannah geht von der Landesstraße ab, fährt in eine Tankstelle ein und parkt so abseits wie möglich.

„Weißt du, wo bei diesem Wagen der Erste-Hilfe Kasten ist?“

„Im Kofferraum.“

Damit Hannah besser an die Verletzung kommt, wird die Rückbank des Autos kurzfristig zur provisorischen Arztpraxis umfunktioniert. Behutsam schneidet sie zunächst großzügig den blutgetränkten Stoff rund um die Stichwunde weg und säubert vorsichtig seinen Unterarm, ehe sie einen genaueren Blick auf die Wunde wirft, die noch immer leicht blutet.

„Sieht ziemlich tief auf. Eigentlich müsste man das nähen lassen.“

Die sanften Berührungen ihrer Finger sind tröstlich und jagen wohlige Schauer durch seinen Körper. Nah. Hannah ist so unglaublich nah. Ihr berauschender Duft umhüllt ihn, frisch wie eine Brise an einem schwülen Sommertag, berauschend.

„Verletzungen heilen bei uns schneller, als bei gewöhnlichen

Menschen“, bringt er mühevoll heraus. „Wenn du die Wunde desinfizierst und ordentlich verbindest, sollte es keine Probleme geben.“

„Okay, das wird jetzt gleich ziemlich brennen“, warnt sie ihn, bevor sie mit dem Desinfizieren beginnt. Die Schmerzen, die folgen, treiben ihm beinahe die Tränen in die Augen, aber irgendwie gelingt es ihm, den Arm still zu halten. Er konzentriert sich auf Hannahs seidige, rote Haare und ihren geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck. Sorgenfalten verunzieren ihre sonst so makellose Stirn, die vollen Lippen hat sie angestrengt aufeinander gepresst. Was würde sie tun, wenn er ihr nun einen Kuss stehlen würde? Würde sie ihn wegstoßen? Den Kuss erwidern?

„So, geschafft!“

Erleichtert blickt sie zu ihm auf, den Mund leicht geöffnet. Der Seelengefährte in ihm wirft sich bei diesem einladenden Anblick flehend zu seinen Füßen, zieht und zerrt an seinen Ketten, brüllt sein Begehren laut heraus, will noch einmal von der Süße des Paradieses kosten.

Er erobert ihre heißen Lippen und dringt gleichzeitig mit einem einzigen, harten Stoß in sie. So eng. So unglaublich feucht und eng. Sein …  

Es kostet ihn all seine Willenskraft dem Verlagen zu widerstehen, sie einfach brutal an sich zu reißen und sich zu nehmen, was nur ihm zusteht, wie er es schon einmal getan hatte. Stattdessen streicht er ihr mit der unverletzten Hand eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Danke“, haucht er ehrerbietig.

Die Belohnung für seine Zurückhaltung ist eine zarte Röte auf Hannahs Wangen und ein schüchternes Lächeln.

„Gern geschehen“, gibt sie leise zurück.

Es wird dauern, doch er ist fest entschlossen, sich Hannahs Vertrauen aufrichtig zu verdienen, und irgendwann … irgendwann wird sie ihn vielleicht sogar lieben können. Mit diesem Ziel vor Augen äußert er seinen nächsten Satz, ehe er es sich anders überlegen kann.

„Dann gehen wir diesem Magier mal einen Besuch abstatten.“

 

 

Ich blinzle verwundert. Blinzle nochmal. Und nochmal. Hat Markov gerade wirklich gesagt, was ich meine gehört zu haben?

„Ob es mir gefällt, oder nicht: Wenn der Kerl wirklich ist, wer er vorgibt zu sein, brauchen wir seine Hilfe“, gibt Markov mühevoll beherrscht zu Protokoll. „Außerdem sind wir sowieso schon auf dem Weg zu ihm, oder?“

Erwischt.

„Der Magier … Noah hat mich aus einer ähnlichen Situation gerettet, wie unserer eben“, beginne ich zu erzählen, als wir wieder auf der Straße sind, um ein paar Pluspunkte für Noah einzufahren.

„Ich weiß“, kommt es kühl von Markov.

„Du … du weißt davon? Woher ...“, stammle ich verwirrt.

„Du hast dich damals in deiner Angst unbewusst mit meinem Geist verbunden.“

Ich werde kreidebleich, als ich verstehe. So muss er mich letztlich auch aufgespürt haben. Leb Wohl, Julian. Wie konnte ich nur so dumm sein?

„Verstehe. Das war allerdings nicht das erste Mal, dass ich ihm begegnet bin.“

Obwohl seinen Züge nur wie üblich überhebliche Distanz widerspiegeln, kann ich seine Wut förmlich in der Luft schmecken, das Brodeln hören, das in ihm wütet.

„Tatsächlich?“, hakt er gefährlich leise nach.

Ich berichte ihm von unserer Vorgeschichte und auch, dass letztlich Noah es war, der mich zurück zu ihm geführt hat.

„Ironie des Schicksals“, kommentiert er das Gehörte schließlich. Ein hartes Lächeln spielt um seine Lippen, wie bei einem Boxer kurz vor einem Kampf.

Das mit den Pluspunkten war dann wohl nichts, schießt es mir bitter durch den Kopf.

 

 

Zehn Minuten später stehen wir vor Noahs Wohnblock. Bevor ich klingle, halte ich kurz inne und werfe Markov einen besorgten Blick zu.

„Nun mach endlich, ich werde deinen Magier“ – er speit das Wort geradezu aus – „schon nicht zerfleischen.“

Zumindest nicht, solange wir ihn noch brauchen, schiebt er präzisierend nach. Ich kann ihn nicht gut genug einschätzen um sicher sagen zu können, ob das wirklich nur als Scherz gemeint ist, aber wie heißt es immer so schön: „Im Zweifel für den Angeklagten“. Daumen drücken und das Beste hoffen.

„Hallo?“, ertönt Noahs Stimme aus der Freichsprechanlage.

„Hallo Noah, hier sind Hannah und … und Julian.“

Besser vorwarnen.

Sofort wird die Tür geöffnet. Noah erwartet uns im Flur vor seiner Wohnung. Sobald er uns sieht, kommt er auf mich zugeeilt und beäugt mich besorgt, wobei er ein waches Auge auf Markov gerichtet hält, der ihn von der Seite finster anfunkelt. Gott ist das peinlich!

„Hannah, ist … ist alles in Ordnung?“  

Markov tritt zwischen uns, ehe ich etwas erwidern kann, packt mein Handgelenk und zieht mich hinter sich.

„Es geht ihr bestens!“, antwortet er für mich.

„Dich habe ich aber nicht gefragt“, lässt Noah sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen und hält Markovs vernichtendem Blick stand. Wenn ich nicht sofort etwas unternehme, wird das blutig enden, daran besteht kein Zweifel.

Bestens wäre übertrieben, sagen wir den Umständen entsprechend“, lasse ich rasch hinter Markovs Rücken hervor verlauten, um die Aufmerksamkeit der Männer voneinander ab und auf mich zu lenken. Zunächst gelingt mir das auch und Noah sieht wieder zu mir. Sofort werden seine Züge merklich weicher. Bevor er allerdings etwas sagen kann, funkt Markov dazwischen.

„Willst du uns nicht hereinbitten?“, wendet er sich an Noah, meine Einmischung geflissentlich ignorierend. Ich versuche, mich endlich Markovs Griff zu entziehen, aber wie immer kämpfe ich auf verlorenem Posten. Ihm dagegen ist nicht die geringste Anstrengung anzuhören, als würde er meine Bemühungen nicht einmal bemerken.

„Natürlich … kommt rein.“

Jedes Wort der beiden trieft vor falscher Höflichkeit.

Wir folgen Noah in seine Wohnung.

Lass meine Hand los, das ist kindisch!, platzt mir langsam der Kragen.

Du bist meine Frau, darf ich etwa nicht deine Hand halten?, kommt es gespenstisch gelassen zurück.

Nicht wenn du es tust, um mich als deinen Besitz zu markieren! Und deine Frau bin ich noch immer nur auf dem Papier, soweit es mich betrifft!

Markov bleibt stehen, seine strahlend blauen Augen bohren sich flehend in meine.

Einsamkeit. Angst. Seine Gefühle überwältigen mich, schnüren mir schmerzlich das Herz zusammen.

Hör auf, mich so anzusehen! Das ist nicht fair!

Ohne groß darüber nachzudenken, suche ich erneut den geistigen Kontakt zu ihm und bin im selben Moment entsetzt, dass mir das offenbar immer leichter gelingt, schlimmer noch: dass ich mich beinahe schon danach sehne, seine Stimme wieder in meinem Kopf zu hören, geradezu nach einer Antwort giere.

Abrupt lässt Markov meine Hand los und wendet kommentarlos den Blick ab, weicht allerdings keinen Schritt von meiner Seite. Ich habe bekommen, wonach ich verlangt habe – aber warum fühlt es sich nicht wie ein Sieg an?

Im Wohnzimmer angekommen stellen wir überrascht fest, dass wir nicht die einzigen Gäste sind. Eine ältere Dame mit zerzaustem, weisem Dutt auf dem Kopf, einer violetten Häkelweste und einem langen braunen Stufenrock hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Als wir eintreten, erhebt sie sich beachtlich Gelenk für ihr Alter und kommt uns entgegen.

„Das ist ...“, setzt Noah an, wird allerdings mitten im Satz unterbrochen.

„Ich bin Evelin Lorenz, Noahs Großmutter“, stellt sie sich lächelnd vor. „Aber ihr könnt ruhig Evelin zu mir sagen.“

Großmutter? Hatte Noah nicht behauptet, sie sei tot?

Äußerlich sehen sich die beiden bis auf die Wildheit ihrer Frisuren kaum ähnlich, doch in dem Lächeln der alten Frau liegt dieselbe Wärme, die auch Noah stets ausstrahlt.

„Am besten, wir setzen uns. Wir haben eine Menge zu besprechen, wir vier“, reißt Evelin das Ruder an sich. Sie deutet Markov und mir, auf dem Sofa neben ihren Sessel Platz zu nehmen. „Noah Schatz, sei so lieb und bring den beiden doch etwas zu trinken!“

Ich will gerade der Aufforderung der alten Dame nachkommen, da hält Markov mich zurück. Seine Augenbrauen sind misstrauisch zusammengezogen, der Körper bis aufs Äußerste angespannt.

„Was wollen sie von uns?“

Sein forscher Ton lässt mich aufhorchen.

Ich habe diese Frau schon öfter gesehen, während ich Aufträge erfüllt habe. Bisher dachte ich immer, es sei nur Zufall oder Einbildung gewesen …, lässt er mich wissen.

„Eine sehr alte Schuld begleichen.“

Ohne Bedenken tritt sie auf Markov zu und legt ihm liebevoll eine Hand an den Oberarm. Ich stehe fassungslos daneben und bete zu Gott, dass dies nicht das Letzte ist, was sie je in ihrem Leben getan hat.

„So viel Schmerz. So viel … Leid“, flüstert sie traurig. Beim letzten Wort versagt ihr beinahe die Stimme.

Markov schlägt ihre Hand weg und sieht ihr eindringlich in die Augen.

„Sparen Sie sich ihr falsches Mitleid!“

Die aufgewühlte Frau taumelt ein Stück zurück, bis Noah rasch hinter sie tritt und sie stützt.

Julian, beruhig dich! Ich weiß, du bist wütend, aber lass uns erst einmal anhören, was sie zu sagen hat!

Ich greife unwillkürlich nach Markovs Arm, um ihn auch physisch zurückzuhalten. Er antwortet nicht, schüttelt meine Hand aber auch nicht ab.

„Komm, setz dich. Du darfst dich nicht immer so überanstrengen!“, mahnt Noah seine Großmutter.

Sie gehorcht und er reicht ihr ein Glas Wasser vom Tisch. Dann wendet er sich Markov zu.

„Was unsere Ahnen getan haben, war falsch“, gibt Noah unumwunden zu. „Ich werde erst gar nicht versuchen, den Fluch zu verteidigen. Man hätte damals einen anderen Weg finden müssen, in die Politik einzugreifen. Sobald unser Volk das begriffen hatte, haben wir alles versucht, um diesen Fehler wieder gut zu machen, haben stets über die verfluchten Familien gewacht in der Hoffnung, Näheres über den Fluch herauszufinden, um ihn endlich zu brechen. Doch die Zeit arbeitete gegen uns. Unsere Zahlen schwanden mehr und mehr, und nun sind nur noch wir beide übrig.“

Markovs Züge bleiben unversöhnlich.

„Und? Habt ihr etwas herausgefunden?“

Evelin übernimmt wieder das Wort.

„Seit langem halten sich bei meinem Volk zwei Theorien darüber, warum der Zauber noch nicht gebrochen werden konnte: Entweder man hat sich bisher der falschen Herangehensweise zur Lösung des Problems bedient, oder es hat sich zu viel dunkle Energie aufgestaut und … und es gibt schlichtweg keine Möglichkeit mehr, den Fluch aufzuhalten.“

Markov entfährt ein bitteres Lachen.

„Anders ausgedrückt: Sie wissen nichts!“

„Bis vor einundzwanzig Jahren mag das der Fall gewesen sein“, sie wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu, „aber nun glaube ich, dass die erste Theorie die wahrscheinlichere ist.“

„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“, will Markov wissen.

„Um das Leben deiner Seelengefährtin zu retten, um sie zu beschützen, hat der Fluch sich selbst ausgeschaltet – etwas, zu dem dunkle Energie nie fähig gewesen wäre“, erklärt Evelin. „Dunkle Energie hätte Hannah eher sterben lassen, als die Kontrolle über sie aufzugeben.“

„Warum hat der Fluch sich dann nur ausgeschaltet und nicht gleich aufgehoben, wenn er so verdammt großzügig ist?“, giftet Markov zurück.

„Weil Hannah deine andere Hälfte ist und immer sein wird.“

Verlegen fällt mir auf, dass ich noch immer meine Hand an Markovs Arm habe, und ich nehme sie rasch herunter.

„Solange der Fluch in dir wohnt, wird er auch in ihr wohnen.“

Setzt die Gabe ein, wofür man sie euch geschenkt hat. Lernt,

die Kostbarkeit des Lebens zu schätzen und wieder ein Mensch zu sein. Erkennt an, was ihr getan habt, und tut Buße“, zitiert Markov die Anweisungen der Hexe an einen der ersten Vergessenen. „Sie haben uns eingängig beobachtet, also sagen Sie mir: Ist es nicht genau das, was wir jeden Tag tun? Wie viel sollen wir noch büßen? Wie viele kostbare Leben sollen wir noch retten, bevor man uns unser eigenes zurückgibt?“

Die letzte Frage brüllt er fast.

„Es tut mir Leid“, entgegnet Evelin. „Ich wünschte wirklich, ich könnte euch mehr sagen. Es tut mir so furchtbar leid …“

„Was ist mit den Anschlägen?“, wage ich, mich nun auch in die Unterhaltung einzumischen, und lenke das Thema in eine andere Richtung. „Haben Sie vielleicht eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte, Evelin?“

„Nein“, gesteht sie nach kurzem, betretenem Schweigen, „aber ich kann euch helfen, es herauszufinden.“

 

 

London, 13:20 Uhr

 

„Das sind also unsere Neuankömmlinge. Gab es beim Transport irgendwelche Komplikationen?“

Prüfend lässt er den Blick über die Krankenbetten mit den sechs leblos wirkenden Körpern schweifen.

„Einer ist zwischendurch aufgewacht, aber wir haben die Dosis des Schlafmittels sofort justiert“, gibt die Schwester an seiner Seite zu Protokoll. „Die Vitalwerte aller sechs sind gut.“

„Und die Anderen?“

„Keine Auffälligkeiten. Die Körper verkraften das Koma bisher besser, als wir erwartet hatten.“

„Was ist mit dem geflohenen Pärchen? Irgendwelche Neuigkeiten?“

„Man arbeitet mit Hochdruck an dem Problem, wurde mir versichert.“

Das versicherte man ihm nun schon seit fünf Tagen! Er würde wohl noch einmal ein ernstes Wörtchen mit seinen neuen Freunden reden müssen …

„Was ist mit den Mädchen?“

„Bei der Neuen aus Bristol wurde heute Morgen der Eingriff durchgeführt, nachdem die Beruhigungsmittel angeschlagen hatten. Der Arzt meint, sie ist eine äußerst vielversprechende Kandidatin“, berichtet die Schwester. „Das Mädchen aus London, das gestern versucht, durch das Fenster zu fliehen, hat keinen weiteren Fluchtversuch mehr unternommen. Auch die anderen haben sich seither ruhig verhalten. Zwei weitere Mädchen werden für den späten Abend erwartet. Das letzte soll übermorgen geliefert werden.“

„Gute Arbeit.“

Das Rauschen des Fahrstuhles ist zu hören und kurz darauf betritt der Butler das Kellergewölbe und kommt zu ihm und der Schwester gelaufen.

„Das Mittagessen ist zubereitet, Sir“, verkündet er nach seiner obligatorischen Verbeugung.

„Ich wäre dann hier fertig, bringen Sie mich nach oben.“

„Sehr wohl, Sir.“

Der Butler tritt hinter ihn und schiebt seinen Rollstuhl zum Aufzug.  

Kapitel 23

Saengsu juseyo“, hält Markov die koreanisch stämmige Stewardess auf, die uns gerade passiert, und bekommt einen Becher Wasser gereicht. Er wechselt noch einige Sätze mit der erstaunten Frau, ehe sie sich einem anderen Fluggast zuwendet.

Er kann fließend Koreanisch?

Markov wendet sich mir zu und mir wird peinlich bewusst, dass ich ihm mal wieder ausversehen meine Gedanken übermittelt habe. Diese mentale Kommunikation macht mich irgendwann nochmal wahnsinnig!

Es ist die Muttersprache meiner Seelengefährtin, erklärt er schlicht. Sobald du geboren wurdest habe ich begonnen, sie zu lernen.

Mein Herz macht unwillkürlich einen kleinen Satz. Er hat es für mich gelernt?

Die Nüchternheit seiner Worte holt mich jedoch schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vermutlich hat man ihn dazu gedrängt, die Sprache zu lernen, um unsere Kommunikation später zu erleichtern. Berechnendes Kalkül. Das Ganze hat nichts mit Gefühlen oder Rücksicht seinerseits zu tun.

Verstehe, gebe ich knapp zurück.

Gedankenverloren krame ich in der Tasche meiner Weste nach dem kleinen unschuldig wirkenden Flakon mit der milchigen Flüssigkeit darin, der ich diesen Trip zu verdanken habe.

„Was ist mit den Anschlägen? Haben Sie vielleicht eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte, Evelin?“

„Nein“, gesteht sie nach kurzem, betretenem Schweigen, „aber ich kann euch helfen, es herauszufinden. Besser gesagt: Mein Enkel kann euch helfen.“

Noah sieht seine Großmutter verwirrt an.

„Ich glaube, Hannahs Verschwinden vor einundzwanzig Jahren und die Anschläge sind das Werk derselben Täter“, stellt Evelin in den Raum und sieht Markov vielsagend an.

„Die Vermutung hatte ich auch schon“, gibt dieser widerwillig zu. „Auch damals galt der Anschlag gezielt einer Vergessenen und man war verdächtig gut über die Familie informiert.“

„Genau“, pflichtet die alte Frau ihm bei. „Womöglich hat Hannah als Kind etwas gesehen, dass uns einen Hinweis auf die Verantwortlichen liefern könnte.“

„Du willst versuchen, ihre Erinnerungen zurückzuholen“, versteht Noah und runzelt besorgt die Stirn. „An einem derartig mächtigen Trank habe ich mich noch nie versucht … Außerdem gibt es hier nichts, das man als Brücke verwenden könnte“, gibt er zu bedenken.

Trank? Brücke? - Ich verstehe mal wieder nur Bahnhof!

„Hier nicht“, stimmt sie ihrem Enkel zu, „aber in Korea.“

Eine Brücke, erklärte Noah uns später, sei etwas, das einen mit der Vergangenheit verbindet: ein Ort, ein Gegenstand, ein Lied – da käme so ziemlich alles in Frage, wobei in meinem Fall der Ort wohl die beste Wahl wäre. Evelin arrangierte für uns mit Hilfe eines befreundeten Piloten, der ihr angeblich noch einen Gefallen schuldig war, Plätze in einem Flugzeug, und braute mit Noah besagten Trank zusammen – und nun, kaum einen halben Tag später, befinden wir uns in der Luft auf dem Weg nach Seoul, meiner ehemaligen Heimat. Zu meiner Überraschung hatte Markov ohne zu zögern der Reise zugestimmt. Erst, als Evelin Markov und mich zur Seite genommen hatte, während Noah Besorgungen für die uns bevorstehende Reise erledigte, um vornehmlich mir ins Gewissen zu reden, dämmerte mir, weshalb er sich so kooperativ gezeigt hatte.

„Noah hat erzählt, ihr beide habt euch gestritten“, kommt Evelin gleich zum Punkt. „Ich weiß ich habe kein Recht, mich in euer Privatleben einzumischen, aber seht einer Großmutter nach, dass sie sich Sorgen um ihren Enkel macht.“

Eindringlich richtet sie ihre alten, wissenden Augen auf mich.

„Noah mag dich sehr gerne, Hannah, und ich glaube, du magst ihn ebenso. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass du Julians Seelengefährtin bist“, erinnert sie mich sanft.

Großer Gott, warum muss jeder immer darauf herumreiten?, schießt es mir frustriert durch den Kopf.

„Sie meinen also ich soll mit einem Mann zusammen sein, der mich erniedrigt, wann er nur kann, und mir den Tod wünscht, nur weil ich das Pech hatte, an einem bestimmten Tag geboren zu werden?“, erwidere ich bitter und werfe Markov einen finsteren Seitenblick zu.

„Ich meine was ihr habt ist ein einzigartiges Geschenk, das man nicht so leichtfertig wegwerfen sollte“, kontert sie ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Ich glaube dir, dass Julian Fehler gemacht hat, doch ich glaube auch, dass wir alle nur Menschen sind und dass er inzwischen bereut. Gib ihm noch eine letzte Chance, sich zu beweisen. Wenn du nach eurer Reise immer noch der festen Überzeugung bist, du könntest ihn nicht lieben, dann sei es so. Dann kannst du mit reinem Herzen zu Noah zurückkehren. Aber wir wissen beide, dass das momentan nicht der Fall ist.“

Ich kann Markovs Selbstzufriedenheit geradezu greifen, was mich nur umso wütender macht. In dem Moment dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Noah kommt nach Hause und bewahrt mich somit vor einer Erwiderung.

Evelin hatte mir keinen Vorwurf machen wollen, das weiß ich, sondern sie hatte lediglich eine Feststellung geäußert. Zu gerne hätte ich widersprochen, hätte beteuert, dass Markov bestimmt der Letzte ist, der einen Platz in meinem Herzen besitzt, und mein Herz kaum reiner sein könnte, doch dann hätte ich mich nur selbst belogen. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich noch immer zu ihm hingezogen fühle, so sehr es mir auch gegen den Strich gehen mag und gegen jegliches Fünkchen Vernunft. Dass mein Puls nach oben schnellt, wenn er mich berührt, und dass ich mich insgeheim danach sehne, seine Stimme immerzu in meinem Geist zu hören …

Ich schlage mit dem Kopf gegen die Lehne meines Sitzes. Warum? Warum will mir dieser dumme, arrogante, berechnende Kerl einfach nicht aus dem Kopf gehen? Was stimmt bloß nicht mit mir?

Ich balle trotzig die Hände zu Fäusten und fasse einen waghalsigen Entschluss.

„Fein“, wende ich mich Markov zu, der erstaunt von der Zeitung aufblickt, in die er gerade vertieft ist. „Du willst eine letzte Chance? Bitte, die sollst du haben!“

Bist du des Wahnsinns?, schimpft mein gesunder Menschenverstand, doch meine Entscheidung ist gefallen. Wenn ich von dieser Reise zurückkomme, möchte ich Noah aufrichtig gegenüber treten können, ohne Zweifel. Evelin hat Recht: Das bin ich nicht nur ihm, sondern auch mir selbst schuldig!  

Ich zeige drohend mit dem Zeigefinger auf Markov und verenge meine Augen zu Schlitzen, bevor er etwas darauf erwidern kann.

„Aber glaube ja nicht, dass ich es dir einfach mache!“, fauche ich. „Und wenn du dir nur den kleinsten Patzer erlaubst, sind wir geschiedene Leute, verstanden?“

„Das klingt ja sehr optimistisch“, bemerkt er nüchtern, kann allerdings das freudige Funkeln in seinen Augen kaum verbergen. Plötzlich lehnt er sich zu mir herüber, so dass seine Augen den meinen bedrohlich nahe sind, legt seine Hand sanft auf meinen Zeigefinger, bis er eingefahren ist, und schenkt mir ein breites, triumphierendes Lächeln, bei dem mir die Knie weich werden. „Keine Sorge, es wird keine Patzer geben.“

Bescheiden wie immer. Typisch Markov.

Er drückt mir einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe.

Ich liebe dich und ich werde alles tun, dass du auch mich wieder lieben kannst, verspricht er und greift nach meiner Hand. Ich werde diese Chance nicht vergeuden.

Wir werden ja sehen, gebe ich skeptisch zurück, lasse meine Hand jedoch in seiner.

 

Schade, irgendwie hat es mir gefallen, denke ich traurig und föhne mein nunmehr wieder schwarzes Haar. Sobald wir in unserem Hotel eingecheckt hatten, das Evelin für uns gebucht hat, habe ich mir als erstes meine auffälligen, roten Haare überfärbt. Vor dem Flug war dafür keine Zeit mehr gewesen.

Es klopft an der Badezimmertür.

„Hannah?“, hallt Markovs Stimme zu mir herein.

Ich wickle das Handtuch fester um mich und strecke den Kopf zu ihm heraus. Ehe ich etwas sagen kann, hält er mir einen Bündel Kleidung hin: Eine weiße, vornehme Bluse und etwas blaues, ein Rock vermutlich. Auch er selbst hat sich rausgeputzt und trägt eine schwarze Hose und ein weißes Hemd.

„Was …?“, setze ich irritiert an und nehme ihm die Klamotten aus der Hand. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit Evelin etwas Derartiges eingepackt hätte.

„Ich hoffe, sie passen.“

„Aber woher …?“

„Eines der Zimmermädchen war so gut, sie uns zu besorgen.“

„Ist es für dich wirklich so unerträglich, mal in normalen Klamotten rumzulaufen?“, frage ich fassungslos.

Anstatt auf meine Frage zu antworten, schenkt er mir ein zag-
haftes Lächeln und streicht mit der rechten Hand liebevoll über mein frisch gewaschenes Haar.

„Die roten Haare haben dir gestanden, aber so gefällst du mir immer noch am besten.“

In seinem sonst so kühlen Tonfall schwingt nun ein Hauch Wohlwollen mit. Prompt spüre ich eine verräterische Wärme in meine Wangen steigen und hätte am liebsten laut geflucht. Warum komme ich einfach nicht gegen diesen Mann an?  

„L-lenk nicht vom Thema ab!“, gebe ich barsch zurück und wende verlegen den Blick ab. Niemand sollte so wundervolle, strahlend blaue Augen haben!

„Das Aussehen sagt viel über einen Menschen aus“, erwidert er achselzuckend. „Ich will eben einen guten Eindruck machen, ist das so verkehrt?“

Als ob er das nötig hätte, bei diesem Körper! Ein Lächeln und die Frauen fallen reihenweise vor ihm auf die Knie, ob er nun ein Hemd trägt oder ein einfaches Shirt!

Jäh beugt Markov sich zu mir herab, die Lippen zu einem schrägen, überheblichen Grinsen verzogen.

„Danke für das Kompliment.“

Erschrocken schnellen meine Hände zu meinem Kopf, als könnte ich damit ungeschehen machen, dass er den Gedanken aufgeschnappt hat.

Nein, nicht schon wieder!, schießt es mir beschämt durch den Kopf. Bevor ich mich noch tiefer in die Miesere reiten kann, schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu, auch wenn mir klar ist, dass ich damit endgültig meine Niederlage besiedle.  

Zu meiner Verblüffung zeigt Markov Größe und kommt nicht noch einmal auf meine Gedanken zu sprechen, als ich das Bad schweren Herzens wieder verlasse.

„Passt alles?“, erkundigt er sich nur.

„Die … Die Bluse ist etwas zu weit, aber das macht nichts.“

„Gut, dann lass uns gehen.“

Wenige Minuten von unserer Unterkunft entfernt befindet sich eine U-Bahn Station. Am Flughafen hat Markov uns bereits Fahrkarten besorgt. Als hätte er noch nie etwas anderes gemacht, findet er rasch den Weg zu unserer Linie, und auch das Händeln des mit koreanischen Zeichen gespickten Drehkreuzes stellt für ihn kein Problem dar. Ich folge ihm blindlings – offenbar weiß er ja, wohin es geht, doch als wir uns schließlich am Rande der Stadt am Fuße eines Berges widerfinden, werde ich stutzig.

„Warte kurz, ich bin gleich wieder da“, bittet Markov und verschwindet in einem kleinen Blumenladen, um kurz darauf mit einem opulenten, weisen Blumenstrauß zurückzukehren.

„Für wen sind die?“, kann ich meine Neugier nicht zurückhalten.

Er streckt mir seine freie Hand entgegen.

„Komm, ich zeige es dir.“

Vorgebracht wie ein nüchternes Angebot, in seiner Stimme liegt nur ein Hauch von Freundlichkeit, aber seine Hand schwebt hoffnungsvoll zwischen uns, ein Versuch, seine Unzulänglichkeiten wieder wett zu machen.

Warum konntest du mir nicht schon früher deine Hand reichen, als ich sie so sehr gebraucht hätte?, denke ich traurig. Die Versuchung zuzugreifen, mich voll und ganz in die Arme dieses komplizierten, atemberaubenden Mannes zu begeben, die ich so lange verzweifelt begehrt habe, ist noch immer überwältigend, aber mein Verstand stemmt sich mit aller Macht dagegen. Glaub nicht, dass ich es dir einfach mache!, hatte ich ihn gewarnt, und ich hatte es ernst gemeint.

Anstatt seine Hand zu ergreifen, laufe ich wortlos an ihm vor-bei. Doch Markov lässt sich davon nicht entmutigen, holt rasch zu mir auf und schnappt sich einfach selbst meine Hand. Ich funkle ihn böse an, stelle jedoch fest, dass sein Griff ganz locker ist. Wenn ich es wollte, könnte ich mich leicht heraus-
winden, unserer Verbindung wieder kappen. Sein Blick, kühl und unnahbar, der komplette Gegensatz zu der warmen, sanften Art, wie seine Finger um meine geschlossen sind, verrät nichts, während er auf meine Entscheidung wartet. Wird diese traurige Kälte je aus seinen Augen verschwinden?

Nicht im Stande, diesen Blick auch nur eine Sekunde länger auf mir zu spüren, packe ich fester zu und räuspere mich gleichzeitig verlegen.

„Mir hast du noch nie Blumen gekauft!“, brumme ich verärgert, um von meiner Tat abzulenken.

„Wenn das alles vorbei ist, werde ich jede Woche persönlich einen Strauß für dich aussuchen!“, verspricht er mir ernst, als ginge es um wichtige Staatsangelegenheiten. Irgendwie niedlich wie er versucht, romantisch zu sein, schmunzle ich.

„Abgemacht, ich nehme dich beim Wort!“, erwidere ich ebenso feierlich.

Markov schlägt einen schmalen Waldweg ein, der steil bergauf führt. Die Sache wird immer mysteriöser. Wen zum Teufel will er denn hier in dieser Abgeschiedenheit besuchen?

Als der Wald sich nach einer Zeit, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommt, lichtet, kommt ein riesiger, in Wellen abfallender grasiger Hügel zum Vorschein, der in den Zwischenräumen der Wellen in regelmäßigen Abständen mit kleineren Hügeln und Steintafeln versehen ist: Wir sind auf einem Friedhof. Das Grab, zu dem Markov mich führt, liegt im oberen Drittel des Hügels. Er löst sich von mir, geht andächtig in die Knie und legt die Blumen nieder.

Kang Se-Ah und Lee Hoon-Dong“, liest er die Namen vor, die in dem Grabstein verewigt sind. „Deine leiblichen Eltern.“

Ich sehe ihn entgeistert an, kann im ersten Augenblick die volle Bedeutung seiner Worte gar nicht erfassen.

Meine … leiblichen Eltern.  

Schweigend lasse ich mich neben ihn ins Gras sinken, überwältigt von der Vielzahl unterschiedlicher Gefühle, die in diesem Moment auf mich einstürmen.

Trauer. Freude. Dankbarkeit. Schmerz. Glück. Schuld.

„Ich dachte du würdest die Chance gerne nutzen wollen, sie zu besuchen“, schiebt er hinterher.

So sehr ich meine Adoptiveltern auch liebe, gab es doch immer einen Teil von mir, der sich nach meinem Ursprung gefragt hat, nach den Menschen, die mir dieses Leben geschenkt haben. Wie tief dieser Wunsch allerdings tatsächlich in mir verankert war, erkenne ich erst jetzt.

Danke!

Ich schaffe es nicht, die Worte laut herauszubringen, kämpfe mit den Tränen. Markov erwidert nichts, lässt mich aber spüren, dass er meine Nachricht erhalten hat. Nun begreife ich auch, warum er auf die formelle Kleidung bestanden hat: aus Respekt.

Es dauert etwas, bis ich mich wieder so weit im Griff habe, um zu sprechen.

„Hallo Mama. Hallo Papa. Ich … ich bin es, Hannah.“

 

Julian genießt den Ausblick über die friedlich daliegenden, grasigen Hügel, die irgendwann in Wald und schließlich wieder in Häuser und das geschäftige Treiben Seouls übergehen. Um Hannah etwas Zeit alleine mit ihren Eltern zu geben, hat er sich etwas zurückgezogen, kann sie aber immer noch gut von seinem Platz aus sehen. Was sie ihren Eltern wohl erzählt? Es juckt ihn in den Fingern, zu lauschen. Er müsste nicht einmal auf ihre mentale Verbindung zurückgreifen, so ruhig wie es hier ist, lediglich seine geschärften Sinne nach ihrer Stimme ausstrecken … Nur mit Mühe kann er der Versuchung widerstehen und sich stattdessen auf das beruhigende Rascheln der Bäume in seinem Rücken und die Visionen konzentrieren. Dieser Moment gehört ihr allein.

Als Hannah sich schließlich vom Grab abwendet und zu ihm kommt, hüllt sie sich in Schweigen. Ihren Zügen ist noch immer anzusehen, wie aufwühlend dieser Besuch für sie ist.

„Die beiden haben dich sehr geliebt“, versucht er, sie zu trösten.

Ein schwaches Lächeln legt sich auf ihre Lippen.

„Ich weiß. Du hättest es mich sicher wissen lassen, wenn es anders gewesen wäre.“

Beschämt muss er sich eingestehen, dass sie mit ihrem Vorwurf wohl richtig liegt. Obwohl er selbst am besten wusste, welch tiefe Wunden die Ablehnung durch die eigenen Eltern verursachen konnte, wäre ihm in seinem blinden Hass jedes noch so verachtenswerte Mittel recht gewesen, Hannah zu verletzen. Aber Lügen war noch nie sein Stil gewesen.

„Darf … darf ich dich mal was sehr Persönliches fragen?“

Es fällt ihm nicht schwer zu erraten, worauf sie hinaus will.

„Es geht um meine Eltern, nicht wahr?“

„Genau genommen … Nun, genau genommen sind es ja auch meine Schwiegereltern …“, schiebt sie rasch hinterher in dem Versuch, ihre Neugier zu rechtfertigen.

Es ist das erste Mal, dass Hannah mit ihm über ihre Ehe spricht, ihren rechtlichen Status als Eheleute anerkennt. Obwohl er weiß, dass sie aus reiner Pragmatik auf diese Tatsache zurückgegriffen hat, freut er sich dennoch über dieses kleine, unverhoffte Zugeständnis, das ihr vermutlich selbst nicht einmal bewusst ist.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, erwidert er gelassen. „Meine Mutter hat es nicht verkraftet, ein verfluchtes Kind auf die Welt gebracht zu haben. Letzten Endes hat sie versucht, mich umzubringen. Wie du siehst scheiterte sie, und seither ist unsere Beziehung … nennen wir es schwierig.“

Aufgeregt lässt er sich von einem Dienstmädchen in seinen schicken Smoking helfen. Wie es für einen Vergessenen Tradi-
tion ist würde er nun, da er das achte Lebensjahr erreicht hat, damit beginnen, seine ersten Außeneinsätze zu bestreiten. Aber es ist nicht die anstehende große Geburtstagsfeier oder die Tatsache dass er beginnt, seine Kräfte immer bewusster steuern zu könne, die ihn von einer Backe über die andere Grinsen lassen. Heute wird er endlich seine leiblichen Eltern treffen und ihnen beweisen, was für ein guter Sohn er ist. Klug, pflichtbewusst, stark, gut aussehend und mit tadellosem Benehmen. Zweifellos werden sie einsehen müssen, dass es ein Fehler war, ihn von sich zu stoßen und hier alleine zu lassen. Ihm ihre Liebe zu verweigern. Die Kinderfrauen, die ihn groß ziehen, schenken ihm Strenge, die Lehrer nüchternes Wissen, die Dienerschaft und seine Zwölf Respekt, aber Liebe … Liebe kennt er bisher nur aus Büchern.

„Respekt ist auch eine Form von Liebe, Julian“, hatte Klaus nur unbeeindruckt eingewandt, als er einmal mit ihm darüber gesprochen hatte. „Damit besitzt du schon weit mehr, als viele andere Menschen.“ Klaus stieß einen melancholischen Seufzer aus, ehe er fortfuhr: „Wir können ihm Leben nun einmal nicht alles haben. Eine bittere Lektion, aber eine, die jeder von uns irgendwann lernen muss.“

Ist es wirklich so falsch, so gierig von ihm, sich nach menschlicher Zuneigung zu sehnen, nach ein wenig Wärme in diesem kalten, rationalen Leben? Er hatte schon den Verlust seiner geliebten Seelengefährtin hinnehmen müssen, und nun sollte er auch noch auf die Liebe seiner Eltern verzichten? Nein, das kann und will er nicht akzeptieren!

Der Festsaal des Hauses ist so voll, wie er ihn noch nie erlebt hat. Verwandte aus seinem ganzen Hoheitsgebiet sind angereist, um diesen besonderen Feierlichkeiten zu Ehren ihres Familienoberhauptes beizuwohnen. Während er reihum seine zahllosen Gäste begrüßt, wie es ihm die Etiquette in solchen Fällen diktiert, sieht er sich nach seinen Eltern um. Er kennt ihr Aussehen nur von Fotos. Nach etwa einer halben Stunde schnappt er eine Unterhaltung aus dem Garten auf.

„Ihr seid es eurem Sohn schuldig, ihm zumindest an diesem einen Tag Respekt zu zollen, wenn ihr euch auch ansonsten von ihm losgesagt habt“, vernimmt er Klaus´ gebieterische Stimme.

Mehr braucht es nicht. Ohne eine Wort der Erklärung stürmt er aus dem Saal hinaus ins Freie, bis er vor Klaus und seine Eltern zum stehen kommt.

„Mutter. Vater.“

Wie oft hatte er von diesem Moment geträumt, hatte sich all die Dinge ausgemalt, die er zu ihnen sagen, sie fragen wollte. Nun, da es endlich so weit ist, bringt er nur diese beiden kläglichen Worte heraus, ehe ihm die Stimme versagt. Seine Eltern. Er steht tatsächlich vor seinen Eltern!

Seine Mutter tritt auf ihn zu, ihr Miene unbewegt. Geht es ihr wie ihm? Fehlen ihr die Worte? Sie hebt ihre Hand – und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige.  

„Nenn mich nie wieder Mutter, du widerliche kleine Missgeburt!“, speit sie wütend aus. In ihren Augen liegt blanker Hass. Noch nie zuvor hat ihn jemand so angesehen.

Erneut hebt sie den Arm, wird dieses Mal aber von Klaus und seinem Vater zurückgehalten, die entsetzt herbeigeeilt sind.

„Bea, Schatz, beruhige dich!“

„Der Bastard lügt!“, schreit sie, wehrt sich mit aller Macht gegen den Griff der Männer. „Er ist nicht mein Sohn! Mein Sohn ist tot! Er ist tot!

„Er ist euer Sohn, Beatrice, ob es dir gefällt oder nicht! Du kannst nicht ewig vor der Wahrheit davonlaufen!“, versucht Klaus, sie zur Vernunft zu bringen.

„Nein! Nein! Er ist tot! Tot! Tot! Tot! Ich habe ihn umgebracht!“

Benommen rappelt er sich wieder auf.

„M-Mutter … Mutter, ich bin nicht tot! Ich bin wirklich dein Sohn! Ich bin dein … dein Julian!“, haucht er mit belegter Stimme, hofft auf ein Wunder. „Ich … ich habe überlebt, weißt du nicht mehr?“

Wie jedes andere Vergessene Kind hatte er als Baby in jeder wachen Minute geschrien, ahnungslos den Visionen ausgesetzt, die selbst einem Erwachsenen Kopfschmerzen bereiten würden. Seine Eltern hatten nur hilflos zusehen können, bis es seine Mutter irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte – so hatte es ihm Klaus einmal erzählt. Er war ihr deswegen nicht böse, war es nie gewesen. Sie hatte seinen Schmerz zu ihrem werden lassen, wie konnte er ihr da böse sein? Aber nun geht es ihm gut, nun ist er kein schreiendes Baby mehr! Er hat seine Vergangenheit hinter sich gelassen – warum kann sie das nicht auch?

„Nein, du hast nicht überlebt, du kannst nicht überlebt haben! Ich habe dich erwürgt, mit meinen eigenen Händen! Ich habe mein eigenes Baby erwürgt!“, schluchzt sie und sackt erschöpft in den Armen der Männer zusammen. „Er ist nur eine Illusion! Nur eine Illusion …“

„Holt den Arzt, schnell! Und bringt den Jungen hier weg!“, befiehlt Klaus. Von dem Lärm angelockt drängen sich immer mehr Gäste in den Garten, werden Zeuge seiner Tragödie. „Worauf wartet ihr, macht schon!“

„Ich habe meinen Sohn umgebracht, mein kleines Baby … Ich bin eine Mörderin …“

Ehe zwei Dienstmädchen ihn aus dem Garten eskortieren, schaut er ein letztes Mal zu seiner völlig verstörten Mutter, doch die ist längst in ihrer eigenen Welt gefangen und scheint nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Nur sein Vater wirft ihm ein entschuldigendes Lächeln zu – ehe er sich völlig seiner Frau zuwendet.

Mit den Jahren hatte er gelernt, die Dinge so zu akzeptieren,
wie sie nun einmal standen, hatte gelernt zu akzeptieren, dass die Liebe seiner Eltern etwas war, das er niemals besitzen würde. Der Schmerz über ihre Ablehnung war zu einem Teil von ihm geworden, mehr Futter für die Bitterkeit in seinem Herzen, der Bitterkeit, die zum Wesen eines Vergessenen gehört.

Während er sich langsam von der Erinnerung jenes unseligen Tages löst stellt er verwundert fest, dass seine Wange nicht mehr schmerzt, sondern sich nun weich und etwas kühl anfühlt. Geistesabwesend fasst er sich ans Gesicht und spürt zarte Haut unter seiner. Hannahs Hand. Er blinzelt, um endgültig wieder ins Hier und Jetzt zu finden, und sieht direkt in ein Paar weiche, braune Augen.

„Es tut mir Leid, Julian. Es tut mir so unendlich leid …“

Kapitel 24

Auf Julians Zügen liegt lediglich kühle Abgeklärtheit, wie immer. Nichts deutet auf die schrecklichen Wunden in seinem Inneren hin, doch durch die Erinnerungen hat er auch seine verletzte Seele mit mir verbunden. Er selbst mag den Schmerz darin schon gar nicht mehr spüren, mir treibt er dagegen beinahe die Tränen in die Augen. So viel Einsamkeit. So schrecklich viel Trauer und Einsamkeit. Mehr, als ein Mensch jemals ertragen sollte.

Jeder hat ein Recht auf Liebe, auch du!

Ich ziehe zaghaft meine Hand zurück, lege meinen Kopf an seine Brust und lege sanft meine Arme um seine Mitte. Ihm Trost zu spenden ist ein Bedürfnis, so natürlich wie die Luft zum Atmen.

Julian verharrt einige Sekunde starr in der Umarmung, bis er sich mir unvermittelt entwindet. Irritiert sehe ich zu ihm auf.

„Vergiss, was du gesehen hast!“, befiehlt er schroff. Seiner harschen Reaktion zu urteilen hat er diese Erinnerung also nicht absichtlich mit mir geteilt. „Belassen wir es einfach dabei, dass meine Eltern und ich kein gutes Verhältnis haben! Los, gehen wir weiter …“

Als Markov an mir vorbeirauschen will, halte ich ihn auf.

„Das Geschehene zu verdrängen, macht es nicht besser! Hör auf, ständig alles in dich rein zu fressen, und fang stattdessen an, mit mir zu reden!“

„Ich habe nicht vor, mir deine Liebe durch Mitleid zu erkaufen“, gibt er barsch zurück. „Das einzige, das mich noch mehr schmerzen würde, als nicht geliebt zu werden, wäre, es aus den falschen Gründen zu werden.“

„Ja, ich habe Mitleid mit dir, aber damit geht auch etwas Wichtiges einher: Verständnis“, kontere ich. „Du machst es anderen mit deiner abweisenden und arroganten Art nämlich nicht gerade leicht, dich sympathisch zu finden, weißt du? Aber die Umständen deiner Kindheit … Das erklärt Vieles.“

Ohne, dass ich es hätte kommen sehen, beugt er sich zu mir vor und schnippst mir seinen Zeigefinger gegen die Stirn.

„Und wie erklärst du dir das mit deiner Küchenpsychologie?“

Sein Blick ist noch immer finster, aber ich kann die Belustigung, die nun darin mitschwingt, im Funkeln seiner Augen erkenne, das zuvor noch nicht da gewesen ist. Sofort wird auch mir leichter ums Herz und ich bin froh darüber, dass er so schnell Abstand von seinen furchtbaren Erinnerungen nehmen konnte. Irgendwann wird er mit mir über dieses dunkle Kapitel seines Lebens sprechen, er muss. Seine traumatische Kindheit ist schließlich schuld daran, dass er mich die letzten Monate tyrannisiert hat, da verdiene ich zumindest so viel. Aber zuerst einmal gilt es, einen Verräter dingfest zu machen …

Aua!“, beschwere ich mich und reibe mir übertrieben wehleidig die Stirn. „Dürfte ich dich daran erinnern, dass du noch immer auf Bewährung bist? Das war vorsätzliche Körperverletzung!“

„Ich habe dich hierher gebracht, ich hatte ohnehin was gut bei dir“, gibt er nüchtern zurück. Hätte ich nicht dass verräterische Zucken um seine Mundwinkel gesehen, hätte ich den Satz tatsächlich für voll genommen. Das wäre tatsächlich so typisch für ihn gewesen!

„So was macht man normalerweise aus Liebe und nicht, weil man eine Gegenleistung erwartet!“, schieße ich gespielt ernst zurück. Mal wieder mit jemandem so ungezwungen zu scherzen, ist Balsam für meine Seele.

„Das eine muss das andere ja nicht ausschließen.“

„Du bist einfach unglaublich!“

„Ich weiß.“

 

Nervös hole ich den Flakon mit Noahs Zaubertrank aus meiner Rocktasche. Markov und ich stehen vor einem gewöhnlichen koreanischen Backsteinhaus in einer Seitenstraße irgendwo in der Nachbarschaft des noblen Stadtviertels Gangnam.

„Und du bist dir sicher, dass wir hier richtig sind?“

Die Frage ist lediglich Ausdruck meiner Angespanntheit und kein Zweifel an Markovs Orientierungsvermögen. Wenn er sagt, dass das hier der Ort ist, an dem man mich als Kind ausgesetzt hat, dann ist er das.

„So stand es in den Unterlagen.“

Meinen Adoptionsunterlagen, die der Fluch längst vernichtet hat. Sobald Markov mich als seine Gefährtin erkannt hatte, hatte er mich natürlich sofort durchleuchten und sich alles Verwertbare aus meiner Wohnung bringen lassen. Während ich bewusstlos gewesen war, hatte er sich durch mein ganzes Leben gelesen: Zeugnisse, Urkunden, Zeitungsartikel, Facebook, alle meine Fotostrecken, meine privaten Alben, mein Poesiealbum – sogar meine zwei Tagebücher. Einen Tag später war dann alles wie von Zauberhand verschwunden gewesen, so wie sein Foto in der Zeitung. Das hat Markov mir auf dem Hinflug erzählt.

Skeptisch beäuge ich die milchige Flüssigkeit. Unwillkürlich bildet sich ein Kloß in meinem Hals.

„Denk an das, was die alte Hexe dir gesagt hat: Konzentriere dich auf deine frühsten Kindheitserinnerungen und arbeite dich dann zu dem Tag des Anschlages zurück“, erinnert Markov mich. „Lass dich nicht von anderen Erinnerungen ablenken, und lass dich nicht von deiner Furcht beherrschen. All die Dinge, die du sehen wirst, sind bereits geschehen. Sie können dir keinen Schaden mehr zufügen, und alles wird innerhalb eines Augenschlags vorüber sein.“ – Ein Augenschlag, der mir laut Evelin womöglich wie Stunden vorkommen wird.

Ich nicke ängstlich.

„Ich würde dir diese Aufgabe abnehmen, wenn ich es könnte …“, setzt er hilflos an.

Auch darüber hatten wir zuvor mit Evelin gesprochen.

„Keine Sorge, ich werde im Geiste mit dir gehen“, war für Markov außer Frage gestanden, nachdem die alte Frau uns über den Trank informiert hatte.

„Ich fürchte, das wird leider nicht möglich sein“, hatte die ihm dann allerdings widersprochen. Sofort war Markovs Blick gefährlich kalt geworden, und Evelin hatte rasch hinzugefügt: „Du wirst Hannah vor unangenehmen Teilen ihrer Erinnerungen abschirmen wollen, du wirst gar nicht anders können. Dein Eingreifen könnte sogar so weit gehen, dass die Wirkung des Trankes durchbrochen wird. Es tut mir leid, aber Hannah muss da alleine durch.“

Dagegen hatte er nichts einzuwenden gewusst.  

„Ich schaff das schon – nach fast vier Monaten mit dir kann mich eh nichts mehr so leicht schocken!“, ziehe ich ihn auf, um die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern.

Markov zwingt sich zu einem Lächeln, das aber nicht seine Augen erreicht, und streichelt mir beruhigend über das Haar, zieht seine Hand jedoch viel zu schnell wieder zurück.

„Du schaffst das!“, stimmt er mir zu.

Mit zittrigen Händen entkorke ich den Flakon und atme noch einmal tief durch, ehe ich den Trank in einem Zug hinunterspüle, bevor ich es mir noch anders überlegen kann. Er schmeckt schrecklich bitter, doch ich zwinge mich, zu schlucken. Sofort stürmt eine Flut von Bildern, Gerüchen, Gefühlen und Geräuschen auf mich ein – alte Erinnerungen, bis sich schließlich alles zu einem stimmigen Gesamteindruck vermengt und ein einzelnes, klares Bild entsteht.

„Ich will den nicht trinken, der schmeckt so ekelig!“, höre ich mich mit rauer, erkälteter Kinderstimme quengeln, während Mama seufzend mit einem Löffel vor mir steht. Wir befinden uns in der Küche. Unter meinen Händen spüre ich etwas Warmes, Zotteliges – Bruno, mein Kuscheltierbär.      

„Die Medizin muss so schmecken, damit sie deine fiese Erkältung bekämpfen kann – und du willst sie doch nicht gewinnen lassen, oder?“

Ich überlege angestrengt. Nein, ich will diesen blöden Husten endlich weg haben!

„Und die hilft dann auch ganz, ganz bestimmt?“

Mama lächelt.

„Ganz bestimmt!“, verspricht sie.

„Na gut …“, gebe ich mich schmunzelnd geschlagen. Mama hält immer ihre Versprechen.

Moment, das ist falsch!

Lass dich nicht von anderen Erinnerungen ablenken!, erinnere ich mich an Evelins und Markovs Warnung. Konzentriere dich auf deine frühsten Kindheitserinnerungen und arbeite dich dann zu dem Tag des Anschlages zurück.

Schweren Herzens streife ich diesen Moment mit meiner Mutter ab und denke an meine frühste Kindheitserinnerung …

„Du kannst aber wirklich toll malen!“, lobt mich die älterer Frau, die sich Doktor Song nennt. Ich bin erleichtert, denn ich habe mir auch wirklich die größte Mühe gegeben. Ich will bei der netten Frau und dem Mann mit den komischen europäischen Namen bleiben, die hinter uns sitzen und der Frau Doktor und mir gespannt dabei zusehen, wie wir miteinander spielen. Ich habe das Gefühl Doktor Song beweisen zu müssen, dass ich gut bin, denn ich glaube sie entscheidet darüber, ob mir mein Wunsch gewährt wird.

„Male noch ein bisschen ohne mich weiter, okay? Ich bin gleich wieder da!“  

Sie geht zu Heike und Bernhardt und redet eine Zeit lang mit ihnen.

„… Das Mädchen hat sich in den letzten zwei Wochen wirklich prächtig entwickelt. Was auch immer ihren furchtbaren Schockzustand und die enormen Angstanfälle verursacht haben mag, scheint wie weggeblasen. …. Ich denke, sie fühlt sich sehr wohl bei ihnen und ich bin überzeugt, sie wird eine wundervolle Zukunft bei ihnen in Deutschland haben! ...“

Noch nie habe ich diesen Psychologenbesuch so klar durchlebt. Wieder bin ich versucht, der Erinnerung etwas länger nachzuhängen, aber ich bin noch immer nicht an meinem Ziel. Schockzustand. Ich muss zu dem Moment zurück, der den Schockzustand ausgelöst hat!

Ich versuche, rational an die Sache heran zu gehen. Vermutlich konnte ich deshalb so deutlich alles sehen, weil wir in Korea sind. Ist es das, was Noah mit einer „Brücke“ gemeint hat? Ich versuche, meine Gedanken an den Ort zu lenken, an dem wir uns befinden, an das Backsteinhaus und die enge, steile Straße. Zunächst spüre ich nur ein leichtes Ziehen, den Hauch einer Ahnung, dass dieser Ort hier tatsächlich mehr Bedeutung für mich hat, als mir bewusst ist. Je länger ich allerdings meine Gedanken auf diesen Ort richte, desto stärker wir diese Ahnung, bis von einem Augenblick auf den nächsten wieder unzählige Erinnerungen auf mich einstürmen. Ich fühle, dass ich der gesuchten Erinnerung immer näherkomme, kann sie schon beinahe greifen – da stoße ich an der Zielgeraden auf eine Art Barriere. Ich will weiter in die Vergangenheit, muss noch weiter, aber alles ist plötzlich trübe, unverständlich und durcheinander. Ich spüre, dass hinter dieser Barriere liegt, was ich suche, aber sobald ich meine Gedanken darauf fokussiere, sie zu durchstoßen, läuft ein Schauer durch mich hindurch und eine entsetzliche Kälte ergreift Besitz von mir, sodass ich au-
tomatisch wieder zurückweiche.  

Lass dich nicht von deiner Furcht beherrschen!, hallt Markovs

Warnung durch meinen Geist. All die Dinge, die du sehen wirst, sind bereits geschehen. Sie können dir keinen Schaden mehr zufügen!

Ja, es sind nur Erinnerungen, nichts weiter! Erinnerungen, die ich schon viel zu lange verdrängt habe!

Noch einmal konzentriere ich mich auf die Barriere, presche mit voller Wucht dagegen – und auf einen Schlag wird alles dunkel.

„Hannah.“

Verwirrt blinzle ich, kämpfe gegen die lästigen Visionen an, die meinen Geist belagern, sobald der Schlaf mich verlassen hat.

„Hannah!“

Jemand ruft nach mir. Ich kenne die Stimme. Onkel Tae- Woong.

Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen.

„Onkel?“, krächze ich verwirrt.

„Ja, ich bin es, meine Kleine, Onkel Tae-Woong“, erwidert er. Onkel klingt nervös. Das Zimmer ist noch immer in nächtliches Schwarz gehüllt und ich frage mich, warum er das Licht nicht angemacht hat. „Schnell, du musst sofort mit mir kommen!“

Verblüfft bemerke ich, dass ich jedes seiner Worte verstehe, obwohl er Koreanisch mit mir spricht. Aber damals war es ja meine Muttersprache …

„W-was… was ist denn los?“

Während ich die Frage stelle, hat Onkel bereits nach meiner kleinen Hand gegriffen und drängt mich, aus dem Bett zu steigen.

„Du bist in Gefahr! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“, flüstert er. Onkel wirkt aufs Äußerste angespannt, was auch mich
in Alarmbereitschaft versetzt.

„Wo ist Ye-eun?“

Meine Gouvernante. Sung-ho, das Oberhaupt unserer Familie, hätte sich gewiss zuerst mit ihr und Jun-seo, einem Mitglied seiner Zwölf, dass hier in diesem Haus stationiert ist, in Verbindung gesetzt, sollte mir Gefahr drohen. Und wo sind die Sicherheitsleute, die immer vor meinem Zimmer stationiert sind? Noch etwas kommt mir an der Sache merkwürdig vor: Ich habe Onkel bisher noch nie hier im Haupthaus gesehen, sondern nur während der wenigen Male, da man mir zusammen mit meinen Eltern einen Besuch bei meiner Großmutter erlaubt hatte …

Onkel bleibt abrupt stehen und sieht mich abschätzend an, ehe sein Blick unvermittelt finster wird, als wäre seine Fürsorge von zuvor nichts als eine Maske gewesen. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Noch nie hat mich jemand so wütend angesehen. Gerade als ich zu einem ängstlichen Schrei ansetzen will und begreife, dass er selbst offensichtlich die Gefahr ist, vor der er mich zuvor gewarnt hat, zieht Onkel mich grob in seine Arme und legt mir eine große Hand auf den Mund, die jegliches Geräusch sofort ersticken lässt.

„Ich hab es auf die nette Tour probiert, aber du bist zu verdammt schlau für deine vier Jahre, du kleines Gör – dann muss ich eben ungemütlich werden!“

Als ich mich von meinem ersten Schock erholt habe, beginne ich sofort, mich mit Händen und Füßen gegen den übermächtigen Erwachsenen zur Wehr zu setzen. Ich zapple und strample wie eine Wilde und bringe Onkel schließlich zum Straucheln, so dass er gegen die antike Vase auf der Anrichte prallt, die kurz darauf laut klirrend am Boden zersplittert. Er stößt einen wüsten Fluch aus, hat sich jedoch schnell wieder gefangen und will gerade aus dem Zimmer stürmen, da kommt Ye-eun aus dem Nachbarzimmer hereingeplatzt. Sie hat die Situation sofort überblickt und zögert keine Sekunde Onkel anzugreifen, um mich zu befreien. Ich weiß, dass sie verschiedene Kampfsportarten praktiziert, habe sie allerdings noch nie zuvor in Aktion gesehen. Mit wenigen gezielten Tritten bringt sie ihn dazu, mich loszulassen. Ängstlich renne ich in die Arme meines Kindermädchens.

„Seid ihr verletzt?“, fragt Ye-eun besorgt und beäugt mich kritisch.

Ich schüttle den Kopf, klammere mich an ihre Pyjamahose und sehe mich ängstlich nach Onkel um. Der hat sich inzwischen wieder gefangen und wischt sich mit der Faust das Blut vom Mundwinkel.

„Sie haben einen großen Fehler begangen! Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, aber unsere Familie wird einen derartigen Angriff nicht ungeschoren davonkommen lassen, das Versprechen ich ihnen!“, warnt Ye-eun ihn.

„Eure ach so tolle Familie ist alles, was euch interessiert! Menschen retten, Gutes tun, … - Pah, dass ich nicht lache!“, ätzt er zurück. „Ich bin hier nicht der Böse, ich bin das Opfer! Hätte euer vergöttertes Familienoberhaupt nicht meiner Konkurrenz unter die Arme gegriffen, hätte meine Firma nicht Konkurs anmelden müssen! Es ist an der Zeit, dass eurem Treiben endlich ein Ende gesetzt wird!“

Er erhebt demonstrativ die rechte Faust, in der sich ein kleines, blinkendes Gerät befindet, welches er zuvor aus seiner Hosentasche gezogen hat, und drückt zu. In der nächsten Sekunde ertönt von allen Seiten ein ohrenbetäubendes Krachen, als hätte jemand unzählige Silvesterkracher gezündet. Der laut ist so markerschütternd, dass er die Wände zum Wackeln bringt. Unwillkürlich drücke ich mich enger an Ye-eun, als der durchdringende Geruch von Rauch in meine Nase dringt und den Eindruck von zuvor bestätigt: Onkel hat im Haus Sprengsätze zur Detonation gebracht.

„Was… was haben Sie getan?“

Auf den Mund meines Onkels legt sich ein überlegenes Lächeln.

„Wenn ihr noch lebend aus diesem Haus herauskommen wollt, folgt mir!“

Ohne auf unsere Antwort zu warten wendet er sich um und rennt an uns vorbei zur Tür. Die ersten Rauchschwaden bahnen sich bereits ihren Weg in mein Zimmer. Ye-eun bleibt nichts anders übrig, als mich auf ihre Arme zu nehmen und Onkels Aufforderung nachzukommen.

„Mama und Papa … Was ist mit Mama und Papa?“

Anstatt auf meine Frage einzugehen, hält Ye-eun mir die Bluse vor Mund und Nase, die man mir bereits für morgen bereitgelegt und die sie beim Loslaufen rasch gegriffen hatte.

„Hier, haltet das und versucht, so wenig von dem Rauch einzuatmen, wie möglich!“, befiehlt sie mir. Damit habe ich indirekt die Antwort auf meine Frage: Wir werden nicht umkehren. Mein Überleben hat Vorrang.

Aus den Augenwinkeln sehe ich dass die Wachen, die immer vor meinen Räumen postiert sind, allesamt bewusstlos am Boden liegen. Da die Rauchentwicklung gerade begonnen hat, kann das nur bedeuten, jemand hat sie schon vorher außer Gefecht gesetzt. Aus verschiedenen Winkeln des Hauses ertönen entsetzte Schreie und die Temperatur ist inzwischen rapide angestiegen.

Onkel führt uns zunächst zum Ostflügel des Hauses, wo sich Büros und die große Bibliothek befinden und es noch kaum Rauchentwicklung gibt – offenbar hat er diesen Bereich absichtlich ausgespart, ehe er über eine Dienstbotentreppe den Keller ansteuert und schließlich über einen Hintereingang das Haus verlässt. Er will vermeiden, von jemandem gesehen zu werden, und das gelingt ihm auch.  

Draußen warten bereits drei Männer auf uns, alle in schwarz gekleidet, die Gesichter durch Kapuze oder Tuch verdeckt. Komplizen.

„Gib uns die Kleine!“, fordert der Größte der Truppe, während er ein Messer auf Ye-eun und mich gerichtet hält.

„Niemals!“

Ohne zu zögern jagt sie auf die Männer zu, weicht ihren Angriffen gekonnt aus und schafft es sogar, mit einigen gezielten Tritten zwei der vier zu Boden zu bringen. Hätte sie mich nicht in ihren Armen gehabt, wäre sie womöglich sogar mit allen Vieren fertig geworden. So allerdings bleibt ihr nur die Flucht.

Auch die zwei Wachen am Haupttor sind bewusstlos, wir sind also weiterhin auf uns alleine gestellt. In dem Versuch, vielleicht einige Nachbarn alarmieren zu können, schreit Ye-eun verzweifelt nach Hilfe, doch Onkel und sein noch stehender Komplize sind uns bereits dicht auf den Fersen. Es ist eine der vornehmsten Wohngegenden Seouls; jedes Haus liegt hinter einer dicken Mauer verborgen und die Chancen, hier um diese Uhrzeit zufällig auf offener Straße jemandem zu begegnen, liegen eher gering. Plötzlich ertönen hinter uns zwei Schüsse und Ye-eun stößt ein schmerzhaftes Keuchen aus – der Komplize hat im Laufen eine Pistole auf sie gerichtet.      

„Sobald ich euch runterlasse, bringt ihr euch so schnell wie möglich in Sicherheit, verstanden?“, hechelt Ye-eun, der es trotz Verletzungen gerade so gelingt, sich noch auf den Beinen zu halten. Im Gegensatz zu unseren Verfolgern kennt sie die Nachbarschaft wie ihre Westentasche und nutzt dieses Wissen gekonnt zu unserem Vorteil.

„Y-Ye-eun …“, schluchze ich, unfähig, etwas anderes herauszubringen.

Verstanden?“, hakt sie scharf nach. Als ich nichts erwidere, fügt sie sanfter hinzu: „Ich werde für euch ohne zu zögern mein Leben lassen, wenn es sein muss. Lasst mein Opfer bitte
nicht umsonst sein!“

Die Worte kommen nur noch schleppend heraus. Schweiß läuft ihre Stirn herab, in die sich immer tiefere Schmerzfalten graben. Sie schafft es gerade noch bis zur nächsten Straßengabelung, ehe ihr Köper endgültig versagt und sie zusammenbricht.

„Lauft … lauft und ver… versteckt euch! Bi… Bitte!“, fleht sie und mobilisiert ihre letzten Kräfte, um mich mit einer Hand von sich zu stoßen. Irgendwie bringe ich es schließlich tatsächlich über mich, mich von ihr abzuwenden und zu rennen. Kaum, dass ich in die nächstbeste Seitenstraße verschwunden bin, höre ich eine wütende Männerstimme hinter mir.

„Wo ist die Kleine lang gelaufen?“

„Fahrt zur Hölle!“, ist Ye-euns trotzige Erwiderung.

Zwei weitere Schüsse.

„Ich gehe da lang, du nimmst die Straße. Weit kann meine Nichte nicht gekommen sein!“

So schnell, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin, stolpere ich von einem Haus zum nächsten. Ich will nicht angeschossen werden! Ich will nicht in die Hände dieser Männer geraten!

Einer der Verfolger kommt mir immer näher, ich kann es an seinen Schritten hören. Panisch sehe ich mich nach einer Versteckmöglichkeit um. Als ich nicht fündig werde, greife in meiner Verzweiflung nach dem erstbesten Eingangstor – das tatsächlich nachgibt. Ängstlich stolpere ich in den Vorhof des stattlichen Hauses, schließe das Tor wieder und lausche angespannt. Rasch näher kommende Schritte – die das Haus letztlich passieren.

Erleichtert und völlig erschöpft lasse ich mich auf den Boden sinken. Instinktiv will mein vollkommen verstörter Geist sich nach Julian ausstrecken, Hilfe und Trost bei meinem Seelengefährten suchen, als mir unvermittelt einfällt, dass Julian bei
unserem Treffen vor einem Jahr etwas Ähnliches zu mir gesagt hat, wie Ye-eun heute.

Ich würde für dich ohne zu zögern mein Leben lassen, so sehr liebe ich dich.

Unwillkürlich sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie anstelle von Ye-eun Julian angeschossen wird, um mich zu beschützen. Nein! Mama. Papa. Ye-eun … Ich kann Julian nicht auch noch verlieren! Ich kann es einfach nicht!

Hannah? Hannah, was ist los? Hannah?  

Mit einem entsetzten Schrei, den nur er hören kann, löse ich die Verbindung wieder, stemme mich mit all meiner mentalen Kraft gegen jegliche Zugriffe seinerseits. Tränen strömen meine Wangen hinab, doch ich bleibe standhaft. Julian muss leben!

Mich überkommt ein eigenartiges Schwindelgefühl und mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, aber ich darf nicht aufgeben! Ich muss standhaft bleiben! Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die Augen zu…

bis mit einem Mal all der Schmerz vergangen ist und ich wieder keuchend im Hier und Jetzt stehe. 

Kapitel 25

Schweißgebadet taumle ich nach vorne, überwältigt von der Flut längst vergangener Empfindungen. Hätte Julian mich nicht sofort an den Oberarmen gestützt, hätten meine Beine vermutlich unter mir nachgegeben. Noch immer spüre ich den Nachhall seiner unbändigen Verzweiflung als er immer wieder vergeblich versucht hatte, seinen Geist mit meinem zu verschmelzen. Dass es mir damals tatsächlich gelang, seinem Zugriff bis zum Ende stand zu halten, grenzt geradezu an ein Wunder. Es hatte sich angefühlt, als hätte ich mir mit meinen eigenen Händen das Herz aus der Brust gerissen. Nicht mehr in der Lage, die unvorstellbaren Qualen in meiner Seele zu ertragen, hatte ich schließlich alles verdrängt, mich dazu gezwungen, meinen geliebten Julian zu vergessen, mein Leben.  

Es ist alles okay, du bist in Sicherheit, versucht er, mich zu beruhigen. Ich bin da, alles ist gut.  

Ja, er ist da. Sie haben ihn nicht bekommen. Er ist hier bei mir, und er ist am Leben. Doch das bedrängende Gefühl der Angst – Angst um ihn – rauscht noch immer durch meine Adern, lässt mein Herz rasen. Julian darf nichts geschehen. Niemals.

Tränen der Erleichterung und des Glücks treten in meine Augen, während ich dem verdutzten Julian die Arme um die Mitte schlinge und mich fest an ihn drücke. Er hat sich jedoch schnell wieder gefasst und erwidert die Umarmung.

„Sch … Sch … Ist ja gut, alles ist gut“, haucht er in mein Ohr. „Alles ist gut …“

Fürsorglich streichelt er mir über den Rücken, wartet geduldig, bis ich mich wieder gefasst habe.

„Du hast gesagt, du würdest dein Leben geben, um mich zu beschützen“, bringe ich schließlich heraus, sobald die Tränen versiegt sind. Ich löse mich aus der Umarmung und sehe ihm fest in die Augen. „Du … du hast dasselbe gesagt, wie Ye-eun, bevor sie … bevor sie …“

Ich bringe es einfach nicht über mich, das Ungeheuerliche auszusprechen. Der Schmerz sitzt zu tief.

„Ich hätte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren. Ich konnte es nicht riskieren … Ich musste die Verbindung einfach unterbrechen! Ich hatte solche Angst, so furchtbare Angst, dass sie dich auch wegen mir bekommen würden …“

Die Worte überschlagen sich geradezu, sprudeln aus mir heraus wie ein Wasserfall.

„Was … was habe ich getan, dass du mich so sehr hasst?“

Über das strahlende eisige Blau seiner Augen legt sich ein dunkler Schatten. Verächtlich schaut er auf mich herab.

„Du hast mich verraten.“

Nun verstehe ich, was er damals gemeint hat. Er glaubte, ich hätte ihn an jenem Tag vor einundzwanzig Jahren im Stich gelassen, hätte aus Egoismus den Weg des Vergessens gewählt, während er dagegen mich nie vergessen hatte, nicht eine Sekunde lang.

Wieder kommen die Tränen, dieses Mal begleitet von heftigem Schluchzen. Trotzdem zwinge ich mich, meine Augen offen zu halten, so dass Julian die Aufrichtigkeit meiner Worte sehen kann, begreifen kann, dass ich, naives Kind, das ich war, zu der Zeit keinen anderen Ausweg gesehen hatte, um ihn zu beschützen.

„Ich … ich hatte solche A-angst, und es … e-es tut mir so … s-so L-leid! … B-bitte … bitte verzeih mir!“

Ich spiele den Anschlag noch einmal in Gedanken durch, teile mein neues altes Wissen mit ihm, übermittle ihm, welche Gefühle mich damals zu meinem Handeln getrieben haben.

Ich habe dich nicht verraten - ich habe dich geliebt!, schicke ich eindringlich hinterher, unfähig, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken und es ihm direkt zu sagen.

Einen qualvollen Augenblick lang ist Julian vollkommen regungslos, den Blick eindringlich auf mich gerichtet ohne zu blinzeln, ehe er sich unvermittelt zu mir herunter beugt, mein Gesicht in seine Hände nimmt – und seine Lippe auf meine senkt. Ich erwidere den Kuss, lege all die Liebe hinein, die ich mich einst gezwungen hatte, zu vergessen, klammere mich an sein Hemd und drücke mich unwillkürlich enger an ihn. Viel zu lange hat das Schicksal uns getrennt, Julian zu einem Schattendasein ohne seine zweite Hälfte verdammt. Ich werde ihm diese Zeit nie zurückgeben können, aber ich schwöre mir fortan alles in meiner Macht stehende zu tun, um ihn glücklich zu machen, ihm die Partnerin zu sein, die er verdient. Ein Gefühl unbändiger Freude erfasst mich, seine Freude.

Plötzlich spüre ich etwas Weiches unter mir. Liege ich in einem Bett? Aber wie …?

Die Frage tritt in den Hintergrund, als Julian mit einem Bein meine Schenkel auseinander zwingt. Durch den Stoff seiner Hose kann ich deutlich seine pralle, angeschwollene Männlichkeit spüren. Ein Schauer der Erregung jagt durch meinen Körper und jeglicher rationaler Gedanke hat von einer Sekunde zur nächsten Sendepause. Mir entfährt ein wohliges Seufzen und ich beuge instinktiv meinen Rücken durch, um ihm entgegen zu kommen, ihm zu signalisieren, dass ich bereit bin. Julians warme Finger machen sich an den Knöpfen meiner Bluse zu schaffen und es dauert nicht lange, bis er mich von meinen lästigen Klamotten befreit hat und alles, was ich nun auf meiner empfindsamen Haut spüre, sein Körper, das angenehm kühle Laken unter mir und seine forschenden Hände sind, die verführerische Pfade über mein erhitztes Fleisch ziehen, eine bittersüße Folter.  

Du bist so wunderschön, haucht Julian ehrfürchtig in meinen Geist, als könne er sein Glück kaum fassen.

Ich bin dran!, erwidere ich ungeduldig.

Anstelle einer Antwort schenkt er mir ein schelmisches Grinsen, ehe er sich zur Seite rollt und mich gleichzeitig auf sich zieht, so dass unsere Positionen nun vertauscht sind und ich über ihm kauere.

Wie du wünschst, meine Seelengefährtin. Ich gehöre ganz dir.

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen! Sofort mache ich mich daran, seinen Oberkörper zu entblößen. Sobald ich mich seines Hemdes entledigt habe, ziehe auch ich genießerisch Linien über das, was sich mir darbietet, erkunde, entdecke, verlocke. Sein Körper ist die reine Sünde: schlank, athletisch und nach erregtem Schweiß duftend.

Mein.  

Ich versuche erst gar nicht, diesen animalischen Gedanken zurückzudrängen. Stattdessen hauche ich dutzende zarter Küsse auf Julians muskulösen Leib, markiere mein Territorium.

Ja, dein. Nur dein, bestätigt er, zieht mein Gesicht zu sich heran und sorgt dafür, dass der nächste Kuss auf seinem Mund landet. Und jetzt die Hose.

Hat es da etwa jemand eilig?, necke ich ihn.

Anstelle einer Antwort finde ich mich in der nächsten Sekunde wieder unter ihm, sein steifes Glied provozierend an meine weibliche Mitte gepresst. Ehe ich es verhindern kann, entringt sich mir ein lustvolles Stöhnen.

Man sollte kein Spiel beginnen, das man nicht gewinnen kann – das habe ich dir schon einmal gesagt, kontert er siegessicher.

Wenn ich mich recht entsinne, bist du Sekunden später zu Boden gegangen, erinnere ich ihn, obwohl es mich durch seine ungenierten Verführungsversuche alle Mühe kostet, klar zu denken.

Aber du hast mich aufgefangen.

Das ehrfürchtige Funkeln in den tiefen seiner Augen verrät mir, dass er nicht nur von diesem einen Tag spricht.

Ich bin eben die Vernünftige in dieser Beziehung.

Ein herausforderndes Lächeln legt sich auf seine Lippen, ehe er sein erigiertes Glied in Position bringt und gerade so weit vordringt, dass ein leichter Ruck seiner Hüfte genügen würde, um mir endlich Erlösung zu schenken.

Bist du dir da sicher?

Ich … Ja … Sicher, bringe ich nur abgehackt heraus, während ich sehnsüchtig darauf warte, dass er endlich zu Ende bringt, was er begonnen hat.

Ein spöttisches Lachen hallt durch meine Gedanken.

Mein kleiner Sturrkopf, schimpft er liebevoll.

Zur Strafe für die offenkundige Lüge beißt er mir zärtlich ins Ohr, während er sich enger an mich presst. Ich kralle die Hände ins Bettlaken und strecke mich ihm erwartungsvoll entgegen.

Julian, wimmere ich, nicht in der Lage, diese köstliche Folter länger zu ertragen.

Als er mein Flehen schließlich erhört, heiße ich ihn mit einem lustvollen Stöhnen willkommen. Wieder und wieder bringt er mich zum Höhepunkt, und ich gebe mich meinem Seelengefährten willig hin.

Irgendwann kommen wir völlig ausgelaugt und bewegungsunfähig zur Ruhe, noch immer ineinander verschlungen. Dieser vollkommene Moment währt allerdings nicht lange, denn mit der Ruhe kommen die düsteren Erinnerungen zurück.

Hör auf, dich zu quälen.

Julian streichelt mir fürsorglich über die Schulter, und ich kuschle mich automatisch enger an ihn.

Was geschehen ist, ist nicht deine Schuld! Du hast getan, was du als notwendig erachtet hast, um zu überleben – das weiß
ich jetzt.

Trotz seiner verständnisvollen Worte kehren die Tränen zurück.

Wie konnte ich dich von einem Tag auf den anderen vergessen?

Nun, da die Erinnerungen an meine Kindheit und damit meine Gefühle für Julian zurückgekehrt sind, kann ich kaum glauben, dass wir tatsächlich einundzwanzig lange Jahre getrennt waren. Meinetwegen.

Wie konnte ich die Person vergessen, die ich auf dieser Welt am meisten liebe?

Wie sehr hatte ich mich jeden Tag darauf gefreut, seinen geistigen Ruf zu vernehmen, sehnsuchtsvoll darauf gewartet endlich alt genug zu sein, um endlich für immer an seiner Seite bleiben zu dürfen.

Lass uns einfach dankbar sein, dass du den Anschlag damals überhaupt unbeschadet überstanden hast, okay?

Julian drückt mich fester an sich und wischt mit seiner freien Hand sanft meine Tränen weg.

Es mag etwas gedauert haben, aber letztlich bist du wieder zu mir zurückgekehrt und das ist alles, was zählt, alles, was ich brauche.

Ich recke meinen Kopf, sehe zu ihm auf und lege ihm dankbar eine Hand an die Wange.

Ich liebe dich, Julian.

Ich liebe dich mehr. Und jetzt schlaf. Ich spüre doch, wie müde du bist.

Gerne hätte ich widersprochen, aber er hat recht. Es kostet mich alle Mühe, noch die Augen offen zu halten.

Schlaf, befiehlt er eindringlicher, nimmt meine Hand in seine und legt sie auf sein Herz. Ein schwaches Lächeln legt sich auf meine Lippen. Unverbesserlicher Despot.

Dein unverbesserlicher Despot, korrigiert er, mehr belustigt
als gekränkt.

Ich will eigentlich etwas Schlagfertiges erwidern, bringe es am Ende aber nur zu einem bedeutungslosen Murmeln, bevor der längst überfällige Schlaf mich übermannt.

 

Am nächsten Morgen werde ich von einem Kuss auf die Stirn geweckt, gefolgt von einem Aufstehen, Schlafmütze. Das erste das ich sehe, nachdem ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben habe, sind Julians wundervolle blaue Augen. Er kniet neben mir auf dem Bett, vor sich ein Tablett mit Frühstück, und sieht lächelnd auf mich herab. Im ersten Moment erscheint mir dieses Bild völlig absurd, bis mich die Erlebnisse des Vortags wieder einholen. Dennoch reibe ich mir sicherheitshalber ein zweites Mal die Augen, was Julian ein amüsiertes Schmunzeln entlockt.

„Guten Morgen“, krächze ich, die Stimme noch rau von der Nacht. Langsam richte ich mich auf, darauf bedacht, die Bettdecke in Position zu halten – mehr aus Gewohnheit denn Scham.

„Guten Morgen“, entgegnet er. „Kaffee?“

Er streckt mir einladend eine dampfende Tasse entgegen, die er von dem Tablett genommen hat.

„Ja, danke.“ Ich nehme ihm die Tasse aus der Hand und trinke einen Schluck. Ein Schuss Milch, ein Löffel Zucker – lecker, genau, wie ich ihn mag.

„Du bist schon angezogen“, stelle ich verwundert fest.  

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Laptop auf dem Schreibtisch – eine Leihgabe des Hotels – eingeschaltet ist. Julian hat gearbeitet. Allein.

„Warum hast du mich nicht früher geweckt?“

„Ich bin es gewohnt, ohne viel Schlaf auszukommen. Du nicht.“ Es ist keine Anklage, nur eine Feststellung. „Außerdem hättest du nicht viel mehr tun können, als mir über die Schulter zu sehen.“

Auch wenn ich weiß, dass das nicht als Vorwurf gemeint ist, kann ich nicht umhin, mich schuldig zu fühlen, nutzlos.

„Du hattest nur wenige Monate, um zu lernen, ich Jahre“, erinnert Julian mich sanft, ein Indiz dafür, dass er noch immer geistig mit mir verbunden ist. „Im Übrigen haben wir es dir zu verdanken, dass wir einem Anschlag entkommen sind.“

Glaub mir, du bist alles andere als nutzlos!, schiebt er in Gedanken nach, um seine Aussage zu unterstreichen.

„Glücklicherweise habe ich ja die Möglichkeit, mir vom Besten das ein oder andere abzugucken“, versuche auch ich, dem ganzen etwas Positives abzugewinnen, obwohl es nicht leicht fällt. Aber Selbstmitleid hat noch niemanden weiter gebracht.

„Du sagst es“, stimmt er mir ungeniert zu.

„Also … Hast du etwas Neues herausgefunden?“, erkundige ich mich nach seinen Recherchen, während ich mir vom Frühstückstablett einen Apfelschnitz klaue.

Julian steht auf, holt den Laptop und setzt sich wieder neben mich. Erst jetzt kann ich richtig das offene Fenster auf dem Bildschirm betrachten – und beinahe wäre mir bei dem Anblick, der sich mir bietet, der Apfel im Halse stecken geblieben. Genjiro Nishimoto, der Mann, der mir dort von einem kleinen Foto professionell entgegen lächelt, hat ein dunkles Muttermal unter seinem linken Auge, genau wie einer der Komplizen meines Onkels es gehabt hatte.

„Dein Onkel ist kurz nach dem Überfall vor zwanzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben – so lautet zumindest die offizielle Version“, beginnt Julian, zu erklären. Ich verstehe, was er damit andeuten will. Dann war auch er letztlich nur eine Marionette gewesen und nicht der große Strippenzieher im Hintergrund. Der hatte ihn offenbar für den Misserfolg damals verantwortlich gemacht und sich seiner anschließend entledigt.

„Möglich“, klinkt sich Julian in meine Überlegungen ein. „Oder er wollte nur seine Spuren verwischen, seinen Verbindungspunkt zu deiner Familie.“

„Dann ist Nishimoto nicht mit einer der verfluchten Familien verwandt?“, hake ich entgeistert nach, ehe mir etwas viel Banaleres in den Sinn kommt. „Wie bist du überhaupt auf seinen Namen gekommen?“

„Ich habe nach Unternehmen gesucht, die um das Jahr 1990 auf Grund des Wachstums eines Konkurrenzunternehmens Konkurs anmelden mussten.“

„Ich bin hier nicht der Böse, ich bin das Opfer! Hätte euer vergöttertes Familienoberhaupt nicht meiner Konkurrenz unter die Arme gegriffen, hätte meine Firma nicht Konkurs anmelden müssen!“

Er hat vermutet, dass die Männer alle das gleiche Motiv hatten. Natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?

„So bin ich schließlich auf Nishimoto gestoßen. Vor seinem kometenhaften Aufstieg zum Vorstandsvorsitzenden der Kao Corporation war er Chef eines mittelständischen Unternehmens, das sein Urgroßvater einst gegründet hat. 1988 musste es wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgelöst werden. Die Hintergrunde waren ähnlich wie bei deinem Onkel.“

„Moment mal, du hast doch gesagt, Nishimoto gehört keiner der verfluchten Familien an – wie konnte er sich dann überhaupt an uns erinnern?“

Julians Züge verfinstern sich.

„Das wüsste ich auch gerne.“

„Zumindest haben wir nun wenigstens einen Namen, etwas, mit dem wir weiter arbeiten können. Wie sieht jetzt unser nächster Schritt aus?“

„Jetzt retten wir erst einmal einem Milliardär das Leben, und dann fliegen wir nach Japan, dem lieben Herrn Vorstand einen Besuch abstatten.“

 

 Sechs Stunden später befinden wir uns auf Odaiba, einer kleinen Insel vor Tokyo, und schauen auf das Meer, die Regenbogenbrücke und die Skyline einer unglaublichen Stadt. Julian steht hinter mir, hat die Arme um mich geschlungen und die Nase in meinen Haaren vergraben. Nachdem er besagten Milliardär davor bewahrt hatte, von seiner Ex über den Balkon seines Penthouses gestoßen zu werden, und anschließend dezent andeutete, dass er mit seiner Frau eine Reise nach Japan vorhatte, hatte der Mann uns seinen Privatjet geradezu aufgedrängt. Wie um alles in der Welt er aus all den Visionen dieser fremden Kultur diese eine hatte herausfiltern können, wird mir wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Hier angekommen hatte Julian nur gemeint, für den Moment sei es das Klügste, Kraft für den morgigen Tag zu tanken und den Jetlag auszukurieren. Dann hatte er mich hierhergeschleppt – ein Geheimtipp, den er einer Stewardess abgeluchst hatte.

Eine leichte Brise weht vom Meer zu uns heran, aber dank Julian ist mir nicht kalt. Um uns herum herrscht buntes Treiben. Wir sind nicht das einzige Paar, das sich hierher verirrt hat. Gierig sauge ich die fröhliche Atmosphäre dieses Ortes auf, versuche, die trüben Gedanken zu verscheuchen, die sich seit gestern immer wieder ungebeten ihren Weg in meine Gedanken bahnen, so wie jetzt gerade.

„Willst du es mir sagen?“

Natürlich ist Julian mein Unbehagen nicht entgangen. Um ehrlich zu sein wundert es mich sogar, dass er mich erst jetzt darauf anspricht.

„Diese Sache mit meinem Onkel …“, entgegne ich leise. „Ich habe einfach nie darüber nachgedacht, dass unser Eingreifen in den Lauf der Dinge manchmal auch negative Konsequenzen nach sich zieht, das ist alles.“

Ich lehne mich zurück und schmiege mich enger an ihn, suche Geborgenheit an seinem warmen, starken Körper. Julian verstärkt seinen Griff um mich und streichelt sanft mit den Daumen über meine Arme.

„Vieles hat zwei Seiten, das ist nun einmal die Natur der Dinge. Retten wir jemanden vor einem Verbrechen, wird der Täter eher gestellt, anstatt die Möglichkeit zu bekommen, unentdeckt zu bleiben. Verschaffen wir dem einen eine Arbeitsstelle, verwehren wir damit gleichzeitig einem anderen die Chance darauf. So etwas wie universelle Fairness ist eine Utopie“, erwidert er mit seiner üblichen, kühlen Abgeklärtheit. „Macht das unsere Arbeit nun zu etwas Schlechtem? Wohl kaum. Wenn wir jemandem helfen, beeinflussen wir damit automatisch auch sein Umfeld – daran können wir nichts ändern. Wir können nur versuchen, so viel Gutes zu bewirken, wie es uns möglich ist. Alles andere liegt nicht in unserer Hand.“

Es folgen einige Minuten angenehmen Schweigens, ehe Julian erneut das Wort ergreift.

„Wie bist du dazu gekommen, Fotografin zu werden?“, will er von mir wissen. Er wirkt ehrlich interessiert.

Ich nehme mir etwas Zeit um mich zu sammeln, ehe ich zu erzählen beginne.

„Als ich neun war, hatte ich eine Blinddarmentzündung und musste operiert werden. Im Krankenhaus lernte ich Lina kennen. Sie war zwei Jahre jünger und … und sie hatte Krebs.“

Unwillkürlich muss ich schlucken. Obwohl Linas Tod nun schon so lange zurückliegt, tut es noch immer weh, daran zu denken.

„Sie hat mehr oder weniger ihr ganzes Leben im Krankenhaus verbracht. Den ersten Ausbruch hatte sie mit zwei. Als ich sie einmal auf ihrem Zimmer besuchen war, hatte sie gerade von ihren Eltern eine Polaroid-Kamera bekommen, und wir haben gemeinsam den ganzen Nachmittag damit verbracht, die furchtbarsten Bilder von uns zu machen“, erinnere mich an jenen wundervollen Tag. Wie viel Spaß wir hatten. „Ein paar Tage später wurde ich entlassen. Ich bin zu Lina, um mich zu verabschieden, und da hat sie mir spontan die Kamera in die Hand gedrückt und mich gebeten, ihr bei meinem nächsten Besuch ein paar Fotos von `draußen´ mitzubringen. Die Kamera sollte nicht auch noch im Krankenhaus eingesperrt werden, wie sie selbst. Das war der Tag an dem ich begonnen habe, zu fotografieren.“

Niemals werde ich Linas freudestrahlendes Gesicht vergessen jedes Mal, wenn ich mit neuen Bildern zu ihr gekommen war. Stundenlang hatten wir uns gemeinsam auf ihr Bett gedrängt und die Fotos betrachtet, über die Geschichten dahinter gekichert oder uns selbst verrückte Geschichten dazu ausgedacht. „Ein halbes Jahr später ist sie gestorben, und ihre Eltern haben mir erlaubt, die Kamera zu behalten. Das Bilder machen war inzwischen so etwas wie eine Gewohnheit geworden, ein Hobby. Das Leben ist so flüchtig und wir schenken so vielen wundervollen Dingen um uns keine Beachtung oder nehmen sie schlicht als gegeben hin. Mit der Fotografie kann man diese schönen Momente einfangen, ein Stückchen konserviertes Glück erschaffen, quasi. Klingt ziemlich kitschig, oder?“

Ich kann förmlich spüren, wie Julians Blick sich verfinstert und Bedauern und Schuld sich in ihm breit machen.

„Du hast deinen Beruf wirklich geliebt“, stellt er leise fest.

„Das hab ich“, gebe ich ehrlich zu. „Aber im Grunde ist das, was wir als Vergessene tun, doch gar nicht so anders: Wir schenken Menschen Glück.“

Ich schaue zu ihm auf, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn flüchtig auf die Wange, ehe ich mich wieder in seine Arme kuschle. Ich kann das zaghafte Lächeln, das sich auf seine Lippen legt, zwar nicht sehen, aber in seinem Herzen fühlen.

„Außerdem kann ich jetzt den ganzen Tag mit meinem unglaublichen Mann zusammen sein.“

Es dauert einige Zeit, bis Julian etwas erwidert.

„Aber du vermisst es, dein altes Leben.“ Wieder eine traurige Feststellung.

„Es wäre merkwürdig, wenn ich es nicht täte, oder?“

„Vermutlich …“, gesteht er. „Wärst du an jenem Tag am Necker allerdings nicht in mich hinein gelaufen …“, wirft er den Gedanken in den Raum.

Ich wende mich aus seiner Umarmung, nehme sein Gesicht in meine Hände und zwinge ihn, mich anzusehen. Ich kann sie kaum ertragen, den Schmerz und die unbändige Angst, die in den tiefen seiner leuchtend blauen Augen lauern und sich ihm so schwer auf die Seele legen. Noch immer ist er davon überzeugt, ich würde mit meinem Schicksal als Vergessene hadern, würde es immer tun.

„… dann wäre ich heute nicht an deiner Seite, wo ich hingehöre“, vollende ich seinen Satz. „Ich gebe zu es ist nicht unbedingt das Leben, das ich mir immer erträumt habe, aber mal ehrlich: Wer könnte sich so etwas Verrücktes auch erträumen?“

Das entlockt ihm gegen seinen Willen ein kleines Schmunzeln.

„Und nur, weil ich es mir nicht erträumt habe, muss es ja nicht schlecht sein, oder? Außerdem können sich Träume ändern! Du bist mein neuer Traum, Julian, du allein! Wenn ich dafür einen Fluch und Attentate in Kauf nehmen muss, sei es so – mich wirst du jedenfalls nicht mehr los!“

 

London, 7:03 Uhr

 

Eine Pflegerin hilft ihm gerade, sich für den Tag einzukleiden, als es an der Tür klopft. Er lässt sich noch rasch den zweiten Socken überstreifen, dann bedeutet er der Frau, ihre Arbeit einzustellen und wendet sich seinem frühen Gast zu.

„Herein.“

Wer ihn um diese Zeit stört, muss eine triftigen Grund haben. Der oberste Butler des Hauses betritt mit einer Verbeugung das Zimmer.

„Bitte verzeihen Sie, Sir, aber es gibt wichtige Neuigkeiten bezüglich des verschollenen Paares.“

„Korea?“, hakt er angespannt nach.

Der Butler nickt.

„Ihre Vermutung hat sich als richtig erwiesen. Einer unserer Leute in Seoul hat sie am Vormittag am dortigen Flughafen ausfindig gemacht. Er hat nicht zugegriffen, wie ihr es befohlen hattet. Unseren Recherchen zufolge sind sie inzwischen in Japan“, hält ihn der Butler auf dem neusten Stand.

Gut. Einer seiner Männer allein hätte gegen das Paar keine Chance gehabt, zumal sie dann gewusst hätten, dass man ihnen auf der Spur ist. Das prickelnde Gefühl des Triumphes macht sich in ihm breit.

„Organisieren Sie möglichst schnell ein Telefonat mit Nishi-moto und unseren Freunden aus Deutschland und sorgen Sie dafür, dass im Gewölbe zwei Betten hergerichtet werden.“

Ein siegesssicheres Lächeln legt sich auf seine Lippen.

„Jetzt haben wir sie!“

 

Kapitel 26

 

„Du … du meinst das ernst, oder?“, hake ich ungläubig nach, sobald ich meine Sprache widergefunden habe. Als ich Julian gestern nach unserem weiteren Vorgehen gefragt hatte, hatte er mit seinem charmantesten Lächeln gesagt, ich solle einfach den schönen Tag genießen. Es würde genügen, wenn er mich erst heute einweihte, da ich mir ansonsten nur unnötig Sorgen machen würde. Gefangen in meiner rosaroten Wolke hatte ich keinen Grund gesehen, an seinen Worten zu zweifeln – dabei hätte gerade ich es besser wissen müssen.

„Ich soll mich alleine in eine riesige Firmenzentrale einschleichen, in Nishimotos Büro einbrechen und seinen Computer durchforsten?“, fasse ich Julians Plan noch einmal zusammen.

„Du weißt ich würde so etwas nie von dir verlangen, wenn es einen anderen Weg gäbe, Hannah. Aber mit meinem Aussehen würde ich aus der Masse der japanischen Mitarbeiter herausstechen, wie ein bunter Hund“, lässt Julian sich von meinem gereizten Tonfall nicht aus der Fassung bringen und versucht, mich zu beschwichtigen.

„Aber dein Plan hat einen gewaltigen Haken“, gebe ich mich nicht so schnell geschlagen. „Diese Sache mit der geistigen Übernahme ist doch Wahnsinn! Gedanklich zu kommunizieren ist eine Sache, aber mich wie eine Marionette steuern zu wollen, das ist … das ist …“

Ich ringe fassungslos die Hände.

„Das wird doch niemals funktionieren!“

„Das wissen wir nicht, bis wir es versucht haben“, kontert er ruhig. „Es wird nicht leicht werden, das ist mir klar, aber es ist unsere beste Option.“

Ich spüre, dass er vollkommen davon überzeugt ist, und so ungern ich es auch zugebe, stimmt ihm der Pragmatiker in mir da vollkommen zu. Die Alternative wäre ein klassischer Einbruch in einer Nacht- und Nebel-Aktion, was allerdings selbst für jemanden mit Julians außergewöhnlichen Fähigkeiten bei einem solchen Gebäude praktisch ein Ding der Unmöglichkeit wäre.

„Na schön, versuchen wir´s“, seufze ich schließlich ergeben. Ich schiebe widerwillig das Frühstückstablett von mir, lege mich rücklings aufs Bett und schließe die Augen.

Bereit?, versichert sich Julian noch einmal.

Kein Stück, gebe ich ehrlich zurück. Bringen wir es einfach hintern uns, bevor ich es mir anders überlege!

Das lässt sich Julian nicht zweimal sagen.

Zunächst fühlt sich alles an wie immer, wenn wir geistig miteinander in Verbindung treten: Eine wohlige Wärme breitet sich in meinem Körper aus und es kribbelt angenehm an meinen Nervenenden. Dann weicht das angenehme Gefühl allerdings plötzlich einem äußerst schmerzhaften Ziehen, als würde jemand versuchen, mir alle vier Gliedmaßen gleichzeitig auszureißen – und den Kopf noch dazu! Entsetzt reiße ich die Augen auf, schrecke hoch und ringe panisch nach Luft. Der Schmerz ist so schnell verschwunden, wie er gekommen ist.

Was war das? Willst du mich umbringen?

Ich sehe ihn vorwurfsvoll an. Julian legt mir sofort den Arm um die Schultern, um mich zu stützen.

„Geht es wieder?“

Langsam geht mein Atem wieder regelmäßiger. Ich nicke.

„Was war das?“, frage ich erneut.

„Ich habe versucht, die Kontrolle zu übernehmen, und dein Geist hat sich automatisch dagegen aufgelehnt. Damit hatte ich zwar gerechnet, ich hatte allerdings nicht erwartet, dass deine Gegenwehr so stark sein würde“, erklärt er gelassen, als redeten wir über das Wetter oder etwas vergleichbar Banales.

„Ich werde nächstes Mal versuchen, langsamer vorzugehen, so dass du genügend Zeit hast, dich bewusst zurückzuziehen, anstatt deinen Instinkten die Kontrolle zu überlassen.“

Nächstes Mal?“, wiederhole ich, meine Stimmen um einige Oktaven höher, als gewöhnlich.

Julian legt mir eine Hand an die Wange, sein Blick voller Optimismus.

„Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut, oder?“

Trotz seiner zuversichtlichen Züge kann ich fühlen, dass es ihm innerlich zu schaffen macht, mich darum bitten zu müssen. Du weißt ich würde so etwas nie von die verlangen, wenn es einen anderen Weg gäbe.

„Du kannst so was von froh sein, dass ich dich so wahnsinnig liebe, sonst gäbe es nicht den Hauch einer Chance, dass ich das nochmal probiere!“, brumme ich missmutig und bemühe mich um einen verärgerten Gesichtsausruck, obwohl ich ihm längst wieder verziehen habe.

Ein männliches Auflachen gefolgt von einem Kuss, der für meinen Geschmack allerdings viel zu kurz andauert, ist die Belohnung für meinen Mut.

„Keine Sorge, das bin ich.“ Er beugt sich vor, bis seine Lippen mein Ohr berühren. „Und heute nach getaner Arbeit werde ich dir gerne zeigen, wie froh genau ich darüber bin“, haucht er verlockend. Ein erotisches Versprechen. Mein Körper reagiert augenblicklich auf diese sinnliche Einladung. Eine Welle der Lust durchströmt mich und zwischen meinen Schenkeln beginnt es, vor freudiger Erregung zu Prickeln. Ich suche seinen Blick und finde in seinen wundervollen blauen Tiefen das gleiche verzehrende Verlangen, das auch in mir tobt.

Ich schenke ihm ein verführerisches Lächeln.

„Ich nehme dich beim Wort!“, warne ich ihn und richte bedrohend meinen Zeigefinger auf seine Brust.

„Das solltest du auch!“

Kurz erwidert er das Lächeln, dann zieht er sich von mir zurück und durchbricht damit abrupt den intimen Moment. Der selbstsüchtige Teil von mir würde am liebsten „Ach, Scheiß drauf!“ brüllen, sich das Oberteil vom Leib reißen und sich sofort holen, wonach es ihn gelüstet, aber der pflichtbewusste Teil überwiegt letztlich doch und bringt mich dazu, mich erneut hinzulegen und die Augen zu schließen. Julian hat recht: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Wie angekündigt geht Julian dieses Mal bedächtiger vor. Obwohl ich jetzt deutlich den Moment ausmachen kann, in dem er versucht, die Kontrolle über meinen Körper an sich zu nehmen, stellt sich erneut Panik bei mir ein, sobald der Schmerz wiederkommt.

Du musst aufhören, dich zu wehren, hallt Julians ruhige, gebieterische Stimme durch meinen Geist. Lass los und vertrau mir!

Ich versuche es ja, aber es geht einfach nicht!, presse ich unter Qualen hervor. Bitte hör auf! Ich halte das nicht mehr aus!

Sofort lässt das Ziehen wieder nach, aber Julian hat sich noch nicht wieder vollständig aus mir zurückgezogen.

Vielleicht sollten wir etwas kleiner anfangen, überlegt er. Ich werde mich nur auf deinen rechten Arm konzentrieren.

Schon spüre ich ein eigenartiges Kribbeln in meinen Fingern.

Vertrau mir!, wiederholt er liebevoll.

Anstatt mich auf das beängstigende Kribbeln zu fokussieren versuche ich, mich ganz in der Wärme zu verlieren, die Julians Anwesenheit in meinem Geist immer auslöst, auf den rauen Klang seiner Stimme und sein unerschütterliche Überzeugung in sich selbst.

Vertrau mir!

Je mehr ich mich auf Julians Wärme einlasse, desto weniger spüre ich das schmerzhafte Ziehen. Irgendwie fühlt es sich sogar ganz angenehm an, sich so vollkommen auf ihn einzustellen. Am Rande nehme ich wahr, wie Julian immer weiter vorstößt, aber jetzt habe ich keine Angst mehr.

Ich vertraue dir!

Ohne, dass ich es ihnen befohlen hätte, ballen sich meine Finger unvermittelt zur Faust und entspannen sich wieder. Dann winkelt sich mein Unterarm an und bettet sich wieder zurück.

Grimmige Genugtuung. Tatendrang.

Julians Glücksgefühle hageln geradezu auf mich ein. Sein Plan ist tatsächlich aufgegangen.

 

Alles in Ordnung? Du bist so still?, fragt Julian besorgt.

Wir – das heißt in unserem Fall mein Körper, Julians Geist und meiner – sind inzwischen beinahe an unserem Ziel angekommen.

Ich kann es immer noch nicht wirklich fassen, dass du tatsächlich meinen Körper kontrollierst! Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nun super gruselig oder super abgefahren finden soll …

Ich kann meinen Körper noch immer spüren, wie zuvor: Die unbequemen Pumps, die streng zusammengefassten Haare, der weiche Stoff der Bluse auf meiner Haut … – nur bin nicht länger ich die treibende Kraft hinter dem, was er tut. Obwohl sich Julian als überraschend geduldiger Lehrer herausgestellt hatte, hatte es eine gute halbe Stunde gedauert bis es mir das erste Mal gelungen war, ihn vollständig die Führung übernehmen zu lassen, und eine weitere, nicht ständig ausversehen wieder selbst das Ruder an mich zu reißen. Lediglich mein uneingeschränktes Vertrauen in Julian ermöglicht ihm und mir diesen netten Trick, und es kostet ein nicht geringes Maß an Mühe, diesen Zustand vollkommenen Vertrauens aufrecht zu erhalten. Natürlich ist das kein Vergleich zu der Anstrengung, die Julian das Ganze kosten muss, aber er lässt sich wie immer nichts anmerken und macht einen einwandfreien Job.

Momentan tendiere ich ja eher zu ersterem: Für einen Mann bewegst du dich beängstigend gut in Frauenkleidung, und du läufst in diesen Horrorpumps souveräner als so manche Frau!, kann ich nicht umhin, ihn zu necken.

Ich wurde mein Leben lang darauf vorbereitet, in andere Rollen zu schlüpfen ..., erwidert er gelassen, beinahe gleichgültig. Mit der nötigen Körperkontrolle und einem Gespür für die Wahrnehmung anderer kann man sich im Grunde in jede denkbare Situation einfinden. Wobei ich gestehen muss, dass die Motorik eines weiblichen Körpers etwas gewöhnungsbedürftig ist ...

Obwohl seine Stimme kühl und sachlich klingt wie immer kann ich die Trauer, die er darunter zu verbergen sucht, nur zu deutlich spüren. Ihm war nie erlaubt gewesen, einmal einfach Julian zu sein. Immer hatte er die Rolle des Vergessenen einnehmen müssen. Nun schäme ich mich für meine neckenden Worte und wünschte, ich könnte sie zurücknehmen.

Ich werde jäh aus meinen trüben Gedanken gerissen, als Julian plötzlich unsere Schritte beschleunigt und sich direkt gegen die Passantin vor uns krachen lässt – mit voller Absicht! Die Frau sieht uns so verdattert an, wie ich mich fühle. Ich war sogar kurz davor gewesen, Julian hochkantig aus meine Körper zu werfen. Was hat er sich dabei gedacht?

„Oh, bitte entschuldigen sie vielmals! Ich bin ausgerutscht ...“, höre ich meine Stimme auf Japanisch um Verzeihung bitten.

„Kein Problem, es ist ja nichts passiert!“, gibt die Frau versöhnlich zurück und geht wieder ihres Weges.

Was war DAS?, frage ich irritiert und spüre gleichzeitig, dass ich jetzt etwas Kleines, Viereckiges in der linken Hand halte, das Julian seelenruhig in meiner Jackentasche verschwinden lässt. Da fällt bei mir der Groschen.

Du ... Haben wir der Frau etwa gerade etwas GEKLAUT?

Er hatte die Bewegung so geschickt und fließend ausgeführt, dass nicht einmal mir sein Vorhaben aufgefallen war – und es ist mein Körper!

Man kommt nur mit einem Mitarbeiterausweis in das Innere des Gebäudes, erklärt er schulterzuckend.

Aber woher ...?, setzte ich an, besinne mich dann aber eines Besseren. Nein, vergiss es ...

Wie ich wissen konnte, dass die Frau bei der Kao Corporation arbeitet?, errät er, worauf ich hinauswill. Sie hat vor einigen Minuten ein geschäftliches Telefonat geführt.

Dem entgeht auch gar nichts.

Achso, verstehe, gebe ich lahm zurück und nehme mir fest vor, mich fortan etwas mehr zusammen zu reißen. Mir war nicht einmal aufgefallen, dass das Handy der Frau geklingelt hatte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen fasziniert davon zu sein, dass Julians Geist meinen Körper steuert. Er dagegen war offenbar sofort wieder in den vollen Arbeitsmodus verfallen.

Tatsächlich kommen wir mit der Karte ohne Weiteres an den Kontrollschaltern vorbei. Auch zu Nishimotos Büro gelangen wir ohne Probleme. In einer so großen Firma kennt man zum Glück nur seine engsten Kollegen, und so wundert sich niemand über ein unbekanntes Gesicht. Trotzdem erscheint mir das Ganze fast ein bisschen zu einfach. Und als wäre bisher nicht schon alles glatt genug gelaufen, erfahren wir von einer Sekretärin Nishimotos, der Chef sei bedauerlicherweise kurzfristig zu einer Besprechung außerhalb des Hauses beordert worden und wohl auch nicht vor Nachmittag wieder zurück.

Alles schön und gut, aber wie sollen wir an der Sekretärin vorbeikommen?, sende ich an Julian. Ihr Schreibtisch steht direkt vor Nishimotos Büro, die ist wie ein Wachhund!

Er lässt mich spüren, wie er in Gedanken die Schultern zuckt.

Wir warten bis zur Mittagspause.

Die Idee ist so simpel und naheliegend, dass ich mir vermutlich, hätte ich jetzt die Gewalt über meinen Körper besessen, die Hand vor die Stirn geschlagen hätte.

Und wenn sie sich selbst etwas mitgenommen hat?, schiebe ich zu meiner Ehrenrettung hinterher.

Julian lenkt unseren Blick auf eine kleine Handtasche unter dem Tisch, in der – wenn überhaupt – eine Kaugummipackung Platz gefunden hätte.  

Eher unwahrscheinlich, kommentiert er nüchtern, doch ich spüre, dass ihn meine Unbeholfenheit amüsiert.  

Ja, ja, ich hab´s ja kapiert …, gebe ich mich schließlich geschlagen.

Natürlich trifft Julians Voraussage ein und die Frau verlässt um kurz vor eins ihren Wachposten, um sich in die Kantine aufzumachen. Nishimotos Büro ist abgeschlossen, aber davon lässt Julian sich nicht lange aufhalten. Er greift in meine Haare, zieht eine Haarnadel daraus hervor und mit wenigen geschickten Handgriffen ist das Schloss geknackt. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt: Was, wenn die Sekretärin zurückkommt? Was, wenn Nishimoto zurückkommt? Was, wenn der Raum mit einer Alarmanlage gesichert ist? Julian dagegen ist wie immer die Ruhe selbst. Geradezu tiefenentspannt schlendert er zum Schreibtisch, fährt den Computer hoch und holt den Speicherstick aus der Rocktasche.

Ich weiß ja, dass offenbar alles unter Kontrolle ist, aber … Ähm .. Naja, das hier ist immer noch ein Einbruch! Sollte da nicht wenigstens so etwas wie … ich weiß auch nicht … eine gewisse Grundbeunruhigung vorhanden sein?, kann ich nicht umhin, seine frustrierende Gelassenheit zu kommentieren.

Das ist bei weitem nicht mein erster Einbruch, und mit unbegründeter Panik stellt man sich bei solchen Aktionen nur selbst ein Bein, erwidert er ruhig.

Inzwischen ist der Computer hochgefahren. Natürlich gibt Julian auf Anhieb das richtige Passwort ein. Ich spare mir den Atem, und frage erst gar nicht, wie er das nun schon wieder angestellt hat. Schneller, als ich gucken kann, hat er dutzende Ordner durchforstet und diverse Dateien auf unseren Stick geladen.  

Schon fertig!, sendet mir Julian in Gedanken.

Kurz und schmerzl..., unterbricht er sich jäh, ehe er ein aufgebrachtes Verdammt! nachschiebt. Wir wurden in eine Falle gelockt!

Ich konzentriere mich mit aller Macht auf meine Sinne, filtere alles Gewöhnliche heraus, und da höre ich es auch: Neben den für ein solches Bürogebäude üblichen Geräuschen sind dutzende schleichender Schritte zu vernehmen, begleitet von einer militärisch klingenden Männerstimme.

Die Zielperson ist umstellt. Erwarten Befehl für Zugriff.

Zugriff freigegeben!, antwortet ein anderer Mann.

Kaum hat er geendet, gehen die Fahrstuhltüren auf und eine Handvoll Männer in denselben schwarzen Anzügen mit Funkgeräten im Ohr kommen herausgestürzt. Jeder von ihnen hat eine Pistole auf uns gerichtet – an Flucht ist also nicht zu denken. Julian hebt kapitulierend die Hände, doch noch im selben Moment drückt der Kopf der Truppe den Abzug. Ein stechender Schmerz fährt durch meinen Oberschenkel, und mit einem Mal überkommt mich eine eigenartige Müdigkeit. Ein flüchtiger, verschwommener Blick auf mein Bein offenbart einen dünnen Narkosepfeil, der aus meinen Rock hervorschaut.

Julian, du musst sofort in deinen Körper zurück! Ich mochte nicht mehr zu retten sein, aber ich würde ihn bestimmt nicht mit mir untergehen lassen. Wenn du mit mir das Bewusstsein verlierst, und sie dich finden …

Ich spüre, wie er zögert, obwohl ich weiß, dass der rationale Teil von ihm mir zustimmt.

Sie werden mich nicht töten, sonst hätten sie das sofort getan!, versuche ich, ihm seine größte Angst zu nehmen, doch das Konzentrieren fällt mir immer schwerer. Ich fühle, wie mein Körper zunehmend schwächer wird, sich beinahe nicht mehr auf den Beinen halten kann.

Bitte, Julian! Zwing mich nicht, dich noch einmal selbst hinaus zu werfen! Bitte …

Julian zaudert noch immer. Ich mache mich schon darauf gefasst, ein letztes Mal meine Kraft zu mobilisieren, um meinen Worten Taten folgen zu lassen, doch dann kommt er endlich zur Vernunft.  

Ich liebe dich, Hannah – dir darf nichts geschehen, hörst du? Ich werde dich holen kommen, so schnell ich kann, das verspreche ich dir!

Noch bevor ich etwas erwidern kann, bricht endgültig die Dunkelheit über mich herein.

 

Nachdem ich mich am Morgen in einen Bleistiftrock mit dazu passender enger Bluse und High Heels, die ihrem Namen alle Ehre machten, gezwängt hatte, konnte ich mir kaum vorstellen, wie sich ein Mensch in seinem Körper noch unwohler fühlen könnte. Nun habe ich die Antwort: In einem Bleistiftrock, einer Bluse und High Heels an einen Stuhl gefesselt zu sein. Mein Oberkörper ist fest an die Stuhllehne geschnürt, Hände und Füße schmerzhaft eng an den Knöcheln zusammengebunden, mein Mund geknebelt. Irgendwo in meiner Nähe kann ich hören, wie sich jemand auf Japanisch unterhält, aber die Betäubung wirkt noch nach und die Visionen können es kaum erwarten, mich wieder zu malträtieren, weshalb ich nicht deutlich verstehen kann, was gesprochen wird. Der gelegentlich eintretenden Stille nach zu schließen, muss es sich um ein Telefonat handeln – zumindest das kann ich sagen. Auch das Öffnen meiner Augen gestaltet sich unerwartet schwierig. Dieses dämliche Betäubungsmittel!

Hannah? Hannah!, schallt es unvermittelt durch meinen Kopf.

Julian. Es dauert einige Anläufe bis es mir gelingt, mich so gut zu konzentrieren, dass ich ihm eine Erwiderung senden kann.

Julian?, antworte ich zaghaft auf seinen geistigen Ruf. Ich kann deutlich seine Erleichterung spüren, als er meine Nachricht erhält.

Bist du verletzt?, will er besorgt wissen.

Nein, ich glaube nicht, nur … nur gefesselt. Wie lange war ich bewusstlos?

Ein paar Stunden. Wo haben sie dich hingebracht?

Ich … ich weiß es nicht. Ich bin so furchtbar müde … und meine Augenlieder sind so schwer …

Kannst du hören, ob jemand bei dir ist?, fragt er weiter.

Ja, da ist jemand. Jemand … jemand telefoniert.

Okay. Versuche, dich auf das Telefonat zu konzentrieren, instruiert er mich weiter. Was sagen sie, Hannah?

Ich versuche, Julian so viel von dem Gespräch zu übermitteln, wie ich kann, während er mir das Gehörte übersetzt.

… Nur das Mädchen … Aber die Wohnung ist bestens bewacht! Nur ein Wahnsinniger würde … N-nein, natürlich nicht! Ich würde es niemals wagen, das Wort des „Giant“ anzuzweifeln … Selbstverständlich, wir werden warten! … Ich werde mich bei ihnen melden, sobald der Junge ebenfalls in unserer Hand ist. Er wird uns nicht entkommen, sie könne sich auf mich verlassen! ...

Es werden noch einige abschließende Sätze gewechselt, die ich nicht recht verstehen kann, dann wird das Gespräch beendet.

Ich denke ich weiß, wo sie dich hingebracht haben, stellt Julian grimmig fest. Meinen Recherchen zufolge besitzt Nishimoto ein Apartment in der Nähe des Firmengebäudes. Das Sicherheitssystem des Hochhauses zu haken sollte kein Problem sein, aber die Menge der angeheuerten Söldner ist eine andere Sache … Kannst du hören, wie viele Männer mit dir in der Wohnung sind?  

So langsam lichtet sich der dichte Nebel in meinem Kopf und das Fokussieren fällt mir inzwischen wieder etwas leichter. Ich besinne mich ganz auf mein Gehör, auf Atemgeräusche und Kleiderrascheln, auf jegliche Anzeichen menschlicher Anwesenheit in meiner näheren Umgebung.

Neun.

Bist du dir sicher?

Ja, gebe ich überzeugt zurück. Aber er hat garantiert noch Dutzende weitere Leute im ganzen Haus verteilt. Sie rechnen damit, dass du kommen wirst, du hast es selbst gehört. Bleib bloß weg von hier, Julian, hörst du? Du wirst ihnen ins offene Messer laufen!, versuche ich, ihn von dieser unmöglichen Rettungsmission abzubringen, obwohl ich weiß, dass kaum eine Chance besteht, dass er auf mich hören wird.

Nein, ich werde das Messer umgehen und dich da rausholen, wie ich es dir verspochen habe!, bleibt er hartnäckig, wie ich es befürchtet habe.  

Julian, bitte!, flehe ich.

Ich komme, Hannah. Halte noch etwas durch, ich komme!

Angst jagt durch meine Venen wie Säure. Dieser arrogante Idiot!

Du kannst momentan nicht rational denken!, werfe ich ihm vor, versuche, an seine Vernunft zu appellieren. Ich weiß, du machst dir Sorgen um mich, aber niemandem ist geholfen, wenn sie dich auch noch in ihre schmutzigen Finger bekommen!

Das werden sie nicht! Hannah, ich weiß genau, worauf ich mich hier einlasse – vertrau mir!

Du meinst so, wie ich dir bei unserem netten Einbruch heute Mittag vertraut habe?, kontere ich barsch, obwohl ich genau weiß, dass ihn deshalb vermutlich ohnehin die schlimmsten Schuldgefühle plagen.

Du hast recht, ich habe einen Fehler gemacht, gesteht er bitter. Einen entsetzlichen Fehler: Ich habe unseren Feind unterschätzt. Doch das passiert mit kein zweites Mal!

Julian, nein!

Ich bin emotional so aufgewühlt, dass ich die Worte dieses Mal nicht nur mental, sondern auch verbal herausschreie – oder zumindest geschrien hätte, wäre ich nicht geknebelt gewesen. Aus Reflex öffne ich dabei die Augen. Zumindest bin ich nun wach genug, um mit nur etwas Blinzeln meine Sicht wieder herzustellen. Erschrocken zucke ich zusammen, als ich feststellen muss, dass zwei von Nishimotos Schergen mir direkt gegenüber stehen. Die Männer mustern mich einen Augenblick lang mit unbewegten Mienen, ehe der Rechte dem Linken wortlos zunickt und in den Nachbarraum verschwindet. Dem Interieur nach zu schließen, werde ich offenbar im Wohnzimmer gefangen gehalten.

„Nishimoto-sama, das Mädchen ist aufgewacht“, ertönt es Sekunden später von nebenan. Dass ich den Satz verstehe bedeutet, dass Julian noch immer in meinem Kopf ist, obwohl er nichts mehr sagt. Dennoch ist dieses Wissen tröstlich.

„Dann sollte ich meinen Gast begrüßen, nicht wahr?“, entgegnet Nishimoto ohne jegliche Freundlichkeit in der Stimme.

Der Mann kommt zurück ins Zimmer, gefolgt von seinem Chef. Verächtlich sieht er auf mich herab.

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest so leicht in mein Büro schleichen, ohne bemerkt zu werden?“

Um seine Macht über mich noch hervorzuheben, umkreist er mich gemächlich, während er mit mir spricht.

„Aber wie sagt man so schön: Hochmut kommt vor dem Fall. Du und deine elende Verwandtschaft habt lange genug eure kleinen Spielchen mit uns gespielt! “

Er bleibt stehen, beugt sich zu mir hinab und langt grob nach meinem Kinn, so dass ich gezwungen bin, ihn anzusehen.

„Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen wie es ist, von einem Tag auf den nächsten alles zu verlieren?“, zischt er wütend. „Da kommt so ein kleines, nichtssagendes Unternehmen daher, landet unter mysteriösen Umständen einen einzigen großen Coup und das Werk meiner Ahnen wird einfach so in den Boden gestampft, das Werk, in das mein Vater und mein Großvater all ihr Herzblut investiert haben!“

Er lässt von mir ab, nur um daraufhin grob meine Haare zu packen. Dabei zieht er meinen Kopf dermaßen fest nach hinten, dass mir augenblicklich die Tränen in die Augen schießen.

„Wenn ich du wäre würde ich beten, dass dein Freund sich nicht lange bitten lässt. Ansonsten könnte ich mich womöglich vergessen und mich vorab schon einmal selbst ein wenig mit dir vergnügen, ehe ich dich an den Giant weiterreiche …“

Schon wieder dieser Name. Giant. Wer ist dieser mysteriöse Giant?    

Gerade als ich glaube, gleich wäre ich meine Haare los, löst Nishimoto seinen Griff, richtet sich wieder auf und rückt sein Jackett und die Krawatte zurecht. Ein düsteres Lächeln legt sich auf seine Züge.

„Andererseits bin ich mir sicher, dass das, was er für euch geplant hat, ganz in meinem Sinne sein wird …“

Bevor er wieder nach nebenan verschwindet, wirft er einem meiner Bewacher noch einen vielsagenden Blick zu. Daraufhin bekomme ich die Augen verbunden und Kopfhörer aufgesetzt, aus denen lautstark klassische Musik dröhnt.

Kapitel 27

 

Das abscheulich grelle Blitzlicht der Paparazzi begleitet von hunderten kreischender Fans, die wieder und wieder ihren Namen rufen, heißen sie in Tokyo willkommen. Der Preis der Berühmtheit. Jedes Mal dasselbe. Ermüdend.

„Nagisa! Nagisa, schau hier her! Nagisa!“, hört sie einen Paparazzo in der Hoffnung auf ein hübsches Foto um Aufmerksamkeit schreien.

„Miss Ando, ist es wahr, dass sie und Channing Tate ein Paar sind?“, will ein anderer wissen.

Hinter ihrer Sonnenbrille rollt sie genervt die Augen. Denen fällt auch nichts Neues mehr ein! Ein kleines harmloses Essen unter alten Freunden, und morgen würden die Klatschblätter vermutlich schon über ein Hochzeitsdatum spekulieren. Aber sie war mittlerweile lange genug in dem Business, um über solche Artikel schmunzeln zu können.

„Nagisa, du bist die Größte!“, kreischt ein junges Mädchen und schwenkt dabei enthusiastisch ein selbstgebasteltes Plakat, eine Collage mit zahllosen Fotos von Auftritten und Magazinshootings. Sie schenkt dem Kind ein kurzes, freundliches Lächeln als Zeichen der Anerkennung, was dazu führt, dass das Mädchen und die anderen Fans um sie herum ihr nur noch lauter zujubeln.

„Nagisa, du siehst unglaublich aus!“

„Nagisa, dein Konzert vergangene Sommer in Nagoya war der Hammer!“

„Nagisa, …!“

„Nagisa, …?“

Da springt ihr aus der Menge ein Bild ins Auge, das eindeutig fehl am Platz ist. Ein junger, westlich aussehender Mann hält ein I-Pad in die Höhe, auf dem ein Foto von ihr zu sehen ist, welches sie beim Verlassen einer Entzugsklinik zeigt. Es ist stark vergrößert worden, so dass man sie deutlich darauf erkennen kann. Der schlechten Auflösung sowie dem Winkel nach zu urteilen, handelt es sich offenbar um die Aufnahme einer Überwachungskamera. Vor Schock stolpert sie beinahe über ihre eigenen Füße. Gerade noch rechtzeitig wird sie von einem ihrer Bodyguards aufgefangen.

„Miss Ando, ist alles in Ordnung?“, erkundigt er sich besorgt.

Rasch bemüht sie sich um ein verlegenes Lächeln.

„J-ja, ja, a-alles bestens. Muss am langen Flug liegen“, lügt sie, während innerlich jedoch alle Alarmglocken schrillen. Sollte das Bild Publik werden, wäre ihr weißes-Weste-Image für immer dahin, und mit ihm ihre Karriere! Wie kommt der Kerl bloß an die Aufnahmen? Die Klinik ist für ihre Exklusivität und Verschwiegenheit geradezu berühmt berüchtigt, und außerdem liegt das ganze Drama nun schon zwei Jahre zurück. Seither hatte sie diese verfluchten Tabletten nie wieder angerührt. Sollte sie diese alte Sünde letzten Endes doch noch einholen und ihr zum Verhängnis werden?

Nun, da der Mann ihre Aufmerksamkeit hat, nimmt er das Bild herunter, um es kurz darauf mit dem einer VIP-Lounge zu ersetzen. Sie versteht den Wink. Er will sich dort mit ihr treffen.

„Obwohl, wenn ich es mir recht überlege … Ich denke, ich sollte mich besser kurz hinsetzen.“

Fünf Minuten später sitzt sie alleine in der VIP-Lounge und wartet nervös auf den unbekannten Erpresser. Nur ihren Manger hat sie ins Vertrauen gezogen, und er war der gleichen Ansicht wie sie gewesen: In diesem Fall dürfen sie nicht das geringste Risiko eingehen. Sie würden erst einmal abwarten, was dieser Verbrecher von ihr fordert.

Es dauert nicht lange, bis ihr Manager mit dem mysteriösen Fremden an seiner Seite zu ihr zurückkehrt. Erst jetzt kann sie einen genaueren Blick auf ihn werfen. Er ist etwa in ihrem Alter und … guter Gott, er sieht unfassbar attraktiv aus: markante Gesichtszüge, einen durchtrainierten Körper und ein legeres Outfit bestehend aus einer einfachen Jeans und einem weißen Hemd, die seine Figur nur noch mehr zur Geltung bringen. Selbstsicher nimmt er ihr gegenüber Platz und sieht sie aus seinen eisblauen Augen einschüchternd an, das I-Pad warnend auf seinen Schoß gebettet.

„Ich habe nicht viel Zeit, also kommen wir gleich zum Punkt: Ich brauche ihre Hilfe!“, gesteht er ohne Umschweife in perfektem Japanisch. Er tippt auf den Bildschirm und zeigt ihr das Bild eines noblen Apartmentkomplexes. „Ich möchte, dass sie sich für heute Nacht in eine der Wohnungen im fünfzehnten Stock einmieten und mich als Assistentin mitnehmen.“

Okay, sie hatte wirklich mit Vielem gerechnet, aber damit nicht.

„Der Hausherr ist bereits informiert und wird die kommende Nacht außerhalb verbringen“, schiebt er noch erklärend nach. Während sie sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen lässt, fällt der Groschen.

„Sie … sie wollen sich eine Nacht als Frau mit mir ein Zimmer teilen?“, fasst sie die perverse Bitte des Fremden noch einmal zusammen. Zugegeben, sie hatte auf dem Gebiet auch schon so einiges ausprobiert, und Rollenspielen im Schlafzimmer fielen da noch unter die Kategorie harmlos, aber der Kerl wirkte einfach so unglaublich männlich, dass es geradezu einem Sakrileg gleichen würde, ihm dieses Attribut zu nehmen.

„Keine Sorge, nichts läge mir ferner“, erwidert er trocken, und der finstere, beinahe herablassende Ausdruck in seinen Augen unterstreicht die Wahrheit dieser Aussage. Eigentlich sollte sie das freuen, dennoch macht sich etwas Enttäuschung in ihr breit. Sie ist es gewohnt, von Männern umgarnt und begehrt zu werden, aber dieser Mann zeigt nicht das geringste Interesse an ihr. Er hat sie dort getroffen, wo sie sich eigentlich unverwundbar geglaubt hatte: in ihrem Stolz.

„Ich werde ihnen dort nicht lange Gesellschaft leisten. Helfen sie mir einfach dabei, unbemerkt mit ihnen dorthin zu gelangen, und sie sind mich wieder los. Sind wir im Geschäft?“

Als ob sie eine Wahl hätte!

„Damit wir uns richtig verstehen“, versucht sie, sachlich zu bleiben und sich ihr verletztes Ego nicht anmerken zu lassen. „Wenn ich ihnen bei dieser Sache helfe, werden sie das Bild nicht publik machen? Darauf habe ich ihr Wort?“

Ihr ist sehr wohl bewusst, dass sie weiteren Forderungen nichts würde entgegensetzen können, aber wenn sie in ihrer Karriere eins gelernt hatte, dann, dass man niemals Schwäche zeigen darf, ist die Situation auch noch so aussichtslos.

„Sie haben mein Wort“, gibt er zu ihrer Überraschung kurz angebunden zurück, und meint es offenbar so. Zu gerne würde sie wissen, was in dem Kerl vorgeht. Noch nie hat sie jemanden so wenig durschauen können.

„Wie genau sollen wir ihnen helfen, in das Gebäude zu gelangen? Scheinbar haben sie ja bereits einen ausgefeilten Plan …“, mischt sich nun auch ihr Manager in das Gespräch ein und kommt, Geschäftsmann durch und durch, gleich auf die konkreten Einzelheiten dieses ungewöhnlichen Auftrags zu sprechen.

„Ich habe gehört, Miss Ando hat die Angewohnheit, mit besonders großzügigem Gepäck zu reisen. Stimmt das?“

Sie nickt unsicher. Was hat denn ihr Gepäck nun wieder damit zu tun?

„Gut. Sorgen sie dafür, dass wie immer alles mit ihnen zusammen seinem Weg zu ihrer Unterkunft findet. Außerdem will ich, dass ihre Stylisten mich in eine Frau verwandeln, und sie mich im Anschluss so lange wie eine Assistentin von ihnen behandeln, bis ich sie von dieser Farce entbinde.“

„Verstehe. Ich werde mein Team gleich dementsprechend instruieren“, verspricht sie, und fügt nach kurzem Überlegen noch hinzu: „Wahrscheinlich werden sie mir die Frage nicht beantworten, aber warum dieser ganze Zirkus? Was bezwecken sie mit dieser Aktion?“

Des Mieters hatte er sich ja wohl schon entledigt, wozu braucht er sie dann noch?

„Meine Frau wird in dem Gebäude gefangen gehalten und ich werde sie befreien.“

 

Unwillkürlich schweift ihr Blick immer wieder zu ihrer neuen „Assistentin“. Ihre Stylisten haben sich wirklich selbst übertroffen. Hätte sie nicht gewusst, wer diese „Frau“ neben ihr wirklich war, hätte sie nie geahnt, dass es sich in Wahrheit um einen Mann handelt: Die langen, zu einem wirren Pferdeschwanz zusammengefassten braunen Haare sehen nicht im geringsten wie eine Perücke aus, und die weiblichen Proportionen, die durch Silikon-Brustkissen, einen langen weiten Rock und einen weiten Kapuzensweater erzeugt wurden, lassen seinen Körper tatsächlich weiblich wirken. Auch sein Gesicht, das durch Modelliermasse weicher und femininer gestaltet worden war, sieht täuschend echt aus. Eine große schwarze Streberbrille gibt dem Look den letzten Schliff und lenkt die Aufmerksamkeit von seinen markanten Augen ab. Abgerundet wird die Verwandlung aber von dem Fremden selbst, der ohne Probleme rasch in seiner neuen Rolle aufgegangen ist und sich nun so erschreckend authentisch weiblich bewegt, dass seine Verkleidung garantiert niemand auf Anhieb würde durschauen können.

 „Meine Frau wird in dem Gebäude gefangen gehalten und ich werde sie befreien“ – ob er tatsächlich ernst gemeint hat, was er da vorhin gesagt hat? Ihrem Team hatte sie erzählt, er sei ein Undercover-Polizist und einem Drogenbaron auf der Spur. Das war ihr etwas griffiger vorgekommen, als seine eigene Erklärung, und er hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. „Hauptsache, ihre Leute tun ihre Arbeit“, hatte er nur gesagt. Während die Stylisten an ihm zu Gange gewesen waren, hatte sie ihn nach seinem Namen gefragt. Da hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Nennen sie mich Tachibana-san.“ Tachibana. Ein häufig vorkommender, japanischer Nachname, den er vermutlich aus der Luft gegriffen hatte. Auf all ihre anderen Fragen hatte sie ebenfalls keinen befriedigenden Antworten bekommen.

Wer bist du wirklich?

Beim Apartmentkomplex angekommen erwarten sie mehrere Männer in einheitlichen Anzügen, wie der mysteriöse Fremde es vorausgesagt hatte. Ihr Puls beschleunigt sich, obwohl er ihr eindrücklich versichert hatte, sie und ihre Leute befänden sich zu keiner Zeit in Gefahr.

„In dem Gebäude werden eine Menge bewaffneter Sicherheitsmänner patrouillieren, die Sie sicher auf Grund irgendeiner fadenscheinigen Begrünung werden durchleuchten wollen“, hatte er während seines Umstylings prophezeit. „Lassen sie sich davon nicht einschüchtern! Sie werden ihnen nichts tun und sie werden auch nicht davon ausgehen, dass sie mutwillig mit mir zusammen arbeiten. Sie werden vermutlich dennoch darauf bestehen, ihre Koffer zu kontrollieren, und sie werden ein besonderes Augenmerk auf ihre männlichen Begleiter werfen, denn sie werden annehmen, ich hätte mich bei ihnen eingeschlichen. Aber wenn sie sich nichts anmerken lassen und wie üblich die Diva spielen, werden wir ohne Probleme mit unserer Farce durchkommen. Bleiben sie cool! Meinen Sie, Sie bekommen das hin?“      

Vorhin hatte sie seine Frage noch lässig bejaht, doch jetzt ist sie sich da mit einem Mal nicht mehr so sicher …

Als habe er ihre aufkommenden Zweifel gerochen, wendet er sich ihr zu und schenkt ihr ein ermutigendes Lächeln, das ihr Herz trotz seiner überzeugenden Verkleidung schneller schlagen lässt. „Denken Sie daran: Ihnen droht keine Gefahr! Verhalten Sie sich einfach so, wie immer. Ich verlasse mich auf Sie!“

Außer bei ihrer ersten Begegnung in der VIP-Lounge hatte er die prekären Aufnahmen nicht mehr erwähnt, und selbst jetzt nutzt er seinen gewaltigen Trumpf nicht, um ihr Druck zu machen, sondern behandelt das Alles trotz seiner herrischen Art fast wie eine Art Gefallen, kann sie nicht umhin, zu bemerken. So sehr ihre Logik ihr auch diktieren mag, ihn als Feind anzusehen, als den Bösen, kann sich ihr Herz aus unerfindlichen Gründen nicht dem Eindruck erwehren, dass der Fremde einer von den „Guten“ ist – und ihr Gespür hatte sie auf diesem Gebiet bisher noch nie betrogen. Sie wird für ihn ihr Bestes geben und hoffen, dass ihr Gespür sie auch dieses Mal nicht im Stich lässt.

Anstelle einer Erwiderung wendet sie sich von ihm ab, kramt die Sonnenbrille aus ihrer Tasche und setzt sie auf.

„Keine Sorge, ich bin ein Profi. Ich weiß, was ich tue!“, gibt sie schließlich selbstsicherer zurück, als sie sich fühlt. Ihr Team orientiert sich an ihr, sie muss als gutes Beispiel vorausgehen. Noch ein letztes Mal atmet sie tief durch. Möge die Show beginnen!

Kaum, dass sie aus dem Wagen steigt, kommen drei der An-zugträger auf sie zumarschiert.

„Können wir ihnen behilflich sein?“, will der Mittlere höflich wissen.

Ihr Manager will schon für sie in die Presche springen, aber sie hält ihn zurück. Sie ist es gewohnt, ihre eigenen Kämpfe zu Kämpfen und sich selbst zu behaupten.

„Nett von ihnen, aber meine Leute sollten alleine mit dem Gepäck fertig werden. Schließlich bezahle ich sie dafür“, gibt sie sich unwissend und deutet auf den Tross von vier Wagen hinter ihr.

„Uns liegt keine Benachrichtigung über einen neuen Mieter vor“, gibt der Mann mit unverhohlener Skepsis zurück.

„Dann ist der Concierge-Service des Hauses wohl doch nicht so gut, wie man es mir zugetragen hat. Enttäuschend.“ Überheblich blickt sie zwischen den drei Männern hin und her, ehe sie hinzufügt: „Nun, sei es, wie es sei, ich habe Termine und ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Noch einen schönen Tag, die Herren!“

„Junge Frau, sie haben da wohl etwas missverstanden“, verstellt er ihr den Weg, als sie vorbeigehen will. Bewusst legt er eine Hand an seine Hüfte und schlägt so sein Jackett zurück, damit die Waffe an seinem Gürtel sichtbar wird. „Wir gehören nicht zum Service-Team des Hauses, wir sind ein privat engagiertes Sicherheitsteam und uns liegt aus sicheren Quellen vor, dass jemand einen Angriff auf unseren Klienten plant. Sie verstehen sicher, dass wir sie daher bitten müssen, einen genaueren Blick auf ihre Entourage werfen zu dürfen.“

Macht, Rechtschaffenheit und Intellekt suggerieren und dann selbstherrlich irgendwelche Befehle erteilen, die das eingeschüchterte Gegenüber blindlings befolgt wie ein verängstigtes, in die Ecke gedrängtes Tier. Sie kennt diese manipulativen Tricks der Sicherheitsleute – immerhin beschäftigt sie selbst seit vielen Jahren welche. Dieser arrogante Kerl geht offensichtlich davon aus, lediglich ein naives Püppchen vor sich zu haben mit mehr Make-up als Verstand, das sich von so ein bisschen Machogehabe leicht beeindrucken lässt. Weit gefehlt! 

„Ich sehe keine Polizei, also interessieren mich die Probleme ihres Klienten gelinde gesagt einen feuchten Dreck. Außerdem kann ich ganz gut selbst für meine Sicherheit sorgen, vielen Dank“, lässt sie sich nicht einschüchtern und deutet auf ihre beiden Bodyguards, die hinter ihr und ihrer „Assistentin“ aus dem Wagen gestiegen sind. „Ich habe hier ein Apartment gemietet, und das werde ich jetzt beziehen, ob es ihnen passt oder nicht!“        

Wieder hält er sie zurück, als sie an den Männern vorbeistolzieren will.

„Der Mann, den wir jagen, ist gefährlich. Er würde sie umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er es für nötig hielte. Er kennt kein Mitleid, kein Erbarmen. Sie setzten mit ihrer Arroganz nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Leute aufs Spiel! Wollen sie das etwa?“, will er ihr ein schlechtes Gewissen einreden.

Beinahe krampfhaft ist der Sicherheitsbeamte bemüht, ihren Erpresser wie ein Monster dastehen zu lassen. Irgendetwas ist faul an der Sache. Zugegeben, der Fremde wirkt überaus selbstsicher und ziemlich abgebrüht, aber ein kaltblütiger Mörder?

Meine Frau wird in dem Gebäude gefangen gehalten und ich werde sie befreien. Irgendetwas in seinen Augen war bei diesem Satz merklich weicher geworden, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie darin echte Verzweiflung auszumachen geglaubt. Ja, sie glaubt ihm, vertraut ihm, auch wenn es noch so absurd erscheinen mag, und sie wird ihn in diese Wohnung bringen – koste es, was es wolle!

„Ich dachte, ihr Klient wäre das Opfer! Ich verstehe beim besten Willen nicht, was das Ganze mit mir zu tun haben soll!“, erwidert sie und macht sich unbeeindruckt von ihm los.

„Er wird jede Möglichkeit nutzen, die sich ihm bietet, um unbemerkt in das Gebäude zu gelangen. Sie haben eine Menge Leute bei sich und noch mehr Gepäck, wie ich sehe – ein gefundenes Fressen für den Kerl! Verstehen sie jetzt?“

„Wollen sie damit sagen ich würde nicht merken, wenn sich jemand in mein Team eingeschlichen hat? Sie haben offensichtlich zu viele Actionfilme gesehen, mein Lieber!“, gibt sie sich empört. „Manager, sorgen sie dafür, dass all meine Sachen sofort in meine Wohnung gebracht werden! Tachibana-san, komm, wir gehen! Ich habe genug von diesem Kindergarten!“

Der Fremde rückt seine übergroße Brille zurecht, nickt gespielt unterwürfig, drückt sich sein I-Pad an die falschen Brüste und folgt ihr auf dem Fuße. Der Sicherheitsmann schenkt ihm nicht einmal einen zweiten Blick, so perfekt spielt er die Rolle der verschüchterten Assistentin. Stattdessen rücken die Männer aus ihrem Team und die Koffer in den Fokus seines Interesses, wie geplant.

In der Wohnung angekommen, schließt ihr Erpresser sich nach einem schlichten „Danke für ihre Hilfe!“ in das Wohnzimmer ein. Zehn Minuten später ertönt ein ohrenbetäubendes Krachen aus dem Raum. Als sie und ihre Leute besorgt das Zimmer stürmen, befindet sich ein riesiges Loch in der auslanden Fensterfront und der Fremde ist verschwunden.

 

Mittlerweile habe ich nicht nur jegliches Gefühl in meinen Händen und Füßen verloren, sondern auch für die Zeit. Nach der zwanzigsten klassischen Komposition habe ich aufgehört, zu zählen. Das einzig Gute ist, dass Nishimoto nicht noch einmal Hand an mich gelegt hat, und auch keiner seiner Schergen. Doch auch das ewige Schwarzsehen macht mir zu schaffen. Zudem weigert sich Julian weiterhin, mit mir zu „sprechen“, obwohl ich fühlen kann, dass er noch immer in meinem Kopf ist und den geistigen Kontakt für keine Sekunde unterbrochen hat.

Was hast du nur vor?

Es ist bei weitem nicht das erste Mal seit meiner Gefangenschaft, dass ich diese Frage stelle, doch mittlerweile habe ich aufgehört, eine Antwort zu erwarten. Dieses Mal aber bekomme ich tatsächlich eine Erwiderung – wenn auch eine recht unkonventionelle.

Von einer Sekunde auf die nächste spüre ich, wie an mehreren Stellen meiner Arme etwas Spitzes entlang schrammt und schmerzhafte Spuren hinterlässt. Kühle Luft dringt an meine Haut, gefolgt von einem beißenden Geruch, der unangenehm in meinen Lungen kratzt und mich in meinen Knebel husten lässt. Ich bekomme jedoch keine Zeit, mir großartig über diese merkwürdigen Vorkommnisse Gedanken zu machen, denn plötzlich lässt der furchtbare Druck auf meinen Handgelenken und meinem Oberkörper nach und jemand nimmt mich auf seine Arme, nur um mich kurz darauf wieder auf etwas Weichem abzusetzen. Endlich werden mir die Kopfhörer, der Knebel, die Fußfesseln und schließlich die Augenbinde abgenommen. Das erste, das ich sehe, sind Julians wundervolle blaue Augen. Ungläubig begegne ich seinem gewohnt selbstgefälligen Blick. Bin ich etwa eingeschlafen? Er kann mich doch unmöglich so schnell befreit haben … oder?

Liebevoll legt er mir eine Hand an die Wange, ein zerknirschtes Lächeln auf den Lippen.

Ich habe doch versprochen, ich würde dich holen kommen!

Gesprochen fügt er noch hinzu: „Verzeih, dass es so lange gedauert hat!“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, kann meine abrupte Rettung noch immer nicht recht glauben. Argwöhnisch sehe ich mich um. Wir befinden uns in einem mir unbekannten Hotelzimmer.

„Hast du Schmerzen?“, will er besorgt von mir wissen.

Ich schüttle den Kopf.

Julians Augenbrauen ziehen sich unheilverkündend zusammen. Er greift nach meinen Armen und zieht sie behutsam zu sich heran. Beide weisen mehrere hässliche, blutige Kratzer auf.

„Die sollten trotzdem ordentlich verarztet werden. Warte kurz, ich hole den Erste-Hilfe-Kasten!“

Ungerührt beobachte ich, wie er sich im Anschluss geflissentlich um jeden Kratzer kümmert, sei er auch noch so klein. Während ich ihm bei der Arbeit zusehe, kommen wie aus dem nichts dunkle Erinnerungen wieder hoch.

 

„Lauft … lauft und ver… versteckt euch! Bi… Bitte!“, fleht Ye-eun und mobilisiert ihre letzten Kräfte, um mich mit einer Hand von sich zu stoßen.

Irgendwie bringe ich es schließlich tatsächlich über mich, mich von ihr abzuwenden und zu rennen. So schnell, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin, stolpere ich von einem Haus zum nächsten. Ich will nicht angeschossen werden! Ich will nicht in die Hände dieser Männer geraten!

 

Sirenengeheul. Markov und ich werden von einer Hand voll Sicherheitsmännern durch das Haus gezerrt.

Markov und ich in einem Flugzeug, aber etwas ist falsch. Wir fliegen in …

Dunkelheit.

 

„Wenn ich du wäre würde ich beten, dass dein Freund sich nicht lange bitten lässt. Ansonsten könnte ich mich womöglich

vergessen und mich vorab schon einmal selbst ein wenig mit dir vergnügen, ehe ich dich an den Giant weiterreiche …“

Gerade als ich glaube, gleich wäre ich meine Haare los, löst Nishimoto seinen Griff, richtet sich wieder auf und rückt sein Jackett und die Krawatte zurecht. Ein düsteres Lächeln legt
sich auf seine Züge.

„Andererseits bin ich mir sicher dass das, was er für euch geplant hat, ganz in meinem Sinne sein wird …“

 

Trostsuchend lehne ich mich nach vorne, presse die Stirn an Julians Hemd und schlinge ihm den linken Arm, der bereits verbunden ist, um die Mitte. Julian tätschelt mir beruhigend den Rücken und wartet geduldig, bis ich mich wieder gefangen habe.

„Er … er will uns umbringen, Julian“, wimmere ich verängstigt. „Wer auch immer hinter all dem steckt, will uns umbringen!“

Bisher waren wir dem mysteriösen Attentäter stets einen Schritt voraus gewesen. Dadurch hatte ich den Ernst der Lage verdrängen können, hatte mir einreden können, wir selbst seien die Jäger, anstatt die Gejagten. Die Entführung hatte mir nun allerdings ein böses Erwachen beschert.

„Aber es wird ihm nicht gelingen“, stellt Julian bestimmt fest, als sei das eine unverrückbare Tatsache.

Widerwillig mache ich mich von ihm los und sehe voller Zweifel zu ihm auf.

„Es ist ihm beinahe schon gelungen – mehrmals sogar!“, widerspreche ich.

Über Julians Züge flimmert Schuldbewusstsein, doch er hält meinem Blick stand.

„Ich habe unseren Gegner unterschätzt, und das war ein furchtbarer Fehler, für den du büßen musstest“, gesteht er ein. „Aber ich begehe denselben Fehler bestimmt kein zweites Mal! Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal etwas geschieht, das schwöre ich dir!“

So etwas kannst du unmöglich schwören!, will ich eigentlich zurückschießen, besinne mich dann jedoch eines besseren. Ich weiß, dass er sich ohnehin schreckliche Vorwürfe wegen meiner Entführung macht, da muss ich nicht noch Öl ins Feuer gießen.

„Warum hast du uns nicht wegteleportiert, als die Männer uns im Büro überrascht haben?“, entscheide ich mich stattdessen für eine Frage. So hat er mich ja offenbar auch gerettet. „Ich müsste doch eigentlich auch diese Kraft besitzen, oder? Ist sie bei mir noch zu schwach ausgeprägt?“  

An Stelle einer Antwort wendet er sich wieder meinem rechten Arm zu, um den Verband fertig anzubringen, als würde er es nicht ertragen, mich direkt anzusehen.

Ich war es, der schwach war, nicht du“, bekennt er nach einiger Zeit leise. „Ich hatte solche Angst … Ich hätte während des Übergriffs einen kühlen Kopf bewahren müssen, aber ich konnte nur daran denken, dass du in Gefahr schwebtest. Ich war wie … wie paralysiert.“

Er hält kurz inne, während er das Ende des Verbandes sorgsam feststeckt.

„Als ich den Schock überwunden und wieder klar denken konnte, war es zu spät“, erklärt er dann weiter, und räumt unterdessen das Verbandszeug auf. „Der Narkosepfeil hatte dich bereits getroffen, und dein Körper hätte keine Teleportation mehr geschafft. Ich habe versagt.“

Ich schicke ihm ein mentales Schulterzucken, da er mich noch immer nicht ansieht.

„Du bist eben auch nur ein Mensch. Du wurdest von der Attacke überrumpelt und hattest einen Blackout – das hätte jedem passieren können!“, verteidige ich ihn.

„Ich bin ein Vergessener, kein Mensch“, korrigiert er mich. Zumindest sieht er mich jetzt wieder an. Seine blauen Augen sind gespenstisch trüb, erinnern mich an den Tag, als er mich vor den Sanitätern gerettet und mich grob in sein Auto gezerrt hat. „Ich mache keine Fehler! Ich darf keine Fehler machen!“

Von klein auf hatte er eingetrichtert bekommen, stets perfekt sein zu müssen, hatte immer alles unter Kontrolle gehabt. Dann war er mir begegnet, seiner verstorben geglaubten, nichtsahnenden Seelengefährtin, man hatte versucht, einen Anschlag auf uns zu verüben, und nun befinden wir uns auf der Flucht, vollkommen abgekapselt von der Familie, die immer ein so großer und wichtiger Teil seines Lebens gewesen war. Da wird mir klar, dass ich nicht die Einzige bin, die gerade mit einem bösen Erwachen zu kämpfen hat.

Ich nehme Julians Gesicht in meine Hände, so dass er nicht noch einmal wegsehen kann, und küsse ihn, bevor er die Chance bekommt, diesen Unsinn noch weiter auszuführen. Zunächst zuckt er zurück, doch dann erwidert er den Kuss, erst zaghaft, dann fordernder. Als wir uns schließlich schwer atmend voneinander lösen, fixiere ich noch immer seinen Kopf.

„Du darfst Fehler machen!“, bläue ich ihm streng ein. „Besonders wenn sie zeigen, wie verrückt du nach mir bist!“, füge ich hinzu, um die Situation wieder etwas aufzulockern.  

„Hannah, ich …“, setzt er an, um mir zu widersprechen, doch ich bringe ihn zum Schweigen, indem ich ihm einen Finger auf die Lippen lege.

„Einigen wir uns einfach darauf, dass wir uns in diesem Punkt uneinig sind, okay?“

Julian nimmt meine Hand von seinem Mund und legt sie sich auf sein Herz.

„Ich liebe dich. Wenn dir jemals etwas zustoßen sollte …“

„… dann hege ich keinen Zweifel daran, dass du mich retten wirst, so, wie du es heute getan hast“, beende ich seinen Satz voller Überzeugung. Da fällt mir wieder ein, dass ich im Grunde noch immer nicht weiß, wie er mich eigentlich gerettet hat.

„Soll ich es dir erzählen?“, liest er meine Gedanken, und setzt wie üblich sein selbstgefälliges Grinsen auf. Ich weiß, dass er sich nur stark geben will, obwohl er sich innerlich noch immer unzulänglich fühlt, aber es ist zumindest ein Anfang.

„Das fragst du noch? …“

„Du hast einen Popstar erpresst, dich zur Frau schminken lassen, dich dann mit einem Seil vom sechzehnten Stockwerk eines Hochhauses durch das darunterliegende Wohnzimmerfenster geschwungen und dabei selbstgebastelte Rauchbomben geworfen, um die Söldner abzulenken, und dich dann mit mir teleportiert?“, fasse ich die unglaubliche Rettungsaktion noch einmal zusammen, die Julian mir soeben geschildert hat. Wir haben es uns inzwischen gemeinsam auf dem Bett gemütlich gemacht und uns etwas Bequemeres übergeworfen. „Warum hast du mich aus deinen Gedanken ausgeschlossen! Das hätte ich zu gerne miterlebt!“

„Ich habe es dir doch gerade in meinen Erinnerungen gezeigt.“

„Ja, aber das ist nicht dasselbe! Und es hätte womöglich meinen Hass auf klassische Musik verhindert …“, gebe ich mich gespielt bitter.

„Ich wollte nicht das Risiko eingehen, mich noch einmal durch die Sorge um dich ablenken zu lassen“, bleibt Julian ernst. „Ich wollte dich nur so schnell wie möglich wieder bei mir haben.“

Er zieht mich enger an sich und küsst mich liebevoll auf die Stirn.

„Nicht, dass ich mich beschweren will, aber warum hast du dich nicht gleich zu mir teleportiert, anstatt dir auf so umständliche weise Zugang zur Wohnung zu verschaffen?“, wundere ich mich.

„Die Wachen“, erklärt er kurz angebunden. „Es waren einfach zu viele Wachen in deiner Nähe. Wäre ich mitten im Zimmer aufgetaucht, wären die Chancen weitaus größer gewesen, dass sie mich überwältigt hätten. Ich musste mir von einem Ort aus Zugang verschaffen, den sie nicht vermuteten, und dann das
Überraschungsmoment nutzen.“

„Verstehe.“ Wie immer hatte er alles bis ins Kleinste durchdacht, mein geliebter Julian. Doch obwohl er mich inzwischen wieder sicher in seinem Armen hält, sind seine Gedanken noch immer dominiert von Selbstvorwürfen und Sorge.

„Da fällt mir ein: Ich kann mich da noch an so ein Versprechen von dir erinnern …“, stelle ich in den Raum und bewege anrüchig meine Augenbrauen auf und ab. Das entlockt ihm endlich ein kleines Lächeln.

„Und wie du weißt bin ich ein Mann, der zu seinem Wort steht. Aber vorher muss ich noch kurz etwas erledigen.“

Er löst sich von mir, holt ein Handy vom Schreibtisch und wählt eine Nummer. Da er auf Lautsprecher gestellt kann, kann ich mithören, wie es piept. Ich sehe ihn fragend an.

„Hallo Evelin, hier ist Julian.“

Evelin?, sende ich verwundert an ihn.

Vor deiner Befreiung habe ich sie auf den neusten Stand unserer Ermittlungen gebracht, klärt Julian mich auf. Falls man mich auch gefangen genommen hätte … Nun, ich wollte einfach auf Nummer sichergehen.

„Julian!“, ruft die alte Frau erleichtert aus. „Hat dein Plan funktioniert?“

„Hallo Evelin!“, schalte auch ich mich ins Gespräch ein und beantworte damit indirekt ihre Frage.

„Hannah! Wie schön, deine Stimme zu hören!“, begrüßt sie mich erfreut.

„Wie du hörst, ist alles gut gegangen. Ich wollte dich nur rasch auf dem Laufenden halten“, übernimmt Julian wieder. „Wir werden uns weiterhin an Nishimoto hängen und versuchen, an Informationen zu kommen.“

„Das wird nicht nötig sein“, meint Evelin bestimmt. „Ich weiß, wer der Giant ist.“

Kapitel 28

 

Der Satz fällt mit der Wucht eines Vorschlaghammers auf uns herab, scheint mit einem Mal jeglichen Sauerstoff aus dem Raum zu saugen. Julian und ich wechseln einen aufgeregten Blick, warten angespannt, dass Evelin fortfährt.

„Ich habe mich geirrt. Noah und ich sind nicht die letzten Magier. Es gibt noch einen Dritten.“

Der Giant, schießt es Julian und mir gleichzeitig durch den Kopf.

„Lucian Eaton“, wird Evelin konkreter. Jegliche Freundlichkeit von zuvor ist aus ihrer Stimme gewichen. „Die Eatons wurden bereits vor mehreren hundert Jahren aus der Gemeinde der Magier ausgeschlossen. Sie konnten den natürlichen Untergang unserer Art nicht akzeptieren und machten die Menschen dafür verantwortlich. Getrieben von ihrem Hass zettelten sie eine Revolution unter den noch ungefestigten Jugendlichen unserer Gemeinschaft an mit dem Ziel, uns die Menschen Untertan zu machen. Glücklicherweise konnte in letzter Sekunde das Schlimmste verhindert werden, doch nun, da die Familie auf sich alleine gestellt war, wurde sie noch fanatischer. Sie wandten sich den dunklen Mächten zu, veranstalteten finstere Rituale, bei denen sie teilweise ihre eigenen Verwandten opferten, bis man irgendwann gar nichts mehr von ihnen hörte. Man war sich sicher, die Eatons hatten sich in ihrem Wahn inzwischen selbst zu Grunde gerichtet, obwohl es keine eindeutigen Beweise gab. Offensichtlich eine fatale Fehleinschätzung.“

„Was macht dich so sicher, dass wir es tatsächlich mit einem Nachfahren dieser Familie zu tun haben?“, will Julian wissen.

„Die Familie trug den Spitznamen die Giants, ein Wortspiel mit der ursprünglichen Bedeutung ihres Familiennamens“, erklärt Evelin. „Der Name passte zudem perfekt zu der Rolle als Retter des Magiergeschlechtes, in der sie sich selbst sahen, als die eine großartige Familie, die es wagte, das ,Richtige‘ zu tun.“

„Warum glaubst du, ausgerechnet dieser Lucian Eaton ist der, nach dem wir suchen? Der Name ist ja nicht gerade selten …“, wende ich ein.

„Ich habe einen seiner Urahnen einmal auf einem Foto gesehen. Lucian war ihm als junger Mann wie aus dem Gesicht geschnitten.“

„Ziemlich viele Zufälle auf einmal“, stimmt Julian ihr zu.

„Alles schön und gut, aber warum sollte er es auf uns Vergessene abgesehen haben?“, verstehe ich nicht.

„Wenn er tatsächlich der letzte Nachfahre dieser Eatons ist und die fanatischen Ansichten seiner Ahnen teilt, könnte es sich um einen verzweifelten Versuch handeln, die Magier vom Aussterben zu bewahren“, vermutet Julian. „Durch den Fluch lebt auch in uns gewisser Weise Magie. Vielleicht glaubt er, sich diese irgendwie nützlich machen zu können.“

„Wäre … wäre so etwas denn möglich?“, schiebe ich hinterher.

„Nein“, kommt es prompt von Evelin. „Magie ist angeboren. Eure Fähigkeiten mögen euch zwar wie Zauberei vorkommen, aber der Fluch hat euch keine Magie verliehen, sondern lediglich eure menschliche Natur auf unbestimmte Zeit verändert.“

„Also wir sind quasi so etwas wie Mutanten und ihr Harry Potter 2.0?“, versuche ich, mir das Ganze etwas greifbarer zu machen. „Dann müsste das dieser Lucian doch auch wissen, oder?“

„Verzweiflung und Trauer bringen uns oft dazu, die unüberlegtesten Dinge zu tun“, wendet Julian ein. Schuldbewusst sendet er mir im Geist Erinnerungen daran, wie er mich vor unserer gemeinsamen Flucht behandelt hat. Wie er mich von meinen Eltern weggeholt hat. Wie er mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit beleidigt hat. „Man wird blind für die Realität, für Rationalität.“

„Trotzdem ist das noch kein endgültiger Beweis“, lasse ich nicht locker. „Und Lucian wird wohl kaum so mir nichts dir nichts zugeben, dass er hinter den Anschlägen steckt, wenn wir ihn einfach danach fragen.“

„Vielleicht doch“, meint Evelin. „Noah könnte ihn womöglich aus der Reserve locken, ihm suggerieren, er stünde auf seiner Seite.“

„Du willst Noah bei ihm einschleusen?“, frage ich schockiert. „Wenn es stimmt, was wir hier mutmaßen, ist der Typ vollkommen wahnsinnig! Das ist viel zu gefährlich!“

„Noah hat es selbst vorgeschlagen, und er weiß um die Gefahr. Glaub mir Hannah, ich würde meinen Enkel nicht freiwillig in die Höhle des Löwen gehen lassen, wenn es einen anderen Weg gäbe …“

 

 

„Wow, hast du den heißen Piloten da drüben gesehen? Mit dem würde ich auch gerne mal eine Runde fliegen …“, flüstert ein Zimmermädchen dem anderen zu und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich muss an mich halten, den beiden keinen vernichtenden Blick zuzuwerfen, denn eigentlich hätte ich sie gar nicht hören dürfen, so weit wie sie von uns entfernt stehen.

„Nicht nur du. Diese strahlenden blauen Augen und dieser Körper“, seufzt ihre Kollegin sehnsüchtig. „Meinst du, die Stewardess neben ihm ist seine Freundin?“

Frau, nicht Freundin!, fauche ich innerlich zurück. Aber wo sie recht haben, haben sie recht. Die Dienstkleidung sieht wirklich atemberaubend an ihm aus …

Julian und ich stehen gerade am Empfangsschalter einer kleinen Pension und lassen uns ein Zimmer zuweisen. Da wir direkt vom Flughafen gekommen sind hatten wir noch keine Zeit, uns umzuziehen. Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir tatsächlich eine Stewardessenanwärterin und einen Co-Piloten narkotisiert, sie in eine Putzkammer gesperrt und uns dann als die beiden ausgegeben haben, nur um unbemerkt in ein Flugzeug nach England zu kommen.

Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, übermittelt Julian mir in Gedanken. Nachdem er unseren Schlüssel ausgehändigt bekommen hat, legt er besitzergreifend einen Arm um meine Hüfte und zieht mich neben sich her zum Fahrstuhl. Obwohl der Rock etwas zu kurz ist für meinen Geschmack – zumindest für die Öffentlichkeit …

Sobald wir in unserem Zimmer sind, entledige ich mich meiner Schuhe und lasse mich in voller Montur aufs Bett fallen. Endlich schlafen! Nach unserem gestrigen Telefonat mit Evelin hatte Julian sofort alles für unsere Abreise organisiert. Wir hatten noch nachts um drei einen Flug nach England genommen, wo wir uns gleich morgen früh mit Evelin und Noah treffen wollen. Da ich die Stewardess spielen musste, war ein Nickerchen während des Fluges natürlich keine Option gewesen. Da ist es kein Wunder, dass ich wegdöse, sobald mein Kopf das Kissen berührt.

Viel zu schnell werde ich wieder dem verdienten Schlaf entrissen, als ich spüre, wie jemand sich an den Knöpfen meiner Bluse zu schaffen macht. Unwillkürlich entfährt mir ein Laut der Entrüstung und ich versuche, mich wegzudrehen, werde aber von kräftigen Armen zurückgehalten.

Schlaf ruhig weiter, ich helfe dir nur rasch aus deiner Uniform, schallt Julians Stimme beruhigend durch meinen Geist. Er riecht gut, als habe er frisch geduscht, was vermutlich auch der Fall ist. Widerwillig öffne ich die Augen. Julian ist mit handtuchfeuchten Haaren und lediglich in eine Pyjamahose gekleidet über mich gebeugt. Willig lasse ich mich von ihm bis auf meine Unterwäsche entkleiden, noch immer halb im Traumland, und kuschle mich sofort in seine Arme, als er sich schließlich zu mir unter die Decken gesellt.

Es tut mir Leid, dass du immer die ganze Arbeit machen musst …, entschuldige ich mich bei ihm. Eigentlich müsstest du derjenige sein, der von mir ausgezogen werden muss.

Keine Sorge, meine Seelengefährtin. Ich bin gerne derjenige, der dich auszieht, kontert er und drückt mir einen verführerischen Kuss auf das Schulterblatt.

Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?, schnurre ich behaglich.

Hast du, ist seine lachende Antwort. Aber ich kann es nicht oft genug von dir hören.

Ich drehe mich um, so dass ich in seine wundervollen eisblauen Augen sehen kann.

Ich liebe dich, Julian Markov, sage ich noch einmal. Ich liebe dich so sehr, dass es mir manchmal Angst macht.

Liebevoll fährt er mit seiner Hand die äußeren Konturen meines Gesichtes nach.

Und ich liebe dich, mehr, als ich es jemals mit Worten ausdrücken könnte. Allein der Gedanke daran, dass Nishimoto dich in seinen Händen hatte …

Pure Panik flutet meinen Kopf, seine Panik.

Ich weiß. Aber du hast mich gerettet, und nur das zählt, versuche ich, ihn zu beruhigen. Bald wird dieser fürchterliche Albtraum vorbei sein und wir können wieder in unser altes Leben zurückkehren, daran glaube ich ganz fest!

Lass uns hoffen, dass du Recht behältst …

 

 

Als wir uns am nächsten Morgen mit Evelin in unserem Hotelzimmer treffen, ist sie allein. Noah hat sich bereits auf den Weg zum Anwesen der Eatons gemacht. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich eigentlich ganz froh darüber. Seit unserem letzten Treffen hat sich viel verändert …

Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Noah wusste, dass du mir gehörst. Er wusste, worauf er sich einlässt, im Gegensatz zu dir, versucht Julian, mir mein schlechtes Gewissen zu nehmen, während er gleichzeitig unseren Gast begrüßt: „Guten Morgen, Evelin. Schön, dich wiederzusehen.“

Die alte Frau tätschelt ihm großmütterlich die Wange. Wie bei unserer ersten Begegnung trägt sie einen langen braunen Stufenrock und dazu eine Häkelweste, dieses Mal weniger farbenfroh in beige. Auch die weisen Haare hat sie wieder zu einem wirren Dutt zusammengefasst.

„Ich bin froh, dass es euch beiden gut geht.“ Sie unterstreicht ihre Worte mit einem warmen Lächeln, das mich an meine eigenen Großeltern erinnert.

Ich glaube du bist nicht unbedingt in der Position, in dieser Sache ein neutrales Urteil abgeben zu können, setze ich die mentale Unterhaltung mit Julian fort.

Wenn jemand Schuld an dieser Situation ist, dann ich, weil ich mir meine Gefühle für dich nicht früher eingestehen wollte, lässt Julian nicht locker.

Jetzt bin ich an der Reihe und bekomme noch eine feste Umarmung obendrauf, die überraschend fest ausfällt für so eine betagte Dame.

„Möchtest du einen Tee? Wir haben Wasser aufgesetzt“, biete ich ihr an.

„Gerne! Danke, mein Kind.“

Julian folgt mir zum Wasserkocher, um mir beim Tragen der heißen Tassen zu helfen. Unterdessen macht Evelin es sich in unserer kleinen Sofaecke bequem.

Fein, dann einigen wir uns einfach darauf, dass wir alle einen Teil der Schuld tragen, schlage ich vor.

Ich gehe keine faulen Kompromisse ein, lässt er sich nicht von seinem Standpunkt abbringen. Damit ist die Angelegenheit für ihn erledigt.

Ich sehe ihn finster an und will noch etwas nachschieben, aber dem steuert Julian rasch mit einem Kuss entgegen. Sofort habe ich vergessen, was ich sagen wollte. Dieser elende Mistkerl! Er weiß genau, was für eine Wirkung seine unwiderstehlichen Küsse auf mich haben!

„Ich sehe, ihr beide habt eure Differenzen inzwischen beigelegt“, stellt Evelin erfreut fest. „Der Erinnerungszauber hat also tatsächlich funktioniert.“

Ich nicke nur und mache mich beschämt von Julian los, der mich gewähren lässt, jetzt, da er seinen Willen bekommen hat.

An deiner Kompromissfähigkeit müssen wir eindeutig noch feilen!, zische ich.

Nicht, wenn ich im Recht bin.

„Aber in den Wahnsinn treibt er mich noch immer!“, kann ich nicht umhin, seufzend anzufügen, und drücke ihm zwei heiße Tassen Tee in die Hand. Meine eigene trage ich selbst zur kleinen Wohnzimmerecke. Trotz meiner halbherzigen Beschwerde setze ich mich schließlich zu ihm auf das zweite Sofa.

Evelin holt ein Tablet aus ihrer Handtasche und reicht es Julian.

„Noah meinte, wir könnten damit seinem Gespräch folgen und ihr würdet wissen, wie man das bedient. Ich werde mit diesem neumodischen Zeug einfach nicht warm“, gesteht sie. Die Sorge um ihren Enkel ist ihr deutlich anzusehen, auch wenn sie sich sichtlich bemüht, sich gefasst zu geben. „Ihr sollt die ,Brille‘ wählen, hat er noch gesagt.“

Julian schaltet das Gerät an und hat schnell das besagte Programm gefunden, das den besonders unauffälligen Namen I Spy trägt. Man kann zwischen zwölf verschiedenen Streamingkanälen wählen, unter anderem „Handy“, „Knopf“ und „Kugelschreiber“. Besonders skurril finde ich die Option „BH“. Julian geht auf den „Brillen“-Kanal, wie Evelin es ihm aufgetragen hat. Der Stream läuft bereits, zumindest laut dem grün blinkenden Punkt in der rechten oberen Bildschirmecke, doch das Bild ist schwarz.

Ist es kaputt?

Wie so oft schicke ich meine Gedanken direkt an Julian, ohne mir darüber bewusst zu sein, und merke erst, dass ich mich mit ihm verbunden habe, als er antwortet.

Nicht unbedingt …

Er spielt ein wenig mit den Lautstärkeoptionen herum, und tatsächlich ertönen nun die Geräusche eines fahrenden Wagens.

 

 

Wie zuvor telefonisch vereinbart, wird er mit einem Wagen von seinem Hotel abgeholt. Ein athletisch gebauter Mann, gekleidet in einen schlichten schwarzen Anzug, steigt aus. Der Fahrer bleibt im Auto.

„Noah Ackland?“, fragt der Mann knapp.

„Höchstpersönlich“, bestätigt Noah.

Der Mann nickt und öffnet ihm die hintere Tür des schwarzen Mercedes, gibt ihm allerdings mit der Hand zu verstehen, noch nicht einzusteigen.

„Umdrehen“, befiehlt er ihm stattdessen und zieht aus seiner Jackettasche ein dunkles Tuch. Ohne zu zögern dreht Noah sich um. Wenn er will, dass diese Leute ihm vertrauen, bleibt ihm nichts anderes übrig, auch wenn er ein flaues Gefühl im Magen hat – wer lässt sich schon gerne freiwillig eine Augenbinde verpassen? Anschließend lässt er sich von dem Fremden ins Auto helfen.

Zu Beginn der Fahrt herrscht peinliche Stille, bis einer der Männer sich dazu entscheidet, das Radio anzustellen. Die Musik hilft ihm, etwas zu entspannen. Gleich wird er einem anderen Magier gegenüberstehen, ein Traum, den er schon längst für ausgeträumt gehalten und der sich nun aller Wahrscheinlichkeit nach in einen Albtraum verwandelt hatte. Ein winziger, optimistischer Teil in ihm hofft noch immer, dass sie sich irren, dass Lucian mit der Entführung der Vergessenen nichts zu tun hat, aber nach allem, was er von seiner Großmutter über die Eatons gehört hat, ist dessen Mittäterschaft beinahe eine Tatsache. Das erste Mal war er mit dem Namen in Berührung gekommen, als er gerade Vierzehn geworden und wie immer die Sommerferien bei seiner Großmutter in Deutschland verbracht hatte.

 

„Darf ich dich mal was fragen, Oma?“

Er hält in seiner Arbeit inne. Sie sind gerade im Garten hinter dem Haus, Unkraut jäten. Beide lieben Pflanzen, ihr gemeinsames Hobby.

„Natürlich, Schatz. Was möchtest du denn wissen?“

„Der Fluch, den unsere Vorfahren über die zwölf antiken Herrscher gelegt haben, war dunkle Magie, oder?“

Es ist eine rhetorische Frage, immerhin hat er schon oft genug von den Vergessenen gehört, deren Rettung sich seine Großmutter zur Lebensaufgabe gemacht hat, um einen entsetzlichen Fehler ihrer Ahnen wiedergutzumachen.

„Du meintest zwar, das sei eine Ausnahme gewesen, da ein schwarzer Zauber immer einen schrecklichen Preis fordert, aber was, wenn jemand bereit wäre, einen solchen zu zahlen?“

Großmutter legt ihre Schaufel beiseite und sieht ihn besorgt an.

„Worauf willst du hinaus, mein Kind?“

„Du hast immer betont, wie selbstlos und rechtschaffen die Magiergemeinschaft war, aber ich kann nicht glauben, dass es keine Ausnahmen gab. Es gibt immer Ausnahmen.“

„Wie kommst du plötzlich auf diese Gedanken?“

Er zuckt lässig die Schultern.

„Ich bin eben kein Baby mehr. Ich fange an, mir über die Welt Gedanken zu machen. Das ist doch etwas ganz Natürliches.“

„Ja, das ist es wohl“, stimmt sie ihm leise zu. „Es ist nur etwas, an das ich mich erst gewöhnen muss, verstehst du?“

Sie schenkt ihm das für sie so typische, warmherzige Lächeln und kneift ihm liebevoll in die Wange.

„Für mich bist du noch immer der kleine Junge, der bei Regen keine Matschpfütze auslassen kann, und der aus Angst, in seinem Bauch würden dann Melonen wachsen, nie einen Melonenkern verschluckt hat.“

„Oma …!“ Peinlich berührt verdreht er die Augen.

Sie lässt von ihm ab und wird wieder ernst.

„Es gab immer wieder Ausnahmen, bedauerliche Einzelfälle“, stimmt sie seiner Annahme letztlich zu. „Die meisten sahen rasch ein, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatten, einige Unglückliche mussten für ihr Vergehen allerdings mit dem Leben zahlen. Der schlimmste Fall, der mir bekannt ist, ist der einer ganzen Familie, die sich den dunklen Mächten verschrieb, der Eatons. Eines hatten sie allerdings alle gemeinsam: Die Gründe für ihre Abkehr von der weisen Magie waren getrieben von Selbstsucht.“

„Was wollten die Eatons?“

„Die Unsterblichkeit ihrer magischen Blutlinie. Sie wollten nicht akzeptieren, dass unsere Gemeinschaft in der modernen Welt keinen Platz mehr hat, dass immer weniger unserer Kinder den Ruf der Natur vernehmen konnten“, erzählt Großmutter. „Bald fingen sie an mit Frauen, Schwangeren und Kindern aus ihren Reihen zu experimentieren mit dem Ziel, magischen Nachwuchs sicherzustellen. Grauenhafte Missbildungen waren die Folge, zahlreiche Tode und Krankheiten. Dennoch ließ sich die Familie nicht von ihrem Plan abbringen, bis sie irgendwann vollständig von der Bildfläche verschwand. Am Ende führten sie also das, wovor sie sich am meisten fürchteten, selbst herbei.“

Unwillkürlich muss er an die letzte Botschaft denken, die er von einem anderen Magier bekommen hatte. Das war diesen Frühling gewesen. Er war mit seinen Eltern über Ostern nach Spanien gefahren, wo er sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte. Um seine starken Bauchschmerzen zu lindern und ihn etwas abzulenken, hatte ihn seine Mutter zu einem Spaziergang am Meer überredet. Während sie gemeinsam am Strand entlang flanierten, hatte er aus den seichten Wellen plötzlich ein raues Flüstern vernommen, beruhigende Worte in einer Sprache, die er nicht verstand. Die Stimme hatte ihn eingehüllt wie eine liebevolle Umarmung, hatte seine Nase angefüllt mit dem anregend salzigen Duft des Meeres und das Rauschen der Wellen in eine angenehme Melodie verwandelt. Instinktiv wusste er, dass irgendwo am anderen Ende des Wassers jemand seiner Art seine Schmerzen gespürt hatte und ihm helfen wollte. Als kleines Kind hatte er öfter solche Botschaften erhalten, doch in den letzten Jahren waren sie immer seltener geworden. Laut seiner Großmutter gab es weltweit nur noch knapp vierzig Magier, alle im fortgeschrittenen Alter – außer er.

Seit diesem Zwischenfall war er jeden Tag ans Meer gegangen, hatte den ganzen Tag am Strand verbracht und auf eine weitere Botschaft gehofft, doch das Warten war vergebens gewesen. Wieder zu Hause hatte er seiner Großmutter am Telefon aufgeregt von seiner Begegnung erzählt, hatte sie gefragt ob sie wüsste, wer da wohl zu ihm „gesprochen“ haben könnte. Betretenes Schweigen war die Antwort gewesen.

Er ballte die Hände zu Fäusten, musste die Tränen zurückhalten, die in seinen Augenwinkeln lauerten. Er wusste, was diese Reaktion zu bedeuten hatte. Die Nachricht war ihm nicht geschickt worden, weil es ihm schlecht gegangen war, wie er zunächst vermutet hatte. Es war ein Abschied gewesen, da der Magier wohl gespürt hatte, dass seine Zeit gekommen war. So war es auch bei der letzten Botschaft gewesen, die er bekommen hatte. Und bei der davor. Und der davor.

 

Natürlich stimmt auch ihn das Aussterben seiner Leute traurig. Etwas Wundervolles, unendlich Kostbares neigt sich damit seinem Ende zu. Aber er weiß auch, dass es falsch wäre, mit allen Mitteln versuchen zu wollen, die Verbindung zur Magie zu erhalten. Mutter Natur hatte einst ihre Kraft mit den Menschen geteilt, da sie noch nicht in der Lage gewesen waren, sich selbst zu helfen, doch dieser Bund war nie auf Dauer ausgelegt gewesen. Und auch wenn die Menschen die Magie in Zukunft nicht mehr würden wahrnehmen könne, so würde sie doch immer weiterleben, in jeder aufblühenden Pflanze, jedem Sonnenstrahl, jeder Geburt, jedem Regentropfen. Allein der Gedanke daran, sich diese Dinge gewaltsam Untertan machen zu wollen, ist geradezu absurd.

Er spürt, wie der Wagen über Kies rollt und kurz darauf anhält. Türen werden geöffnet.

„Sie könne die Augenbinde abnehmen. Wir sind da.“

Kapitel 29

 

Sobald er die Schwelle des alten Herrenhauses übertritt, schreien all seine Sinne lautstark Gefahr. Schon von außen hatte das Haus negative Schwingungen ausgesendet. Die alten Mauern ächzten geradezu unter dem Gewicht des Bösen, obwohl das Haus objektiv betrachtet gepflegt, geradezu einladend aussah für sein stolzes Alter.

Man führt ihn in einen vornehmen Salon, wo sein Gastgeber bereits auf ihn wartet. Vor einem der ausladenden Fenster, welche die äußere Wand des großen Raumes säumen, sitzt ein völlig ausgezehrter Mann in einem Rollstuhl. Es besteht kein Zweifel daran, dass er ein Magier ist. Die Art, wie die Luft um ihn herum auf seine Präsenz reagiert, ihn geradezu umschmeichelt, wie die Pflanzen sich ihm entgegenstrecken, wie das Licht des Raumes sich bei ihm konzentriert – eine solche Verbindung zu den Elementen ist es, die seine Art von einem gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Nur, dass diese Gesten der Unterwürfigkeit nicht von einem respektvollen Miteinander und Füreinander herrühren, wie er es bei seiner Großmutter immer wahrgenommen hatte, sondern von einer unnatürlichen Gezwungenheit, als wollten die Elemente nicht so recht, müssten aber.

Schwarze Magie hat ihren Preis, kommen ihm unweigerlich die Worte seiner Großmutter in den Sinn, deren volles Ausmaß ihm erst jetzt in seiner ganzen entsetzlichen Tragweite bewusstwird. Die Beine des Mannes sind unter einer Decke verborgen, der hagere, gekrümmte Leib in eine Wollweste gehüllt. Aus seinem rechten Arm ragt ein Schlauch mit einem Infusionsbeutel am anderen Ende, der von einem eisernen Ständer neben ihm gehalten wird. Lediglich einige spärliche weise Haare bedecken sein Haupt, die ledrige Haut ist übersät mit rötlichen Flecken und das Knochengerüst darunter ist deutlich zu erkennen. Sein Gesicht ist so eingefallen wie sein Körper, die Lippen bleich und trocken. In der Nase steckt ein Beatmungsschlauch. Der Mann ist der wandelnde Tod. Nur seine Augen wollen nicht recht ins Bild passen. Aus ihren dunklen, braunen Tiefen heraus begegnet ihm ein Blick, der purer Überheblichkeit ausstrahlt.

Mit einer knochigen Hand deutet Lucian auf den leeren Sessel ihm gegenüber. Alles in Noah schreit danach, so schnell wie möglich das Weite zu suchen, doch ihn beschleicht das ungute Gefühl, dass er ohnehin nicht weit kommen würde. Sein Unbehagen zurückdrängend folgt er der unausgesprochenen Aufforderung. Der kleine Tisch, der zwischen dem Sessel und dem Rollstuhl steht, gibt ihm zumindest ansatzweise das sichere Gefühl einer Barriere zwischen den beiden.

„Kann ich dir etwas Tee und Gebäck anbieten, mein Sohn?“ Lucians Stimme ist überraschend fest, bedenkt man seine bemitleidenswerte physische Verfassung. Indem er ihn als seinen Sohn bezeichnet, lässt er ihn wissen, dass auch er ihn als Magier erkannt hat.

„Ein Kräutertee, wenn es keine Umstände macht.“ Um den Geist und den Magen zu beruhigen.

Der gebrechliche Mann drückt einen roten Knopf auf der Lehne seines Rollstuhles und Sekunden später kommt eine Hausangestellte in grauer Arbeitsuniform herbeigeeilt, die Haare streng zu einem Dutt zusammengefasst.  

„Einen Kräutertee für meinen jungen Gast.“

„Sehr wohl.“

Die Frau verbeugt sich, stürmt wieder davon und lässt die beiden Männer alleine im Raum zurück. Während Lucian der Bediensteten ihren Auftrag erteilt hatte, ist sein Blick keine Sekunde von Noah gewichen. Auch jetzt mustert er ihn ununterbrochen mit einer geradezu gruseligen Intensität, beinahe als wolle er ihn mit seinen bloßen Augen sezieren. Als Noah glaubt, es gleich nicht mehr aushalten zu können, wendet Lucian plötzlich unvermittelt den Rollstuhl und durchbricht somit endlich den unheimlichen Blickkontakt.

„Entschuldige. Es ist lange her, seit ich zuletzt jemandem von unserer Art begegnet bin“, gesteht er traurig, den dunklen Blick nachdenklich in eine unbestimmte Ferne außerhalb des Fensters gerichtet. „Wie geht es deiner Großmutter?“

Noch immer hält er den Kopf abgewandt, wofür Noah nur dankbar ist.

„Wir hatten leider noch nicht das Vergnügen, aber wie ich hörte, soll sie außergewöhnlich begabt sein.“

Bei dem Telefonat, das Noah am Vortag mit Lucians Sekretär geführt hatte, hatte er keinen Hehl aus seiner Abstammung gemacht. Warum auch? Zweifelsohne hatte Lucian ihn vor diesem Treffen ohnehin durchleuchten lassen, seine Blutlinie zu leugnen wäre also vergebene Mühe gewesen.

„Das Alter macht sich bemerkbar, auch wenn sie es nicht wahrhaben will“, gibt Noah aufrichtig zurück. „Und Sie haben richtig gehört, Großmutter war eine außergewöhnliche Hexe. Sie war … die Beste.“

War?“, hakt Lucian interessiert nach.

„Sie hat einen mächtigen Zauber gewirkt, für den sie ihre Kräfte einbüßen musste. Das ist jetzt nicht ganz ein Jahr her. Sie hat sich einfach nicht von ihrem Plan abbringen lassen, obwohl ich ihr eindringlich ins Gewissen geredet habe.“

Auch das entspricht der Wahrheit.

„Haben Sie von dem verschollenen vergessenen Mädchen gehört? Großmutter hat einen Zauber gewirkt, um ihrem Seelengefährten den Weg zu ihr zu weisen. Sie meinte, wenn sie es schon nicht geschafft hat, den Fluch zu brechen, sollte sie zumindest so viel tun.“

„Ist es ihr gelungen, mit ihrer Magie das Schicksal wieder in die richtigen Bahnen lenken?“

„Ja. Die beiden … die beiden haben sich wiedergefunden.“

Gequält erinnert er sich an Julians grobe Hände um Hannahs zarte Finger, als er versucht hatte, sie wieder hinter seinen Rücken zu ziehen, seine kaltschnäuzige Art ihr gegenüber. Doch immer, wenn er geglaubt hatte, niemand schenke ihm Aufmerksamkeit, wurde sein Blick weich, wenn er sie ansah, und auch in Hannahs Augen verbarg sich unter all der Wut, die an der Oberfläche brodelte, eine verzehrende Sehnsucht nach ihrem Gefährten. Ein dunkler, selbstsüchtiger Teil von ihm hatte bis zuletzt gehofft, die Wut in ihr würde schließlich doch die Oberhand gewinnen, hatte gehofft, ihre Sehnsucht würde irgendwann ihm gelten, obwohl er es von Anfang an hätte besser wissen sollen.

„So hat mich also auch meine letzte Schwester verlassen“, stellt Lucian gespenstisch ruhig fest.

„Ich dachte, nun wäre ich der einzige unserer Art“, erzählt Noah weiter. „Als ich sie das erste Mal ohne ihre Kräfte gesehen habe ...“

Ihm versagt die Stimme. Diesen Anblick wird er wohl nie in seinem Leben vergessen: Großmutter inmitten der wilden Schönheit ihres Gartens, umgeben von den Pflanzen, die sie so sehr liebt, und die jetzt in ihrer Gegenwart vollkommen verstummt sind, wo sie einst doch immer so glücklich für ihre Herrin geleuchtet und gesungen hatten. Der Geist von Mutter Natur hatte sie verlassen.

„Jedenfalls … Gestern hat sie mir dann von Ihnen erzählt. Erst konnte ich es gar nicht recht glauben, aber dann hat sie mir alte Aufzeichnungen über ihre Familie gezeigt. Sie sind ihrem Ur-urgroßvater wie aus dem Gesicht geschnitten! Als ich endlich begriffen hatte, wusste ich, dass ich Sie so schnell wie möglich treffen musste.“

Lucian dreht seinen Rollstuhl vom Fenster weg und Noah zu.

„Und dass obwohl du im selben Zug von ihr erfahren hast, dass ich an der Entführung der Vergessenen beteiligt bin und mich der dunklen Künste bemächtige?“

Seine Miene ist kühl, sein Ton gefährlich gelassen. Es wundert Noah nicht sonderlich, dass Lucian sich sofort zusammengereimt hat, warum sein Name überhaupt gefallen ist. Für einen kurzen Moment überlegt Noah, alles abzustreiten, entscheidet sich aber schnell dagegen. Was hätte es für einen Sinn zu leugnen, dass er weiß, wen genau er da vor sich sitzen hat? So oder so würden die Karten irgendwann offen auf den Tisch kommen. Womöglich wird Lucian ihm seine Ehrlichkeit sogar anrechnen.

„Ist es wahr? Haben Sie einen Weg gefunden, unsere Reihen wieder aufzufüllen?“, kontert er mit einer Gegenfrage, bemüht, nicht anklagend zu klingen.

„Wie gerne würde ich dir vertrauen, mein Sohn“, seufzt Lucian traurig und legt nachdenklich den Kopf schief, als begutachte er ein Kunstwerk. „Wie gerne würde ich mir sicher sein, dass auch du die Hoffnung auf eine Zukunft mit Magie so glühend in deinem Herzen trägst wie ich, anstatt sich einfach kampflos geschlagen zu geben wie alle anderen. Dass du wie ich erkannt hast, dass etwas getan werden muss, dass Opfer gebracht werden müssen.“

Es klopft an der Tür.

„Herein.“

Die Angestellte von zuvor kommt herein, vor sich einen Wagen beladen mit Tee und einem Teller voller Kekse herschiebend. Noah bekommt den gewünschten Kräutertee gereicht, Lucian ein Glas Wasser und eine kleine Dose mit diversen Pillen darin. Nachdem er all seine Medikamente eingenommen hat, bekommt auch er eine dampfende Tasse gereicht. Erst riecht er genüsslich daran, dann nimmt er einen Schluck.

„Ausgezeichnet“, lobt er. „Das wäre alles für den Moment, Martha.“

Wieder verneigt sich die Frau, ehe sie sich zurückzieht.

Lucian nimmt einen weiteren Schluck, während er seinem Gast einen herausfordernden Blick zuwirft. Bemüht, lässig zu wirken, tut Noah es ihm schließlich gleich. Der Tee schmeckt vorzüglich, hat allerdings einen etwas ungewöhnlichen Nachgeschmack, der an Vanille erinnert – das typische Indiz für einen Wahrheitszauber. Genau, wie Großmutter es vorausgesehen hat.

„Vermutlich wird er dich mit einem Wahrheitszauber auf die Probe stellen, den er dir in Form eines Getränkes verabreichen wird. Trink das, bevor du gehst.“

Großmutter reicht ihm einen Flakon mit einer milchigen Flüssigkeit darin.

„Das wird die Wirkung seines Zaubers neutralisieren und wahrscheinlich dein größtes Ass sein, wenn es darum geht, Lucians Vertrauen zu gewinnen.“

Wahrheitszauber gehören zu den anspruchsvollsten Gebräuen der magischen Kunst. Es dauert Wochen, einen solchen fertigzustellen, und die Kräuter und Gewürze, die dafür benötigt werden, sind teilweise äußerst selten und damit schwer aufzutreiben. Das Gleiche gilt auch für den Gegenzauber. Glücklicherweise hatte seine Großmutter immer eine Handvoll „Notfalltränke“ im Keller, wovon Lucian aber hoffentlich nicht ausgehen wird.  

„Sag mir, mein Sohn: Kann ich dir vertrauen?“, fragt Lucian nun ganz direkt, überzeugt von seiner Arbeit.

Gelassen nimmt Noah einen weiteren großen Schluck, ehe er die Tasse beiseitestellt und Lucian fest ansieht.

„Sie sind der einzige Bruder, der mir noch geblieben ist“, bedient er sich bewusst einer ähnlichen Wortwahl, wie sein Gegenüber. „Ein lang gehegter Wunsch, an dessen Erfüllung ich längst nicht mehr geglaubt habe. Dass sich unsere Wege ausgerechnet in dieser turbulenten Zeit kreuzen, muss ein Wink des Schicksals sein!“  

Obwohl es ihm zutiefst widerstrebt, steht er auf, geht zu Lucian, fällt vor ihm auf die Knie und nimmt seine fragilen Hände in seine.

„Ich bin sicher, Mutter Natur hat mich ausgesandt ihnen bei diesem Kampf, den Sie schon viel zu lange alleine austragen mussten, zur Seite zu stehen. Gemeinsam werden wir die magische Gemeinde zurück ins Leben rufen! Ich will ihrem ehrenvollen Beispiel folgen und bin bereit, jedes Opfer zu bringen, dass für unser Volk gebracht werden muss“, gelobt er feierlich.

Eine endlos wirkende Sekunde lang bleibt Lucians Miene so distanziert wie zuvor, völlig unbewegt, doch dann werden seine Züge etwas weicher. Noch immer ist ein Hauch Zweifel darin eingegraben, aber Wohlwollen scheint zu überwiegen.

„Ich bin froh das zu hören, mein Kind. Sehr froh“, gibt er zufrieden zurück. „Komm. Ich denke, du solltest dir etwas ansehen.“

Lucian lässt einen Butler kommen, um seinen Rollstuhl zu schieben, und Noah folgt den Männern in einen abgelegenen Flügel des Hauses. Je weiter sie gehen, desto stärker wird das bedrohende Gefühl, das Noah schon die ganze Zeit in diesem Anwesen wahrnimmt, steigert sich zu einem Gefühl des puren Bösen, das überall in der Luft zu liegen scheint.

Ein offener altmodischer Fahrstuhl bringt die Drei in den ersten Stock. Zunächst wirkt alles normal. Rechts und links von ihnen erstreckt sich ein langer Gang mit dutzenden Türen zu beiden Seiten. Der durchgehende rotbraune Läufer auf dem Laminatboden, diverse Tischchen mit Blumenvasen und einige Ölgemälde an den Wänden vermitteln den Eindruck von Heimeligkeit. Als er sich eine der Türen allerdings einmal genauer ansieht, fällt ihm auf, dass darin ein kleines Guckloch eingelassen ist, wie bei einer Haustür. Um das Loch herum und beinahe nicht auszumachen, ist ein Viereck im Holz zu erkennen. Eine grausige Ahnung beschleicht Noah, die sich bewahrheitet, als aus einer der Türen eine Krankenschwester mit einem Klemmbrett in der Hand tritt. Sobald sie auf den Flur getreten ist, will sie abschließen, doch Lucian hindert sie daran.

„Warten Sie, Rose. Mein junger Gast würde gerne einen kurzen Blick hineinwerfen.“

Nein, eigentlich will er das ganz und gar nicht! Eigentlich will der junge Gast am liebsten sofort so weit von diesem Ort weg, wie nur möglich!, schießt es Noah durch den Kopf.

„Oh, Mr. Eaton …“ Erschrocken hält die junge Frau inne. „Verzeihen Sie, ich habe nicht so früh mit Ihnen gerechnet!“

Gehorsam tritt sie zur Seite, um Noah durchzulassen. Wie durch ein Wunder folgen seine Füße tatsächlich dem Befehl seines Gehirns, vorwärts zu gehen. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Viel zu schnell ist er bei der Tür.

Zu aller erst fällt sein Blick auf ein junges Mädchen, das auf einem Holzstuhl sitzt und mit glasigen Augen starr vor sich hin aus dem Fenster schaut. Sie dreht sich nicht einmal zu ihm um, als beim seinem Eintreten lautstark eine Diele quietscht. Ein weißes Nachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, verhüllt ihren zierlichen Körper, die langen, dunklen Haare fallen ihr leblos über die Schultern, als wollen sie sich ihrem Gemütszustand anpassen. Sie kann nicht älter als siebzehn oder achtzehn sein. Ihre Hände liegen auf ihrem überdimensionalen, runden Bauch, das einzige, das an ihr gesund aussieht. Sie ist schwanger. Das Zimmer um sie herum ist spartanisch eingerichtet: Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Keine Bilder an den Wänden, nur nacktes blasses Gelb und eine simple, runde weiße Deckenleichte. Keine Blumen. Nicht einmal Vorhänge vor dem Fenster. Nein, das ist kein Zimmer, es ist ein Gefängnis.

„Die Eatons schreckten vor nichts zurück, wenn es darum ging, magischen Nachwuchs zu gewährleisten“, erinnert er sich daran, was Großmutter ihm über die ausgestoßene Familie berichtet hatte. Übelkeit steigt in ihm auf, während er die einzelnen, grausigen Puzzleteile zu einem entsetzlichen Ganzen zusammenfügt. Dieses junge Mädchen hat sich nicht willentlich schwängern lassen, und ebenso wenig ist es aus freien Stücken hier.

„Wie lange noch?“, hört er Lucian hinter sich nüchtern fragen.

„Zwei Wochen maximal. Eher eine. Die Akkupunkturbehandlung und die starke Medikation haben geholfen, aber trotzdem wird sie das Kind sehr wahrscheinlich nicht bis zu dem anfangs errechneten natürlichen Geburtstermin halten können“, erwidert die Schwester ebenso geschäftsmäßig. Ohne Zweifel werden zudem betäubungsähnliche Medikamente eingesetzt, um die junge Frau ruhig zu halten, denkt sich Noah den Rest. Jetzt ergeben auch die vielen Wachmänner, die er bei seiner Ankunft über das Anwesen hatte patrouillieren sehen, einen Sinn. „Dennoch sollte es keine Probleme geben. Der Kleine ist kräftig und hat nach wie vor einen regelmäßigen Herzschlag. Er wird seinen Geschwistern mit gutem Beispiel vorangehen.“

Seinen Geschwistern. Bedeutet das etwa, hinter all den Türen …? Der Gedanke ist so fürchterlich, dass er nicht wagt, ihn zu Ende zu denken. Mindestens genauso erschreckend, wenn nicht gar noch ungeheuerlicher, ist die Tatsache, dass Lucian bei seinem perversen Plan auch noch Unterstützung bekommt. Der Butler und die Krankenschwester wissen genau, was hier vor sich geht, und die beiden sind gewiss nicht seine einzigen Helfer. Wie kann ein Mensch, der nur ein Fünkchen Menschlichkeit besitzt, sich freiwillig auf so etwas einlassen?

Geld, antwortet der innere Pragmatist in ihm ohne Zögern. Darauf läuft es doch immer hinaus. Geld regiert nun einmal die Welt, mein Freund!

Schweren Herzens tritt Noah den Rückzug an und lässt die Krankenschwester das Zimmer verschließen.

Ich werde wiederkommen, das verspreche ich dir! Bald wird das alles hier ein Ende haben! Du musst noch ein kleines Bisschen durchhalten, verstanden? Nur noch ein kleines Bisschen!, fleht er in Gedanken und hofft inständig, seinen Schwur halten zu können.

„Wie viele Kinder warten hier auf ihre Entbindung?“, erkundigt er sich, bemüht interessiert zu klingen anstatt wütend, was ihm zu seiner Verblüffung ganz gut gelingt. Muss das Adrenalin sein.

„Sechzehn“, gibt Lucian zurück.

„Mit wie vielen überlebenden Säuglingen rechnen Sie?“

Lucian mag ein selbstherrlicher Psychopath sein, doch wenn er nur den Hauch eines Realitätssinnes besitzt, muss er von vorne herein in seine Kalkulationen eine gewisse Ausfallquote mit einberechnet haben, in all diesem Wahnsinn.

„Acht. Zehn bis Zwölf, wenn es gut läuft. Fünf im Schlimmsten Fall“, überlässt Lucian es der Schwester, an seiner statt die gewünschte Auskunft zu geben. „Zwei bis vier Kinder werden es auf Grund des kritischen physischen Zustandes ihrer Mütter nicht bis zur Geburt schaffen oder diese überleben, ebenso hoch schätzen wir die Ausfallquote bei den Ritualen ein.“

Rituale, bei denen Lucian vermutlich mit Hilfe der dunklen Künste irgendwie die „Magie“ der Vergessenen auf seine Kinder übertragen will, um zu gewährleisten, dass sie sein Erbe antreten und den Ruf von Mutter Natur werden vernehmen können. Rituale, die niemals funktionieren werden.

„Was wird aus den Müttern?“

„Nichts, was früher oder später nicht ohnehin aus diesen Prostituierten geworden wäre: Schlampen, die sich eine Überdosis gesetzt haben oder einfach von der Bildfläche verschwunden sind“, lässt Lucian sich achselzuckend vernehmen, als wäre nichts weiter dabei, sechzehn junge Frauen vorsätzlich zu ermorden. Mehr noch, als täte er ihnen damit auch noch einen Gefallen. „Es war schon immer ein gefährliches Business, besonders in London …“

Eine Jack the Ripper-Anspielung. Zum Totlachen. Gequält ringt sich Noah ein Lächeln ab.

„Wohl war“, erwidert er. „Sind die Vergessenen ebenfalls auf diesem Stockwerk untergebracht?“

„Da meine Ehrengäste intensiverer medizinischer Pflege bedürfen, sind sie in einer behelfsmäßigen Klinik im Kellergeschoß untergebracht“, erklärt Lucian und bedeutet dem Butler hinter ihm mit einer Handbewegung, den Rollstuhl zu wenden und die zweite Station dieser netten kleinen Hausführung anzusteuern.

„Sir, wenn ich so frei sein dürfte, etwas zu äußern“, bittet der Angesprochene, was ihm sichtlich unangenehm ist, und bleibt ungerührt stehen.

„Seien Sie so frei“, genehmigt Lucian knapp, als wäre zu sprechen das größte Privileg auf Erden. Der Butler atmet erleichtert auf.

„Die Infusion sollte inzwischen ihren Zweck erfüllt haben.“

„Verstehe. Rose, kümmern sie sich darum.“

„Natürlich, Sir.“

Während die Schwester davonhuscht, um die nötigen
Utensilien herbeizuschaffen, nutzt Noah die Gelegenheit für eine weitere Frage, die ihm schon lange auf der Zunge brennt.

„Das verschollene vergessene Mädchen, das ich vorhin erwähnt habe … Das waren auch Sie, oder? Warum haben sie damals nur einen einzigen Verfluchten entführen wollen, und dazu noch ein Kind?“

„Sie hätte meine Frau werden sollen“, gibt Lucian ungerührt zurück, beinahe als wäre dieser Gedanke doch naheliegend. „Es war die Idee meiner Eltern. Leider verstarben sie, noch bevor der Plan überhaupt in die Tat umgesetzte werden konnte. Jedenfalls hatten wir anfangs noch die Hoffnung, ich könnte trotz allem auf natürlichem Wege Nachkommen in die Welt setzen. Meine Gebrechen waren damals auch noch nicht so fortgeschritten wie heute. Bereits seit meiner Geburt suchten sie fieberhaft nach einer passenden Partnerin für mich, die unsere reine Blutlinie würde fortführen können. Eine Schwester war mir nie vergönnt gewesen und meine Cousine, in die meine Eltern große Hoffnung gesetzt hatten, wurde eine Totgeburt. Eine Menschenfrau kam aufgrund der geringen Erfolgschancen selbstverständlich nie in Frage. So fiel das Augenmerk meiner Eltern schließlich auf die Vergessenen. Nicht die beste Lösung selbstverständlich, doch in unserer Situation konnten wir nicht wählerisch sein.“

„Aber … Ich dachte, die Verfluchten wären unfruchtbar“, wendet Noah irritiert ein.

„Nicht biologisch. Es ist lediglich Teil des Fluches, ein unglücklicher Nebeneffekt, wenn man so will. Es gibt allerdings einen dunklen Zauber, mit dessen Hilfe man die Wirkung eines Fluches kurzzeitig aussetzen kann, ohne den Fluch an sich zu lösen.“

Mannomann, diese Familie wirft mit schwarzer Magie ja geradezu um sich! Es grenzt an ein Wunder, dass Lucian überhaupt noch lebt! Zum ersten Mal sieht er etwas Gutes im Aussterben seiner Art, nämlich die simple Tatsache, dass es auch die Eatons treffen wird.

„Warum haben Sie dann ihr Vorgehen geändert? Wäre es nicht leichter gewesen, noch einmal ein Mädchen zu entführen?“, fragt Noah weiter, ermutigt durch Lucians bisher so bereitwillige Kooperation.

Inzwischen ist Rose mit einem Rolltischchen und ihrem Equipment zurückgekehrt. Lucian rollt den Ärmel seiner Weste etwas hoch, nicht um der Schwester ihre Arbeit zu erleichtern, sondern um ihn nicht dreckig werden zu lassen, wie Noah vermutet. Der Mann erscheint ihm nicht gerade vom Schlag hilfreicher Gentleman zu sein.

„Der Entführung war jahrelange Planung vorausgegangen. Mir lief schlicht und ergreifend die Zeit davon“, erzählt Lucian, während er jede Bewegung von Rose mit Adleraugen verfolgt. „Immerhin wussten wir zu Beginn nicht einmal, wo das nächste vergessene Mädchen geboren werden würde. Als klar war, wo es sein würde, brauchte ich verlässliche Helfer vor Ort, motivierte Helfer. Dazu musste ich erst einmal einige leichtgläubige, wütende Menschen ausfindig machen, die mit der Familie noch eine Rechnung zu begleichen hatten, und sie auf meine Seite ziehen. Ich hatte Glück und fand am Ende sogar jemanden, der aus dem engeren Umkreis des Mädchens stammte. Monatelang kundschaftete er das Haus und seine Bewohner aus, ihre Gebräuche und täglichen Routinen. Doch dem Kind gelang es, den Männern zu entkommen.“

Über seine Augen huscht ein eiskaltes, wütendes Funkeln.

„Ein weiteres Mädchen zu entführen hätte erneut Jahre in Anspruch genommen, und dann hätte ich ja auch noch warten müssen, bis sie zeugungsfähig ist. Ich musste mich also schnellstmöglich umorientieren, und so entschied ich, ein vergessenes Paar zu entführen und mir ihre Magie zu Nutze zu machen. Als ich dann allerdings vor einigen Monaten meinen neuen Plan endlich in die Tat umsetzen wollte, bekam ich ironischer Weise unverhofft Unterstützung von Seiten der Vergessenen höchst selbst, und es taten sich Möglichkeiten auf, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte.“

Diese Bombe von einem Satz lässt er zunächst ohne
weitere Erklärung in der Luft hängen. Erst, als die Schwester fertig ist, ihre Sachen zusammengepackt und sich verabschiedet hat, nimmt er den Faden wieder auf. Unterdessen machen sie sich auf den Weg in den Keller.

„Einer der Zwölf aus Deutschland suchte mich auf. Ich nahm an, er sei mir auf die Schliche gekommen und wolle meinen Plan vereiteln, doch stattdessen bot er mir einen äußerst interessanten Deal an.“

Da taucht einer der Wachmänner, die auf dem Gelände patrouillieren, vor ihnen auf.

„Herr Jensen wartet im Salon, Sir.“

Lucian entfährt ein kratziges Lachen.

„Wenn man vom Teufel spricht.“

Sie folgen dem Wachmann in den Salon, in dem auch Noah empfangen worden war.

„Darf ich vorstellen: Mark Jensen, der oberste der Zwölf aus Deutschland.“

 

Etwas später …

 

Wehmütig sieht Lucian dem Wagen mit seinem jungen Gast hinterher, der gerade das Grundstück verlässt.

„Glauben Sie, wir können ihm vertrauen?“, will Jensen wissen.

„Kein Stück“, gibt er ehrlich zu, auch wenn es ihn gegen seinen Willen schmerzt, sich das eingestehen zu müssen. Immerhin hatte er nichts anderes erwartet. Dennoch … Der Junge hatte sich wirklich die größte Mühe gegeben, sein Spiel aufrecht zu erhalten, und einige Male hatte er sich tatsächlich dabei ertappt, seinen Worten beinahe Glauben zu schenken, sich beinahe die Vorstellung zu erlauben wie es wäre, einen Verbündeten an seiner Seite zu haben, nicht mehr so schrecklich alleine zu sein. Endlich jemanden zu haben, mit dem er die große Last, die auf seinen Schultern liegt, würde teilen können. Aber dann hatte er den Abscheu und den Schreck in Noahs Miene gesehen, als er die junge, schwangere Frau erblickt hatte und später die Vergessenen in ihren Betten. Nein, der Junge ist wie die Anderen. Ein schwacher, weichherziger Idiot, der seine eigene Art lieber aussterben lässt, als sich die feinen Finger schmutzig zu machen. Eine Schande. Ein Verräter. „Alles läuft nach Plan.“

Ein zufriedenes, kaltes Lächeln huscht über Marks Lippen.

„Gut.“

Diese Mal wird es kein Entkommen für die beiden geben.

Kapitel 30

 

"Klaus lässt sofort einen der Jets startklar machen. In etwas mehr als zwei Stunden sollten sie hier sein“, verkündet Julian und steckt den Hörer des altmodischen Schnurtelefons zurück in die Halterung. Nun, da wir die Identität des Maulwurfs kennen, besteht kein Grund mehr, sich noch länger im Verborgenen zu halten. Die Existenz eines weiteren Verräters in der Familie hält Julian für unwahrscheinlich.

„Wie kannst du dir so sicher sein, dass er der Einzige ist?“, entfährt es mir, bevor er zu wählen beginnt. Eigentlich hatte ich mir ja fest vorgenommen, ihn nicht mehr nach jeder Kleinigkeit zu fragen, aber ich kann einfach nicht an mich halten.

„Ein Geheimnis bewahrt man am besten allein“, erklärt er mit kühler Logik. „Außerdem hast du selbst miterlebt, wie eng das Netzwerk unserer Familie gestrickt ist. So etwas wie Geheimnisse gibt es nicht, zumindest nicht im engeren Zirkel des Haupthauses.“

Finster erinnere ich mich daran, wie meine Trainingsfortschritte eines der Lieblingsthemen des Haushaltes gewesen waren, oder unser nicht vorhandenes Liebesleben. Oh ja, in diesem Haus kann man keinen falschen Schritt tun, ohne dass es am nächsten Tag alle Welt weiß!

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass sich die Anführer der Zwölf gegen uns verschworen haben!“, entfährt es mir verärgert. „Sie sind mit euch Oberhäuptern Seite an Seite aufgewachsen, kennen eure geheimsten Gedanken … Wie kann man so skrupellos und egoistisch sein? Und sich dann auch noch feige hinter einem wahnsinnig gewordenen Zauberer zu verstecken, um ihn die Drecksarbeit machen zu lassen, ist ja wohl wirklich das Letzte!“

„Deshalb mussten sie auch nicht fürchten, sich zu verdächtigen. Neben uns Oberhäuptern und deren Stellvertretern stehen sie an dritter Stelle in der Hierarchie – wer sollte es wagen, das Wort gegen sie zu erheben?“, stellt er bitter fest. „Außerdem sind Gespräche zwischen den Anführern der Zwölf nichts Besonderes. Eine perfekte Ausgangssituation.“

„Und wenn die neuen Oberhäupter geboren werden, gibt es auch neue Zwölf und die Bürde fällt endlich von ihnen ab – ein einfacher, aber genialer Plan.“

Schweigend setzt Julian sich neben mich auf das Sofa, legt den Arm um meine Schulter und streichelt mich beruhigend. Mein Blick hängt wie gebannt an dem nun schwarzen Bildschirm des Tablets, das arglos vor uns auf dem Tisch steht, völlig unberührt von den Schrecken, die es uns offenbart hat. Nach all diesen aufwühlenden Bildern wirkt das blanke Schwarz irgendwie auf eine absurde Weise tröstlich.

„Eigentlich … eigentlich sollten wir erleichtert sein, oder?“, sage ich nach einigen Minuten in die betrübte Stille, die sich über den Raum gesenkt hat. „Ich meine, es ist vorbei. Es ist alles aufgeklärt. Alles ist …“

Die Tränen und das Schluchzen brechen so plötzlich aus mir heraus, dass ich selbst überrascht bin.

Lass es ruhig raus. Lass alles raus, dringt Julians Stimme in meinen Kopf ein, klar, sanft, stark wie ein Fels in mitten eines tosenden Sturmes.

Ich sollte entführt werden, um als Zuchtstute für einen geisteskranken Magier herzuhalten, und es hätte nicht mehr viel gefehlt, damit dieser Plan auch von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Stattdessen werden jetzt hier irgendwo in unserer Nähe unschuldige, junge Mädchen gegen ihren Willen festgehalten und geschwängert, mit dem festen Vorsatz, sie nach getaner Arbeit von der Bildfläche verschwinden zu lassen – und das ist noch nicht einmal das Verstörendste all der abartigen Dinge, die ich soeben erfahren habe! Das Bild des Kellergewölbes, das in ein überdimensionales Krankenzimmer verwandelt worden war, wird mir wohl für immer ins Gedächtnis gebrannt bleiben. Dutzende reglose Körper, die Körper der anderen Vergessenen, angeschlossen an Schläuche, die man ihnen wie Fesseln in die Hand getrieben hat, um sie an ihre Betten zu binden, sie bewusst in einem Koma ähnlichen Zustand zu halten. Durch Magensonden und Beatmungsgeräte am Leben erhalten, nur um hilflos darauf zu warten, dass Lucian ihnen bald mit einem seiner schauerlichen Zauber Stück für Stück eben jenes Leben aus den Knochen saugt. Am beängstigenden war das Bild der beiden freien Betten im hinteren Teil des Gewölbes gewesen. Unsere Betten. Hätte ich in jener Nacht nicht diese Vision gehabt, wären Julian und ich jetzt auch dort bei den anderen, gefangen im eigenen Körper, um auf unsere Hinrichtung zu warten.

Wir werden sie da rausholen, sie alle, und die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuführen!, verspricht Julian mir. Niemand wird sterben, das werden wir nicht zulassen!

Evelin reicht mir ein Stofftaschentuch, wie man es früher benutzt hat.

„Hier Kleines.“

„D-d-danke“, schluchze ich.

Evelin schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

„Ist es wahr, was Noah erzählt hat? Dass du deine Kräfte gegeben hast, damit Hannah zu mir zurückfindet?“

Ich kann in seinen Gedanken lesen, dass Julian die Frage nicht primär aus Neugier gestellt hat, sondern vordergründig, um mich abzulenken. Zumindest ein Stück weit gelingt es ihm, denn dieses nette kleine Detail hatte ich bis eben schon wieder völlig vergessen. Stimmt, Noah hatte etwas in der Richtung erwähnt …

„Ja, ich habe einen solchen Zauber gewirkt“, gesteht Evelin.

„Moment Mal“, kommt es mir wie ein Geistesblitz. Meine Stimme klingt noch immer etwas verschnupft und kratzig vom Weinen. „Woher wusstest du, dass ich noch am Leben bin?“

„Sie wusste es nicht“, entgegnet Julian überzeugt, bevor Evelin auch nur die Chance hat, etwas zu erwidern. „Vermutlich sollte der Zauber ursprünglich einen anderen Zweck erfüllen …“, überlegt er laut.

„Julian hat recht“, pflichtet sie ihm bei. „Im Grunde sollte er eigentlich sogar das Gegenteil tun.“

„Das Gegenteil?“, hake ich verwirrt nach.

„Der Zauber sollte Julian helfen, mit deinem Tod abzuschließen und seinem Herz Frieden schenken“, führt sie weiter aus.

„Mit anderen Worten: Du wolltest ihn neu verkuppeln!“, durchschaue ich, worauf sie mit dieser beschönigenden Formulierung eigentlich hinauswill, und kann nicht verhindern, dass der Satz bissiger klingt, als beabsichtigt.

Ein befriedigtes, männliches Lachen hallt durch meinen Geist. Julian.

Ja, ich bin eifersüchtig – was dagegen?, schnauze ich ihn an.

Ganz und gar nicht.

Er küsst mich liebevoll auf den Scheitel.

Evelin erwidert nichts, ihr entschuldigender Gesichtsausdruck ist Antwort genug.

„Warum hast du den Zauber ausgerechnet vor einem Jahr gewirkt?“, will Julian wissen. „Immerhin wusstest du, dass es für dich weitreichende Konsequenzen haben würde.“

„Ich hatte kurz davor einen Schlaganfall“, erzählt sie, und ihrer Miene ist abzulesen, dass der Schrecken noch immer präsent für sie ist. „Ich hatte großes Glück und habe keine bleibenden Schäden davongetragen, aber mir wurde deutlich vor Augen geführt, dass ich nicht mehr die Jüngste bin. Trotzdem hatte ich noch immer nichts erreicht, was den Fluch betraf. Ich spielte schon längere Zeit mit dem Gedanken, zumindest auf diese Weise etwas Widergutmachung zu leisten, und nach besagtem Vorfall sah ich keinen Grund mehr, warum ich noch länger warten sollte. Ich wusste, mein Enkel würde es verstehen, auch wenn er natürlich nicht besonders glücklich über diese Entsch…“

Da springt Julian ohne Vorwarnung auf und bringt Evelin so zum Verstummen.

Was ist los?

Innerhalb der letzten Minuten haben ungewöhnlich viele Autos in unmittelbarer Nähe unserer Pension geparkt und unzählige Menschen haben sich auf das Haus zubewegt, es teilweise auch schon betreten. Gleichzeitig übermittelt er mir, was er gehört hat und momentan hört.

Was hat das zu bedeuten?

Nichts Gutes, fürchte ich …

Ugh …“, keucht er, als aus dem Nichts ein dünner Pfeil mitten in seiner Halsbeuge landet und ihn Sekunden später bereits in die Knie zwingt.

Ein Narkosepfeil. So hat man mich auch bei der Kao Corporation gefangen genommen. Meine Instinkte übernehmen die Kontrolle, und noch ehe ich rational die Entscheidung dazu hätte treffen können, wirft sich mein Körper blitzschnell auf den Boden, um sich aus der Schussbahn zu bringen.

Verbarrikadier dich … Bad …, bringt Julian gerade noch heraus, bevor er vollkommen in sich zusammensackt.

Alles in mir sträubt sich dagegen, ihn so zurückzulassen, aber würden sie auch mich betäuben, wäre niemandem geholfen. So gebe ich mir schweren Herzens einen Ruck, ziehe am Ärmel der völlig überrumpelten Evelin, die sich am Fuße ihres Sessels in Deckung gebracht hat, und bedeute ihr, mir ins Bad zu folgen. Eile ist geboten, denn ich kann bereits Schritte auf dem Flur vernehmen. Kaum, dass wir die Tür hinter uns verriegelt haben, höre ich sie schon ins Nachbarzimmer stürmen.

„Schafft ihn in einen Wagen und informiert den Magier. Die Frau kommt gleich nach.“

Diese Stimme. Ich kenne diese Stimme. Aber das ist nicht möglich! Nein, das kann unmöglich sein, völlig ausgeschlossen!

Jemand beginnt, sich am Schloss zu schaffen zu machen, und wenige Sekunden später sind auch wir den unbarmherzigen Blicken von Lucians Schergen ausgesetzt – allen voran dem von Klaus. Die pinkfarbene Flamingokrawatte, die er trägt, wirkt grotesk deplatziert um seinen Hals, ist der erste Gedanke, der mir bei seinem Anblick durch den Kopf schießt. Was ich einst für ein charmantes Faible von ihm gehalten habe, erscheint mir nun wie ein Symbol bitterbösen Hohns, der Schafspelz des Wolfes.

K-Klaus?! Aber … a-aber warum …?“, stammle ich hilflos, kann einfach nicht glauben, wen ich da vor mir sehe. Das ergibt doch keinen Sinn!

Während ich versuche, das Ganze irgendwie zu begreifen, hat er sich schon wieder unbeeindruckt von mir abgewandt, um dem Mann neben sich ein stummes Signal zum Zugriff zu geben. Dann geht alles Schlag auf Schlag: Eine Pistole wird gezogen und abgefeuert. Evelin, die bis eben noch neben mir gekauert hat, wirft sich in die Schussbahn, und ich kann nur wie angewurzelt dabei zusehen, wie ihr zierlicher Körper unter der Wucht des Pfeils erbebt, ehe er leblos gegen meine Brust sinkt. Ein entnervtes Stöhnen des Schützen, gefolgt vom erneuten Ansetzen der Pistole. Resignierend schließe ich die Augen und schlinge die Arme um Evelins reglosen Leib.

Bitte lieber Gott, ich will noch nicht sterben!, bete ich und warte gleichzeitig darauf, dass der nächste Schuss mich trifft.

Und warte.

Und warte.

Nichts passiert.

Da fällt mir auf, dass das Gewicht, das eben noch gegen meine Brust gedrückt hat, mit einem Mal verschwunden ist. Irritiert blinzle ich und stelle fest, dass ich mich inzwischen in einem anderen Bad befinde. Ich muss mich wohl intuitiv hierher teleportiert haben.

Als ich am Morgen, eingehüllt in den flauschigen Bademantel des Hotels, vom Duschen komme, reicht Julian mir einen handgeschriebenen Zettel.

Elm Grove Bed & Breakfast“, lese ich, was er da zu Papier gebracht hat.

„Präge dir die Adresse gut ein!“, ermahnt er mich ernst.

„Wozu?“

Erschöpft setzt er sich auf den Rand unseres Bettes, die Stirn von Sorgenfalten durchzogen.

„Eine Vorsichtsmaßnahme. Es hat noch nie geschadet, einen Plan B in der Hinterhand zu haben.“

Noch immer sehe ich ihn fragend an.

„Falls irgendetwas geschehen sollte und du dich in Sicherheit bringen musst, denke ganz fest an diesen Ort. Ich habe auch Evelin und Noah informiert.“

Gerne würde ich ihm widersprechen, würde ihm sagen, dass er paranoid ist und maßlos übertreibt, aber spätestens seit meiner Entführung weiß ich, dass wir erst dann wirklich in Sicherheit sein werden, wenn alles restlos aufgeklärt ist und Lucian von der Bildfläche verschwunden.

Ich seufze ergeben und setze mich auf Julians Schoß, der mich sofort fest in die Arme schließt.  

„Okay, ich präge es mir ein“, verspreche ich. „Auch wenn ich bezweifle, dass ich mich da überhaupt ohne dich hinbeamen könnte …“

Offensichtlich hatte ich allerdings genau das gerade getan.

 

 

Noah liegt auf seinem Bett und starrt geistesabwesend an die Decke des Hotelzimmers. Er hatte sich die mahnenden Worte seiner Großmutter zu Herzen genommen, hatte geglaubt, zumindest ansatzweise das Ausmaß dessen erahnen zu können, was ihn in Lucians Haus erwarten würde.

Wie er sich geirrt hatte.

Was er dort zu Gesicht bekommen hatte, hatte selbst seine kühnsten Vorstellungen übertroffen. Verderbtheit in ihrer reinsten Form. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so machtlos gefühlt. Zumindest wissen sie nun, wer der Maulwurf ist, und mit der Unterstützung von Julians Familie würden Lucians dunkle Machenschaften womöglich noch heute ein Ende finden. Für die Opfer seiner Taten würde das Leben dennoch nie wieder dasselbe sein. Diese schwangeren Mädchen in den kahlen Zimmern ...

Das Klingeln seines Handys reißt ihn aus seinen düsteren Gedanken. Ein kurzer Blick auf das Display verrät, dass es sich um eine unbekannte Nummer handelt. Noah setzt sich auf und wartet angespannt. Nach dem dritten Klingeln verstummt das Gerät. Sein Herz beginnt, vor Aufregung zu rasen, und er flucht unterdrückt. Als wäre dieser Tag nicht so schon schlimm genug gewesen!

Ehe er sich zu Lucian aufmacht, reicht ihm Großmutter einen Zettel, auf dem die Adresse eines Bed & Breackfast notiert ist.

„Sollte etwas passieren und wir müssen fliehen, treffen wir uns dort. Ich habe unter den Namen Mary und Benjamin Nolan ein Zimmer für die nächsten Tage reserviert. Wenn dein Handy dreimal klingelt weißt du, dass der Ernstfall eingetreten ist und sich bereits jemand von uns dort befindet“, setzt sie ihn ins Bild.

Er muss schnellstmöglich einen Weg hier rausfinden und zum Elm Grove. Er hegt keinen Zweifel daran, dass Lucian ihn beschatten lässt – weshalb er auch in einem anderen Hotel als Hannah und Julian abgestiegen ist. Eigentlich hatte er geplant, bis zu Lucians Festsetzung in diesem Zimmer auszuharren, doch unter den gegebenen Umständen bleibt ihm nur die Flucht. Während er fieberhaft überlegt, wie er sich unbemerkt aus dem Haus schleichen könnte, fällt ihm der Balkon des Nachbarhauses ins Auge, der nicht weit vom Fenster seines Zimmers entfernt ist, und ihm kommt eine Idee.

Noah schickt seine Sinne auf Wanderschaft und nimmt Kontakt zu den Seelen der Pflanzen auf, die sich im Haus und drum herum befinden. Freudig empfangen sie seinen Ruf und recken sich ihm entgegen.

Seid ihr alleine?, fragt er seine neuen Freunde.

Die Pflanzen übermitteln ihm den Eindruck von Ruhe. Es ist ihre Art, seine Frage zu bejahen.

Könnt ihr mir helfen, ins Haus zu gelangen?

Die Gewächse zögern angesichts dieser verdächtigen Bitte.

Ich würde euch nie ums so etwas bitten, wenn es nicht um Leben und Tod ginge!, versucht er, ihnen ihre Zweifel zu nehmen und seine Notlage deutlich zu machen. Ich will das Haus eurer Versorger nur als Fluchtweg nutzen. Ich will ihnen nichts Böses.

Obwohl die Pflanzen der Sache noch immer nicht ganz trauen, kommen sie schließlich doch seiner Bitte nach. Der Efeu, der sich um das Haus schlängelt, muss nur die Position einiger seiner Ranken verändern, um an das Schloss an der Balkontür zu kommen.

Ich danke euch!

Niemand ist zu Hause, wie die Pflanzen es gesagt haben. Bevor Noah hinaus auf die Straße tritt, zieht er sich die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht und hofft, dass er keinem der Spitzel ins Auge fällt. Tatsächlich würdigen ihn die vor dem Hotel stationierten Söldner keines Blickes, als er aus dem Haus kommt. Sie sind völlig auf das Hotel fixiert. So kann er sich einige Seitenstraßen weiter unbemerkt ein Taxi nehmen. Trotzdem bleibt er auf der Hut, entspannt sich erst als er vollkommen sicher ist, dass kein Auto ihm folgt. Aber die nächsten Sorgen folgen auf dem Fuß. Was ist bei den anderen geschehen?

Als er im Elm Grove ankommt, sitzt Hannah wie erstarrt auf dem Bett und hält noch immer den Hörer des alten Schnurtelefons umklammert, obwohl der Anruf schon eine gute halbe Stunde zurückliegt. Sie ist allein im Zimmer. Seine Anwesenheit bemerkt sie erst, als er behutsam vor ihr auf die Knie geht und eine Hand auf ihre legt.

„Was ist passiert, Hannah?“

„Es war eine Falle“, haucht sie.

Als sie ihren Blick schließlich hebt, um zu ihm aufzusehen, stellen sich ihm die Nackenhaare zu Berge. Hannah ist leichenblass, ihre Züge von Schock gezeichnet. „Sie haben uns mit Betäubungspfeilen beschossen, als wären wir Freiwild!“

Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

„Wir … Sie hatten keine Chance.“

Am Ende versagt ihr die Stimme. Noah setzt sich neben sie und nimmt sie tröstend in die Arme, wartet, bis sie sich wieder soweit gefangen hat, dass sie ihm in Gänze von dem Überfall erzählen kann.

Klaus?!“, wiederholt er entsetzt, als Hannah geendet hat, versucht zu begreifen, was sie ihm da gerade offenbart hat.

Frustriert fährt er sich durch die Haare.

„Was zum Teufel verspricht er sich davon?“

 

 

Der Nebel um seinen Geist lichtet sich nur langsam. Mühsam kämpft Julian sich zurück an die Oberfläche. Einen gewöhnlichen Menschen hätte diese Betäubungsmitteldosis vermutlich tagelang außer Gefecht gesetzt, aber sein Körper verarbeitet derlei Substanzen wesentlich schneller. Zu seiner Überraschung befindet er sich nicht in einem Bett, sondern in einem Heizraum an einen Stuhl gefesselt.

Julian, geht es dir gut?

Hannah. Offenbar hat sie ihre geistige Verbindung trotz seiner Bewusstlosigkeit aufrechterhalten. Doch ehe er ihr antworten kann, dringt von rechts eine vertraute Stimme an sein Ohr.

„Es tut mir leid, dass es so enden muss“, mimt Klaus den Mitfühlenden. „Eigentlich hättet ihr beide einfach friedlich einschlafen und nie wieder aufwachen sollen – aber nein, deine Hannah musste uns einen Strich durch die Rechnung machen!“

„Warum?“, stößt Julian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, legt all seine Verachtung in dieses eine Wort.

„Die Familie“, entgegnet Klaus schlicht und erwidert kühl seinen zornigen Blick. „Ich habe es für die Familie getan. Da ihr uns ohnehin bald verlassen werdet, will ich euch beiden ein kleines Geheimnis verraten.“

Es wundert Julian nicht, dass er das Wort ebenfalls an Hannah richtet. Klaus weiß, dass sie ihren Seelengefährten in so einer Situation niemals alleine lassen würde und ihr Gespräch durch seinen Geist mitverfolgt.

Klaus stellt sich vor ihn und sieht herausfordernd auf ihn herab.

„Es lag nie in unserem Interesse, den Fluch zu brechen. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall. Ewiger Reichtum für die ganze Familie zum Preis zweier verfluchter Kinder pro Generation – ein lohnenswertes Geschäft, findet ihr nicht?“

Ewiger Reichtum?

Es dauert einige Sekunden, bis Julian begreift, doch dann trifft es ihn wie ein Schlag. Er erinnert sich an die Worte, die die Hexe damals an seinen Urahn gerichtet hat.

Solange ihr mit der Gabe gesegnet seid, wird es euch und eurer Familie an nichts fehlen“, zitiert er geistesabwesend.

Klaus’ Lippen verziehen sich zu einem anerkennenden Lächeln.

„Du erinnerst dich.“

Wütend ballt Julian seine Hände zu Fäusten, als er das ganze traurige Ausmaß des Verrates begreift. Er versucht verzweifelt, sich von den Eisenfesseln zu lösen, mit denen man ihn an den Stuhl gekettet hat, doch sein Körper hat das Betäubungsmittel noch immer nicht vollständig abgebaut und ist zu einem solchen Kraftakt vorläufig nicht fähig.

„Du verdammter Mistkerl! Du warst für mich wie ein Vater, während du in mir immer nur einen Goldesel gesehen hast!“, schreit er wütend. „Du weißt es, nicht wahr? Du weißt, wie man den Fluch lösen kann! Du hast es schon immer gewusst, schon seit meiner Geburt!“

Sein Lächeln wird breiter.

„Oh, im Grunde ist es ganz simpel“, erklärt Klaus und beginnt, leichtfüßig vor ihm auf und ab zu flanieren.

Es ist kein Fluch, was euch geschenkt wurde, sondern eine Gabe. Erst in dem Moment in dem ihr das erkennt, werdet ihr frei sein“, zitiert er ebenfalls eine zentrale Kondition des Fluches. „Oder um es weniger kryptisch auszudrücken: Die verfluchten Herrscher sollten lernen, das Leben anderer wertzuschätzen, bis zu dem Punkt, dass es ihnen Freude bereitet, ihren Mitmenschen zu helfen. Dank der Visionen trat dies auch relativ schnell ein. Die Verfluchten fingen an, Empathie zu empfinden und den Fluch immer weniger als solchen wahrzunehmen. Bald begannen die Visionen, weniger zu werden – und mit ihnen schwächte sich zugleich die finanzielle und politische Sicherheit der Familie ab. Den stellvertretenden Familienoberhäuptern entging das natürlich nicht, und sie beschlossen, zu handeln. So kam es zu den ersten Selbstmorden unter den Verfluchten.“

Mit seinen Fingern setzt er das Wort in Anführungsstriche.

„Noch am selben Tag erblickte das erste verfluchte Kind das Licht der Welt. Nun musste das stellvertretende Familienoberhaupt nur noch dafür sorgen, dass das Kind sein Leben als Verfluchter so sehr verabscheute, dass es den Fluch niemals als etwas Gutes betrachten würde.“

„Und sobald ein Verfluchter begann, Zweifel zu hegen, ereilte ihn das gleiche Schicksal, wie seine Vorgänger“, schließt Julian abfällig. „Deshalb wolltet ihr auch die Hilfe der Magier nicht annehmen, sondern sie loswerden.“

„Ach, es war immer so leicht mit dir, Julian“, seufzt Klaus und tätschelt ihm provozierend den Kopf. „Der Hass deiner Mutter und Hannahs Verschwinden haben dich zur perfekten Marionette gemacht.“

Er lässt von ihm ab und setzt seinen Weg von der einen Seite des Raumes zur anderen fort.

„Als Hannah dann wieder auftauchte, wurde ich nervös, aber selbst sie, deine eigene Seelengefährtin, konnte dich nicht von deiner Verbitterung abbringen. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis du auch sie in so ein erbärmliches Etwas wie dich selbst verwandelt hättest – wären da nicht die anderen gewesen.“

Klaus stößt ein freudloses Lachen aus.

„Schon ironisch, dass du der einzige warst, den Hannahs Rückkehr nicht zum Nachdenken angeregt hat. Die anderen Verfluchten waren schlauer, haben angefangen, ihren Vertretern nach eurem Treffen unangenehme Fragen zu stellen. Aber glücklicherweise tauchte mit Hannah ebenso ihr ehemaliger Entführer wieder auf der Bildfläche auf, und dieses Mal ging er nicht so bedächtig vor, wie bei seinem ersten Entführungsversuch. Er war ungeduldig und wir kamen ihm auf die Schliche, ehe er seine Pläne in die Tat umsetzen konnte.“

„Aber anstatt ihn unschädlich zu machen, habt ihr diesen gestörten Mann zu eurem Komplizen gemacht, um ihn eure Drecksarbeit erledigen zu lassen“, rät Julian. „Ihr habt ihn den missglückten Anschlag in Afrika inszenieren lassen und so die Aktion mit den Rettungshubschraubern vorbereitet. Dadurch wart ihr fein raus aus der Sache und standet sogar noch als Helden da.“

Klaus zuckt nachlässig mit den Schultern.

„Was hatten wir für eine Wahl?“

„Warum habt ihr uns nicht einfach selbst getötet? Wolltet ihr euch die feinen Hände nicht schmutzig machen?“, höhnt Julian.

„In gewisser Weise ja“, gibt Klaus unumwunden zu. „Im Grunde ist es zwar ein offenes Geheimnis innerhalb der Familie, dass der Fluch bewusst am Leben erhalten wird, aber die meisten erleichtern ihr Gewissen, indem sie schlicht die Augen vor der Wahrheit verschließen. Sie reden sich so lange die offizielle Version des Ganzen ein, bis sie selbst daran glauben. Natürlich gibt es immer eine kleine Hand voll blauäugiger Idealisten, die es tatsächlich nicht besser wissen, wie unsere gute Elena und ihr Andre, aber die sind doch eher die Ausnahme. Verstehst du jetzt?“

Und ob er versteht. Klaus hatte Angst gehabt es könnte geschehen, was er bei ihm einst ganz bewusst provoziert hatte, als er ihn mit der Leiche einer jungen Frau in einen Kellerraum gesperrt hatte: Dass die Familienmitglieder, sobald sie derart direkt mit ihrem Verrat konfrontiert werden würden, nicht länger so bereitwillig darüber hinwegsehen würden. Zu Gunsten aller sollte weiterhin der schöne Schein erhalten und die Sache extern geregelt werden.

„Nun, da ich dir so bereitwillig auf deine Frage geantwortet habe, solltest du mir eine Frage beantworten: Wo ist Hannah?“

Julian stößt ein verächtliches Schnauben aus.

„Träum weiter!“

Über Klaus’ Züge legt sich ein dunkler Schatten.

„Falsche Antwort.“

Er wendet sich ab, um einen Rolltisch heranzuziehen, dem Julian bisher keine Beachtung geschenkt hat. Diverse Zangen, Scheren, Messer, Spritzen und andere spitze Gegenstände liegen sorgfältig darauf ausgebreitet, zusammen mit Desinfektionsmittel und einer Schachtel Handschuhen. Klaus entledigt sich seines Jacketts, krempelt die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellenbogen hoch und streift sich ein Paar Handschuhe über.

„Sieht ganz so aus, als müsste ich am Ende doch selbst Hand anlegen.“

Kapitel 31

 

Noah und ich sitzen in einem klapprigen Ford, den er am Rand eines Feldweges geparkt hat. Es ist bereits Abend, und so herrscht um uns herum undurchdringliche Finsternis, die nur durch ein kleines Licht oberhalb des Rückspiegels durchbrochen wird. Warum wir hier stehen, weiß ich nicht, aber ich kann weder die Kraft, noch das Interesse aufbringen, Noah danach zu fragen. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er mich überhaupt in dieses Auto bekommen hat. Das einzige, woran ich denken kann, ist, dass Julian in Lucians Haus gerade zu Tode gefoltert wird, und ich nichts dagegen unternehmen kann. Ich kann ihm lediglich seinen letzten Wunsch erfüllen und meinen Geist nicht länger mit seinem verschmelzen, obwohl es mir jede Sekunde aufs Neue das Herz bricht.

Wieder und wieder spule ich in Gedanke unser letztes Gespräch ab, versuche zu begreifen, dass es nun doch so enden soll, dass wir mit unserer Flucht letztlich das Unausweichliche nur hinausgezögert haben.

Hannah, du musst die geistige Verbindung zu mir endlich beenden!, fleht Julian erschöpft, während Klaus gerade sein Folterwerkzeug wechselt und ihm eine kurze Verschnaufpause gönnt. Zu Beginn seines Martyriums ist es ihm noch gelungen, mich gewaltsam aus seinem Kopf fernzuhalten, aber dazu ist er körperlich inzwischen zu geschwächt.

Vergiss es!, keuche ich.

Durch unsere mentale Verbindung kann ich all die Misshandlungen, die Klaus ihm zufügt, so deutlich spüren, als säße ich selbst auf diesem Stuhl. Genau das ist seine Absicht, denn er will mich zu sich locken, verspricht immer wieder, Julian augenblicklich zu erlösen, sollte ich mich stellen und zu ihm kommen. Mir ist also nur zu bewusst, dass ich unserem Feind gerade voll in die Hände spiele. Aber wie soll ich bitte die Kraft aufbringen, die andere Hälfte meiner Seele im Stich zu lassen, wenn sie mich am meisten braucht?

Ich lasse dich nicht alleine an diesem fürchterlichen Ort zurück!

Mein Schicksal ist besiegelt, damit müssen wir uns abfinden, aber deines nicht!, bleibt Julian hart. Bitte Hannah, diesen letzten Sieg darfst du ihnen nicht gönnen!

Hör auf, so etwas zu sagen! So etwas darfst du nicht einmal denken, verstanden? Wir finden schon einen Weg, dich da rauszuholen, euch alle da rauszuholen!

Inzwischen ist Klaus fertig und kommt wieder auf Julian zu, dieses Mal mit einer langen, spitzen Nadel in der Hand. Nie werde ich Julians qualvollen Schreie vergessen, deren Echo lautstark von den Wänden des kleinen Raumes widerhallen und in meinem Kopf mit meinen eigenen eine morbide Kakofonie des Schmerzes bilden.

Mühsam gelingt es ihm schließlich, zwischen zwei Schmerzstößen einen klaren Gedanken zu fassen.

Bitte Hannah … du musst … loslassen! Meine Seele könnte keinen Frieden finden, wenn … wenn ich dich mit mir in den Abgrund reißen würde – das könnte ich mir niemals … niemals verzeihen!

Obwohl ich es nicht wahrhaben will, kann ich deutlich fühlen, wie sein Geist und sein Körper zunehmend schwächer werden, ihn jedes einzelne Wort Kraft kostet, die er eigentlich nicht zu Verfügung hat. In mir macht sich die traurige Erkenntnis breit, dass ich am Ende keine andere Wahl habe, als die schwierigste Entscheidung meines Lebens erneut zu treffen.

Ich liebe dich, Julian!

Eine abgedroschene Phrase, aber die Wahrheit. Mehr bringe ich nicht heraus, ehe ich abrupt den Kontakt beende, bevor ich es mir anders überlegen kann.

Die Beifahrertür wird geöffnet und Noah schnallt mich ab. Er greift nach meiner Hand und ich lasse mich willig von ihm mitziehen. Unterschwellig nehme ich wahr, dass er die ganze Zeit über mit mir redet, aber ich blende die Bedeutung seiner Worte aus, bin noch immer viel zu sehr in Schock und Trauer gefangen, als dass ich irgendetwas anderes an mich heranlassen könnte. Das ändert sich allerdings, als mit einem Mal das ohrenbetäubende Geräusch mehrerer herannahender Hubschrauber an mein Ohr dringt, die nacheinander vor uns zur Landung ansetzen. Alle sind in dunklem, matten Grün gehalten, die Farbe des Militärs.

Mit einem lauten Ruck wird die Hintertür des uns am nächsten stehenden Hubschraubers geöffnet. Zum Vorschein kommt ein stämmiger, missmutig dreinblickender Mann mittleren Alters in Polizeiuniform, an seiner Seite eine hübsche ebenfalls uniformierte junge Frau mit blondem Pferdeschwanz. Die beiden wechseln ein paar Worte, dann kommen zwei weitere Gestalten aus dem Inneren der Maschine zum Vorschein: Andre und Elena. Zusammen mit der Blondine kommen sie direkt auf uns zu, ihr Kollege bleibt beim Hubschrauber zurück. Stirnrunzelnd sehe ich zu Noah auf.

„Unsere Verstärkung“, erklärt er. „Hörst du mir jetzt endlich zu, wenn ich dir sage, dass noch längst nicht alles verloren ist?“

Den Helikoptern ist inzwischen eine halbe Hundertschaft an Polizisten entstiegen, alle in voller Montur und bis an die Zähne bewaffnet.

Elena tritt an mich heran und nimmt mitfühlend meine Hände in ihre.

„Oh Hannah, es tut mir so schrecklich leid! Ich schwöre, wir haben es nicht gewusst!“

„Wir hätten etwas ahnen müssen! Bitte vergib uns!“, pflichtet Andre seiner Frau bei.

Natürlich gibt es immer eine kleine Hand voll blauäugiger Idealisten, die es tatsächlich nicht besser wissen, wie unsere gute Elena und ihr Andre, schleichen sich Klaus’ Worte wieder in mein Unterbewusstsein.

Anstatt etwas zu erwidern, falle ich Elena schluchzend um den Hals und gönne mir den Luxus, sie einfach eine geschlagene Minute fest zu umarmen.

„Jetzt wird alles gut!“, verspricht sie mir. „Alles wird gut!“

„Wie hast du das bloß geschafft?“, will ich von Noah wissen, als ich mich wieder von Elena gelöst habe.

„Ich habe mich nur mit Andre in Verbindung gesetzt – den Rest haben die beiden selbst in die Hand genommen“, erwidert er. „Du hast einmal gesagt er sei der einzige aus der Familie, dem du trauen würdest, also bin ich das Risiko eingegangen. Ich meine, schlimmer hätte es ja kaum kommen können, oder? Eine Stunde später hat er mich dann zurückgerufen und mich über das hier“ – er macht eine ausschweifende Bewegung mit seinem rechten Arm – „in Kenntnis gesetzt.“

Andre hebt abwehrend die Hände.

„Ich fürchte, auch wir müssen die Lorbeeren weiterreichen.“

Er wirft der hübschen uniformierten Frau einen vielsagenden Blick zu.

„Ich bin Isabella“, stellt sich die Blondine vor und streckt mir ihre Hand entgegen. Der Name kommt mir vage bekannt vor, doch ich kann ihn nicht sofort zuordnen. Es dauert einen Moment, dann macht es bei mir Klick. Elena hatte mir einmal hinter vorgehaltener Hand von Julians Ex erzählt. Diese Erkenntnis muss sie meinem Blick angesehen haben, denn Isabella schiebt lächelnd hinterher: „Die Isabella.“

„Isabellas Onkel ist der Rektor einer renommierten Polizeiakademie in Frankreich“, setzt Andre mich ins Bild.

„Und im Gegensatz zu mir nicht mit Julians Familie verwandt“, fügt Isabella hinzu. „Er hat für mich seine Verbindungen zum Scotland Yard spielen lassen, und die haben mit Freuden ein paar Männer zur Verfügung gestellt, als sie gehört haben, dass es um die verschwundenen Prostituierten geht.“

Inzwischen hat sich auch der missmutig dreinblickende Polizist von vorhin zu uns gesellt. Seine Uniform weist ihn als Officer Andrew Miller aus.

„Das Scotland Yard hat schließlich einen Ruf zu verlieren!“, brummt er. „Die Medien sitzen uns schon seit Monaten im Nacken und fallen darüber her, dass diese ganzen Prostituierten-Fälle nicht aufgeklärt werden konnten. Ich kann es kaum erwarten, diese Aasgeier endlich zum Schweigen zu bringen!“ An Isabella gewandt fügt er hinzu: „Ich gehe mit den Männern ein letztes Mal den Plan durch, ehe sich alle auf die Autos verteilen. Ihr könnt uns dann wie besprochen im letzten Wagen folgen.“

Er nickt zum Abschied in die Runde, dann wendet er sich seinen Leuten zu. Erst da fällt mir auf, dass sich um unseren kleinen Ford inzwischen dutzende schwarze Kleintransporter gescharrt haben, die sich bereits mit Polizisten füllen.    

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder Isabella zuwende, sieht sie mir fest in die Augen.

„Im Gegensatz zu Lucian und seinen Angestellten können wir zwar Klaus und die verfluchten Familien nicht hinter Gitter bringen, aber ihre kaltherzige Selbstsucht findet heute ein Ende“, schwört sie feierlich. Ihre Stimme bebt vor unterdrücktem Zorn und mir wird klar, dass sie vermutlich Ähnliches durchgemacht hat, wie Julian. Während ich meine Kindheit in Freiheit genießen konnte, hatte man sie gezwungen, meinen Platz an seiner Seite einzunehmen. Im Klartext heißt das, vor meiner Rückkehr hatte sie kein Leben. „Die Familien werden sich nie wieder an einem vergessenen Kind bereichern. Dieser unselige Fluch nimmt heute Nacht sein Ende!“

Ein Fünkchen Hoffnung keimt in mir auf und ich erlaube mir für den Bruchteil einer Sekunde zu träumen, dass sich letztlich doch alles zum Guten wenden wird. Doch dann klopft die Realität an und erinnert mich daran, dass unser Gegner niemand geringeres als das gesamte Netzwerk der vergessenen Familien ist.

„Bist du dir sicher, dass all diese Männer und Frauen wirklich auf unserer Seite stehen?“

Sollte sich dieser Polizeiaufmarsch nur als weitere Falle herausstellen, würde ich das im wahrsten Sinne des Wortes nicht überleben.

„So wie du Andre und Elena vertraut hast, vertraue ich meinem Onkel“, antwortet Isabella schlicht, ehe sie Officer Miller zu den Autos folgt. Als sie an mir vorbeiläuft, verharrt sie kurz im Schritt.

„Niemand weiß besser als ich, welche weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Kontakte Klaus und die anderen stellvertretenden Oberhäupter pflegen, aber ihr Einfluss hat dennoch Grenzen. Sie regieren nicht mehr die Welt, Hannah, obwohl einem das so vorkommt, wenn man unter ihrem Dach wohnt“, schiebt sie eindringlich hinterher.

Ich verstehe, was sie mir damit sagen will: Unser Gegner ist stark, aber lange nicht unbesiegbar. Isabella strahlt ein solches Selbstbewusstsein aus, dass es schwer ist, sich davon nicht zumindest ein klein wenig anstecken zu lassen. Kann ich tatsächlich noch auf ein Happy End hoffen?

 

 

Die Fahrt zu Lucians Anwesen kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, obwohl wir Dank Polizeisirenen ein bedenkliches Tempo an den Tag legen. Was, wenn wir am Ende doch zu spät kommen? Wenn Klaus aus Frust doch einen Schritt zu weit geht und Julian …

Eine Hand legt sich beruhigend auf meine Schulter.

„Julian ist einer der stärksten Menschen, die ich kenne. Wenn es einer schafft, heil da wieder rauszukommen, dann er!“, spricht Elena mir Mut zu.

Der Drang, Verbindung zu Julian aufzunehmen, ist überwältigend, aber ich habe ihm ein Versprechen gegeben. Hinzu kommt ein weitaus egoistischeres Motiv: Angst. Angst, seinen Geist aufzusuchen, nur um festzustellen, dass meinem Ruf eine Antwort verweigert wird. Dass es niemanden mehr gibt, mit dem ich mich verbinden könnte.

Bitte Julian, du musst durchhalten! Ich komme!

Noch schlimmer als die Fahrt ist das Warten im Auto, während die Einsatzkräfte das Haus stürmen. Jede Sekunde verstreicht mit quälender Langsamkeit. Das Kribbeln meiner Nervenenden ist unerträglich, und hätten Noah und Isabella mich nicht wiederholt mit Gewalt zurückgehalten, wäre ich den Polizisten längst hinterher gestürmt.

„Du wärst ihnen nur ihm weg, Hannah!“, versucht Isabella, mich zur Vernunft zu bringen. „Glaub mir, diese Männer wissen genau, was sie tun! Außerdem haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite!“

„Was, wenn sie längst wissen, dass du uns zu Hilfe geeilt bist? Wenn sie das Haus längst verlassen haben? Wenn …“

Hannah“, unterbricht Isabella mich streng. „Selbst, wenn Klaus von meiner Anwesenheit Wind bekommen hat, glaubst du wirklich er würde mir zutrauen, in so kurzer Zeit ein solches Polizeiaufgebot auf die Beine zu stellen? Selbst ich kann kaum fassen, dass mein Onkel das geschafft hat!“

„Bitte, ich muss zu ihm, ich muss …“

In diesem Moment kommt Officer Miller flankiert von zwei Kollegen aus dem Eingangstor, um den inzwischen eingetroffenen Notärzten mitzuteilen, dass sie ihre Arbeit aufnehmen können. Nun gibt es für mich kein Halten mehr. Ich springe regelrecht aus dem Wagen und renne an den drei Männern vorbei. Nur am Rande nehme ich wahr, wie immer mehr Mitarbeiter von Lucians Haushalt in Handschellen abgeführt werden und sogar schon das erste hochschwangere Mädchen, eingehüllt in eine Decke und gestützt von zwei Polizisten, über die Türschwelle zurück in die Freiheit entlassen wird. Ich fühle instinktiv, welchen Weg ich zum Keller einschlagen muss und welcher Gang dort zu dem Heizraum führt, in dem Julian gefangen gehalten wird. Und dann sehe ich ihn auf dem Boden liegen.

Julian.

Ein Polizist hat seine Jacke ausgebreitet und Julians leblose von Wunden übersäte Gestalt darauf gebettet. Ich stürzte an seine Seite und falle vor ihm auf die Knie, lege sanft eine Hand an seine blutverschmierte Wange und kämpfe mit den Tränen.

Oh Gott, bitte nicht!

Seine Haut fühlt sich schrecklich kalt an.

Verlass mich nicht, Julian! Du musst kämpfen, bleib bei mir! Kämpfe und komm zu mir zurück!

„Sein Puls ist schwach, aber vorhanden“, lässt der Polizist sich vernehmen.

Zuerst denke ich, er redet mit mir, aber dann sehe ich, dass drei Sanitäter mir gefolgt sind. Zögerlich mache ich ihnen Platz und sehe zu, wie sie Julian versorgen.

Hann… ah?

Leise und gebrechlich hallt der Name durch meinen Geist, und doch habe ich nie in meinem Leben etwas so Schönes gehört. Mein Herz macht vor Erleichterung einen solchen Satz, dass es weh tut.

Ich bin hier, Julian! Ich bin hier!

Zum Beweis nehme ich seine inzwischen mit einer Infusion versehenen Hand in meine.

Ruh dich aus, du bist jetzt in Sicherheit!

Kapitel 32

 

Julian liegt friedlich im Bett und schläft, erholt sich von den Strapazen der letzten Tage. Glücklich betrachte ich seine tiefenentspannten Gesichtszüge, kann noch immer kaum glauben, dass er hier bei mir ist, dass er lebt und unsere Flucht endlich ein Ende gefunden hat. Die Ruhe tut ihm sichtlich gut. Innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden sind beinahe sämtliche Wunden auf seinem Körper verblasst. Nur hier und da ist eine kleine, mit Schorf überzogene Stelle übrig, die von einer besonders tiefen Verletzung herrührt, und sein linkes Bein ist gebrochen und steckt in einem Gips, aber das sind Kleinigkeiten. Als schließlich seine Lider flattern und er verschlafen zu mir aufblickt, begrüße ich ihn mit dem breitesten Lächeln, dass meine Lippen zu Stande bringen. Erneut sammeln sich Tränen in meinen Augen, diesmal vor Glück. Ich hebe unsere verschränkten Hände an meinen Mund und drücke einen zärtlichen Kuss auf seinen Handrücken.

„Hallo“, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.

Er lächelt ebenfalls.

„Hallo.“

Ehe ich ihn davon abhalten kann, setzt er sich auf und zieht mich in seine Arme. Ergeben kuschle ich mich an seine Brust.

„Du hast mich gerettet“, haucht er ehrfurchtsvoll in mein Ohr. „Du hast uns alle gerettet.“

Betreten sehe ich zu ihm auf und schüttle den Kopf.

„Ich wünschte, ich wäre so stark gewesen. Ich wünschte, ich hätte wie du einen kühlen Kopf bewahren und einen genialen Rettungsplan ausarbeiten können, aber ich habe es gerade mal geschafft, Noah zu kontaktieren. Ich war vollkommen außer mir und nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Wären Noah, Andre, Elena und Isabella nicht gewesen …“

Nackte Furcht schnürt mir die Kehle zu, hindert mich am Weitersprechen.

„Hättest du dich in jener Nacht nicht Klaus’ Befehlen widersetzt und wärst mit mir geflohen, wäre das unser Todesurteil gewesen“, widerspricht er mir. In seinen eisblauen Augen leuchtet unverhohlener Stolz und Liebe. „Nur dank dir konnten wir überhaupt so weit kommen.“

Plötzlich spannt sich sein Körper an, als er das Zimmer näher in Augenschein nimmt, in dem wir uns befinden.

„Warum sind wir hier?“

Mit hier meint er eine der kleineren Immobilien in unmittelbarer Nähe des Haupthauses. Auf dieses Anwesen hatte er mich gebracht, nachdem wir auf der Neckarwiese ineinander gerannt waren. Seine Angst ist berechtigt. Da Lucian seinen morbiden Plan nicht in die Tat umsetzen und Klaus sich wie erwartet mit Hilfe seiner Kontakte unbehelligt aus der Affäre ziehen konnte, trachten er und seine Leute uns nun selbst offen nach dem Leben. Immerhin ist der Fluch weiterhin ungebrochen – und dabei wollen sie es belassen.

„Keine Sorge. Isabella hat veranlasst, dass das Anwesen rund um die Uhr bewacht wird“, nehme ich gleich seine vermutlich größte Sorge vorweg. Tatsächlich entspannt er sich sofort ein wenig. „Ich weiß, du hast oft in diesem Haus übernachtet, wenn du einmal etwas Abstand gebraucht hast, also dachte ich, es wäre vorübergehend eine gute Lösung. Ins Haupthaus können wir ja kaum zurück, und irgendwo müssen wir nun einmal wohnen. Eine neue Bleibe findet sich eben nicht innerhalb von Stunden, vor allem jetzt, da …“

Ich halte kurz inne, um betrübt die Augen nieder zu schlagen.

„… da wir nicht mehr die Familie im Rücken haben.“

Selbst mich, die ich nur ein paar Monate bei diesen Menschen verbracht habe, schmerzt der ungeheuerliche Verrat, den Julians Familie an uns verübt hat, wie muss
es ihm da erst gehen? Kann man das Ausmaß eines solchen Verrates überhaupt je begreifen, je verarbeiten?

„Höre ich da das Wort Familie? Das ist unser Stichwort!“

Schelmisch grinsend steckt Andre den Kopf ins Zimmer, gefolgt von Elena, die ihren Mann finster anfunkelnd, bevor sie uns einen entschuldigenden Blick zuwirft.

„Gönn den beiden doch noch ein paar Minuten!“, rügt sie ihn und versucht verzweifelt, ihn aus der Tür zu drängen, was bei dem Größenunterschied der beiden ein lustiges Bild abgibt.

„Kommt ruhig rein“, bittet Julian und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es erleichtert mich zu sehen, dass er trotz allem, was er gestern durchmachen und erfahren musste, bereits wieder Lächeln kann.

Andre steckt seiner Frau die Zunge raus und nimmt beschwingt auf einem Stuhl neben dem Bett Platz. Die verdreht genervt die Augen, tut es ihm dann aber gleich.

„Wie fühlst du dich?“, will Andre von Julian wissen.

„Ausgeschlafen“, gibt der trocken zurück, als sei er sich nicht sicher, ob das nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, was Andre ein schallendes Lachen entlockt.

„An das Gefühl wirst du dich jetzt wohl gewöhnen müssen, Kumpel.“

„Was ist mit den anderen passiert?“, fragt Julian in die Runde. Sofort wird Andre wieder ernst.

„Boris und seine Frau haben das Koma nicht überlebt“, übernehme ich es, die Hiobsbotschaften zu überbringen. Die beiden waren mit beinahe sechzig Jahren die ältesten im Bunde der Vergessenen gewesen. „Bei Zola wurde der Beatmungsschlauch nicht sachgerecht gelegt und ihr Gehirn hat starke Schäden davongetragen. Sie wird ihr Leben lang ein Pflegefall sein.“

Bei dem bloßen Gedanken daran, dasselbe hätte ebenso Julian passieren können, wird mir ganz anders.

„Xiao Ming hat während des Komas ein Schlaganfall erlitten, aber die Ärzte sind zuversichtlich, dass er bei entsprechender Therapie gute Chancen hat, irgendwann wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Rest hat das Koma bis auf ein paar kleine Kreislaufprobleme beachtlich gut weggesteckt. Wären sie normale Menschen gewesen, wären vermutlich weitaus weniger so glimpflich davongekommen.“

Ich nehme einen tiefen Atemzug, ehe ich ihm den letzten Verlust gestehe, den wir beklagen müssen.

„Außerdem haben wir Evelin verloren. Der Betäubungspfeil, der ursprünglich für mich gedacht war, hat … er hat sie mitten ins Herz getroffen. Sie war sofort tot.“

Julian drückt meine Hand, eine stumme Geste der Verbundenheit.

„Noah wird nach England zurückreisen, sobald sie bestattet ist“, fahre ich fort, als ich mich wieder etwas gefangen habe.

„Es gibt nichts mehr, was mich jetzt hier hält, außer bitteren Erinnerungen“, hatte er gemeint, als er am Morgen gekommen war, um sich von mir zu verabschieden. „Ich habe das Unrecht meiner Ahnen gesühnt, mehr kann ich nicht für euch tun.“

Es hatte kein Unmut in seiner Stimme mitgeschwungen und ich wusste, dass er uns keine Vorwürfe für sein Unglück machte, doch ebenso wusste ich instinktiv, dass dies ein Abschied für immer sein würde.  

„Sind die anderen Paare auch hier?“

Ich schüttle den Kopf.

„Isabella hat sie mit sich nach Frankreich genommen. In der Akademie sind sie vorerst am sichersten aufgehoben und können sich erst einmal in Ruhe erholen.“

Julian nickt anerkennend.

„Das ist gut.“

Unwillkürlich kralle ich meine Finger feste in das Bettlacken.

„Obwohl wir mit Hilfe eines IT-Fachmannes vom Scotland Yard mehrere Videos von Bodycams der Polizisten an sämtliche Haupthäuser und alle dort erreichbaren internetfähigen Geräte übermittelt haben, hat sich der Großteil der Familienmitglieder auf die Seite von Klaus und den anderen Stellvertretern geschlagen“, bestätige ich, was Julian gewiss bereits vermutet hat, die Worte rau vor Enttäuschung und Wut. Nie werde ich das Telefonat vergessen, das ich wenige Stunden zuvor mit Klaus geführt habe. Anfangs hat er doch tatsächlich den Schneid besessen, mich zu bitten, zusammen mit Julian ins Haupthaus zurückzukehren, was einem Selbstmord gleichkäme.

„Ihr habt das Unvermeidbare schon viel zu lange hinausgezögert, und wohin hat es euch gebracht? Wollt ihr euch euer ganzes Leben lang in diesem Haus verschanzen? Früher oder später werden eure Wachen einen Fehler machen, dann ist euer Leben ohnehin verwirkt!“, erwidert er schamlos auf meine höfliche Absage.

„Wir werden hier ausharren, so lange es nötig ist. Sobald der Fluch aufgelöst ist, sind wir frei – und wir beide wissen, dass das nur noch eine Frage der Zeit ist!“

Ein frustriertes Seufzen dringt durch den Hörer.

„Julian und du seht in mir ein Monster, und ich verstehe das, glaub mir. Aber wenn ihr einmal objektiv das größere Ganze betrachtet, könnt ihr nicht bestreiten, dass der Fluch am Ende weit mehr Vorteile mit sich bringt, als Nachteile“, lässt Klaus nicht locker. „Die Vergessenen haben im Laufe der Jahrhunderte tausende Schicksale zum Guten beeinflusst. Tausende. Es ist ein harter Job, das kann ich nicht bestreiten, doch dafür lebt ihr privilegiert, wie kaum jemand sonst …“

„… und mit uns unsere Verwandten, die im Gegensatz zu uns dafür keinen Finger krumm machen müssen!“, fahre ich aufgebracht dazwischen. Will er mich gerade wirklich davon überzeugen, seine grausamen Taten gutzuheißen? „Mal ganz davon abgesehen, dass man sich der Vergessenen entledigt, sobald sie anfangen, unangenehme Fragen zu stellen, und dass ihr nicht einmal davor zurückschreckt, so einen geisteskranken Irren wie Lucian zu unterstützen, nur um euer Lügengebilde aufrechtzuerhalten. Ein Lügengebilde, das ihr aufgebaut habt, weil ihr tief in euch drin genau wisst, wie falsch das alles ist!“

„Es ist ein Unterschied ob man etwas verschweigt, weil man um dessen Ungerechtigkeit weiß, oder ob man es tut, weil es nun einmal ein notwendiges Übel ist und man seinen Liebsten nicht unnötig das Herz schwermachen möchte“, widerspricht Klaus.

„Lässt es dich nachts besser schlafen, wenn du dir diesen Unsinn einredest?“

Klaus lacht, und der Hohn darin ist kaum zu überhören.

„Ich fürchte, mit diesem Urteil stehst du ziemlich alleine da. Eure nette kleine Videoaktion ist nämlich nach hinten losgegangen. Eigentlich müsste ich euch sogar dafür danken. Ich muss zugeben selbst ich habe nicht damit gerechnet, dass sich kaum Protest regt, nachdem die Karten nun offen auf dem Tisch liegen. Im Gegenteil: Viele haben mir sogar ihren Zuspruch ausgesprochen. Und weißt du, wie viele öffentlich meine Absetzung gefordert haben? Eine Person. Eine einzige. Die Familie steht geschlossen hinter mir. Begreifst du jetzt endlich, dass ihr auf verlorenem Posten kämpft?“

„Wie können sie noch hinter ihnen stehen, nachdem sie gesehen haben, zu was für Grausamkeiten sie fähig sind, und was es wirklich mit dem ,Fluch‘ auf sich hat?“

Julian zuckt nachlässig die Schultern, als würde ihn all das völlig kalt lassen.

„Derart anschaulich vor Augen geführt zu bekommen, dass ihr Glück auf dem Leid anderer aufgebaut ist, war sicher ein Schock für viele. Es ist nur menschlich, dass sie diese Schuld nun abzuwälzen versuchen, indem sie sich wie Klaus einreden, der Fluch habe mehr Vor- als Nachteile und für das große Ganze müssten eben Opfer gebracht werden“, überlegt er laut und meiner Ansicht nach viel zu gefasst.

„Macht dich das denn kein bisschen traurig oder wütend? Wir reden hier schließlich über deine Familie?“, stoße ich aufgebracht hervor. Ich jedenfalls würde am liebsten jeden einzelnen dieser sogenannten Verwandten auf der Stelle windelweich prügeln, wenn ich es könnte!

„Ich war mein Leben lang traurig und wütend.“ Eine nüchterne Feststellung. „Ich bin es leid, Hannah. Ich bin es so unendlich leid.“

Liebevoll legt Julian eine Hand auf meine geballten Fäuste, die unter seiner Berührung sofort ihre Anspannung verlieren.

„Ich habe dadurch nicht nur unbewusst den Fluch am Leben erhalten, sondern auch die Person von mir gestoßen und zutiefst verletzt, die mir auf dieser Welt am meisten bedeutet. Es hat lange gedauert, aber nun habe ich begriffen, dass Trauer und Wut immer nur mehr Trauer und Wut hervorbringen, wenn wir uns nicht irgendwann bewusst dazu entscheiden, einen anderen Weg einzuschlagen.“

Seine Hand wandert zu meiner Wange, legt sich warm und stark auf meine Haut.

„Von heute an werde ich nicht mehr zurückschauen, sondern nur noch nach vorne. Ich nehme mein Leben jetzt selbst in die Hand. Wirst du mir dabei helfen, Hannah?“

Was für eine Frage!

„Nichts würde ich lieber tun!“

Langsam nähern sich seinen Lippen den meinen, doch ehe wir diesen Pakt mit einem Kuss besiegeln können, ertönt neben uns ein vernehmliches Räuspern. Erschrocken fahre ich herum.

„Wir … wir gehen dann mal noch ein paar Sachen regeln. Wir haben uns ja jetzt vergewissert, dass es Julian gut geht“, verabschiedet Andre sich hastig, sichtlich bemüht, seine Miene neutral zu halten.

Peinlich berührt schießt mir die Röte in die Wangen. Ich habe völlig vergessen, dass wir nicht alleine im Zimmer sind!

„Bitte, lasst euch nicht aufhalten – wir sind schon weg!“

Rasch zieht er Elena hinter sich her aus dem Zimmer, die ebenfalls alle Mühe hat, ihre Züge unter Kontrolle zu halten.

„So wie das gerade aussah, brauchen wir uns die nächsten Stunden hier nicht mehr blicken zu lassen“, flüstert Andre seiner Frau belustigt zu, sobald sie aus der Tür sind.

„Schhht!“, schimpft Elena ihn. „Die beiden können uns noch hören!“

„Ups, ganz vergessen: übernatürliches Gehör …“

„Du bist einfach unmöglich!“

Hey Frau Markov, hier spielt die Musik!, lenkt Julian meine Aufmerksamkeit zurück auf sich, indem er die Worte bewusst direkt an meinen Geist sendet. Sofort verblasst das Gespräch auf dem Flur und alle meine Sinne konzentrieren sich auf meinen Seelengefährten.

Ich mag es, wenn du auf diese Art mit mir sprichst, gestehe ich. Schade, dass wir diese Fähigkeit bald verlieren werden, jetzt, wo ich mich gerade daran gewöhnt habe.

Zärtlich streicht er mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr.

Dann sollten wir uns an dieser Gabe erfreuen, solange es noch möglich ist.

In seinen eisblauen Augen glitzert Verlangen. Der Anblick sendet augenblicklich ein angenehmes Kribbeln in meinen Schoß. Erneut beugt Julian sich zu mir vor, um mich zu küssen, und als seine warmen, weichen Lippen die meinen berühren, stöhne ich verzückt auf.

Du hast einen Gips und deine Wunden … Ich will dich nicht verletzen, gelingt es mir wie durch ein Wunder, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Körper allerdings hat längst auf Autopilot geschaltet, drängt sich voller Lust an ihn. Meine Hände tasten begierig nach seiner harten Brust und seinem weichen Haar. Dieser erotischen Erkundungstour wird jedoch jäh ein Ende gesetzt, als Julian mit beiden Händen mein Gesicht umrahmt und mich so zwingt, in meinen Bewegungen inne zu halten.

Mach dir keine Sorgen. Es geht mit gut!

Er schenkt mir ein anrüchiges Lächeln, das mir beinahe den Atem raubt.

Nur bei dem Gips müssen wir etwas kreativ werden, fürchte ich …

 

Eine Stunde später liegen wir eng umschlungen in Julians Krankenbett und unsere Kleidung achtlos auf dem Boden verteilt. Ausgelaugt und glücklich genießen wir einfach nur die Nähe des anderen.

„Was willst du machen, wenn der Fluch gebrochen ist?“, will ich schließlich von Julian wissen.

„Hm … Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, gesteht er.

Überrascht drehe ich mich auf den Bauch und stütze mich auf die Ellenbogen.

„Hast du dir nie vorgestellt was wäre, wenn du frei wärst?“

Julian schüttelt betrübt den Kopf.

„Wozu auf etwas hoffen, von dem ich niemals auch nur zu träumen gewagt hätte, dass es je wahr werden könnte? Mein Schicksal zu akzeptieren war der einzige Weg für mich, jeden neuen Tag zu überstehen, ohne wahnsinnig zu werden.“

Gedankenverloren sieht er an mir vorbei aus dem Fenster. Warum sieht er plötzlich so traurig aus?

„Darf ich ehrlich zu dir sein?“

„Immer.“

„Bei dem Gedanken daran, dass der Fluch bald gebrochen ist, verspüre ich mehr Angst als Freude.“

Dieses Bekenntnis erstaunt mich. Ist es nicht das, was er immer gewollt hat?

„Warum?“

„Wenn ich kein Vergessener mehr bin …“, er unterbricht sich, um mir direkt in die Augen zu sehen. „… Wer bin ich dann?“

Ich wurde mein Leben lang darauf vorbereitet, in andere Rollen zu schlüpfen, hatte er einmal zu mir gesagt. Aber einfach nur Julian zu sein, hatte er nie gelernt, dämmert es mir.

„Du hast den Rest deines Lebens Zeit, das herauszufinden“, erwidere ich leichthin und schenke ihm ein verschmitztes Lächeln. „Es wird bestimmt lustig mit anzusehen, wie du dich ausprobierst. Ich kann es schon vor mir sehen: Julian als Bauarbeiter. Julian als Friseur. Julian als Kindergärtner … Und deine Kleidung kannst du dir jetzt auch selbst aussuchen: Hippie, Goth, Gangster, ... “

Gegen seinen Willen heben sich seine Mundwinkel ein wenig.

„Du willst also einen Hippie-Bauarbeiter, ja?“

„Unbedingt!“, stimme ich kichernd zu.

Doch viel zu schnell wird seine Miene wieder ernst, was auch mir sofort einen Dämpfer verpasst.

„Was, wenn du feststellst, dass der neue Julian nicht zu dir passt?“

Aha, daher weht also der Wind! Er hat Angst, was aus uns wird, wenn der Fluch uns nicht länger aneinanderbindet.

„Das wird nicht passieren!“, gebe ich vollkommen überzeugt zurück.

Begreift er denn nicht, dass wir längst über diesen Punkt hinaus sind? Ich würde nicht einmal auf die Idee kommen, mir auch nur für eine Sekunde vorzustellen, wie mein Leben ohne Julian aussehen würde – und das hat rein Garnichts mit dieser Seelenpartnersache zwischen uns zu tun! Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen, haben längst ein Band zwischen uns geknüpft, das weitaus stärker ist, als jede Magie dieser Welt es je zu sein vermag: Liebe.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Weil ich dich liebe“, spreche ich aus, was für mich inzwischen so selbstverständlich geworden ist.

Ich lege meine Hand auf sein Herz.

„Das, was tief da drin ist, was den Kern deines Wesens ausmacht, wird sich nicht ändern, auch wenn du kein Vergessener mehr bist: Du bist unglaublich selbstlos, wahnsinnig klug, humorvoll und fast schon frustrierend ehrgeizig und charmant. Ich fühle mich bei dir sicher und du gibst mir das Gefühl, unendlich geliebt zu werden – was könnte ich mir mehr wünschen?“

Einen endlos wirkenden Moment sieht er mich an, als hätte ich eine andere Sprache gesprochen und er kein Wort verstanden. Dann, ganz langsam, weicht die Besorgnis aus seinen Zügen und macht Entschlossenheit Platz.

„Es gibt da doch eine Sache, die ich gerne tun würde, sobald wir von dem Fluch befreit sind.“

Julian legt seine Hand auf meine und drückt sie fester auf sein Herz.

„Ich will mich noch einmal zu dir bekennen, und dieses Mal will ich es aus freien Stücken tun, nicht, weil wir Seelegefährten sind und die Tradition es von uns fordert. Dieses Mal will ich es allein deshalb tun, weil ich dich liebe. Lass uns heiraten, Hannah.“

Seine eisblauen Augen strahlen hoffnungsvoll zu mir auf, verheißen mir eine Zukunft voll Wärme und Geborgenheit, voll Freude und Lachen an der Seite eines unglaublichen Mannes.

„Das klingt doch schon mal nach einem guten Anfang!“, nehme ich seinen Antrag breit grinsend an.

Epilog

 5 Monate später

 

 

Aufmerksam beobachtet Julian das hektische Treiben der Sicherheitsleute unten im Hof, die gerade die letzten Vorkehrungen für ihren bevorstehenden Ausflug treffen.

„Wollt ihr es euch nicht doch noch einmal überlegen? Bisher gab es jedes Mal Verletzte! Was, wenn es dieses Mal einen von euch trifft und die Bodyguards es nicht schaffen, rechtzeitig das Schlimmste zu verhindern?“

Er spürt die sanfte Hand seiner Mutter auf seinem Arm. Sorgenvoll sieht sie zu ihm auf. Beruhigend nimmt er ihre Hand in seine.

„Wir haben jedes Mal aus unseren Fehlern gelernt und sind bestens vorbereitet. Alles wird gut, vertrau mir!“

Die Augen seiner Mutter füllen sich mit Tränen. Tröstend schließt er sie in die Arme.

„Versprich mir, dass du heil wieder zu mir zurückkommst!“, schluchzt sie. „Wir haben doch noch so viel nachzuholen …“

„… und das werden wir, du hast mein Wort darauf!“

Er gibt ihr einige Minuten, um sich wieder etwas zu beruhigen, ehe er sie aus seiner Umarmung entlässt. In diesem Moment betritt sein Vater das Zimmer und gesellt sich zu den beiden.

„Die Autos sind startklar und Hannah ist gleich so weit“, lässt er seinen Sohn wissen. Auf seiner Stirn zeichnen sich deutlich Sorgenfalten ab.

Julian nickt ihm dankbar zu.

„Es fällt auch mir nicht leicht, ihn gehen zu lassen, Liebes!“, fährt er an seine Frau gewandt fort. Liebevoll legt er einen Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich, während er mit der freien Hand ihre Tränen wegwischt. „Aber er und Hannah haben zum letzten Mal vor vier Wochen das Haus verlassen – da würde jedem die Decke auf den Kopf fallen! Gönn ihnen etwas Zeit zum Luftholen.“

Beim Anblick seiner besorgten Eltern schleicht sich trotz der angespannten Situation ein zaghaftes Lächeln auf seine Lippen. Er kann noch immer kaum fassen, dass sie nun tatsächlich ein Teil seines Lebens sind, dass dieser selige Wunsch, den er seit seiner Geburt hegte, am Ende doch Erfüllung gefunden hat. Wenige Tage nach ihrem Einzug in dieses Haus waren die beiden plötzlich auf der Türschwelle aufgetaucht, um ihn auf Knien um Vergebung zu bitten. Die Worte seiner Mutter klingen ihm noch so deutlich in den Ohren, als sei es erst gestern gewesen.

„Ein Kind sollte nie ohne die Liebe seiner Mutter aufwachsen müssen. Es tut mir so unendlich leid, was ich dir all die Jahre angetan habe! Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen …“, hatte sie traurig gestanden. „Ich war selbstsüchtig und habe meine Verzweiflung über den Fluch an dir ausgelassen, an meinem unschuldigen Kind, anstatt dich vor dem zu beschützen, der eigentlich für unser Unglück verantwortlich ist. Ich werde mir das niemals vergeben, und ich bin auch nicht so vermessen, dich um Vergebung zu bitten. Ich will nur, dass du weißt, dass dein Vater und ich auf deiner Seite stehen. Klaus und die Familie dürfen nicht länger mit ihrem falschen Spiel davonkommen!“

Beide hatten immer wieder beteuert, dass sie nichts von den dunklen Machenschaften der stellvertretenden Oberhäupter gewusst hatten, ehe ihnen das Polizeivideo über die Razzia in Lucians Haus zugespielt worden war, und er hatte ihnen geglaubt.

Julian gibt seiner Mutter einen ehrfurchtsvollen Kuss auf die Stirn.

„Ich komme wieder!“, schwört er feierlich.

Im Foyer wartet Hannah bereits auf ihn. Sobald sie ihn erspäht, hellen sich ihre Züge auf und sie eilt ihm entgegen.

„Sind die nicht super cool geworden?“

Sie zupft zufrieden die weinrote, wollene Mütze zurecht, die sie über ihren Kopf gezogen hat, ehe sie ihm das gleiche Model in einem warmen Braun hinhält, gepaart mit einem dazu passenden Schaal.

„Hier sind deine.“

Was auf den ersten Blick wie gewöhnliche Winteraccessoires aussieht, ist in Wahrheit modernstes militärisches Spezialequipment, dass einen tödlichen Kopf- oder Halsschuss verhindern soll. Zudem tragen beide unter ihren Wintermänteln schutzsichere Westen und die Scheiben ihres Wagens sind aus Panzerglas.

Julian ergreift Hannahs Hand und die Bodyguards nehmen ihre Positionen ein. Obwohl das Auto nur wenige Meter von der Eingangstür entfernt in der Auffahrt parkt, können sie sich keine Sekunde der Unachtsamkeit erlauben. Sobald sie das Haus verlassen, sind sie ein gefundenes Fressen für all die Killer, die seine Familie auf sie angesetzt hat. Keiner ihrer Ausflüge war bisher ohne diverse Bombenanschläge, Schüsse und bewusst verursachte Verkehrsunfälle ausgekommen – und ohne Verletzte. Glücklicherweise hatte es bisher keine Todesfälle gegeben, wobei einer ihrer in Mitleidenschaft gezogenen Personenschützer momentan im Koma liegt und seine Zukunft noch ungewiss ist.

Ihre Verwandten täten allerdings besser daran, ihre Zeit und ihr Geld in ihr auseinanderfallendes Firmenimperium zu stecken, anstatt weiterhin verzweifelt zu versuchen, Hannah und ihn umzubringen. Denn in demselben Maße, in dem ihre Visionen und Kräfte in den letzten Monaten beträchtlich nachgelassen hatten, waren auch mehr und mehr die bisher so erfolgsverwöhnten Geschäfte seiner Familie ins Stagnieren geraten. Deals platzten oder kamen erst gar nicht zu Stande, Kundenzahlen gingen zurück, Skandale innerhalb der Firmen gelangten an die Öffentlichkeit, an vielen Stellen herrschten finanzielle Engpässe – kurzum: es wird mehr und mehr ersichtlich, wie viel der Fluch und wie wenig seine Verwandten selbst bisher zum Wohlstand der Familie beigetragen hatten.

„Stimmt etwas nicht? Du bist so still …“

Seit sie losgefahren waren, hatten Hannah und er noch kein einziges Wort miteinander gewechselt. Das sieht seiner Frau gar nicht ähnlich.

„Ich bin einfach aufgeregt, das ist alles“, gesteht sie. „Obwohl es ja eigentlich nicht mehr viel schlimmer kommen kann, als beim letzten Mal, oder?“

Julian greift nach ihrer Hand und drückt sie zärtlich.

„Ich bin bei dir.“

Als Antwort erhält er ein dankbares Lächeln.

Die Fahrt dauert nicht lange und verläuft ohne größere Zwischenfälle.

„Lass uns reingehen!“

Hannah nickt nervös.

Hand in Hand betreten sie die kleine Konditorei. Seine Schwiegermutter ist gerade dabei, im hinteren Teil des Ladens, der als Café fungiert, Kunden zu bedienen.

„Ich bin sofort bei Ihnen!“, ruft sie, sobald sie die Glocke an der Tür läuten hört.

Eine Minute später kommt sie aus der Backstube hinter die Theke geeilt.

„Was kann ich für …?“, begrüßt Heike sie, hält dann jedoch mitten im Satz inne. Verwundert sieht sie Hannah und ihn an, runzelnd fragend die Stirn, als denke sie angestrengt über etwas nach … und plötzlich hellt sich ihre Miene merklich auf.

„Oh, wie schön, dass Sie uns noch einmal besuchen kommen! Es freut mich zu sehen, dass es ihrer Frau wieder bessergeht!“

Fassungslos hält Hannah sich die Hand vor den Mund, ihre Augen füllen sich mit Tränen.

„Sie … Sie können sich an uns erinnern?“, stottert Julian überrascht.

Seine Schwiegermutter lacht.

„Aber natürlich! Ein Pärchen wie Sie vergisst man nicht so leicht!“

Nachwort

 

Es hat lange gedauert, aber nun haben Hannah und Julian endlich ihr Happy End gefunden. Ich hoffe, ihr hattet eine ebenso schöne Zeit mit den beiden, wie ich sie hatte :) Danke, dass ihr diesem Buch eine Chance gegeben habt!

Da ich so lange an dieser Geschichte gearbeitet habe, fände ich es äußert schade, sie würde einfach in der Schublade verschwinden. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, das Buch mit Hilfe eines Selfpublisher-Verlages zu veröffentlichen. Der Roman ist absofort als E-book oder Book on Demand im Handel erhältlich. Der Text wird dennoch weiter kostenlos auf Bookrix zur Verfügung stehen, also keine Sorge! (Allerdings sind die Kapitel hier nicht aktualisiert, wie im überarbeiteten "Endprodukt"). Ich habe schon immer davon geträumt, mein Buch einmal in gedruckter Form vor mir zu haben, und diesen Wunsch habe ich mir damit erfüllt :D

Wenn ihr einige Minuten erübrigen könnt, würde ich mich über einen Kommentar auf Amazon oder Lovelybooks sehr freuen - und konstruktive Kritik ist immer willkommen!

 

Liebe Grüße,

Maron

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

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