Verträumt schaute ich aus dem Fenster. Der Himmel war überseht von dunklen, unheilvollen Wolkenmassen. Es würde bald ein Unwetter geben.
Das schrille Klingeln der Schulglocke riss mich aus meinen Gedanken. Der Lehrer sagte noch etwas, um die Stunde abzuschließen, aber ich nahm es nur als ein verschwommenes Hintergrundgeräusch wahr. Schweigend folgte ich den anderen Schülern nach draußen.
Da stand sie und wartete auf mich.
Dann waren die anderen plötzlich verschwunden und hatten das Getümmel und die Gespräche mit sich genommen. Jetzt waren nur noch wir beide übrig auf dem großen, menschenleeren Pausenhof.
Seit meine Eltern diesen fürchterlichen Streit gehabt hatten, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Dad holte mich jetzt immer von der Schule ab. Ob er wusste, dass sie jetzt hier war? Die Beiden hatten sich sonst nie gestritten. Ich hatte mich oben am Treppenabsatz zusammengekauert und den ganzen Streit mit angehört. Als ob ich bei so einem Lärm hätte schlafen können … Ich hatte Mom noch nie so erlebt. Sie war eigentlich einer dieser Menschen, die nie richtig wütend sein konnten.
Aber irgendetwas hatte sie verändert.
Sie hatte sich schon einige Tage zuvor so merkwürdig verhalten. Sie schaute sich ständig um, war nervös und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen. Ihr sonst so fröhliches Gesicht bekam Sorgenfalten, und in ihren Augen lag eine seltsame Trauer. Ihre liebevollen, mütterlichen Züge wandelten sich zu einer Maske aus Angst und einer merkwürdigen Distanziertheit. Sie war mir fremd geworden.
Ich sehe die Zwei immer noch vor mir, wie sie sich im Wohnzimmer gegenüberstehen, Mom mit einem Koffer in der Hand.
Und dann verließ sie uns.
Wochenlang hatte sie nichts von sich hören lassen. Was wollte sie jetzt hier? Langsam ging ich auf sie zu, unsere Blicke trafen sich. Auch wenn ihre Gesichtszüge nun wieder etwas weicher geworden waren, wirkten sie immer noch verhalten. Behutsam nahm sie meinen Kopf zwischen ihre Hände und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
„Es ist alles ok!“, versprach sie mit betont ruhiger Stimme.
Sie schob mich, ohne ein weiteres Wort, in ihren Wagen, neben dem sie auf mich gewartet hatte. Ich war dankbar für ihr Schweigen, denn im Moment wäre ich ohnehin nicht in der Lage gewesen, ein Gespräch zu führen. Da war plötzlich dieses ungute Gefühl, das sich schmerzhaft in meiner Magengegend breitgemachte hatte und mir die Kehle zuschnürte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
In der nächsten Sekunde standen wir vor einem alten, verlassenen Fabrikgebäude. Eine bedrückende Kälte ging von diesem Ort aus, und die anderen verfallenen Gebäude, die sich um uns herum türmten, verstärkten dieses Gefühl nur noch. Mom hielt meine kleine, zittrige Hand und führte mich in die dunklen Hallen. Sie lief schnell, und ich hatte Mühe, mit meinen kurzen Beinen hinterherzukommen. Immer tiefer liefen wir hinein. Wie weit konnte ich nicht sagen. Ich hatte den Blick auf meine Füße geheftet und versuchte, so gut wie möglich das flaue Gefühl in meinem Magen unter Kontrolle zu halten.
Nach einiger Zeit blieben wir abrupt stehen, der Griff um meine Hand verstärkte sich. Ich sah vorsichtig auf und ließ meinen Blick über die ungewohnte Umgebung schweifen. Wir standen inmitten einer riesigen Lagerhalle. Die großen Fenster, die die Wände säumten, waren vergilbt und an vielen Stellen porös. Das wenige Licht, das hindurch fiel, reichte gerade so, um den Innenraum einigermaßen in Augenschein nehmen zu können. Alles hier wirkte kalt und leblos und war von einer gigantischen Decke Schmutz und Staub überzogen. An den Wänden standen zahllose abgenutzte Gerätschaften. Einige verrostete Treppen führten in eine Art zweites Stockwerk, das nur aus Gängen von durchsichtigen Bodengittern bestand. Mom kniete sich zu mir herunter und umfasste auch meine andere Hand.
„Ich weiß, dass du schreckliche Angst hast, aber du musst jetzt ganz tapfer sein, ja?“ Sie sah mir flehend in die Augen, und in ihren Zügen war deutlich ihre Verzweiflung zu lesen. „Es tut mir so schrecklich leid, dass du das alles durchmachen musst, aber bitte glaub mir, ich wollte dir und deinem Vater nie etwas Böses. Ich hab euch beide unglaublich lieb, und ich würde nie zulassen, dass euch etwas geschieht …“
Ihre letzten Worte waren nur noch ein ersticktes Flüstern. Sie legte behutsam ihre Arme um mich, so, wie sie es früher immer getan hatte, wenn ich traurig gewesen war. Es war immer ein Zeichen von Trost gewesen. Ich hatte mich mit einem mal geborgen und sicher gefühlt, ich hatte gewusst, dass alles wieder gut werden würde.
Aber dieses Mal würde nichts wieder gut werden.
Sie richtete sich auf und führte mich in eine Art Nebenkammer, die durch eine eiserne Schiebewand von der Haupthalle abgetrennt war. Erneut beugte sie sich zu mir herunter.
„Egal was jetzt geschieht, egal was du jetzt hörst oder siehst,
versuche, nicht zu schreien, und bleib hier. Solange du hier bleibst, wird dir nichts geschehen, okay? Versprich es mir, Emma!“, appellierte sie eindringlich an mich.
Und dann, noch ehe ich antworten konnte, umarmte sie mich
ein letztes Mal.
„Bitte, versprich es mir!“
Mit leiser, zitternde Stimme antwortete ich: „Ich verspreche es dir, Mummy! Ich hab dich lieb!“
Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten und erwiderte ihre Umarmung.
„Sei schön brav, und pass gut auf deinen Vater auf, ja?“
Widerwillig löste sie sich von mir. Sie drückte mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn, streichelte meine Wange und sagte: „Ich hab dich auch lieb, Emma. Sehr, sehr lieb.“
Dann ließ sie endgültig von mir ab. Wie angewurzelt stand ich in der stickigen Kammer. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch ein letztes Mal zu mir umund schenkte mir ein schwaches Lächeln, das im Gegensatz den feuchten Rinnsalen unter ihren Augen stand, bevor sie sorgfältig die eiserne Schiebetür verschloss. Am liebsten hätte ich ihr nachgeschrien, aber ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Ich würde sie nie wieder sehen.
Zitternd fiel ich auf den kalten Boden und kroch in eine nahe liegende Ecke zwischen zwei alte Regale. Ich schlang meine Arme um die Knie und spielte Moms Worte immer und immer wieder vor mir ab. Die Angst und Nervosität in ihrer Stimme waren unüberhörbar gewesen und hatten nicht gerade zur Besserung meiner ohnehin angespannten Stimmung beigetragen. Ich verharrte in dieser Position, bis Mom anfing, mit jemandem zu sprechen. Seltsam … Ich hatte niemanden kommen hören. Es war kaum möglich, sich in diesen Hallen lautlos fortzubewegen. Jeder meiner Schritte war vorhin mit einem lauten Echo an den riesigen Wänden widergehallt.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um kein Wort zu verpassen, das mir vielleicht alles erklären könnte.
„… bringen wir es hinter uns!“, sagte Mom tonlos.
Anstelle einer Antwort durchbrach ein schauriges Lachen die Stille. Es war ein gefühlloses, Unheil verkündendes Lachen, ohne jegliche Wärme oder Emotion, unmenschlich. Mir fuhr ein Schauer den Rücken hinunter. So etwas hatte ich noch nie gehört. Dann begann die Stimme zu sprechen.
„So ein dummes Ding. Hast du wirklich geglaubt, du könntest der Dunkelheit entfliehen?“
Wieder dieses Lachen.
„Natürlich spart uns das Zeit, obwohl wir beide gut genug wissen, dass das keine Rolle spielt, nicht wahr?“ Jetzt klang ein kleiner Anflug ehrlicher Enttäuschung in der Stimme mit. „Hach, ich hätte zu gern deinen Mann und deine süße kleine Tochter näher kennen gelernt, aber zu meinem Bedauern konnten wir sie nicht rechtzeitig ausfindig machen, um sie an unserer kleinen Party teilhaben zu lassen. Ein bisschen hast du wohl doch aus deinen alten Tagen behalten, zu schade … Aber es gibt ja noch so viele andere Möglichkeiten!“
Wieder dieses Lachen.
Die Enttäuschung in der Stimme verschwand und machte einer drohenden Aufregung Platz.
„Du wirst für das bezahlen, was du und deine Sippe meinem Clan angetan haben!“
Auch wenn nichts von dem für mich eine Sinn ergab, stand eines außer Frage: Er würde Mom wehtun. Er würde sie schrecklich leiden lassen. Auch wenn mein Gehirn sich geweigert hatte, die Worte zu erfassen, ihre Bedeutung hatte sich wie Säure in meinen Schädel gebrannt.
Ohne, dass ich es ihm befohlen hätte, hatte sich mein Körper langsam in Richtung Schiebetür gezogen. Etwas links war ein winziger Spalt in der Wand, gerade groß genug, um hindurch zu sehen, den ich vorher in der Aufregung nicht bemerkt hatte. Ich kniete mich davor auf den Boden, mein Oberkörper aufgerichtet, meine Hände zitternd an die kühlen Steinen gepresst.
Als erstes sah ich Mom. Sie stand ein paar Meter von der kleinen Kammer entfernt inmitten der Halle, ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Aber ich betrachtete sie nicht lange. Ich hatte die Quelle der unheimlichen Stimme entdeckt, oder glaubte es zumindest. Es war ein Mann, der ihr etwas schräg gegenüberstand. Er war ein wenig größer als meine Mutter, ziemlich gut gebaut und trug einen schwarzen, eleganten Mantel, der ihm bis zu den Knien ging und eine moderne Sonnenbrille, die wie für sein Gesicht gemacht schien. Auf den ersten, flüchtigen Blick wirkte er ganz normal, sogar ziemlich hübsch. Er schien etwas älter zu sein als Mom, ich vermutete so um die Ende dreißig. Sein Gesichtsausdruck wirkte gelassen, als würde er ein Gespräch mit einem Bekannten führen oder etwas Ähnliches. Eigentlich deutete nichts an ihm auf Gefahr hin – und doch war sie spürbar.
Ich glaubte, in den Schatten der Geräte noch andere Gestalten in Umhängen auszumachen, aber ich konnte mich auch getäuscht haben.
Ich betrachtete den Mann genauer, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Seine Haut war viel bleicher als gewöhnlich, er hatte einen etwas zu steifen Stand, was ihn gestellt aussehen ließ, und wenn man seine Mimik länger betrachtete, erkannte man die verborgene Drohung, die darin lag. Der Fremde hob blitzschnell die Hand und zog sich die Brille von den Augen, milchig roten, blassen, unheilvollen Augen. Ich konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, und sofort schnellte sein Kopf in meine Richtung. Sein Blick durchbohrte mich, als schien die steinerne Wand zwischen uns gar nicht zu existieren. Ich war unfähig, mich davon zu lösen, als hätte er mich in seinen Bann gezogen.
Sein Gesicht verzog sich fast quälend langsam zu einer hässlichen, dämonischen Fratze. Seine unnatürlich spitzen Eckzähne verlängerten sich, bis sie unter den Lippen hervorschauten, und sein Lächeln wirkte merkwürdig aufgesetzt und hysterisch. Unter seinen Augen bildeten sich graue, herausstechende Linien, wie Venen, die sich aus seiner Haut zu drücken versuchten, und auch seine Haltung hatte sich verändert. Von Gelassenheit war nichts mehr zu spüren. Er war voller Tatendrang.
„Ich glaube, über den Nachtisch brauche ich mir doch keine Sorgen mehr zu machen!“
Plötzlich ging alles ganz schnell.
Im einen Moment hatte er noch mich angesehen, im nächsten schon wieder Mom – er drehte seinen Kopf so schnell, dass ich die Bewegung nur verschwommen wahrnehmen konnte. Sie hatte ein Feuerzeug auf ihn gerichtet.
„Du wirst ihr nichts tun. Du wirst nie wieder jemandem etwas tun“, sagte sie mit ruhiger, abgeklärter Stimme.
Noch bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte sie das Feuerzeug entzündet und fallen gelassen. In derselben Sekunde, in der das Metall klappernd auf dem Beton aufkam, begannen überall auf dem Boden und den Wänden seltsame, verschnörkelte Linien aufzuleuchten, die die gesamte Halle in ihr gleißendes Licht tauchten. Das Feuer jagte in rasender Geschwindigkeit an den Linien entlang und in kürzester Zeit stand alles in Flammen.
Wieder ertönte das Lachen.
„Schach Matt. Ich habe dich wohl unterschätzt! Aber das nützt
dir auch nicht viel, Kleine! Du wirst mit uns sterben, die Hölle erwartet uns bereits!“
Ein letztes Mal das Lachen, wahnsinniger als je zuvor. Diesem Irren schien es nicht das Geringste auszumachen, dass er gleich den Löffel abgeben würde, im Gegenteil. Es war fast so, als … freue er sich auf beängstigende Weise geradezu darauf.
Das Feuer breitete sich immer schneller aus. Ich konnte meinen Blick nicht davon abwenden, konnte mich nicht bewegen. Ich sah nur noch die wütenden Flammen, die alles verschlangen, was ihnen in die Quere kam. Schließlich begannen sie, an dem Mann und an Mom zu reißen. Ihre Schmerzensschreie gingen in denen der dunklen Gestalten hinter den Geräten unter, die inzwischen panisch aus ihren Verstecken hervorgekrochen waren und vergebens einen Fluchtweg suchten. Die Schreie fuhren mir durch Mark und Bein, brannten sich in mein Gehirn. Es war die Symphonie des Todes.
Schlagartig zuckte ein höllischer Schmerz durch meinen Schädel, raubte mir kurzzeitig den Atem und breitete sich in Wellen über meinem ganzen Körper aus, bis auch ich in Flammen zu stehen schien. Bilder schossen durch meinen Kopf, fremde, traurige, unheimliche, entsetzliche Bilder, Erinnerungen von anderen, Erinnerungen der Schattenwesen. Ja, es mussten ihre Erinnerungen sein. Ich fühlte, wie sich mein Geist seinen Weg in ihre Köpfe bahnte, sich mit ihnen verband, um darin zu lesen. Ich wollte das nicht, wollte es aufhalten, doch je mehr ich mich dagegenstemmte, desto intensiver wurden die Bilder.
Menschen, die unter Todesangst um ihr Leben flehen.
Noch mehr Wesen mit blassen, roten Augen.
Dunkle Straßen und Gassen und Häuser.
Und Blut … da war so viel Blut.
Leid, Wut, Trauer … Schmerz.
Ich spürte all diese Gefühle so intensiv, als seien es meine eigenen, besonders den Schmerz, weil es das war, was auch sie jetzt fühlten. Gerade als ich glaubte, es nicht länger aushalten zu können, verschwand der Schmerz so jäh, wie er gekommen war, als sei er nie dagewesen.
Als ich halbwegs realisiert hatte, was da gerade mit mir geschehen war, zog ich mich wankend wieder auf die Beine und rüttelte wie in Trance an der Tür.
„Mom! Mom!“
Eigentlich wollte ich es herausschreien, aber am Ende kam nicht mehr als ein heißeres Krächzen über meine Lippen, und die Tür bewege sich keinen Millimeter. Auch sie musste diese fürchterlichen Qualen erleiden, die ich eben am eigenen Leibe erfahren hatte. Sie wurde vor meinen Augen lebendig verbrannt – und ich konnte nichts tun, um sie zu retten. Ich konnte einfach nur hier stehen und hilflos dabei zusehen.
Es kümmerte mich in dem Moment nicht, warum meine Kammer von den Flammen verschont blieb. Ich wünschte, sie würden kommen. Ich wünschte, sie würden auch mich verschlingen. Ich wollte mit dieser Erinnerung nicht weiterleben müssen, wollte das alles vergessen, wollte an nichts mehr denken, aber immer und immer wieder blitzten die Bilder der letzten Minuten vor mir auf wie eine Diashow des Grauens.
Flammen, Schreie, zerberstendes Metall.
Flammen, Schreie, zerberstendes Metall.
Irgendwie schaffte ich es, mich zurück zu der Lücke zwischen den Regalen zu bugsieren, wo ich kraftlos zu Boden sank. Die Tränen, die über meine Wangen liefen, waren zu einem unaufhaltsamen Sturzbach angeschwollen und ließen alles um mich herum zu einem undurchsichtigen Grau verschwimmen. Erneut schlang ich meine Arme um die Knie. Ich hörte, wie die Schreie immer leiser und qualvoller wurden, bis schließlich nur noch das Zischen der Flammen übrig blieb, die langsam und verderblich an der Halle nagten.
Dann wurde alles dunkel und ich war allein.
Ruckartig fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Keuchend und schweißgebadet saß ich kerzengerade in meinem Bett. Der Albtraum war wieder da.
Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen und warf einen flüchtigen Blick auf den Wecker. Es war mitten in der Nacht. Ich drehte mich auf den Rücken und schaute auf die nackte Decke meines kleinen Zimmers.
Irgendwie ironisch, dass ich ausgerechnet heute diesen Traum hatte. Ich musste an die alte Bauernregel denken, dass das, was man in der ersten Nacht in seinem neuen Zuhause träumt, wahr wird. Aber in diesem Fall war das unmöglich, denn es war bereits geschehen. Oder zumindest musste es so ähnlich abgelaufen sein. Ich war damals erst fünf gewesen und dieser Traum war alles, was ich vom Tod meiner Mutter noch wusste. An Einzelheiten konnte ich mich danach nie so genau erinnern, alles wurde vage und verschwommen. Nur kurze Momente blitzten noch auf wie der abgehackte Nachhall eines Echos: die Schreie, dunkle Gestalten, Flammen … Gespräche oder Gesichter verschwanden in dem Augenblick, in dem der Traum endete.
Fakt war, dass ich in dieser Kammer war, und als mich die Polizei fand, war alles um mich herum verbrannt und Mom tot. Man fand keine anderen Leichen und keine Spur eines Täters. Meiner wahnwitzigen Aussage von irgendwelchen dunklen Kreaturen hatte natürlich niemand Beachtung geschenkt, und wer weiß ob das, was ich damals gesehen hatte, nicht doch nur Ausgeburten meiner Angst gewesen waren.
Mit der Zeit lernte ich, die Geschehnisse jenes Tages zu verdrängen, die Dinge, die ich gesehen hatte, unerklärliche Dinge, in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses abzuschieben. Nur dieser immer wiederkehrende Albtraum erinnerte mich noch ab und zu daran, an die schlimmsten Stunden meines Lebens.
Vielleicht stimmte es ja tatsächlich, was alle sagten, und ich hatte damals wirklich ein Trauma davongetragen. Es hatte immerhin drei Jahre gedauert, bis mein Leben wieder einigermaßen in geregelten Bahnen verlaufen war. Dad und ich waren nach dem tragischen Unfall, wie es die Polizei nannte, von Seattle nach New York, seiner Geburtsstadt, gezogen. Ich brach sämtliche Kontakte zu meinen Schulfreunden ab, ließ mein altes Leben hinter mir, soweit es mir möglich war. Nur diese irrationale Angst vor der Dunkelheit wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Manchmal, wenn ich an einer Seitengasse oder einem dunklen Ort vorbeikam, oder wenn ich abends oder früh morgens unterwegs war, überkam mich das gleiche, seltsame Gefühl wie in der Halle. Als lauerte etwas in den Schatten. Etwas Böses.
Ich rollte mich seufzend auf die Seite und kuschelte mich tiefer in meine flauschigen Decken. Oh man, schlimmer hätte die erste Nacht hier kaum laufen können.
Bitte lass das kein schlechtes Omen für die Zukunft sein!
„So, da wären wir. Tut mir Leid, dass ich dich nicht abholen kann, aber ich vermute, das Training wird wohl wieder etwas länger dauern“, entschuldigte sich Logan, nachdem er mich vor der Einkaufsmeile abgesetzt hatte. Es war unser mittlerweile dritter Samstag hier in Seattle und somit höchste Zeit, meine noch fehlenden Bücher für das College zu besorgen.
„Mit der Bahn zurück zu fahren wird mich schon nicht umbringen“, erwiderte ich. „Danke fürs herbringen. Ich weiß ja, dass du am Wochenende immer im Stress bist.“
„Kein Problem. Für dich immer gern, meine Lieblingsmitbewohnerin“, säuselte er, während ich meine Augen verdrehte.
„Pass gut auf dich auf, bei solchen Großstädten weiß man ja nie.“ Er seufzte. „Du hättest lieber mit Naomi herkommen sollen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dich alleine hier durch die Gegend wandern zu lassen“, gestand er besorgt.
„Ich bin kein kleines Baby mehr, ich kann schon auf mich selbst aufpassen“, erinnerte ich ihn leicht angesäuert. „Und du benimm dich nicht wie mein überfürsorglicher Vater, die Rolle hat Naomi dir bereits vor der Nase weggeschnappt. Sie hat darauf bestanden, dass ich ein Pfefferspray und ein Taschenmesser einstecke.“
Ich zog demonstrativ die kleine, schwarze Sprühdose und das rote, zusammengeklappte Messer aus meiner Tasche und hielt sie ihm genervt vor die Nase. Wieso glaubte jeder bloß immer, mich beschützen zu müssen?
„Sei einfach vorsichtig, ja?“ bat er hoffnungsvoll, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.
„Ich bin vorsichtig!“ antwortete ich gereizt. Logan zog lauthals den Atem ein und musterte mich skeptisch, verbiss sich jedoch ein weiteres Kommentar.
„Na gut, dann bis heute Abend“, verabschiedete er sich widerwillig. „Mach dir einen schönen Tag!“
Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, kurbelte die Scheibe nach oben, winkte mir noch ein letztes Mal und bog schließlich um die nächste Ecke.
Als meine Beine langsam schwer wurden und es gegen Nachmittag zuging beschloss ich, mich wieder auf den Rückweg zu machen. Ich hatte alle Bücher gefunden, die ich noch benötigt hatte, und dazu noch eine hübsche, cremefarbene Bluse. Also alles in allem hatte ich ordentlich was geschafft und war ganz zufrieden mit meiner Ausbeute.
Ich hatte Glück und bekam einen Sitzplatz in der Bahn.
Während ich in Gedanken den Tag Revue passieren ließ, wanderten mein Blick geistesabwesend über die Gebäude, die am Fenster vorbeirauschten.
„Hey, du bist ja so still! Was gibt es denn da draußen so Spannendes zu sehen?“
Mom beugte sich von hinten über mich und drückte mich liebevoll an ihre Brust, während sie ihr Kinn auf meinen Kopf bettete.
„Wenn man nur lange genug hinschaut sieht es so aus, als würden wir schweben“, erklärte ich und sah in kindlicher Begeisterung zu ihr auf. Mom lachte.
„Stimmt, ein bisschen sieht es so aus“, pflichtete sie mir bei und folgte meinem Blick.
Die Erinnerung erlischte so rasch, wie sie gekommen war. Reflexartig griff ich an die Stellen an meiner Taille, an denen meine Mutter einst ihre Arme um mich gelegt hatte. Für einen kurzen Moment war es fast, als könnte ich die Wärme ihres Körpers noch immer an meinem Rücken spüren.
Ich bin wieder zurück, Mom. Ich bin nach Seattle zurückgekehrt. Ich gehe jetzt hier aufs College, weißt du? Ich habe mit ein paar Freunden aus der High School eine WG gegründet. Was hältst du davon? Sie haben ziemlich lange gebraucht, um mich klein zu bekommen, aber schließlich hab ich eingewilligt. Es wird langsam Zeit, dass ich mit der Vergangenheit abschließe, meinst du nicht?
Plötzlich und ohne jede Vorwarnung krampfte sich mein Magen schmerzhaft zusammen und ich bekam wieder dieses ungute Gefühl.
Hey, eigentlich war die Frage rhetorisch!, scherzte ich, um mich selbst zu beruhigen. Ich versuchte, mich auf die Häuser zu konzentrieren, an denen ich gerade vorbei fuhr. Dunkle, heruntergekommenen Häuser, Fabrikenhallen und eine alte Haltestelle. Dieser Schuss ging wohl nach hinten los …
Ich legte meine Arme um den Bauch, wie ein Wärmekissen, und bemühte mich, ruhig zu atmen. Bestimmt hatte ich nur etwas Falsches gesessen, kein Grund zur Panik!
Doch das ungute Gefühl verstärke sich.
Ich hoffte, dass ich bald zu Hause sein würde, und versuchte, die aufkommende Übelkeit irgendwie zu unterdrücken.
Die Bahn machte einen jähen, kurzen Ruck und kam zum Stillstand, die Gespräche verstummten. Eine verrauschte Durchsage schallte durch das Abteil: „Sehr geehrte Fahrgäste, auf Grund technischer Schwierigkeiten ist der Streckenabsatz vor uns im Moment nicht befahrbar. Um das Wartungsfahrzeug durchzulassen, muss diese Bahn in einen nahe gelegenen Rangierbahnhof ausweichen. Wir bitten sie daher, auszusteigen. Es wird so schnell wie möglich ein Ersatzfahrzeug für sie bereitgestellt. Wir entschuldigen uns und danken für ihr Verständnis.“
Wütendes Gemurmel brach los, während gleichzeitig die Türen aufsprangen. Ich saß wie versteinert auf meinem Sitz. Jemand legte seine Hand auf meine Schulter.
„Junges Fräulein, wir müssen aussteigen.“
Ich drehte mich erschrocken zur Quelle der Stimme um. Ein älterer Herr schaute mich erwartungsvoll an.
„Ähm … ja“, war alles, was ich meiner Kehle auf die Schnelle entlocken konnte.
Ich stolperte den anderen Passagieren folgend nach draußen. Der Bahnsteig war noch heruntergekommener, als es durch die Fenster den Anschein gehabt hatte. Alles war voller Graffiti, die Bänke, Wände und Werbetafeln verwahrlost, die Bahnhofsuhr stehen geblieben. Wieso hatten sie das dämliche Ding nicht schon längst abgerissen, wie es sich gehörte? Oh ja, richtig, als wäre mein Leben nicht auch schon so wie aus einem Horrorfilm entsprungen, durfte ein grusliger Geisterbahnhof natürlich nicht in meinem Erfahrungsschatz übernatürlicher Ereignisse fehlen! Was stimmte bloß nicht mit mir? Warum zog ich solche dämlichen Situationen an wie Scheiße Fliegen?
Die Menschenmassen drängelten und zogen an mir, und mir wurde von dem vielen Rumgezerre ganz schwindelig. Ich versuchte, mich von der Menge abzusetzen, und suchte mir eine Stelle etwas abseits. Das mulmige Gefühl hatte sich inzwischen zu einem unheimlichen Nebel verdichtet, der um meinen Geist zu schwirren schien und mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Etwas Merkwürdiges ging hier vor.
Ich ließ meinen Blick über die alten Gebäude rings herum schweifen. Trotz meiner Angst verspürte ich den seltsamen Drang, mich ihnen zu nähern. Als würden sie mich zu sich rufen. In einem Anflug von Trotz folgte ich der Eingebung. In diesen Hallen war nichts, und ich würde mir von wirren Träumen und ein bisschen Bauchweh bestimmt nicht mein Leben vermiesen lassen! Ich würde mir ein für alle Mal beweisen, dass es Nichts zu fürchten gab, keine Kreaturen, die in der Dunkelheit lauerten! Ich war schließlich kein Kind mehr, verdammt!
Ich konzentrierte mich auf die Sonne, die immer noch hoch am Himmel stand und die Bauten nicht ganz so unheimlich wirken ließ, auch wenn mir ihre Strahlen etwas schwächer vorkamen, als noch am Mittag. Ich war zwar gerädert von meiner Shoppingtour, aber das, was ich vorhatte, war auf jeden Fall besser, als sich untätig von einem wütenden Mob herum schubsen zu lassen, befand ich.
Langsam verließ ich den Bahnsteig in Richtung der großen Fabrikhallen, die dahinter lagen. Der Nebel in meinem Kopf wurde immer dichter und mein Magen vollführte feucht-fröhlich einen Purzelbaum nach dem anderen, die mir mein Mittagessen wieder unangenehm ins Gedächtnis riefen. Aber ich würde mich nicht geschlagen geben.
Nachdem ich knapp eine Viertelstunde planlos zwischen den verfallenen Lagerhäusern umhergewandert war, ohne, dass mir etwas Außergewöhnliches aufgefallen wäre, beschloss ich umzukehren, um zu sehen, ob der Verkehr inzwischen wieder lief. Ich wollte nur noch in die mufflige Bahn und nach Hause. Mein Verhalten kam mir jetzt kindisch vor. Was für eine bescheuerte Idee, mutterseelenallein hier herumzuspazieren! Diese Gebäude waren exakt das, wonach sie aussahen: Einfach nur leere Fabrikhallen, nichts weiter. Obendrein hatte ich jetzt auch noch Kopfweh, ganz toll. Ich verwünschte meinen übertriebenen Wagemut und das nervige Bauchweh und wandte mich zum Gehen.
Schon bald sah ich wieder die Bahnhofsstation, und das vertraute Rauschen der durcheinander redenden Menschen drang immer lauter an mein Ohr. Aber es hatte sich inzwischen noch ein anderes Geräusch darunter gemischt, eine andere Stimme. Nein, mehrere Stimmen. Stimmen, die sich von dem allgemeinen Bahnhofsgetratsche abhoben. Sie schienen aus einer der Hallen um mich herum zu kommen.
Ich versuchte etwas zu verstehen, aber die Stimmen waren leise und verzerrt, wie bei einem schlechten Radioempfang. Es waren auch nicht wirklich Stimmen, eher die Ahnung davon, ähnlich wie der Schatten eines unausgesprochenen Gedanken, schwer zu beschreiben. Trotzdem kamen mir die Stimmschatten vage bekannt vor, als hätte ich so etwas Ähnliches schon einmal gehört. Während ich mich bemühte, mich zu erinnern, fuhr mir mit einem Mal ein stechender Schmerz durch den Kopf. Er war so stark, dass ich für einen Moment meinen rebellierenden Magen und den bedrängenden Nebel in meinem Kopf völlig vergaß. Ich stützte mich Halt suchend an einem der alten Gemäuer ab. Schattenwesen. Ich sah immer wieder die Schattenwesen aus meinen Träumen vor meinem geistigen Auge aufblitzen, als wollten sie mich auf etwas aufmerksam machen.
Jetzt erinnerte ich mich.
Es waren dieselben Stimmen! Ich hatte damals dieselben Stimmen gehört, die Erinnerungen dieser finsteren Kreaturen. Sie riefen mich zu sich, ich musste ihre Quelle finden.
Wie ferngesteuert führte mich mein Körper durch die alten, verlassenen Gässchen. Ich achtete nicht darauf, wo ich hin- rannte, oder fragte mich, warum genau ich eigentlich das Verlangen verspürte, in die Arme dieser Monster zu laufen. Ich musste es einfach tun.
Ich folgte nur noch dem Klang dieser Stimmen, während die altbekannten Bilder in meinem Kopf den üblichen Film ablaufen ließen.
Menschen, die unter Todesangst um ihr Leben flehen.
Wesen mit blassen, roten Augen.
Dunkle Straßen und Gassen und Häuser.
Blut … so viel Blut.
Leid, Wut, Trauer … Schmerz.
Vor zwei riesigen Schiebetüren machte ich ruckartig Halt. Sie führten in ein großes Lagerhaus. Zwischen ihnen stand ein Spalt offen, durch den ich gerade so hindurch schlüpfen konnte, hinein in die ungewisse Finsternis. Also los.
Ich pirschte mich langsam durch die Halle. Die Stimmen kamen immer näher. Vorsichtig hangelte ich mich an den kühlen, schmutzigen Wänden und Apparaturen entlang, um in der Dunkelheit einen Ankerpunkt zu haben. Draußen begann es bereits zu dämmern, was die ohnehin kläglichen Lichtverhältnisse nicht gerade besser machte.
Als sich meine Augen etwas an das trübe Licht gewöhnt hatten, konnte ich Gestalten ausmachen, die im hinteren Teil der Halle standen. Es waren insgesamt sechs oder sieben. Einer stand etwas abseits von den anderen. Ihrer Haltung und Größe nach zu urteilen, mussten es durchweg Männer sein. Jeder von ihnen trug einen langen Mantel, mehr konnte ich der Dunkelheit wegen nicht erkennen.
Plötzlich bemerkte ich, dass es ungewöhnlich still geworden war. Die Gestalten hatten aufgehört, miteinander zu reden. Gerade, als ich mich Schutz suchend in einer Nische an der Wand verstecken wollte, fiel mir auf, dass ich mich unwillkürlich von ihr entfernt hatte. Nicht gut. Mein Puls begann, wie wild zu rasen, als die Gestalten ruckartig ihre Köpfe nach mir umdrehten. Jetzt erkannte ich auch, warum sie ihr Gespräch beendet hatten. Ihre Augen waren auf mich gerichtet; gierige, rote Augen.
Wieder hatte ich nicht die Kraft, mich abzuwenden.
Wieder konnte ich nur hilflos dastehen und abwarten.
Mein Albtraum war lebendig geworden.
Ein leises Knurren riss mich aus meiner Starre, und ich fuhr herum. Es kam von der Gestalt, die ein wenig abseits der anderen stand. Ich konnte gerade noch ein wütendes Funkeln in ihren Augen erkennen, bevor ich blitzschnell herumgewirbelt wurde und bäuchlings auf dem staubigen Boden landete, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie ich dorthin gelangt war. Ich hätte schwören können, aus meinen Augenwinkeln heraus Schatten gesehen zu haben, die auf mich zugeflogen waren – die anderen Mantelträger? – ehe ich unfreiwilligen Flugunterricht genommen hatte, aber sicher war ich mir nicht.
Die Gestalt stand jetzt nur noch wenige Meter von mir entfernt und schirmte mich vor den anderen ab, ihrer vorgebeugten Körperhaltung nach zu urteilen. Der Mann – ich versuchte mir zumindest einzureden, dass es einer war – trug im Gegensatz zu den knielangen, dunklen Mänteln seiner Kontrahenten einen Caban, der ihm nur bis kurz über die Hüfte reichte.
Als ich versuchte, mir einen Reim daraus zu machen, was da gerade geschehen war, wanderte mein Blick erneut zu den anderen Gestalten, deren blass rote Augen noch immer gierig auf mir lagen und kaum Zweifel daran ließ, was sie wollten: Meinen Tod.
Hatte der Mann mich eben vor ihnen gerettet? Von ihm ging eine andere Aura aus, als von den restlichen Gestalten. Ich spürte zwar, dass er ebenfalls gefährlich war, das stand außer Frage, doch da war auch etwas anderes an ihm, etwas, das ich nicht einordnen konnte. Etwas … Gutes.
Eine warme Flüssigkeit ran meinen Kopf herunter und verklebte meine Haare. Als ich vorsichtig die Hand danach ausstreckte, ertastete ich eine Wunde, die wahrscheinlich durch den Aufprall verursacht worden war. Es schmerzte bei der Berührung meiner Finger und verlieh meinen Kopfschmerzen noch zusätzliche Schubkraft, die mittlerweile ein unangenehmes Dröhnen in meinen Ohren verursacht hatten. Das konnte doch alles nur ein schlechter Traum sein!
Ich fühlte den kalten, staubigen Boden unter mir, die Wunde an meinem Kopf, die blauen Flecken auf meinen Knien und roch die stickige Luft der alten Räume. Alles war so real. Nein, das hier war kein Traum!
Benommen betrachtete ich meine blutüberströmte Hand – und ich war nicht die Einzige. Die Gestalten waren meinen Bewegungen gefolgt, denn als ich erneut zu ihnen aufblickte, schauten sie gierig auf die dunkle Flüssigkeit. Der Mittlere, vermutlich der Anführer, baute sich gebieterisch auf und trat einen Schritt vor.
„Gib mir das Mädchen, dann werden wir verschwinden!“
Scheiße. Seine Stimme klang fast genauso wie die des mysteriösen Mannes aus meinem Traum.
Mein Verteidiger neigte seinen Kopf fragend zur Seite und meldete sich nun auch zu Wort: „Wieso hast du so ein Interesse an ihr?“
Der Klang seiner Stimme war ebenfalls rau, distanziert und kalt, aber es schwang auch etwas Beruhigendes und Beschützerisches darin mit, unterschwellig und kaum wahrzunehmen, aber doch vorhanden. Mein Verstand riet mir, das einfach zu ignorieren und mich gefälligst auf die ersten, viel offensichtlicheren Attribute zu konzentrieren, wie das jeder normale Mensch auch getan hätte, aber mein Instinkt war anderer Meinung. Er war es auch, der schließlich die Oberhand gewann. Tja, ich war eben nicht wie jeder normale Mensch.
Ich wurde ruhiger, und in mir begann, sich ein Fünkchen Hoffnung zu regen.
„Wieso kümmert dich das?“, fragte der andere barsch und ungeduldig, als könne er es kaum erwarten, mich in meine Einzelteile zu zerlegen. Er nahm einen tiefen Atemzug, um wieder etwas herunterzukommen.
„Überlass sie einfach uns, als kleines … Souvenir sozusagen“, schlug er anschließend mit verhaltenerer Stimme vor. Sein Blick glitt verlangend über mich, und ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was er gerade in Gedanken mit mir anstellte. „Dann verschwinden wir. Das willst du doch, oder?“
Einige Sekunden starrten sich die Beiden wortlos an. Die Spannung, die in der Luft lag, war fast zu greifen.
Schließlich nahm mein Retter eine kampfähnliche Haltung ein. Er ging leicht in die Knie, seine Arme angespannt neben seinem Körper ausgebreitet, sein Oberkörper etwas gebückt. Der Anführer der anderen Fraktion tat es ihm gleich. Er warf seinen Mitstreitern einen warnenden Seitenblick zu, ehe sie sich ebenfalls in das Geschehen einmischen konnten, worauf sie sich etwas enttäuscht, doch willig im Hintergrund hielten. Dies war sein Kampf.
Als die Spannung kaum mehr auszuhalten war, weiteten sich seine Augen auf bizarre Art und Weise, als wolle er sie aus seinem Schädel pressen, und eine wilde, rohe Besessenheit, die schon die ganze Zeit unter der Oberfläche seiner Worte und Gebärden gebrodelt hatte, kam nun vollends zum Vorschein. Er setzte zum Sprung an und im Bruchteil einer Sekunde schossen die beiden Gegner pfeilschnell aufeinander zu.
Kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, waren ihre Konturen vor meinen Augen verschwommen und mit dem Dunkel der Halle verschmolzen. Lediglich ein bedrohliches Krachen, Zischen und Knurren, das schallend an den Wänden widerhallte, zeugte von dem Kampf, der sich gerade in Gang gesetzt hatte.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die zwei Schatten wieder vor meinen Augen Gestalt annahmen. Beide waren verletzt, doch den Angreifer hatte es schwerer erwischt. Er jaulte vor Schmerz auf – ein kläglicher, greller Laut, der mir durch Mark und Bein fuhr – und ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Die Anderen wollten sich ihm nähern, schauten jedoch ehrfurchts- voll in das Gesicht meines Retters, der erneut vor mir Stellung bezogen hatte, wenn auch etwas gebückter und mit einer Hand an seine Brust greifend.
„Verschwindet!“, bellte er voller Zorn.
Die Angesprochenen zögerten nicht lange, traten auf ihren verwundeten Anführer zu und lösten sich augenblicklich mit ihm im Nichts auf. Puff. Weg waren sie. Einfach weg. Einfach so. Houdini hätte es nicht besser machen können. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt, hätte ich mich jetzt auch schnellstmöglich in Luft aufgelöst. Zu gerne hätte ich in diesem Moment das Gesicht meines Retters gesehen, wobei Retter wohl nicht länger zu- treffend war. Alles Beruhigende in seiner Stimme war verschwunden. Selbst die kalte Stimme aus meinen Träumen war kein Vergleich zu der Wut und Macht, die in diesem einen Wort gelegen hatten und ihn noch immer umschwirrten wie ein Schwarm von Killerbienen, bereit, schnell und erbarmungslos zuzuschlagen. Eine tickende Zeitbombe.
Ich hatte mich getäuscht. Er war gefährlicher als die anderen. Viel, viel gefährlicher. Er spielte in einer Liga, die ich mir nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnte, geschweige denn wollte. Sie hatten von Anfang an keine Chance gegen ihn gehabt. Die Macht, die von ihm ausging, durchtränkte die Halle wie Millionen elektrischer Impulse, die kurz vor ihrer Implosion standen, einer atombombenmäßigen Implosion. Da bekam von Null auf Hundert eine völlig neue Bedeutung.
Doch dann, noch ehe ich mein letztes Gebet sprechen konnte, sank auch er zu Boden, und die bedrohliche Aura schien mit einem Mal wie weggesogen.
Erleichterung durchströmte mich, gefolgt von einem äußerst unangenehmen Ziehen in meinem Hinterkopf. Richtig, die Wunde. Meine Anspannung hatte mich die Schmerzen für einen Moment völlig vergessen lassen. Nun aber meldete sie sich mit Pauken und Trompeten zurück. Das Ziehen steigerte sich zu einem quälenden Brennen und meine Augenlieder wurden schwer, drohten, mich in dunkle Tiefen zu reißen. Die Ränder meines Sichtfeldes färbten sich bereits schwarz, und ich war unendlich erschöpft. Schlafen. Ich wollte nur noch schlafen.
Ich konnte gerade noch erkennen, wie sich die übriggebliebene Gestalt zu mir umdrehte, ehe die Finsternis die Kontrolle über mein Bewusstsein erlangte und ich ergeben die Augen zufallen ließ. Verzweifelt versuchte ich, dagegen anzukämpfen, aber mein geschundener Körper war stärker als ich.
Das Letzte, was ich spürte, war ein kalter Lufthauch, der meine Wangen streifte und einen leichten Druck auf meinem Körper. Ein blitzartiger Impuls durchzuckte mich, dann hatte mich die Dunkelheit vollkommen verschlungen.
Ein plötzlicher Schmerzschlag riss mich wieder zurück ans Licht. Hände betasteten mich, meinen schmerzenden Kopf.
„Sie kommt wieder zu sich!“, rief eine unbekannte Männer- stimme. Ich blinzelte. Ich war umringt von zwei Sanitätern, ein Dritter kam herbeigeeilt.
„Wie heißen sie?“, erkundigte sich die einzige Frau des Trios, die zu meiner rechten kniete, während sie mir ungestüm mit einer grellen Lampe in die Augen leuchtete. Ihre langen, blonden Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengefasst, ihre Züge wirkten geschäftsmäßig.
„E – Emma ... Emma Hanson“, antwortete ich benommen.
„Gut, Emma. Versuchen sie, möglichst ruhig liegen zu bleiben, bis wir ihre Wunden genauer untersucht haben. Spüren sie außer an ihrem Kopf noch irgendwo starke Schmerzen?“
„Nein. Ich glaub ich hab nur ein paar blaue Flecken“, presste ich mühevoll hervor. Mir war schlecht und schwindelig und mein Schädel fühlte sich keinen Deut besser an.
Die Frau und ihr Kollege hatten bereits begonnen, die Wunde an meinem Kopf zu säubern und zu verbinden. Der Dritte machte eine Trage bereit.
„Es geht mir schon wieder besser, wirklich. Ich muss nicht ins Krankenhaus!“, protestierte ich. Das fehlte gerade noch! Wenn meine Mitbewohner davon erfuhren, würden sie mich nie wie- der alleine aus dem Haus lassen. Abgesehen davon sprachen sich solche Dinge an einer Uni herum wie ein Lauffeuer und in wenigen Wochen wäre ich nicht nur überfallen, sondern womöglich noch angeschossen und vergewaltigt worden. Ich hatte bestimmt keine Lust als bemitleidenswertes Futter für die Gerüchteküche herzuhalten, dass hatte ich nach dem Tod meiner Mutter Jahre lang erdulden müssen.
„Ihre Wunde ist nicht sehr tief, und außer einer leichten Gehirnerschütterung scheinen sie keine weiteren Verletzungen zu haben. Es wäre aber trotzdem ratsamer, einen Profi einen Blick darauf werfen zu lassen, sie waren immerhin bewusstlos. Erinnern sie sich daran, was passiert ist?“, erkundigte sich die Sanitäterin.
Da war sie, die Frage aller Fragen. Was sollte ich darauf bitte antworten? Ich wusste ja selbst nicht genau, was geschehen war. Irgendetwas hat mich angegriffen, aber ich glaube es war kein Mensch?
Mein Kopf hatte zwar etwas abbekommen, aber ich hatte mir das alles nicht nur eingebildet, da war ich mir sicher! Naja, sagen wir zu achtzig Prozent …
„Ich … ich weiß noch, dass ich in die Halle gegangen bin … und plötzlich wurde alles dunkel …“, wand ich mich um die Details herum.
„Verstehe“, erwiderte die Frau nicht sonderlich überrascht. Sie seufzte betreten. „In solchen Ecken treiben sich oft irgendwelche Gangs rum. Vermutlich waren sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. So etwas kommt hier in der Gegend öfter vor. Aber sie hatten Glück im Unglück wie es aussieht. Die meisten Bandenopfer, die wir auflesen, kommen nicht so glimpflich wie sie davon.“
Sie zog den Verband fest und packte ihr Equipment wieder ordentlich zusammen, bevor sie ihren Kollegen half, mich auf die Trage zu hieven.
„Mich würde nur mal interessieren, wer uns gerufen hat“, wunderte sie sich laut in die Runde.
Zum ersten Mal meldete sich der Sanitäter zu meiner Linken, ein stattlich gebauter, kahlköpfiger Schwarzer, zu Wort: „Vielleicht haben sie Schiss bekommen, waren wahrscheinlich noch Anfänger.“
Während die drei Sanitäter weiter darüber spekulierten, machte ich mir meine eigenen Gedanken zu dem Thema. Zugegeben, merkwürdig war das Ganze schon. Er war der Einzige, der hätte Hilfe holen können. Aber es würde wohl nichts bringen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich meine, wie groß war schon die Chance, dass ich ihn je wieder sehen würde, oder?
Im Krankenhaus bestätigte der Arzt schließlich nur das, was die Sanitäter bereits selbst festgestellt hatten: Die Kopfwunde war nicht tief und außer ein paar Kratzern fehlte mir nichts weiter.
Kurz nachdem ich eingeliefert worden war, statteten mir ein gelangweilter Officer und sein Deputy einen vorschriftsmäßigen Besuch ab und stellten die üblichen Fragen. Sie schienen sich ebenfalls nicht sonderlich über den Vorfall zu wundern.
„Ja, ja, das kommt hier in der Gegend leider öfter vor“, wiederholte der Officer nur die Aussage der blonden Sanitäterin, nachdem ich ihm Dasselbe erzählt hatte, wie zuvor den Rettungskräften.
„Ich fürchte, ich kann ihnen keine großen Hoffnungen machen, dass wir die Kerle finden, Miss Hanson. Die sind wie ein Sack Flöhe, fast unmöglich, einen zu erwischen. Meistens haben sie es aufs Geld abgesehen. Seien sie froh, dass sie nicht viel bei sich hatten, das hat ihnen womöglich das Leben gerettet! Mit Büchern können die Kerle nicht viel anfangen“, erklärte er abfällig und deutete auf meine verschmutzten Neuanschaffungen, die ich vor Schreck hatte auf den Hallenboden fallen lassen, ehe ich mich zu ihnen gesellt hatte.
„Sollte ihnen doch noch etwas einfallen, melden sie sich einfach bei mir. Ich lasse ihnen meine Karte da!“, schob der Officer Routine mäßig nach und drückte mir seine Kontaktdaten in die Hand.
„Ich wünsche ihnen eine gute Besserung, und bleiben Sie das nächste Mal lieber in Sichtweite der Gruppe!“, tadelte er mich väterlich, zwinkerte mir zu und stapfte, seinen Deputy im Schlepptau, wieder von dannen.
Für ihn war der Fall erledigt. Für mich fing alles von vorne an. Ich fühlte mich schlagartig in mein fünfjähriges Ich zurückversetzt, allein, ängstlich und wütend. Die heile Welt, in der alles so zuging, wie es sollte, die ich mir durch Verdrängen und gesunden Menschenverstand über Jahre so mühevoll wieder aufgebaut hatte, war erneut zu diesem unerträglichen Ort geworden, an dem ich nichts verstand.
Hast du wirklich geglaubt, du könntest der Dunkelheit entfliehen?
Die Erinnerung kam so plötzlich, wie sie wieder verschwunden war. Was auch immer diese Dunkelheit zu bedeuten hatte, ich war mitten hinein geraten, und ich hatte das ungute Gefühl, dass es dieses Mal keine fünfzehn Jahre mehr dauern würde, diese unheimlichen Gestalten wieder zu sehen.
„Hey, Emma, ist alles okay?“, drang eine sanfte Stimme an mich heran und ließ mich zusammenzucken.
Ich hatte die Arme um meine angewinkelten Knie geschlungen und war so damit beschäftigt gewesen, meinen Gedanken nachzuhängen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Naomi eingetreten war. Ich hatte mir schon lange abgewöhnt zu weinen. Stattdessen schaute ich starr vor mich hin. So konnte ich meine Gedanken besser wieder in den Griff bekommen. Zu weinen machte alles nur noch schlimmer. Das hatte ich auf die harte Tour lernen müssen.
Nach dem Brand in der Fabrikhalle hörte ich ständig Stimmen. Nicht so als würde jemand sprechen, es waren nur Stimmen in meinem Kopf, wie ein zweites Gewissen. Sie erzählten von Trauer und Leid, von Menschen die krank oder gestorben waren, von Einsamkeit, von Angst, von Verzweiflung. Wenn ich unter Menschen war, waren die Empfindungen stärker, wenn ich allein war, hatte ich mit meinen eigenen Problemen zu kämpfen. Die Ärzte meinten, so würde mein Gehirn versuchen, mit dem Geschehenen fertig zu werden, und ich würde es irgendwann verarbeiten. Doch je mehr ich versuchte, die Stimmen zu ignorieren, desto unkontrollierter und lauter wurden sie.
Auch als ich mit Dad von Seattle weggezogen war, änderte sich vorerst nichts daran, bis ich mich ein paar Jahre später auf dem Weg zu seinem Büro verlief. Ich hatte ihn noch nie zuvor bei der Arbeit besucht – ich mied Plätze mit vielen Menschen, doch er war am Morgen so überstürzt aus dem Haus geeilt, dass er seinen Lunch vergessen hatte. Ich hatte zu der Zeit Ferien und war tagsüber allein zu Hause. Ich erledigte die Hausarbeiten, lernte für die Schule und las, das war beruhigend und lenkte ab. Ich mochte diese Zeit nur für mich, auch wenn es Dad nicht besonders recht war. Wenn ich mich auf diese einfachen Tätigkeiten konzentrierte, hörte ich die Stimmen nicht so oft.
Am Tag zuvor hatte er ein Gespräch mit meiner Psychologin gehabt, wegen meiner mangelnden Fortschritte. Ich hatte vor der Tür gewartet und ihn weinen gehört. Normalerweise versuchte er immer, seine Trauer so gut wie möglich vor mir zu verbergen, aber auch er war nur ein Mensch. Wir gingen schweigend nach Hause und ich dachte er wäre wütend auf mich, also wollte ich mich wieder mit ihm versöhnen.
Auf dem Weg zum Büro kam ich an einer engen Gasse zwischen zwei Häusern vorbei, und die Stimmen wurden mit einem mal so unerträglich laut, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde jeden Moment explodieren. Mein ganzer Körper war schweißgebadet, ich zitterte und mir war übel. Für einen kurzen Moment war es, als würde ich durch die Augen eines anderen blicken. Ich fühlte was er fühlte – Hass, Angst, Wut und Trauer einer verlorenen Seele – während ich auf den leblosen Körper einer Frau schaute, der von Blut überströmt war. Dann war die Verbindung unterbrochen, und ich übergab mich
mitten auf der Straße. Die ersten Leute schrien auf, sie hatten die Leiche in der Seitengasse entdeckt. Der Täter war geflohen. Die Gefühle, die ich vorher empfunden hatte, waren nichts gegen das grausame Bild, das ich eben vor mir gesehen hatte. Ich wollte nur noch weg von diesem Ort, wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, einfach rennen, egal wohin. Ich hatte weder in die Gasse hineingeschaut, noch auf die Rufe der Passanten reagiert. Weg, nur weg von hier.
Ich übergab mich noch ein paar Mal, während ich davon rannte, bis ich schließlich völlig entkräftet an einem Baum im Park zusammensank und weinte. Stundenlang.
Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr zu weinen und saß einfach nur noch da und starrte ins Nichts. In mir war eine Leere, die weit schlimmer war als jedes Gefühl, das ich in diesem Moment hätte empfinden können. Es war, als wäre ich innerlich gestorben.
Es musste gegen frühen Mittag gewesen sein, da hörte ich ein Mädchen mit seinem Vater streiten.
„Beeil dich, Dad, ich hab Hunger“, hetzte sie ihn.
„Die Einkaufstaschen tragen sie nicht von selbst, Schatz, und ich bin nicht mehr der Jüngste. Jetzt weiß ich wieder, warum ich nie mit deiner Mutter einkaufen fahre!“, beschwerte er sich lachend.
Dad.
Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Ich hatte ihm doch sein Essen vorbeibringen wollen!
Ich fühlte die Lunchbox in meinen Händen, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht. Ich war wirklich zu nichts zu gebrauchen. Ich wollte nicht, dass Dad wegen mir weint. Ich wollte nicht, dass er wegen mir jeden Tag früher Schluss macht, nur um schnell nach Hause zu kommen und nachzuschauen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich wollte nicht, dass ich ihm zur
Last fiel. Er war doch derjenige, der mir zur Last fallen sollte. Ich sollte ihn doch beschützen. Ich hatte es Mom versprochen.
Ich hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich würde hier sitzen bleiben und mich aufgeben, oder ich würde mich zusammenreisen und benehmen, wie es sich gehört.
Sei schön brav und pass gut auf deinen Vater auf, ja?
Ich hatte es ihr versprochen!
Mit einem Ruck stand ich auf und wischte mir die letzten Tränen aus dem Gesicht. Ich musste zu Dad´s Büro.
„Hey Emma, wie um alles in der Welt kommst du denn hier her?“, fragte er überrascht, nachdem ich seelenruhig in die Kanzlei spaziert war.
„Du hast dein Essen zu Hause gelassen.“ Schüchtern hielt ich ihm die grüne Box hin. „Bitte sei nicht mehr sauer, ja?“, gab ich kleinlaut von mir.
„Oh Liebling, wieso sollte ich denn sauer auf dich sein?“, fragte er und nahm mir erfreut die Box aus der Hand. „Bist du etwa den ganzen Weg allein in die Stadt gefahren?“
Ich nickte und erklärte ihm den Grund für meinen Besuch. Dad lächelte gutmütig, nahm mich in die Arme und versicherte mir, dass es ihm ausgezeichnet ginge, wobei er das Wort ausgezeichnet so oft wie nur irgend möglich wiederholte. Eine glatte Lüge, wie seine eingefallenen und erschöpften Züge bewiesen. Aber damit war jetzt Schluss!
Von diesem Tag an schwor ich mir, nie wieder so zu weinen. Ich wollte stark sein – wenn schon nicht für mich, dann wenigstens für ihn. Ich wollte die Stimmen für immer aus meinem Kopf verbannen, sonst würden sie mich irgendwann mit sich reißen und ich wusste, dass es dann für mich kein Zurück mehr geben würde. So einen Anblick wie in dieser Gasse würde ich nicht noch einmal überstehen.
Seitdem spielte ich allen das glückliche Mädchen vor – meine Ängste und Sorgen, meine wahren Gefühle, verdrängte ich. Stattdessen stahl sich dieses gefrorene Lächeln auf mein Gesicht, hinter dem sich so viel mehr verbarg.
Von diesem Tag an hörte ich die Stimmen immer seltener, bis irgendwann nur noch ab und zu ein mulmiges Gefühl zurückblieb. Damals begann ich auch, von dem Brand in der Halle zu träumen.
Kurze Zeit nach diesem Vorfall lernte ich Naomi kennen. Sie war die Erste in der Schule, die mein Schauspiel durchschaute. Aber aus irgendwelchen mir unerfindlichen Gründen schreckte sie das nicht etwa ab, sondern im Gegenteil, sie hatte einen regelrechten Narren am mir gefressen. Meine offensichtlich zur Schau getragenes Desinteresse an sozialen Kontakteten ignorierte sie geflissentlich. Sie verurteilte mich nicht wegen meines seltsamen, introvertierten Verhaltens, und sie erwartete auch keine Erklärungen. Sie fragte mich nie über meine Vergangenheit aus. Sie nahm mich schlichtweg so, wie ich war. Schließlich erzählte ich ihr von mir aus, was mir widerfahren war – vom Tod meiner Mutter über die Kreaturen bis hin zu den Stimmen. Anfangs war ich ohnehin felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie auf kurz oder lang genug von mir Verrückten haben würde. Nach meinen beunruhigenden Geständnissen war ich mir absolut sicher gewesen, sie würde nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, aber sie schaute mich nur einen Moment lang gedankenverloren an und sagte schließlich: „Ach so.“
Wir redeten nie wieder darüber, und sie stellte keine weiteren Fragen. Stattdessen nahm sie mich bei der Hand und führte mich zurück ins Leben. Sie versuchte ständig, mich zum Ausgehen zu ermutigen – manchmal sogar mit Erfolg – und nahm mich auf irgendwelche Shoppingtouren in überfüllte Einkaufszentren mit. Sie wies mir nach dem verstörenden Tod meiner Mutter quasi wieder den Weg zurück in die Gesellschaft. Ich hatte mich nicht vom einen auf den anderen Tag verändert, aber ich hatte wieder angefangen, in der Welt meiner Mitmenschen zu leben, anstatt mich in meiner eigenen zu verschanzen. Ich versuchte es zumindest. Ja, Naomi sah mich als normalen Menschen und mit der Zeit hatte ich gelernt, mich auch so zu sehen. Würde ich diesen Glauben nun endgültig verlieren?
Naomi setzte sich neben mich auf das Krankenbett und streichelte mir tröstend mit einer Hand über den Arm. Ihr rotes, gelocktes, schulterlanges Haar trug sie offen – eine absolute Ausnahme. Sie wusste, dass ich es so mochte.
„Tut mir leid, ich hab dich nicht kommen gehört.“
Ich versuchte, entschuldigend zu lächeln und einen einiger- maßen passablen Gesichtsausruck hinzubekommen.
„Ich wollte dir keine Umstände machen. Jetzt musstest du extra wegen mir herkommen und …“
„Lass das mal deine geringste Sorge sein“, wehrte sie ab. „Der Arzt hat mir alles erklärt und mir diese Kopfschmerztabletten für dich in die Hand gedrückt. Zieh dich an, und dann fahren wir nach Hause. Ich hab den Jungs gesagt, sie sollen schon mal mit dem Kochen anfangen, also beeil dich lieber. Wer weiß, in welchem Zustand wir unsere Küche sonst vorfinden!“
Auch wenn Besorgnis in ihren Augen zu lesen war, strahlte Naomi Ruhe und Gelassenheit aus. Sie reichte mir wortlos meine Klamotten, die ich, zusammen mit den Einkäufen, achtlos auf einer Stuhllehne zurückgelassen hatte, und ich brachte ein schwaches, dankbares Lächeln zu Stande.
Auf der Heimfahrt redete sie ununterbrochen, hauptsächlich machte sie sich über die Kochkünste der Jungs lustig. Sie erwähnte mit keinem Wort was geschehen war, und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Ich fühlte mich schon ein klein wenig besser, und auch wenn ich ihr nicht wirklich zuhörte, war es angenehm, ihre Ausschweifungen als stetigen Unterton in meinem Kopf zu haben.
In der Wohnung angekommen roch es überraschend angenehm und die Küche stand noch. Die Jungs hatten Spaghetti gekocht. Die Nudeln waren zwar ein wenig pampig, und die Soße schmeckte eindeutig zu sehr nach Ketchup, aber alles in allem war es essbar.
Die Stimmung war ziemlich gedrückt – ich vermutete, dass Naomi die Jungs vorher bearbeitet hatte, nichts Falsches zu sagen. Die hatten sich für die einfachere Methode entschieden und sagten einfach gar nichts, doch ihre Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Als die Stille unerträglich wurde sagte ich ohne groß nachzudenken das Erste, was mir in den Sinn kam: „Das schmeckt echt … lecker. Die Soße hat so ein besonderes Aroma. Was habt ihr denn da rein?“
Es war ein verzweifelter Versuch, aber er ging auf. Die Beiden
warfen sich einen kurzen Blick zu und mussten ein breites Grinsen unterdrücken. Naomi warf ihnen einen bösen Blick zu, aber als sie sah, dass ich ein klein wenig lächelte, musste sie auch Grinsen.
„Wir haben so ziemlich alles rein, was nach Tomate schmeckt, ist also schwer zu sagen, was genau das ‚besondere Aroma‘ ausmacht“, erklärte Adam grinsend.
„Wieso habt ihr nicht einfach die Fertigpackung aus dem Schrank benutzt?“, fragte Naomi kopfschüttelnd.
„Dazu hätten wir erst mal wissen müssen, dass eine da ist!“, verteidigte sich Logan.
„Tja, aus eurem Plan, euch den ganzen Abend lang zu Tode zu
schweigen, ist wohl nichts geworden. Jetzt redet schon! Es wird nicht besser, wenn ihr mich nur die ganze Zeit mit euren Blicken löchert!“
Ich schaute die Beiden ermutigend an. Je eher das Thema vom Tisch war, desto besser.
„`tschuldige. Es ist nur … ist alles okay mit dir? Ich meine, sie haben dir doch nichts Schlimmeres angetan … du weißt schon …“, stammelte Logan und schaute mich schuldbewusst an.
„Nein, ich hab nur eine über den Kopf bekommen, das ist alles. Mir geht’s gut, wirklich! Ich hätte mich einfach von diesen blöden Hallen fernhalten sollen. In Zukunft weiß ich es besser.“
„In Zukunft? Wer sagt, dass wir dich je wieder allein auf die Straße lassen, junges Fräulein? Unser kleines Mädchen, kaum auszudenken was hätte passieren können!“, scherzte Adam, rückte sich in dem Versuch, ernst zu wirken, seine überdimensionale Nerdbrille zurecht und legte seinen Arm um Naomis Schulter. Die ging voll auf sein Spiel ein.
„Du hast Recht, Schatz. Wir sollten ihr lebenslangen Hausarrest aufbrummen!“
Ich rollte mit den Augen. Wenigstens hatte die angespannte Atmosphäre nachgelassen. Meine Mitbewohner würden mich zwar vermutlich in nächster Zeit tatsächlich nicht mehr alleine auf die Straße gehen lassen, wie ich sie kannte, aber damit konnte ich leben.
Als ich an diesem Abend ins Bett ging, lang ich noch lange wach. Mein Körper fühlte sich zwar schlaff und ausgelaugt an, aber mein Kopf kam einfach nicht zur Ruhe.
Ich versuchte, logisch an die Sache heran zu gehen. Es gab keine seltsamen, finsteren Kreaturen. So etwas existierte nur in Filmen oder Büchern. Ich hatte einfach eine zu lebhafte Fantasie. Vermutlich hatte ich wirklich aus Angst etwas projiziert, das gar nicht da gewesen war, und aus einfachen Schlägern die Gestalten aus meinen Träumen werden lassen. Wenn ich mir vorstellte, dass alles nur in meiner Einbildung war, konnte ich die Welt wieder ins rechte Licht rücken. Es war leichter, sich selbst die Schuld zu geben. Menschen konnten sich ändern, die Realität nicht.
etzt, behütet und ruhig in meinem Bett, schien die Erinnerung an den Überfall fast unwirklich. Ich versuchte, mich an die Gesichter der Wesen zu erinnern, aber wie in meinem Traum verschwammen die Konturen und nahmen immer bizarrere Formen an, bis ich irgendwann einschlief und meine Gedanken in merkwürdige, verwirrte Träume übergingen.
Die nächsten Tage über war ich ziemlich mies drauf, und mein Kopf tat weh, aber wenigstens war ich so mit schlecht gelaunt sein beschäftigt, dass wenig Platz war, um an etwas Anderes zu denken. Die Tabletten vom Arzt halfen nichts, was meine Laune nicht gerade hob, und meine Mitbewohner mussten es ausbaden. Ich redete noch weniger als sonst, und wenn ich etwas sagte, fauchte ich meist jemanden grundlos an, nur um mich eine Minute später wieder zu entschuldigen.
„Wahrscheinlich hat sie gerade ihre Tage. Lassen wir sie einfach in Ruhe, die fängt sich schon wieder!“, meinte Logan, nachdem ich mal wieder einen meiner Anfälle hatte.
„Naomi hat das auch manchmal. Frauen!“, entgegnete Adam kopfschüttelnd.
Naomi dagegen nahm es gelassen. Sie schien sich beinahe über mein Verhalten zu freuen.
„Du solltest deinen Kummer öfter mal raus lassen! Es tut nicht gut, immer nur alles in sich rein zu fressen“, hatte sie fröhlich lächelnd gesagt, nachdem ich mich zum hundertsten Mal an diesem Tag bei ihr entschuldigt hatte.
Zum Glück hatte sich mein Abenteuer nicht herumgesprochen, wie anfangs befürchtet. Nach einer Woche hatte sich auch meine Laune wieder auf ein normales Niveau eingependelt und das Kopfweh war endgültig verschwunden.
„Ich hab gerade mit Sandra und Eileen aus unserem Englischkurs gesprochen, du weißt schon, Eileen mit den aufgetakelten Hochsteckfrisuren und den zwanzig Zentimeter Absätzen. Die Zwei sind morgen auch dabei! Das wird bestimmt total super, hoffentlich haben wir schönes Wetter! ...“
Wir saßen gerade beim Mittagessen in der Mensa. Naomi redete ununterbrochen von dem bevorstehenden Wochenende. Morgen war Samstag und einige Studenten hatten sich zusammengetan, um sich untereinander etwas näher kennen zu lernen. Zwei Jungs aus Logans Footballteam waren darunter, eines kam zum Anderen, und nachdem mich Naomi tagelang eingängig bearbeitet hatte, hatte ich schließlich zugestimmt, mitzukommen. Naomi würde erst einmal befriedigt sein, und ich hatte eine Ausrede die nächsten fünf Treffen zu schwänzen, die sie unweigerlich planen würde.
„… Endlich kommen wir mal ein bisschen unter Leute. Ich kenne so gut wie niemanden aus meinen Kursen näher als vom ‚Hallo‘ und ‚Tschüss‘ Sagen. Das ist eben die anfängliche Befangenheit, aber …“
Irgendwann schaltete ich ab und schenkte lieber meinem Pizzastück die Aufmerksamkeit.
Naomi übertrieb gerne etwas; war sie erst einmal in Fahrt, war sie nur schwer zu bremsen. Außerdem hatte sie es am Allerwenigsten nötig, am Wochenende mitzukommen. Sie war der einfühlsamste und charismatischste Mensch, den ich kannte.
„Aua … So ein Mist!“
Eine Studentin ein paar Tische weiter hatte sich in den Finger geschnitten. Es blutete ziemlich heftig. Selbst als sie von ihren Tischnachbarn panisch Servietten gereicht bekam, sickerte es durch.
„Wir sollten das lieber desinfizieren lassen, sieht schlimm aus. Komm, ich geh mit dir ins Krankenzimmer!“, bot eine ihrer Freundinnen an. Gefolgt von neugierigen Blicken verließen sie die Cafeteria.
Mich überkam ein eigenartiges Schwindelgefühl und mir wurde übel. Eigenartig, für gewöhnlich hatte ich kein Problem damit, Blut zu sehen. Ich warf meinem halb gegessenen Pizzastück einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Entschuldigt mich kurz, ich muss mal wohin!“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und stand auf.
„Geht’s dir gut? Du siehst ja leichenblass aus! Soll ich vielleicht mitkommen?“, fragte Naomi und warf mir einen besorgten Blick zu.
„Nein, nein, nicht nötig!“, wehrte ich ab.
Adam und Logan schauten mir skeptisch nach, aber ich eilte unbeirrt in Richtung Toilette davon. Drinnen angekommen stellte ich erfreut fest, dass sie leer zu sein schien, was bei einer Damentoilette nahezu an ein Wunder grenzte, und ich nahm diesen Umstand dankbar an. Ich klatschte mir einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht, stützte mich mit beiden Händen am Waschbecken ab und schaute in einen der riesigen Spiegel, die über den Becken hingen.
Meine Gesichtsfarbe sah eindeutig nicht gesund aus, und auf meiner Stirn hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Das Schwindelgefühl nahm zu, und die Konturen um mich herum begannen, sich gefährlich zu verzerren. Ich schloss reflexartig meine Augen, und fast im selben Moment blitzten merkwürdige Bilder in meinem Kopf auf.
Ein Buch, das auf den Boden fällt. Eine antike Bibliothek. Dicke, weinrote Vorhänge. Eine Öllampe auf einem Tisch. Eine robuste, aufwändig verzierte Flügeltür aus Holz.
Dann war es vorbei.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden lang gedauert. Keuchend krampfte ich meine Hände noch fester um den Beckenrand, dann lies ich abrupt los und riss meine Augen auf. Ich taumelte unbeholfen nach hinten und wäre fast gestürzt, wenn ich nicht im letzten Moment mit dem Rücken an eine Toilettentür gekracht wäre. Meine Beine verweigerten mir den Dienst, und ich sank auf den Boden. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, schloss erneut die Augen und versuchte, wieder ruhiger zu Atmen. Die Übelkeit und der Schwindel hatten nachgelassen, doch ich fühlte mich seltsam ausgelaugt, als hätte ich einen Hundertmetersprint zurückgelegt.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Ich öffnete die Augen. Eine Kommilitonin hatte sich über mich gebeugt und schaute beunruhigt auf mein Gesicht.
„Mir war nur etwas schwindelig, ist schon wieder vorbei!“, antwortete ich mit gefasster Stimme. Sie streckte mir eine Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen, und ich griff dankbar zu. Anfangs schwankte ich noch ein wenig, dann hatte ich einen relativ sicheren Stand.
„Soll ich dich irgendwohin begleiten? Du scheinst noch ein wenig wackelig auf den Beinen zu sein!“, bot sie an.
„Nein, geht schon, wirklich! Noch mal danke!“
Wie schaffte ich es bloß, ständig als armes, bemitleidenswertes Opfer da zustehen?
„Na endlich, ich wollte schon nach dir schauen gehen!“, begrüßte mich Naomi, nachdem ich wieder zu den anderen an den Tisch gestoßen war.
„Frauenprobleme, ich sag`s ja!“, flüsterte Logan Adam zu, woraufhin ihm Naomi einen Rippenstoß mit ihrem Ellenbogen versetzte.
„Wir sind nicht taub! Manchmal seid ihr echt unausstehlich!“,
giftete sie die Beiden an.
„Aber nur manchmal!“, erwiderte Adam, und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Gerade noch mal so davongekommen!“, mahnt ihn Naomi gespielt streng, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen, und schon lagen sich die Zwei wieder in den Armen.
Alles war so normal: Die üblichen Neckereien, Naomi und Adam Arm in Arm, der Lärm der Cafeteria. Es war paradox, als würde man von einer Welt in eine völlig andere gestoßen. Was hatte das bloß alles zu bedeuten? Und wieso passierte das ausgerechnet mir?
Ich konnte mich nicht daran erinnern, das Zimmer aus meiner
Vision schon einmal gesehen zu haben, aber vielleicht hatte ich es auch einfach nur verdrängt. Vieles, das ich vergessen geglaubt hatte, schien hier wieder lebendig zu werden.
Am Samstag trafen wir uns, wie vorher verabredet, mit den anderen am Strand. Die Eltern eines Kommilitonen hatten dort ein kleines Cafe, das wir für den Tag mehr oder weniger belagern durften. Wir waren etwas über zwanzig, also eine überschaubare Menge, und zu meiner Überraschung gab es nur wenige Gesichter, denen ich keine Namen zuordnen konnte. Viele kannte ich bereits aus meinen Kursen und von Logans Training (er hatte mich ein paar Mal gefragt, ob ich nicht Lust hätte ein wenig zuzuschauen, weil ich oft das Wochenende mehr oder weniger allein verbrachte), und alle schienen recht nett zu sein. Da ich Naomi ständig im Schlepptau hatte – das war meine Bedingung gewesen um mitzugehen – die spielend jedes Gespräch ins Laufen brachte, ohne dass ich etwas tun musste, blieben mir Peinlichkeiten vorerst erspart. Ich musste mir widerwillig eingestehen, dass es eigentlich sogar ganz lustig war.
Als wir am Strand angekommen waren, hatten einige bereits ein Lager aus aneinander gereihten Handtüchern aufgebaut. Jemand hatte Boxen mitgebracht, aus denen lautstark Musik dröhnte: etwas Rock, etwas Pop, etwas Country, nichts zu Ausgefallenes. Die Meisten beteiligten sich regen an einen Volleyballmatch. Naomi und die Jungs stießen sofort dazu, und da es noch keinen Schiedsrichter gab, übernahm ich gern die Stelle. Ballspiele waren nicht so mein Ding, höchstens von der Ersatzbank aus.
Alle waren richtig gut gelaunt. Entgegen des Wetterberichtes klarte es gegen Nachmittag sogar überraschend auf, und die Sonne schien nicht mehr vom Himmel verschwinden zu wollen. Es war praktisch unmöglich, bei all diesen strahlenden Gesichtern schlecht gelaunt zu sein, selbst für mich, und ich taute immer mehr auf. Ich kam mit vielen ins Gespräch und ließ mich später sogar auf eine Jetski-Tour mit Logan ein. In der Nähe gab es einen Verleih, und die Jungs waren wie besessen – sie wollten gar nicht mehr von ihren neuen Spielzeugen lassen.
Entgegen meinen Erwartungen schaffte ich es, mich auf dem Jetski zu halten, ohne einmal ins Wasser zu fallen. Zugegeben, ich hatte mich wie eine Irre an Logan festgeklammert, aber er hatte nur gelacht und es wie ein Mann ertragen. Danach brauchte ich erst einmal eine kleine Verschnaufpause. Ich setzte mich auf mein Handtuch, ließ die warmen Sonnen- strahlen meine Haut umspielen und genoss die kühle Brise, die vom Meer an mich herangetragen wurde und die Hitze erträglich machte. Ich ertappte mich bei einem Lächeln, einem freien, ungezwungenen Lächeln, und ich genoss das Gefühl in vollen Zügen. Da war nichts geschauspielert. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für mich.
Gegen späten Nachmittag versammelten wir uns alle im Cafe, um gemeinsam zu Abend zu essen. Wir schoben die Tische zu einem einzigen großen Tisch zusammen, der gerade so in den kleinen Laden passte. Die Zeit war unheimlich schnell vergangen, und ich konnte kaum glaube, dass es schon fast sieben war.
Während wir auf unser Essen warteten, nahm ich das Cafe etwas genauer unter die Lupe. An der Decke hingen alte Fischernetzte, in die kleine Lichter eingearbeitet waren, und einige Kerzen in feinen Eisengestellen. Die Theke war mit Holzstangen verkleidet, an den Seiten standen zwei kleine Palmen. Ich kam mir vor wie auf einer Karibikinsel. Naomi stupste mich von der Seite an.
„Na, war es sooo schrecklich heute mitzukommen?“, hakte sie nach, ein überlegener Ausdruck auf ihrem Gesicht.
„Es war ganz okay“, gestand ich widerwillig.
„Ach komm schon! Es war mehr als ganz okay – du bist Jetski gefahren! Gib` s zu, du bist verdammt froh, dass ich dich überredet hab!“
„Schön, ich geb` s zu: Ich bin froh, dass du mich überredet hast!“, gab ich ihr Recht.
Sie strahlte mich an, und ich musste unwillkürlich schmunzeln. Sie würde wohl nie aufgeben! Insgeheim war ich ihr dankbar dafür, aber das hätte ich ihr natürlich nie gestanden.
„Essen ist fertig!“, rief es vom einen Ende des Tisches.
Wir hatten uns ein paar Fischplatten bestellt, von denen sich jeder etwas nehmen konnte. Von dem herumtoben am Strand hatte ich Hunger bekommen, und die Platten sahen lecker aus.
„Puh … bin ich satt!“, sagte ich und hielt mir den Bauch. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gegessen. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, nur ab zu sah man noch die Lichter einiger Schiffe in weiter Ferne aufblitzen.
Dann fing es wieder an. Von einem Moment auf den nächsten.
Ohne Vorwarnung. Mein Körper wurde schlagartig von einer lähmenden Schwere überfallen, und ich konnte mich nicht bewegen, als würde mein Körper nicht mehr zu mir gehören. Für den Bruchteil einer Sekunde verschwamm meine Sicht, dann wurde alles schwarz.
Entsetzen. Verwirrung. Wut. Verzweiflung. So viele Gefühle stürmten auf mich ein, dass ich glaubte mein Kopf würde platzen. Und ich hatte Durst. Ich hatte solchen Durst!
Meine Sicht kehrte zurück, wenn auch etwas schwankend, und ich bemühte mich, trotz der Schmerzen ein klareres Bild von meiner Umgebung zu bekommen. Ich war in einem schwach beleuchteten Kellerraum. Vor mir stand regungslos eine junge Frau. Sie war verwahrlost gekleidet und voller Blut. Mit leerem Blick sah sie mich an, als wäre sie in Trance. Es waren auch noch andere im Raum, doch ich konnte immer noch zu undeutlich sehen, um mehr als ihre Schemen zu erkennen. Das Blut sickerte unaufhörlich in die Kleidung der Frau. So viel Blut. Wieso schrie sie nicht? Wieso bewegte sie sich nicht? Wieso stand sie nur da und schaute mich an?
Jemand rüttelte kräftig an meinen Schultern. Einen Augenblick lang wurde erneut alles schwarz, … dann war ich wieder im Cafe. Keine fremden Gefühle mehr. Keine Kopfschmerzen. Kein Kellerraum.
Mir wurde übel und ich stürmte Hals über Kopf auf die kleine Toilette des Lokals zu, beide Hände vor meinen Mund gepresst. Ich schaffte es gerade so bis zur Kloschüssel, dann übergab ich mich. Auf seltsame Weise war es ganz angenehm. Als würde all das Schlechte, das Merkwürdige in meinem Leben aus mir herausgezogen.
„Oh mein Gott, Emma! Alles in Ordnung? Emma!“
Naomi war hinter mir her gerannt und kniete sich neben mich. Sie streichelte mir den Rücken und hielt meine Haare zurück, während ich mich wieder und wieder übergab.
„Ganz ruhig! Ich bin ja da!“
Nachdem alles draußen war, fühlte ich mich besser. Naomi reichte mir ein feuchtes Tuch und ich wischte mir den Mund ab.
„Hey, alles klar bei euch?“
„Geht es ihr besser?“
„Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“
Die anderen hatten sich vor dem Klo versammelt und drängelten sich aufgeregt aneinander.
„Beruhigt euch, es ist alles in Ordnung, ihr war nur ein wenig
schlecht. Ich gehe mit ihr ein bisschen an die frische Luft, macht mal Platz!“
Wie immer ließ sich Naomi durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie legte mir einen Arm um die Hüfte und zog mich durch die neugierige Menge.
„Geht’s wieder?“, flüsterte sie leise an mich gewandt, während wir uns nach draußen kämpften. Ich nickte langsam. Sie warf einen warnenden Blick über ihre Schulter, und das Gerede hinter uns wurde leiser. Allmählich legte sich die Aufregung, und jeder setzte sich wieder auf seinen Platz.
Wir stellten uns draußen auf die Veranda und lehnten uns gegen das Geländer. Die salzige Meeresluft und der frische Abendwind, die uns vom Wasser entgegenwehten, klarten mich etwas auf, aber der Abend war gelaufen. Wie hatte ich auch erwarten können, dass es einmal anders kommen würde? Dass ich nicht mich und jeden, der bei mir war, haltlos blamierte? Dass ich einmal glücklich sein konnte, ohne absehbares Ende?
„Es tut mir leid, ich wollte dir nicht den Abend vermasseln!“, entschuldigte ich mich leise.
„Hast du nicht, ich hab dich ewig nicht so ausgelassen erlebt! Du hast einfach ein bisschen über die Stränge geschlagen und zu viel gegessen, das kann schon mal vorkommen.“
Sie schaute mich zuversichtlich an, aber in ihren Augen lagen Unsicherheit und Sorge.
„Das nächste Mal lässt du mich besser wieder zu Hause. Ich bin wohl einfach nicht für Partys geschaffen.“
Ich versuchte, das leichte Lächeln von zuvor hinzubekommen, aber es war wieder zu diesem gekünstelten Eislächeln gefroren.
„Gerade mal ein paar Wochen auf dem College und schon hab ich mich vor über zwanzig Studenten zum Vollidioten gemacht“, seufzte ich. Da fiel mir etwas ein.
„Das klingt jetzt bestimmt merkwürdig, aber hab ich etwas Eigenartiges gemacht … also, bevor ich, du weißt schon, aufs Klo gerannt bin. Ich war irgendwie so sehr in Gedanken, dass ich mich nicht wirklich erinnere …“
Ja, in den Gedanken eines Anderen, korrigierte ich mich. Es hatte sich angefühlt wie damals als Kind, als ich an dieser Gasse vorbeigelaufen war. Aber ich verdrängte den Gedanken schnell wieder. Daran wollte ich jetzt nicht auch noch denken.
„Eigentlich nicht. Wie du gesagt hast, du schienst irgendwie in
Gedanken versunken und hast starr vor dich hingeguckt. Ich hab mir nichts dabei gedacht, Tagträume hat schließlich jeder Mal. Dann hast du plötzlich geblinzelt und bist wie von der Tarantel gestochen aufgestanden und zur Toilette gestürmt“, antwortete sie nachdenklich. Hm. Ich hatte wohl tatsächlich in gewisser Weise meinen Körper verlassen.
„Über was hast du eigentlich nachgedacht?“, fragte sie neugierig. Ich schaute verlegen auf meine Hände.
„Weiß ich nicht mehr so genau …“, log ich.
„Ach so.“
Sie zuckte die Schultern.
„Ist auch nicht so wichtig. Wollen wir wieder reingehen?“
Ich warf ihr einen panischen Blick zu.
„Es wird dir schon niemand den Kopf abreisen“, deutete sie meine mimische Erwiderung richtig. „Sich vielleicht über dich lustig machen – man, du hast wirklich gegessen, wie ein Scheunendrescher! – aber dir sicher nicht den Kopf abreisen.“
Und du fängst damit an, dachte ich genervt, als sie ein Lachen nicht unterdrücken konnte. Ich schlug ihr mit der Hand gegen den Oberarm.
„Danke, du bist echt eine große Hilfe!“
Sie lachte immer noch, nahm meine Hand und zog mich zurück ins Cafe. Ich entschuldigte mich bei den Besitzern, aber die Sache war schon wieder fast vergessen.
„Es scheint dir ja geschmeckt zu haben, ich nehm das einfach mal als Kompliment für meine Küche!“, hatte die Besitzerin leichthin gesagt und war wieder hinter der Theke verschwunden. Keiner schien die Sache besonders ernst genommen zu haben, und nach ein paar Minuten war die Stimmung wieder wie zuvor. Nur bei mir wollten sich die dunklen Wolken nicht wieder verziehen.
Ob diese Vision einen Zusammenhang zu der letzten hatte? Beide Male hatte ich gerade etwas gegessen, aber das dürfte wohl kaum von Bedeutung sein. Beim ersten Mal waren es auch nur Bilder gewesen, und es war nicht so plötzlich passiert. Hieß das, es würde schlimmer werden? War das überhaupt möglich?
Obwohl ich zwischen all den anderen saß, fühlte ich mich in diesem Moment unendlich allein. Wieso konnte ich nicht einfach sein, wie jeder normale Mensch auch?
An diesem Abend fiel es mir so schwer wie lange nicht mehr, mein Spiel aufrecht zu erhalten. Die Schatten in meinem Inneren wurden immer größer, immer schwerer zu verdrängen, und das Einzige, das ich tun konnte, war zu versuchen, meine Maske aufrecht zu erhalten und zu lächeln.
In den nächsten Wochen wiederholte sich ein derartiger Vorfall glücklicherweise nicht noch einmal - zumindest nicht in dem Ausmaß. Nachts hatte ich manchmal merkwürdige Träume: Ich jagte draußen herum, meistens im Wald, ohne Ziel, obwohl jagen wohl nicht der richtige Ausdruck ist. Es fühlte sich eher an wie fliegen. Tagsüber überkamen mich manchmal seltsame Gefühlswandlungen. Ich wurde ganz plötzlich ohne Grund aufgewühlt, wütend, gelassen oder genervt. Es war ganz schön schwer, das Ganze unter Kontrolle zu bekommen. Um ein Haar hätte ich meinen Geschichtsprofessor vor versammelter Vorlesung angebrüllt. Ich war plötzlich unheimlich wütend gewesen. Gerade als ich glaubte, meine Zeit auf dem College sei schon nach ein paar Wochen zu Ende, war das Gefühl verschwunden. Stattdessen stellte ich irgendeine unwichtige Frage über den Aufsatz, den wir als Hausaufgabe aufhatten. Von Zeit zu Zeit blitzte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf. Nichts Außergewöhnliches: ein Haus, Bäume, ein Schreibtisch, ein Gemälde – Alltägliches eben, obwohl es oft so schnell und undeutlich zu sehen war, dass es auch hätte Einbildung sein können. Wenigstens träumte ich nicht mehr von meiner Mutter, wobei ich den Traum ehrlich gesagt den Visionen vorgezogen hätte. Zum Glück waren sie nicht mehr so lang, wie die ersten zwei, also ließ ich es schnell über mich ergehen und versuchte größere Peinlichkeiten zu vermeiden, was mir ganz gut gelang.
Heute würde ich fast den ganzen Abend für mich allein haben. Naomi und Adam brachen bereits nach den Vorlesungen zu Verwandten in der Nähe auf, bei denen sie das Wochenende verbringen würden. Sie wollten erst gegen Sonntagmittag wiederkommen. Logan war auf die Geburtstagsparty eines Freundes eingeladen; ein Männerabend, der vermutlich bis in die frühen Morgenstunden gehen würde.
„Ist das auch wirklich okay für dich? Ich meine du bist dann praktisch ganz allein und …“, hob Naomi vorsichtig an.
„Naomi, ich bin keine Fünf mehr!“, unterbrach ich sie. „Ich bin durchaus in der Lage, mal einen Abend ohne euch Nervensägen klar zu kommen. Außerdem muss sich ja jemand um Logan kümmern – betrunken lässt es sich immerhin schwer Autofahren“, schob ich Logan den schwarzen Peter zu.
„Willst du damit auf irgendwas anspielen?“, fragte der mit hochgezogener Augenbraue. Naomi und ich schauten Logan argwöhnisch an. Im Grunde genommen war er ein netter Kerl, aber wenn es um feiern und trinken ging, war er wie alle übermütigen Collegejungs – zu übermütig eben.
Am Ende ließ sich Naomi dann doch überzeugen, zu fahren – es war schließlich nur für einen Abend. Logan machte sich schon vor dem Abendessen aus dem Staub, und da ich keine Lust hatte mir die Mühe zu machen, etwas nur für mich alleine zu kochen, wärmte ich mir die Reste vom Vortag auf. Während ich meinem Risotto zuschaute, wie es in der Mikrowelle seine Runden drehte, überlegte ich, was ich den Abend über machen wollte. Im Fernsehen lief nichts Interessantes, also beschloss ich die seltene Ruhe auszunutzen und schon einmal einen Großteil meiner Hausaufgaben zu erledigen.
Nachdem ich meinen Teller abgespült hatte, breitete ich die nötigen Bücher und Mitschriften auf dem Küchentisch aus, die ich für meine Arbeit brauchen würde. Ich genoss es, nicht auf den Platz achten zu müssen. Für gewöhnlich benutzte ich den kleinen Schreibtisch in meinem Zimmer zum Lernen.
Als ich gerade etwas in meinem Sozialkundebuch nachlesen wollte, überfiel mich eine eigenartige Müdigkeit. Verstohlen schaute ich auf die Uhr. Es war gerade mal halb sieben, eigentlich lernte ich oft um diese Zeit. Ich wollte aufstehen und ein Fenster öffnen, um etwas frische Luft herein zu lassen, aber meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Ergeben legte ich meinen Kopf in die Arme. Wieso hatte ich gleich noch mal aufstehen wollen? Ich wusste es nicht mehr. Ich wollte einfach nur noch hier auf dem Tisch liegen bleiben und Schlafen. Kurz bevor ich meine Augen schloss, kam das mulmige Gefühl, das sich hätte schon viel früher einstellen müssen. Ich war nicht allein.
Ich versuchte verzweifelt, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, doch es war zwecklos. Mein Körper war nicht länger unter meiner Kontrolle. Meine Lieder schlossen sich wie von selbst. Ich war in der Falle.
Das Erste, das ich spürte, war der kalte, schmutzige Boden unter mir. Soweit ich es beurteilen konnte, fehlte mir nichts. Ich war nicht gefesselt und verletzt schien ich auch nicht zu sein. Noch etwas benommen öffnete ich meine Augen und reckte mich vorsichtig. Ich war in einem Keller. Eine winzige Glühbirne ragte aus der Decke und erleuchtete spärlich den kargen Raum. Er musste schon länger leer stehen, alles war unter einem Berg von Staub, Schmutz und Spinnenweben vergraben. Es gab ein paar Regale auf denen alte Gläser und Kisten mit Krempel standen, die die ehemaligen Besitzer wohl zurückgelassen hatten. Ein paar kaputter Holzstühle stand in einer Ecke, und es gab zwei winzige Fenster, durch die man nach draußen schauen konnte. Ich lief zu einem der Fenster hin, aber das Einzige, das man sehen konnte, war Gras. Sie waren in Richtung Garten ausgerichtete. Ich versuchte es zu öffnen, aber wie vermutet tat sich nichts. Ich hätte ohnehin nicht durch gepasst.
„Hallo, ist da jemand?“, schrie ich der kleinen Glasscheibe entgegen. Nichts. Was hatte ich auch erwartet? Einen Versuch war es wert gewesen. Argwöhnisch betrachtete ich die Treppe, die zu meinem Gefängnis hinunterführte. Ein Entführer wäre wohl kaum so dumm, die Tür nicht zu verschließen. Aber vielleicht war sie alt und leicht aufzubrechen...
Ich stieg wachsam die Stufen hinauf und rüttelte am Knauf. Natürlich war sie verschlossen. Ich warf mich mit voller Wucht dagegen, aber sie bekam nicht einmal einen Kratzer, im Gegensatz zu mir. Autsch. Das würde einen blauen Fleck an der Schulter geben. Obendrein wäre ich fast rücklings umgekippt. Gerade noch rechtzeitig fanden meine Finger das schützende Geländer. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als abzuwarten.
Ich ließ mich an der Wand mit den zwei Fenstern auf den dreckigen Boden sinken. Ich fühlte mich immer noch ein wenig schwach. Irgendwie schien ich diese Art von Orten wie magisch anzuziehen. Wo um alles in der Welt war ich? Und was noch viel wichtiger war: Wer hatte mich hierher gebracht und wozu? Ob mir jemand etwas in meine Essen gemischt hatte? Aber wie hätte er das anstellen sollen?
Obwohl … Bei all den verrückten Dingen, die ich in letzter Zeit gesehen hatte, war das vielleicht nur wieder eine dieser Visionen. Ich war während des Lernens müde geworden, vielleicht schlief ich ja nur. Prüfend schaute ich auf meine Hände. Eindeutig meine. Ich atmete tief durch, dann legte ich das Gesicht in meine Handflächen. Lange würde ich das Alles nicht mehr aushalten. Was stimmte bloß nicht mit mir?
Nach einiger Zeit hörte ich Schritte. Mein Herz begann wie wild zu rasen. Türen wurden aufgeschlossen. Erst eine, dann eine zweite. Die Schritte kamen immer näher. Nach der gespenstischen Stille zuvor klangen die Geräusche laut und störend in meinen Ohren. Ich setzte mich auf und blieb an der Wand gedrückt stehen. Wer auch immer da kam: Ich wollte mit ihm auf gleicher Höhe stehen, zumindest physisch gesehen. Die Sekunden schienen nicht enden zu wollen und dann, noch bevor jemand in mein Sichtfeld trat, traf es mich wie ein Schlag. Es war einer von Ihnen. Ich fühlte es. Ich wusste, dass ich Recht hatte. Es war wie damals in der Halle, wie in der Gasse – dieses Gefühl war unvergleichlich, unverwechselbar. Angespannt starrte ich die marode Treppe an. Die Stufen begannen zu knarren, und feige wie ich war starrte ich zu Boden. Ich wollte den Anblick, der sich mir gleich bieten würde, so lange wie möglich hinauszögern.
Das Knarren hatte aufgehört. Mein Blick schweifte vorsichtig umher, bis er an zwei vornehmen Männerschuhen hängen blieb. War die Luft hier unten vorher auch schon so drückend gewesen?
Ich atmete tief durch, versuchte den Rest an Gelassenheit, der noch irgendwo in mir vorhanden sein musste, zu mobilisieren, und hob den Kopf.
„So sieht man sich wieder.“
Es war der Anführer der Schlägertruppe aus Seattle. Diesen Mantel hätte ich überall wieder erkannt. Seine Stimme war, wie ich sie erwartet hatte: kalt und emotionslos.
Er lächelte unschuldig, doch ich erkannte sofort die Gezwungenheit in seinen freundlichen Zügen. Seine milchig roten Augen lagen fordernd auf mir und hielten meinen Blick gefangen.
Ich wollte etwas erwidern, doch mein Hals war wie ausgetrocknet. Stattdessen starrte ich ihn nur wie gebannt an. Sein Lächeln wurde breiter, was seine Reißzähne entblößte.
Langsam trat er näher an mich heran. Meine Augen weiteten sich ungewollt, und er schien diesen Ausdruck meiner Angst zu genießen. Der Druck in dem kleinen Raum war kaum noch zu ertragen. Mein Magen krampfte sich schmerzvoll zusammen und mir war mit einem Mal schrecklich übel.
Noch nie war mir einer von Ihnen so nahe gekommen, oder zumindest hatte ich es nicht so eindringlich wahrgenommen.
Einige Schritte von mir entfernt blieb er stehen.
„Eigentlich würde ich dich jetzt gleich umbringen, aber leider brauche ich dich noch. Zu dumm für dich, dass du mir neulich bei meiner kleinen Unterredung dazwischen gefunkt hasst.“
Er lachte kurz, oder zumindest vermutete ich das. Es klang eher wie ein kratziges, rauchiges Krächzen, ein wenig wie der Schrei einer Krähe. Sein neutraler Tonfall machte die Drohungen noch beängstigender.
„Fünfzehn Jahre, das ist mir noch nie passiert.“
Er sagte es mehr zu sich selbst, als zu mir. Jetzt klang er sogar ein wenig ehrfürchtig, soweit ich mir ein Urteil erlauben konnte. Ich bildete mir ein, Vorfreude herauszuhören, aber ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was das zu bedeuten hatte. Moment mal. Fünfzehn Jahre? Hieß das, er war damals dabei gewesen? Konnte er tatsächlich einer der vielen Schatten sein, die vor den Flammen davongehuscht waren?
Er hatte es wohl in meinem Kopf klicken gehört, denn er warf mir einen herausfordernden Blick zu.
„Deine Mutter war äußerst gerissen, das muss ich zugeben. Ich hatte einfach nur unheimliches Glück. Ich war der Einzige, der es geschafft hat, dem Feuer zu entkommen.“
Er schaute mich bedeutend an.
„Na ja, fast.“
Wieder kam er ein Stück näher, genoss jeden Schritt, der mein Herz schneller schlagen ließ.
Plötzlich wechselte seine Augenfarbe von dem trüben Rot zu leuchtendem Braun. Er hielt kurz inne und legte den Kopf leicht schräg. Sein Lächeln war verblasst. Er wirkte nachdenklich.
„Äußerst interessant, doch nicht weiter von Belang“, sprach er erneut an sich selbst gewandt.
Ich wollte zurückweichen, doch die harte Wand in meinem Rücken erinnerte mich schmerzhaft daran, dass es kein Entkommen gab. Bald trennte uns nur noch ein winziger Schritt voneinander.
Er hob seine rechte Hand, streichelte genießerisch über meine Wangen, strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte sie anschließend an die Pulsader meines Halses, deren Pochen wie Bässe in meinen Ohren drang. Seine Haut war kalt und rau, wie sein ganzes Wesen.
Ich wagte kaum zu atmen, mich zu bewegen. Ich stand wie versteinert da und wartete darauf, dass es endlich vorbei war. Meine Augen starrten wie besessen in das dunkle Braun seines Mantels, das nun die Stelle verdeckte, an der er vorher gestanden hatte. Er war größer, als ich erwartet hatte. Seine breiten Schultern türmten sich gebieterisch vor mir auf, ein unübersehbarer Beweis seiner Überlegenheit. Er senkte seinen Kopf zu meinem Ohr herab.
„Noch ein klein wenig“, flüsterte er. „Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Ich bringe immer zu Ende, was ich begonnen habe…“
Er stieß erneut diesen krächzenden Laut von vorher aus. Sein Gesicht war noch näher herangerückt. Ich fühlte den leichten Lufthauch, den jedes seiner Worte an meinem Ohr verursachte. Ein fauliger Geruch drang in meine Nase, und ich spürte seinen kräftigen Körper, der nun fast an meinen gelehnt war. Meine Beine drohten mich im Stich zu lassen, und mein Blick hatte sich bereits getrübt, als er endlich von mir abließ.
„Fühl dich ganz wie zu Hause!“ sagte er, wobei er mit einem lässigen Schwenk seiner Hand den Keller umfasste. Sein Blick wich keine Sekunde von meinem.
„Ich komme bald wieder, Schätzchen!“
Sein Lächeln war zurückgekehrt, breiter als zuvor.
Genugtuung. Zufriedenheit.
Er wandte mir den Rücken zu und lief in Richtung Treppe. Kurz vorher blieb er stehen.
Unsicherheit.
Eine Sekunde zuvor war er sich seiner Sache doch noch so gewiss gewesen ... Er drehte sich zu mir um, doch noch bevor ich seinem Gesicht etwas entnehmen konnte, war er bereits ans andere Ende des Raumes geflogen. Zwei Regale rechts von mir brachen laut klappernd unter seinem Gewicht zusammen.
Buchstäblich wie aus dem nichts war Er aufgetaucht, mein “Retter“. Sein Gesicht blieb wieder vor mir verborgen; er trug ebenfalls einen dunklen Mantel, dessen Kapuze über sein Kopf gezogen war und deren Schatten seine Züge verhüllten. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass er es war, obwohl ich nicht genau erklären konnte, wieso.
Wie angewurzelt stand ich da und versuchte zu begreifen, was sich vor mir abspielte.
Mein Entführer hatte sich bereits von dem Schlag erholt. Er stand schon wieder aufrecht und in Angriffsposition. Er schaute mich abschätzend an, dann wandte er sich dem Neuankömmling zu.
„Das war schneller, als erwartet. Ich muss zugeben, du hast mich überrascht“, begrüßte er seinen Gast. „Ich hatte schon beinahe einkalkuliert, das Menschlein würde nicht ausreichen, um dich hierher zu locken. Aber wie es aussieht, war meine Sorge unbegründet. Das ist schön, dann kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
Seiner Stimme war kein Anzeichen des Rückschlags anzumerken, den er soeben erlitten hatte.
„Du hättest besser daran getan, meiner Warnung Gehör zu schenken“, grollte mein Retter.
Ich zuckte unwillkürlich vor der Schärfe seiner Worte zurück. Er war eindeutig nicht der Typ für lange Spielchen. Er versuchte gar nicht erst sich zu verstellen, den Anschein der trügerischen Höflichkeit zu wahren wie es sein Gegenüber getan hatte. Seine Haltung unterstrich nur zu gut die Aura von Macht, die ich schon in der Halle an ihm wahrgenommen hatte. Dagegen erschien das Auftreten des anderen gerade zu lächerlich.
Verwirrung und Wut breiteten sich in mir aus. Wie eine Welle wurde ich von diesen Gefühlen überschwemmt, so heftig, dass ich für einen Moment an nichts anderes denken konnte. Verwirrung okay, aber Wut? Eigentlich war ich nicht wütend …
„Ich lasse mir von niemandem etwas vorschreiben, schon gar nicht von so einem vorlauten Bürschchen wie dir“, konterte der andere wenig beeindruckt. „Neulich bei unserem Kampf hattest du nur Glück, aber ich werde nicht noch einmal den Fehler machen, dich zu unterschätzen. Und wenn ich erst mit dir fertig bin …“, er grinste überheblich und deutete mit dem Finger auf mich, „… dann werden ich und deine kleine Menschenfreundin noch eine alte Rechnung begleichen.“
Ein hämisches Grinsen verriet seinen unerschütterlichen Glauben an sein Vorhaben. Er würde mich heute Nacht töten, koste es, was es wolle. Ich sah es in seinen Augen, hatte es eigentlich schon in dem Moment gewusst, als mir klar wurde, wer mich hierher gebracht hatte. Ich hatte dem Tod schon zu oft ein Schnippchen geschlagen. Jetzt folgte die unweigerliche Konsequenz.
Mein Entführer trat kaum merklich ein Stück näher an mich heran, ließ jedoch seinen Kontrahenten keinen Augenblick unbeobachtet. Der folgte seiner Bewegung fast so schnell, dass es aussah, als hätten sich beide gleichzeitig bewegt. Versuchte Er etwa, mich zu verteidigen? Hatte ich vielleicht doch noch eine Chance zu entkommen? Aber selbst wenn mein Entführer erledigt war, was sprach denn dagegen, dass ich die Nächste sein würde?
Ich hatte in meinem Leben eindeutig Dinge mitbekommen, die kein Mensch leichtfertig erfahren sollte. Mensch. Da, ich hatte es gedacht! Wie oft hatte ich diesen Gedanken verdrängt, ihn für unmöglich erklärt. Sie sahen aus wie Menschen, redeten wie Menschen – doch sie waren nicht wie wir!
Mein Herz begann bei dieser Erkenntnis noch schneller zu pochen, soweit das überhaupt möglich war. In meinem Geist sah ich Bilder der schattenhaften Kreaturen an dunklen Orten aufblitzen, Erinnerungen meiner Kindheit. Vor dem Einschlafen hatte ich mir jedes Mal ängstlich meine Bettdecke bis zur Nase gezogen. Manchmal hatte ich mich sogar komplett darunter verkrochen, bis ich fast keine Luft mehr bekommen hatte. Mit meinem Teddy und einer Taschenlampe in der Hand, von Wärme und weichen Kissen und Decken umringt, konnte ich mich wenigstens für kurze Zeit vor der Welt verbergen. Ich konnte so tun, als wäre ich sicher, als wäre ich in meiner eigenen Welt, in die niemand sonst gelangen konnte. Metaphorisch gesehen hatte ich das mein ganzes Leben lang getan, mich unter einer Decke versteckt. Doch jetzt hatte jemand die schützende, dünne Decke weggerissen, die mich vor der Welt verbarg, vor beiden Welten. Ich konnte mir nicht länger einreden, dass ich vor allem davonlaufen konnte. Ich war schutzlos ausgeliefert.
Meine Beine schwankten erneut bedrohlich, und ich konnte gerade noch ein Zusammenbrechen verhindern, rutschte aber mit meinen Sneakers geräuschvoll auf ein paar Steinen aus, Geröll von der alten Wand. Der Schreck über meinen Beinahe-Sturz brachte mich wieder zurück in die Realität.
Der Kapuzenmann warf mir einen kurzen Blick zu. Seine Augen waren immer noch von Schatten verhüllt, sein Mund wirkte angespannt. Ich versuchte verzweifelt, sein ganzes Gesicht zu erkennen und vergaß dabei fast, dass noch ein Dritter im Raum war. Der nutzte seine Chance. Einen Moment unbeobachtet, darauf hatte er gewartet.
Pfeilschnell schoss mein Entführer auf mich zu, doch sein Gegner ließ sich nicht täuschen. Er war schneller, baute sich auf halber Strecke vor mir auf und versperrte meinem Angreifer den Weg, der daraufhin wieder zu seinem alten Platz zurückwich. Zumindest war das die Variante, die ich mir zusammengereimt hatte. Ich hatte aus meinen Augenwinkeln heraus eine verschwommenen Gestalt rechts von mir wahrgenommen, und eine Sekunde später war der Kapuzenmann verschwunden und einige Meter vor mir wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht, so dass mir nun die Sicht auf meinen Angreifer verwehrt blieb. Mussten die sich so schnell bewegen? Mein Selbstbewusstsein war ohnehin schon wortwörtlich im Keller.
„Verschwinde!“, zischte mein Retter.
Etwas an seinem Tonfall ließ mich aufhorchen. Meinte er etwa mich?
„Er wird dir nicht folgen, verschwinde endlich!“
Diesmal klang er ungeduldiger, seine Stimme gewährte keinen Widerspruch. Gut, er meinte also mich, aber laufen war einfacher gesagt, als getan. Die Ohnmachtsgefahr war immer noch nicht gebannt, mein Körper war auf Alarmstufe rot.
Ich biss mir auf die Lippen. Egal, jetzt oder nie.
Ich stieß mich mit beiden Händen von der Wand ab und betete, dass meine Beine mich tragen würden. Ich fasste das Treppengeländer ins Auge, daran könnte ich mich stützen, und stürmte los, ohne auf die beiden Anderen zu achten.
An der Treppe angelangt, warf ich einen letzten, kurzen Blick auf meinen Entführer. Er hatte die Zähne wütend zusammengebissen, sein Plan war gescheitert. Er blickte mich bedrohlich funkelnd an, sein Gesicht längst nicht mehr die freundliche Maske von vorher.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte ich meinem Gefängnis den Rücken zu und stürmte die Treppe hinauf in die Freiheit. Ich stieß die Kellertür auf, die in einen dunklen Hausflur mündete, und rannte in Richtung einer robusteren, weißen Tür, die sich am anderen Ende des Ganges befand. Sie besaß ein kleines Fenster, wodurch schwaches Laternenlicht von draußen drang. Ich riss sie mit voller Wucht auf und jagte die Steinstufen hinunter, die aus dem Haus und auf einen breiten Gehweg führten. Am Fuße der Treppe rammte ich ein junges Paar; der Mann packte mich gerade noch rechtzeitig am Arm, um einen Sturz zu verhindern.
Ich schaute die Zwei vollkommen entgeistert an. Menschen. Ich blickte um mich. Neben mir erstreckte sich eine stink- normale, belebte Straße, an den Seiten gesäumt von Einfamilienhäusern. Am hinteren Ende konnte ich einige Läden und Restaurants ausmachen, in denen geschäftig die Leute ein und ausgingen, es war schließlich Freitagabend.
Mein Körper bebte immer noch, mein Atem kam stoßweise. Unsicher ließ der Mann meinen Arm los und legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter.
„Ist alles in Ordnung mit ihnen?“, fragte er vorsichtig. Ich fuhr zu ihm herum. Meine Anspannung hatte sich etwas gelegt, der Druck auf meiner Kehle wurde schwächer, doch ich war mir nicht ganz sicher, ob meine Stimme schon wieder vollkommen einsatzfähig war, also nickte ich nur.
Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf, legte den Arm wieder um die Taille seiner Freundin und zog sie mit sich.
„Passen sie auf sich auf!“, sagte er mahnend, bevor die Beiden tuschelnd weiterliefen.
Ich nahm meine neue Umgebung etwas genauer in Augenschein und stellte überrascht fest, dass ich dieses Viertel kannte. Es war nicht weit von unserem Wohnblock entfernt. Vor einiger Zeit hatte ich mit Naomi in der Nähe eingekauft. Auch wenn alles durch die Lichter der Nacht etwas verändert wirkte, war ich mir ziemlich sicher.
Ruckartig wandte ich mich dem Haus in meinem Rücken zu. War ich wirklich dort gefangen gewesen? Von außen wirkte es gar nicht so verlassen, umringt von all diesen belebten Häusern. Ich stieß einen resignierten Laut aus. Wieder war ich zwischen der Welt der Monster und der Normalität hin und her gerissen worden. Nun stand ich hier in meiner schlabbrigen Jogginghose und meiner Nikkiweste wie bestellt und nicht abgeholt mitten auf einer öffentlichen Straße. Reflexartig hob ich meinen linken Arm, um auf die Uhr zu sehen. Mist. Ich hatte sie beim Spülen abgenommen und vergessen, sie wieder anzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es eigentlich war. Der Himmel war noch tiefschwarz, vielleicht schaffte ich es irgendwie, vor Logan nach Hause zu kommen. Ich wollte mein Weggehen an diesem Abend nicht erklären müssen, dazu in diesen Klamotten. Da fiel mir ein, dass ich meinen Hausschlüssel gar nicht bei mir hatte. Um eine Erklärung würde ich also doch nicht herumkommen, na toll. Vielleicht war Logan betrunken, so betrunken, dass er sich nicht an den Abend erinnern würde...
Na ja, wenigstens hatte ich nicht verlernt zu hoffen.
Die kalte Nachtluft begann, an mir zu zerren. Schützend schlang ich meine Arme um den Bauch und lief zitternd in die Richtung, in der ich unsere Wohnung vermutete. Naomi schleppte mich öfter zu irgendwelchen Shoppingtouren mit, doch ich achtete nie wirklich darauf, wo wir eigentlich waren. Ich wollte meistens einfach nur den Tag möglichst schnell hinter mich bringen. Es war sowieso egal, die überfüllten Einkaufszentren und Läden sahen ohnehin überall gleich aus, und ich konnte mich noch nie so recht dafür begeistern. Ich seufzte. Hätte ich nicht doch ein bisschen öfter auf die Straße schauen können? Beim nächsten Trip würde ich peinlich genau auf den Weg achten, das schwor ich mir!
Im Moment konnte ich nicht mehr tun, als meinem Gefühl zu folgen, also einfach der Nase nach. Mir war immer noch elend zu Mute, und ich hoffte inständig, möglichst schnell nach Hause kommen. Nur noch nach Hause und in mein Bett.
Bei den ersten Geschäften angelangt machte ich halt. Ging es nun nach rechts oder links? Ich war mir nicht sicher.
„Miau.“
Eine kleine, schwarze Katze versperrte mir den Weg. Sie hatte sich vor mich gesetzt und schaute mich aus ihren großen Augen an, die durch das Dunkel der Nacht gelb leuchteten. Merkwürdig. Für gewöhnlich ignorierten die streunenden Tiere Menschen völlig, außer sie bekamen etwas zu Essen von ihnen.
Die Katze legte ihren Kopf leicht schräg, fast so, als würde sie über etwas nachdenken, dann tapste sie wie ein zahmes Hündchen auf meine rechte Seite und lief davon. Nach ein paar Schritten drehte sie ihren Kopf erwartungsvoll zu mir um. Als ich nicht begriff kam sie zurück, stupste mir leicht mit der Schnauze an den Knöchel, als wollte sie mir bedeuten ihr zu folgen, und schritt erneut leichtfüßig voran. Etwas war seltsam an ihr, unnatürlich. Ich konnte es nicht genau erklären, aber ich hatte ein komisches Gefühl. Sie wirkte viel zu klug für ein Tier.
Eigentlich hätte ich mich jetzt wundern sollen – eine Katze die mir den Weg zeigen wollte? – aber ich hatte an diesem Abend schon zu viel erlebt, als dass mich noch irgendetwas ernsthaft verwundern konnte. Wieso also diesen Wink des Schicksals ausschlagen? Ich wusste so oder so nicht, wo es lang ging, und mehr als dass ich mich verlief, konnte nicht passieren. Das Übernatürliche hatte mich immerhin erst in diese Lage gebracht – jetzt konnte es mich auch wieder rausholen!
Zu müde und schwach um über Alternativen nachzudenken, folgte ich also dem mysteriösen Streuner. Eigenartiger Weise fühlte ich mich in der Nähe des Tieres sicher und geborgen. Fast beschützt.
Mein Herz machte einen kleinen Satz, als mir nur wenige Minuten später ein vertrautes, vornehmes Gebäude ins Auge fiel, das so gar nicht in die Gegend passen wollte. Von hier wusste ich den Weg ganz sicher; es waren keine fünf Minuten mehr bis zu unserem Block.
Das Kätzchen blieb stehen und drehte sich zu mir um, seine intelligenten Augen schauten zu mir auf. Dann zuckte es kaum merklich zusammen, sein Blick wurde glasig. Der wissende Ausdruck verschwand aus seinen Zügen. Es blinzelte kurz verwirrt, jagte anschließend wie vom Blitz getroffen über die Straße und verschwand schließlich in der Dunkelheit.
Obwohl das Tier weg war, fühlte ich noch immer seine Nähe, den warmen Glanz in seinen Augen, als hätte es ihn einfach abgestreift und zurückgelassen. Irgendetwas daran kam mir vertraut vor, aber was?
Ein kurzes Zischen links von mir ließ mich erschrocken zusammenfahren. Es schien aus einer Lücke zwischen zwei Häusern zu kommen. Fast erwartete ich, zwei rot glühende Augen oder etwas in der Art hervorstechen zusehen, aber alles was ich erkennen konnte, war eine Ansammlung diverser schwarz und Grautöne. Das Licht der Straßenlaterne reichten nicht weit genug, um mehr als den Anfang der schmalen Gasse zu erkennen.
„Es ist gefährlich, nachts auf der Straße zu sein. Geh nach Hause, dir wird nichts mehr geschehen.“
Der Kapuzenmann. Seine Stimme klang angespannt.
Hatte eretwa die Katze geschickt, um mir zu helfen? Es musste seine Aura gewesen sein, die ich an dem Kätzchen wahrgenommen hatte! Hieß das also, es gab auch „Gute“ unter diesen Kreaturen?
Ich hätte gerne etwas erwidert, doch meine Stimme weigerte sich noch immer, einen Ton von sich zu geben.
Die Aura des Kapuzenmannes wurde schwächer, und ich gab den Versuch auf, in der Gasse irgendetwas zu erkennen. Entschlossen drehte ich mich wieder in Richtung Straße und begann, los zu rennen. Er war mir bis hierher gefolgt, er würde mir auch weiterhin folgen – er musste einfach! Ich war der Lösung des Rätsels so nah wie nie zuvor, und mein Gefühl sagte mir, dass ich bald die Antworten bekommen würde, nach denen ich schon so lange suchte.
Die Aura schien mir tatsächlich zu folgen. Sie hatte zwar nachgelassen, verschwand aber nie ganz. Auch diese seltsame Gewissheit, mir würde nichts mehr passieren, war geblieben. Und ich hatte gedacht, absurder konnte dieser Abend nicht werden! Aber nein, mit dem Wissen, ein nicht menschliches irgendwas folgte mir, verspürte ich nicht etwa Angst, sondern Geborgenheit. Ich erwog ernsthaft, meine Traumtheorie noch einmal zu überdenken.
Keuchend hielt ich schließlich vor unserem Haus inne. Erleichterung durchströmte mich, bis mir klar wurde, dass sich das Problem mit dem Schlüssel nicht in Luft aufgelöst hatte. Was nun?
Während ich überlegte, wie hoch meine Chancen standen, Einzubrechen oder an der Wand hochzuklettern, sprang die Haustür plötzlich wie von selbst auf und das Licht im Treppenhaus ging an. Ob er das gewesen war? Die Sache mit der Katze musste er ja auch irgendwie gedreht haben...
Ich schlich die Treppe hoch in den dritten Stock, wo unser Apartment lag. Dieses Mal musste ich nicht einmal mehr warten. Die Tür stand bereits einen Spalt offen. Selbst das Flurlicht war eingeschaltet worden.
Zögernd trat ich ein. Weder Logans Jacke, noch seine Schuhe, die er üblicher Weise nachlässig in der Nähe des Eingangs verstreut liegen ließ, waren zu sehen. Er war noch nicht zu Hause.
Die Uhr in der Küche zeigte halb zwei an. Meine Bücher und Hefte lagen auf dem Tisch verstreut, wie ich sie zurückgelassen hatte. Es roch sogar noch ein wenig nach meinem Abendessen.
Ich wollte gerade in mein Zimmer, als es auf meiner Haut anfing, wie verrückt zu kribbeln. Die Aura war wieder präsenter geworden. Ich wurde nervös. War er etwa hier drin? Behutsam öffnete ich die Tür und schaltete das Licht ein. Der Raum war leer.
Klick. Ich stand im Dunkeln. Das gesamte Licht im Apartment war mit einem Schlag ausgeschaltet worden.
Ich horchte angespannt in das Schwarz vor mir. Langsam schob sich das große Fenster nach oben. Nur der fahle Mondschein und die trüben Strahlen der Straßenlaternen ließen mich schwache Schemen erkennen.
„Ich komme jetzt rein“, warnte er mich.
Kaum eine Sekunde später konnte ich, neben dem Fensters im Schatten stehend, eine männliche Gestalt ausmachen. Sie war fast gänzlich vor dem Licht verborgen, nur die Andeutung einer Schulter war zu erkennen.
„Wir haben Einiges zu besprechen.“
Eine ganze Menge, korrigierte ich in Gedanken.
Die Kapuze hatte er inzwischen abgesetzt, aber von seinem Gesicht war immer noch nicht viel zu erkennen. Meine Hand lag zwar in der Nähe des Lichtschalters, doch ich wagte nicht, ihn zu drücken.
„Danke, dass du … mich gerettet hast!“, brachte ich mühevoll
hervor. Endlich hatte ich meine Stimme wieder gefunden, auch wenn sie eindeutig zu zerbrechlich klang.
„Ich bin ein Vampir“, sagte er tonlos, ohne auf meine Worte einzugehen.
Wow, das war … direkt. Offensichtlich hatte er sich dazu entschlossen, gleich zum Punkt zu kommen.
„Aber ich bin noch am Leben …!“, sprudelte es schließlich aus mir heraus. Wie immer, wenn ich nicht weiter wusste, hatte ich das Erstbeste gesagt, was mir eingefallen war, ohne groß darüber nachzudenken. Jetzt hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Als ob das nicht offensichtlich wäre, schließlich stand ich quietsch lebendig vor ihm! Dankbarerweise ging er darauf ein.
„Ja, das ist wahr.“
Er sprach die Worte aus, als würde er sie selbst nicht so recht glauben.
„Aber das bedeutet nichts. Ich könnte dein Leben so schnell beenden, dass du es nicht einmal merken würdest. Allein dass ich jetzt mit dir in diesem Raum stehe …“
Er schüttelte verwundert den Kopf.
„Hast du Angst?“, wollte er wissen.
„Nein.“
Und das stimmte. Auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte spürte ich, wie sein Blick eindringlich auf mir lag. Die Skepsis in seinem Schweigen war unüberhörbar. Trotzdem begann er, zu erzählen.
„Ich habe seit einiger Zeit Visionen – von dir. Deshalb konnte ich dir heute zu Hilfe kommen. Zu Beginn waren es nur Bruchstücke, nichts was ich hätte irgendwie oder irgendwem zuordnen können. Doch die Bilder wurden klarer, die Ein- drücke stärker. Zwischen uns besteht eine Verbindung, die ich mir im Moment selbst nicht erklären kann. Solange wir nicht wissen, in wie weit wir beide dadurch betroffen sind, ist es für jeden von uns eine potentielle Gefahr. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass auch du Dinge von mir gesehen hast.“
Er war es also, den ich „gesehen“ hatte. Und auch er konnte mich sehen. Ich spürte förmlich die Farbe aus meinem Gesicht weichen. Die blutverschmierte Frau im Keller, hatte er ihr das angetan?
Ich schluckte geräuschvoll. Aber ich hatte gefühlt, was er ich
diesem Moment fühlte – Angst, Trauer, Reue. Wenn das wirklich seine Gefühle gewesen waren, konnte er nicht durchweg schlecht sein. Ich meine, hatte er denn überhaupt eine Wahl gehabt? Tranken Vampire nicht normalerweise Menschenblut?
Allein dass ich jetzt mit dir in diesem Raum stehe … Hatte er das damit gemeint, dass es schwer war, die Kontrolle zu behalten? Offensichtlich versuchte er es zumindest.
„Ich werde dich nicht belügen. Viele Menschen haben durch mich ihren Tod gefunden“, erahnte er, was ich gesehen hatte. „Ich verspreche, dass ich mein Bestes tun werde zu widerstehen, aber du solltest dir der Gefahr bewusst sein, in der du dich befindest.“
„Was sollen wir jetzt also deiner Meinung nach tun?“, fragte ich leise.
„Wir müssen einen Weg finden, die Verbindung rückgängig zu machen. Als erstes sollten wir uns um deinen Entführer kümmern, mit ihm hat alles angefangen.“
Er war ihm also entwischt. Da fiel mir etwas ein.
„Du … du hast mich schon gerettet, bevor wir diese Verbindung hatten, damals in der Halle in Seattle. Nicht, dass ich nicht dankbar dafür wäre, aber wieso hast du das getan?“
Er zuckte lässig die Schultern.
„Es gab in letzter Zeit schon zu viele ‚Morde‘ in dieser Gegend und wir dürfen keinen Verdacht erregen.“
Wie charmant, aber zumindest log er nicht.
„Hast du … hast du dich deshalb mit den Anderen gestritten?“, hakte ich nach.
„Das war einer der Gründe, ja.“
„Angenommen, wir sind meinen Verfolger los – was dann?“, wollte ich wissen.
„Im Idealfall wird sich unsere Verbindung auflösen.“
„Und wenn nicht?“
„Darüber sollten wir uns erst Gedanken machen, wenn es soweit ist.“
Eine kurze Pause entstand.
„Wenn die Verbindung unterbrochen ist, …“, stellte ich in den
Raum, „… wie soll es dann weitergehen? Ich weiß jetzt schließlich, was du bist, und du hast eben selbst gesagt, wenn die Entdeckung eurer Existenz auf dem Spiel steht, müsst ihr einschreiten ...“
„Ich werde deine Erinnerungen löschen“, erklärte er, als wäre es das Banalste der Welt. „Du wirst dich weder an den Vorfall in Seattle, noch an mich oder irgendetwas anderes erinnern, das mit mir oder meiner Herkunft zu tun hat. Es wird so sein, als wären wir uns nie begegnet.“
Er sagte es ohne eine Regung, es war eine schlichte Tatsache. Ich schluckte.
„Du kannst Erinnerungen löschen?“
„Wir haben viele Talente.“
„So ist es vermutlich das Beste … Freundschaft auf Zeit“, seufzte ich, auch wenn ich nicht besonders scharf darauf war, mir an meinem Gehirn rumbasteln zu lassen.
„So könnte man es wohl nennen.“
„Gibt es denn Menschen, die von eurer Existenz wissen?“, erkundigte ich mich vorsichtig.
„Nein, das ist verboten. Sie würden nebenbei gesagt nicht lange genug leben, um ihr Wissen genießen zu können. Es war pures Glück, dass du heute lebend aus dieser Sache raus gekommen bist.“
Eine kühle Brise wehte durch das Fenster und spielte mit meinen Haaren. Die Kälte belebte mich, klarte meinen Kopf ein wenig auf. Ein Vampir hatte versucht mich umzubringen, es beinahe geschafft, und er würde es weiter versuchen. Der Einzige, der mir helfen konnte, war selbst ein Vampir von dem ich nichts wusste. Das war doch Wahnsinn!
„Wie … wie heißt du eigentlich? Wenn wir zusammenarbeiten wollen, sollten wir wenigstens unsere Namen kennen. Ich … ich bin Emma“, stellte ich mich vor, um das Gespräch auf ein weniger heikles Thema zu lenken.
Reflexartig wollte ich ihm meine Hand entgegenstrecken, besann mich aber noch rechtzeitig eines Besseren. Es war merkwürdig, sich mit solch einem Abstand zu unterhalten. Wie sich seine blasse Haut wohl anfühlte?
„Ich heiße William. Es freut mich, dich kennen zu lernen“, entgegnete er und neigte leicht seinen Kopf; eine vornehme Geste, sie so gar nicht zu seinem jugendlichen Äußeren passen wollte.
„Ähm … ja, mich auch dich“, erwiderte ich äußerst geistreich in dem Versuch, sein gesittetes Auftreten zu imitieren. Notiz an mich selbst: Schuster, bleib bei deinen Leisten!
Um schnell von dieser Grammatikvergewaltigung abzulenken, schob ich hinterher: „Wie wollen wir eigentlich Kontakt halten? Ich meine, besitzt … ähm … ihr Handys oder Computer?“
„Ich bin zwar ein Vampir, aber nicht von vorgestern“, entgegnete er. „Trotzdem bevorzuge ich andere Wege der Verständigung.“
Er ging nicht näher darauf ein.
„Tagsüber bist du sicher – solange du dich nicht im Wald oder in anderen dunklen Ecken herumtreibst.“
Ich wusste, dass er auf die Halle anspielte. Als ob ich darauf abzielte, mich absichtlich in Schwierigkeiten zu bringen!
„Nachts werde ich dafür Sorge tragen, dass dir nichts passiert. Wenn sich etwas Neues ergibt, werde ich mich bei dir melden.“
„Aber wie …“, setzte ich an, wurde jedoch unwirsch unterbrochen.
„Du wirst es schon mitkriegen“, war alles, was er dazu zu sagen hatte. Na danke, wirklich sehr informativ, dachte ich gereizt. Da ich aber keinen Streit mit meinem neuen Vampir-Verbündeten vom Zaun brechen wollte – das hätte dieser Nacht gerade noch gefehlt – behielt ich meine Gedanken vorerst für mich und fragte stattdessen: „Und was ist, wenn du nun in Schwierigkeiten gerätst – was soll ich dann tun?“
„Das wird nicht passieren“, antwortete er schlicht.
Vampir-Verbündeter. Keinen Streit vom Zaun brechen, rief ichmirnochmal ins Gedächtnis. Bleib cool.
„Was ist, falls du … Hunger bekommst?“, versuchte ich es erneut. Ich war bestimmt nicht besonders scharf darauf, ihm nochmal beim Essen zuzusehen. Selbst die zensierte Version, die ich „empfangen“ hatte, hatte es schon in sich gehabt – an die unzensierte wollte ich lieber erst gar nicht denken. All das Blut an den Kleidern der jungen Frau …
William erwiderte nichts, was in diesem Fall ausnahmsweise Antwort genug war. Ich sah blutige Zeiten auf mich zukommen.
„Ich gehe jetzt besser, wir sollten dein Glück nicht überstrapazieren“, hob er nach einer angemessenen Pause an. „Du wirst kein Wort über heute Nacht verlieren, bei niemandem!“
Ich verdrehte die Augen.
„Als ob mir ...“, setzte ich an, aber er war schon verschwunden. Wie angewurzelt blieb ich stehen und schaute in die Nacht hinaus. Wie zum … ?
Es dauerte einige Minuten, bis ich mich aufraffen konnte, das Fenster zu schließen. Ich ließ mich auf das Bett fallen und schaltete die Leselampe ein, die ich über meinem Nachttisch befestigt hatte. Das Licht wirkte tröstlich.
Meine Gedanken rasten, und ich wusste nicht, worüber ich zuerst nachdenken sollte. Ich schloss meine Augen und ließ den Abend Revue passieren, angefangen bei meiner Entführung in der Küche. Als ich meine Augen wieder öffnete, war es schwer vorzustellen, dass das alles wirklich geschehen war. War wirklich noch bis vor fünf Minuten ein Vampir in meinem Zimmer gestanden? Könnte es nicht sein, dass ich vielleicht einfach nur eingeschlafen war? Es war in letzter Zeit ziemlich chaotisch zugegangen in meinem Leben: der Umzug, die Uni – ich war einfach übermüdet! Wie immer weigerte ich mich, den Gedanken an etwas „Übernatürliches“ überhaupt zuzulassen. Ich versuchte, eine rationale Erklärung zu finden, doch die Schmutzflecke an meiner Weste machten es mir nicht gerade einfach. Vielleicht war ich schlafgewandelt?
Resignierend musste ich mir eingestehen, dass das nicht besonders überzeugend klang.
Na schön, mal angenommen es sei – rein theoretisch – wirklich alles passiert: Wieso hatte ich eine Verbindung zu diesem William? Konnte er mich jetzt sehen, in diesem Moment? Wie viele Mythen entsprangen noch der Wahrheit? Gab es Werwölfe? Hexen? Existierte wirklich eine zweite, eine dunkle Welt?
Fragen über Fragen. Dabei hatte ich gehofft, endlich ein paar Antworten zu bekommen.
Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Ich hörte Logans Stimme. Er war sturzbetrunken.
„Dange Kum´el, ich bin ´ir was schul´ig!“, lallte er. Ein Freund hatte ihn also nach Hause gefahren.
„Meinst du, ich kann dich mit Emma allein lassen?“
„Ey, ich könnt meiner Freun´in nie was an´un, kapiert?“
Das musste man ihm lassen, so betrunken er auch sein mochte, er wurde nie gewalttätig. Er war eher der Typ, der auf einen Tisch stieg und sich mit irgendwelchen unwitzigen Parodien lächerlich machte.
„Na gut. Aber sei um Himmels willen leise, und weck sie nicht auf. Ich will dich nicht umsonst mitten in der Nacht rumkutschiert haben, klar?“
Deshalb hatte er nicht angerufen wie verabredet, damit ich ihn abholte. Er wollte mich nicht wecken. Dass er in seinem Zustand noch an so etwas Banales gedacht hatte ...
„Ja, ja“, erwiderte Logan halbherzig.
„Tschau, wir sehen uns Montag!“
„`schüs.“
Der Wasserhahn im Bad wurde angeschaltet. Eine elektrische Zahnbürste surrte einige Minuten vor sich hin. Die Klospülung wurde gedrückt. Eine Tür fiel ins Schloss. Dann war es wieder still.
Ich lag noch lange wach an diesem Abend, bis mein müder Körper schließlich die Oberhand gewann und ich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Verlegen zupfte ich an den Rüschen meines viel zu kurzen, hellblauen Tüllkleids herum. Mit der Schminke im Gesicht, die sich wie eine Schicht Beton auf meiner Haut anfühlte und die ich mir unter Anleitung von Naomi aufgetragen hatte, kam ich mir lächerlich vor. Die vielen kleinen Nadeln, die ich dazu verwendet hatte, meine wirre Mähne zu bändigen, machten sich schmerzlich in meiner Kopfhaut bemerkbar, und dann waren da noch diese extrem weiblichen High Heels, die mir Naomi geliehen hatte (sie hatte darauf bestanden weil sie ja angeblich so gut zu meinem Kleid passten). Dieser Abend würde furchtbar werden.
Mit einem grimmigen Lächeln dachte ich an meine Entführung zurück. Zwei Wochen war das jetzt her. Ich hatte seitdem nichts mehr von William gehört, und unsere Küche war erfreulich vampirfrei geblieben. Auch die Visionen hatten ausgesetzt. Nur nachts überkam mich manchmal so ein Gefühl, als sei etwas vor meinem Fenster. Aber jedes Mal, wenn ich nachsah, war da nichts. Es war eine unheimliche Normalität, die sich über mein Leben gezogen hatte. Wie die Ruhe vor dem Sturm.
Ich nahm einen Schluck Champagner, um diesen trüben Gedanken hinunterzuspülen, und rutschte unruhig auf der ledernen Rückbank der Limousine herum.
„Du siehst einfach unglaublich aus, hab ich das schon erwähnt?“, hauchte mir Logan ins Ohr und drückte sanft meine Hand.
Ja, ungefähr zehn Mal, dachte ich zerknirscht, obwohl ich wusste, dass es ungerecht war, meine miese Laune an ihm auszulassen. Lass dir bloß nichts anmerken, es ist sein Geburtstag, denk dran, sein Geburtstag!
Ich bemühte mich um ein dankbares Lächeln, und Logan ließ meine Hand wieder los. Ich war seine offizielle Begleitung für den Abend – rein freundschaftlich natürlich. Wieso er ausgerechnet mich gefragt hatte bei all den netten Cheerleadern, die für so ein Date ihre Seele verkauft hätten, war mir allerdings schleierhaft. Jedenfalls hatte ich schlecht nein sagen können, besonders, nachdem er die Geburtstagskind-Karte gezogen hatte. Tja, und hier saß ich nun.
Bei dem Club angekommen, den Logan für die Nacht gemietet hatten, war meine Stimmung auf ihrem Tiefpunkt. Was solche Partys anbelangte, war ich der totale Antiteenager. Ich verstand einfach nicht, was man daran finden konnte, sich den Verstand wegzusaufen und sich halbnackt auf einer Tanzfläche zu räkeln – sichtbar für alle! Resignierend starrte ich auf das große LaLune Leuchtschild. Wieso hatte ich nochmal zugestimmt, mitzukommen?
Ich ließ mir aus dem Wagen helfen und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück auf die gemütliche Couch im Inneren. Am liebsten hätte ich mich Logans festem Griff entzogen und wäre wieder eingestiegen.
Wir wurden durch eine Seitentür mit der Aufschrift V.I.P. ins Gebäude geschleust, die von einem muskulösen Türsteher für uns geöffnet wurde. Augenblicklich schlugen gewaltigen Rhythmen auf mich ein, tausende grelle Lichter brannten erbarmungslos in meinen Augen, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, waren alle Blicke auf uns gerichtet.
Die Musik wurde leiser gedreht, ein Spotlight auf uns gerichtet, und der DJ kündigte das Geburtstagskind an. Nach einem kurzen Ständchen stürmten die Gratulanten auf uns ein, und die Bässe wurden lauter aufgedreht als zuvor. Einige richteten das Wort auch an mich, und ich musste mich konzentrieren, wenigstens jedes dritte Wort zu verstehen.
Als endlich jeder durch war, der unbedingt persönlich seine Glückwünsche loswerden wollte, schafften wir es irgendwie, uns zur Launch vorzukämpfen, die extra für uns reserviert worden war. Es war der zentralste Punkt im Raum – eine Sofaecke auf einer Erhöhung direkt neben der Tanzfläche, von wo aus man alles gut überblicken konnte. Naomi, Adam und einige von Logans Footballkumpeln samt Begleitung warteten bereits, Getränke standen schon auf dem Tisch.
„Wow, mega Party Alter!“, dröhnte es rechts von uns, kaum dass wir uns gesetzt hatten.
„Wer ist denn die Schnecke neben dir?“, fragte ein anderer der Jungs, ein gut gebauter, blondhaariger Typ mit einer ebenso blonden, großbusigen Schönheit im Arm.
„Das ist Emma. Emma, das sind Jackson, Ben, Anna…“ er stellte reihum alle vor und von da an begann der Smalltalkmarathon.
Während Logan mit seinen Kumpels beschäftigt war und Naomi mit Adam, nahm mich die weibliche Fraktion in die Mangel. Die bestand meistens aus Cheerleadern, deren Kleider noch kürzer waren als meines und deren favorisierte Gesprächsthemen Shoppen, Jungs und das Nachtleben waren – und mit keinem dieser drei Dinge konnte ich besonders viel anfangen. Aber zum Glück schienen die meisten mein offensichtliches Desinteresse auf diesen Gebieten und mein daraus resultierendes mangelndes Wissen auf meine Schüchternheit zu schieben – und die war ihnen nur recht. Sie genossen jede Chance sich zu inszenieren, über andere zu Lästern oder einfach nur den neusten Klatsch und Tratsch loszuwerden.
Als mich Logan nach einer gefühlten Ewigkeit auf die Tanzfläche zog, ließ ich mich bereitwillig hinterher ziehen. Eigentlich konnte ich nicht tanzen. Erstens, weil das meistens voraussetzte, dass man Zuschauer hatte, und zweitens, weil meine einzigen Erfahrungen damit aus einer äußerst peinlichen Tanzstunde mit meinem Vater rührten und meinem darauffolgenden ersten Schulball, der gelinde ausgedrückt ein Desaster gewesen war. Unter anderen Umständen hätten mich also keine zehn Pferde auf eine Tanzfläche bekommen, aber alles erschien mir im Moment besser, als noch so ein Gespräch über mich ergehen zu lassen.
Logan war keinen Meter begabter war als ich, und so stolperten wir mehr oder weniger ohne Regeln durch die Gegend während ich krampfhaft versuchte, meine Knöchel vor jedweden Verletzungen zu bewahren. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass alle viel zu ausgelassen waren um genauer auf zwei Tanzende zu achten und es noch einige andere Pärchen mit ähnlichen Problemen gab, die wohl schon zu viel intus hatten. Eigentlich ein lustiger Gedanke, ich tanzte wie eine Besoffene. Aber mir war nicht zum Lachen.
Logan war total überdreht. Er redete ohne Unterbrechung davon, wie begeistert er von seiner Party war. Für mich war es Entspannung pur, denn ich musste nicht zuhören um mir zusammenzureimen, was er alles von sich gab. Davon würde man noch Jahre reden, das sollte erst mal einer toppen …bla bla bla.
Als wir die Bühne wieder verließen, ging das Getratsche von vorne los. Die stickige Luft in der überfüllten Diskothek begann, mir zuzusetzen, und mein Kopf pochte bedrohlich – bei der Lautstärke war das ja auch kein Wunder. Soweit ich mich erinnerte, musste es hier irgendwo eine Treppe zu einer Dachterrasse geben. Vielleicht hatte es sich doch bezahlt gemacht, mir auf Logans Drängen hin die Website des Clubs anzusehen. Nur fünf Minuten für mich allein, fünf kurze Minuten, dachte ich sehnsuchtsvoll.
Nun, da sich dieser verlockende Gedanke erst einmal eingenistet hatte, war es fast unmöglich, diesem Drängen nicht nachzugeben. Fünf Minuten, was war schon dabei? Logan wurde sowieso ständig von jemand anderem belagert, es würde ihm sicher nicht viel ausmachen, wenn ich kurz weg war. Es würde
ihm vermutlich nicht einmal auffallen.
Nachdem sich unsere aktuellen Gesprächspartner verabschiedet hatten, schlug Logan vor, an die Bar zu gehen. Ich willigte ein und kippte in aller Eile eine kleine Cola herunter, bevor ich zu meinem Befreiungsschlag ansetzte.
„Ich glaube, ich brauche eine kleine Auszeit.“
„Geht es dir nicht gut?“, fragte er sofort besorgt.
„Nur ein bisschen ausgepowert vom Tanzen“, log ich.
Da kam schon wieder die nächste Schar gesprächshungriger Geier auf uns zu. Perfekt.
„Hey Logan, was geht?“
Mark, ein weiterer Spieler aus dem Footballteam, war mit seiner Freundin im Arm und einigen mir unbekannten Jungs hinter uns aufgetaucht. Nachdem Logan Mark ebenfalls begrüßt hatte, sah ich meine Chance gekommen – schließlich hatte ich
ihn nicht alleine an der Bar zurücklassen wollen.
„Bis gleich!“ verabschiedete ich mich und drückte kurz Lo-gans Hand, die er mir um die Taille gelegt hatte.
„Soll ich mitkommen?“ fragte er mit einer merkwürdigen Dringlichkeit, die ich nicht recht zu deuten wusste.
„Ich komm schon klar. Deine Gäste brauchen dich hier, Super- man.“
Er schaute mich abschätzend an, dann gab er mich widerwillig frei.
sagte er gespielt streng.
Ich nickte.
„Du wartest“, wiederholte ich, bevor ich mich blindlings ins Getümmel stürzte.
Es war gar nicht so leicht, den gesuchten Ausgang zu finden. Nach einem ausgiebigen Bad in der Menge und einigen blauen Flecken, die ich mir zugezogen hatte, als ich mich orientierend an den tanzenden Partygästen vorbeizwängte, wurde ich endlich fündig. Ein Schild hätte nichts geschadet, dachte ich grimmig, den Blick auf die blanke Tür vor mir gerichtet, die aussah wie jede andere Tür in diesem blöden Schuppen.
Ein spärlich beleuchtetes Treppenhaus führte zum Dach hinauf. Oben angekommen stellte ich erfreut fest, dass ich Moment wohl die einzige Frischluftfanatikerin zu sein schien. Die Musik war selbst von hier noch zu hören, aber jetzt, da die Lautstärke einem nicht mehr das Trommelfell wegächzte, war sie eindeutig erträglicher.
Ich lief zielstrebig auf die Brüstung zu und ließ meinen Blick über die umliegenden Häuser schweifen. Ich genoss die frische Novemberluft, die in meine Lungen strömte. Angenehmer als der miefige Qualm da unten war es alle Mal. Die Kopfschmerzen und das Schwindelgefühl waren fast schon wieder vergessen. Der Himmel war heute ungewöhnlich wolkenfrei, und man konnte den klaren Sternenhimmel sehen. Am liebsten wäre ich den ganzen Abend dort stehen geblieben.
Doch dann begann etwas Merkwürdiges an diesem Gefühl der Zufriedenheit zu rühren. Ich war doch nicht so allein, wie ich gedacht hatte.
Die Aura, die ich wahrnahm, fühlte sich nicht so aggressiv an wie die, die ich für gewöhnlich spürte. Vielleicht war sie mir deshalb nicht sofort aufgefallen.
„William?“, fragte ich, wobei ich nur ein leises Flüstern zu Stande brachte.
„Ja, ich bin es“, ertönte eine melodische Stimme hinter mir.
„Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?“
Noch immer war mein Blick geradeaus gerichtet. Wenn das hier nur Einbildung oder Wunschdenken war, dann wollte ich es wenigstens so lange wie möglich aufrechterhalten.
„Es gab keinen Grund dazu“, erklärte er unbewegt.
Ich wurde nervös.
„Gibt es denn jetzt einen?“
„Du solltest dich besser von solchen Orten fernhalten, wie ich es dir geraten habe.“
Er klang immer noch gelassen, doch die Schärfe seiner Worte war ein unüberhörbarer Tadel.
„Eine Nobeldiskothek dürfte wohl kaum …“
Doch er ließ mich erst gar nicht meinen Satz zu Ende führen sondern fuhr unbeirrt dazwischen, als hätte ich nichts gesagt.
„Du wirst dich von solchen Etablissements fernhalten.“
Es war ein eindeutiger Befehl. Na super, noch einer im Club „haltet Emma von allem fern, was irgendwie Gefahr bedeuten könnte“ – Naomi würde sich freuen. Wenn es nach denen ginge, würde ich vermutlich mein restliches Leben in einem Atomschutzbunker fristen!
Aus Trotz drehte ich mich um, ohne groß darüber nachzudenken, und sah direkt in zwei warme, blaue Augen. Meine schlagfertige Antwort blieb mir auf der Zunge liegen. Ein Engel hätte nicht schöner aussehen können.
Das erste Mal sah ich William klar und deutlich vor mir. Er trug eine schwarze Stoffhose und darüber eine ebenso dunkle, modern geschnittene Jacke, die seinen wohlgeformten Körper perfekt zur Geltung brachte. Sein Haar war von einem satten braun und gerade so lang, dass es ihm wirr auf dem Kopf herumtanzen konnte. Und sein Gesicht erst … Kein Typ auf dem College hätte es mit ihm aufnehmen können, nicht einmal Logan (und der sah zugegeben echt nicht übel aus). Ich war von seinem Anblick so in den Bann gezogen, dass mir die Veränderung seiner Augenfarbe nur wie eine Nebensächlichkeit vorkam. Was war bloß mit mir los? Eigentlich war ich keines dieser Mädchen, die bei dem Anblick eines Jungen gleich den Verstand verloren.
William hob leicht das Kinn, was die unterschwellige Arroganz in seinen Zügen verstärkte. Das war der Schubs, den ich brauchte, um wieder auf dem Boden der Realität zu landen. Schönheit hin oder her – der sollte sich gefälligst jemand anderen zum Rumkommandieren suchen!
„Was gibt dir überhaupt das … das Recht, dich hier so aufzuspielen?“, brachte ich schließlich heraus.
William sah mich verdutzt an wie ein Kind, dass beim Süßigkeiten Klauen erwischt worden war. Meine überrumpelte Offensivattacke schien ihm kurzzeitig die Sprache verschlagen zu haben. Dann wurde er wieder ernst.
„Diese Situation ist … ungewohnt“, sagte er in einem Tonfall, den man beinahe als kleinlaut interpretieren konnte. Eine lausige Entschuldigung, aber immerhin etwas.
„Und das von dem Vampir auf dem Dach“, erwiderte ich mit einem versöhnlichen Schmunzeln auf den Lippen. Williams Mundwinkel zuckten leicht.
„Also … ähm … Hast du inzwischen etwas herausgefunden?“ „Ich arbeite daran.“
Ich ahnte, dass er nichts mehr dazu sagen würde, also machte ich mir erst gar nicht die Mühe, nachzuhaken. Wir hatten uns gerade aus einem Streit heraus geschifft, und ich wollte nicht schon wieder einen neuen beginnen.
„Hast du keine Angst, dich könnte jemand entdecken, wenn er hier raufkommt?“, fragte ich stattdessen.
William tippte sich kurz mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Das wird nicht passieren.“
Richtig, Gedankenkontrolle. Da hatte ich einen Geistesblitz. Vielleicht würde ich ja doch nicht mehr zurück müssen, auch ohne, dass mich jemand vermisste …
„Du … du willst nicht, dass ich zurück auf die Party gehe, oder?“, fragte ich etwas verunsichert. Eigentlich spielte ich solche Spielchen nicht.
„Ja“, gab er leicht verirrt zu. „Worauf willst du hinaus?“
„Naja, ich kann schlecht ohne meine Freunde wieder gehen, und die werden bestimmt noch ein paar Stunden hier sein. Wenn du also sichergehen willst, dass mir nichts zustößt, wirst du wohl oder übel mit mir hier bleiben müssen.“
William sah mich an als glaubte er, sich verhört zu haben.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Mädchen? Es grenzt an ein Wunder, dass ich dich noch nicht getötet habe! Willst du etwa sterben?“, entgegnete er gereizt.
„Du wirst mir nichts tun, da bin ich mir sicher“, gab ich vollkommen überzeugt zurück. Ich konnte nicht sagen, warum, aber ich wusste, dass es so war.
„Ach ja? Und was genau macht dich da so sicher?“, wollte er skeptisch wissen.
„Na schön. Dann eben nicht“, sagte ich, ohne auf ihn einzugehen, und marschierte in Richtung Tür.
„Warte“, bat er resigniert, noch ehe ich zwei Schritte getan hatte. Ich hatte alle Mühe, ein triumphierendes Grinsen zu unterdrücken. Ich war ja richtig gut in so was!
William schloss kurz die Augen.
„Niemand wird dich suchen, bevor ich es will“, erklärte er. „Aber du wirst dich mir nicht nähern!“
„Einverstanden.“
Ich wandte mich von ihm ab und drehte mich wieder in Richtung Brüstung. Es fiel mir leichter mit William zu sprechen, ohne ihn wie ein irres Groupie anzustarren.
Die ersten Minuten schwiegen wir beide. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich der Partyhölle tatsächlich entkommen war. Dann, als dränge mich mein Glück dazu, alles raus zulassen, fing ich an, vor mich hin zu plaudern. Dass ich Partys nicht mochte. Dass das Jahr bald zu Ende war. Dass mein Fensterrahmen neulich angefangen hatte, zu quietschen. Dass ich gerne Pfannkuchen mir Sirup zum Frühstück aß. Die banalsten Dinge flutschen aus mir heraus. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie jemanden so vollgeschwallt!
Ich kicherte. Vermutlich war der zweite Longdrink einer zu viel gewesen. Was soll‘s. Ich war schon ewig nicht mehr so gut drauf!
William schwieg die ganze Zeit über. Was hätte er dazu auch sagen sollen? Ab und zu schaute ich hinter mich um nachzusehen, ob er überhaupt noch da war. Dann sah er mich einfach nur mit seinen unergründlichen, blauen Augen an, und ich machte weiter.
Ich hatte das Gefühl, ihm einfach alles sagen zu können. Keine Zwänge. Wir beide waren Teil desselben Geheimnisses.
Ich gestand ihm, dass ich oft Angst hatte. Angst, weil ich wusste, dass etwas in der Dunkelheit lauerte. Angst, weil ich mein Leben lang etwas geahnt hatte. Angst, ich sei verrückt und bilde mir das alles nur ein. Angst vor dem, was mich noch erwarten würde. Ich redete mir alles von der Seele, was sich die letzten fünfzehn Jahre angestaut hatte, und er hörte geduldig zu.
Als ein herzhaftes Gähnen mich daran erinnerte, wie spät es inzwischen geworden sein musste, hörte ich William einen kleinen Schritt auf mich zugehen – ohne Zweifel um meine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er konnte sich auch ohne Geräusche fortbewegen, wenn er wollte.
„Schlaf gut.“
Noch ehe ich mich überhaupt hatte umdrehen können, war er bereits verschwunden. Ja, diese dramatisch-coolen Abgänge hatte er drauf.
„Du auch“, flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass er längst fort war.
Logan im Club wiederzufinden, gestaltete sich leichter als gedacht. Er war umringt von einer riesigen Menschentraube.
„Die letzte Runde geht auf mich!“
Allgemeiner Jubel brach aus.
Nachdem Logan sein Glas gelehrt und sich nochmal von allen verabschiedet hatte, kam er auf mich zugeeilt, legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich zu Naomi und Adam, die am Ausgang bereits auf uns warteten.
„Es hat mir viel bedeutet, dass du mich heute begleitet hast, Emma. Danke“, gestand er.
„Ähm … gern geschehen“, erwiderte ich schuldbewusst.
Unter donnerndem Applaus verließen wir die anscheinend gelungene Party. Keinem schien mein Fehlen aufgefallen zu sein. Erschreckend stellte ich fest, dass ich einem Vampir die Erlaubnis erteilt hatte, am Gehirn meiner Freunde rum zu schnippeln – was der offensichtlich erfolgreich getan hatte. Noch erschreckender war, dass mir das nicht annähernd so ein schlechtes Gewissen machte, wie es das eigentlich sollte. Wann ich William wohl wiedersehen würde?
Zu Hause angekommen schlüpfte ich in Rekordtempo in meinen himmlisch bequemen Pyjama und machte mich bettfertig.
Meine Vorfreude auf die verdiente Nachtruhe wurde einzig durch mein dämliches Fenster getrübt. Die Jungs hatten gesagt, das Haus sei schon alt und die Fensterrahmen würden es nicht ewig machen. Ein Fensterbauer konnte frühestens nächste Woche.
Schon im Halbschlaf, wollte ich die Vorhänge zuziehen, als ich sah, wie sich ein kleiner Teil der Scheibe beschlug. Erschrocken riss ich die Augen auf. Eine Nachricht erschien, als würde sie jemand mit dem Finger zeichnen – nur dass das unmöglich war im dritten Stock.
Hoffentlich kannst du jetzt besser schlafen.
Kaum hatte ich die Nachricht gelesen, verblasste sie und das Glas kehrte in seinen alten Zustand zurück. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff. William.
Mit meiner Hand drückte ich gegen den Fensterrahmen. Nichts. Ich drückte fester. Nichts.
Noch gestern hätte es geknarrt, dass man hätte befürchten müssen, das Fenster würde sich aus den Angeln heben.
„Naomi, komm mal kurz!“, schrie ich, ohne mich vom Fleck zu bewegen. Eine Sekunde später kam sie ins Zimmer geeilt.
„Was ist los?“
„Mein Fenster war kaputt, oder? Du hast es selbst gesehen!“
„Ja und?“, entgegnete sie müde.
„Sieh dir das an.“
Ich zog sie ans Fenster.
„Drück mal.“
Etwas irritiert tat sie, wie ihr geheißen.
„Du hast den Rahmen irgendwie wieder in die Angeln gedrückt. Schön für dich“, meinte sie schulterzuckend. „Kann ich jetzt schlafen gehen?“
„Ja, kannst du“, gestattete ich freudestrahlend. Kopfschüttelnd verließ sie wieder das Zimmer.
Noch ein letztes Mal drückte ich gegen den Fensterrahmen, nur um ganz sicher zu sein. Nein, ich war nicht verrückt! Das alles war keine bloße Einbildung: die Schatten, die Entführung, die Visionen – es war alles real!
Im Moment war es mir gleich, dass das eigentlich kein Grund zur Freude hätte sein sollen. Ich hatte endlich einen Beweis. William war Wirklichkeit, und daran gab es nichts mehr zu rütteln!
Dieses Mal dauerte es nur drei Tage, bis wir uns wieder sahen. Wäre ich bei Verstand, wären dies die schlimmsten zweiundsiebzig Stunden meines Lebens gewesen. Ich hatte schließlich gerade erfahren, dass es Vampire gab, wirklich und wahrhaftig und nicht in meiner Fantasie beheimatet, und um dem ganzen die Krone aufzusetzen: Eines dieser Monster war sogar hinter mir her! Was für ein Glück also, dass ich so etwas wie einen Verstand nicht zu besitzen schien. Andernfalls wäre ich wohl kaum zu diesem dümmlichen Dauergrinsen und einer Laune, die an die ewig strahlenden Gesichter eines Kitschmusicals erinnerte, fähig gewesen. Naomi hatte mich Sonntagmittag sogar ins Krankenhaus zerren wollen, weil sie vermutete, ich sei im Club unter Drogen gesetzt worden. In gewisser Weise fühlte ich mich auch wie berauscht, aber das hatte natürlich andere Gründe.
Über die negativen Aspekte, die meine Erkenntnis unweigerlich mit sich brachte – der Tatsache zum Beispiel, dass diese Wesen vermutlich jetzt gerade da draußen umhergeisterten und lustig vor sich hin töteten – wollte ich nicht nachdenken. Noch nicht. Und im Verdrängen war ich schließlich einsame Spitze.
Ich lag in meinem Bett und blätterte in einem alten Fotoalbum herum, als ich wieder dieses vertraute Kribbeln auf meiner Haut spürte. Williams Aura.
Ich klappte das Album zu, legte es auf meinen Schreibtisch und öffnete das Fenster. Dann stellte ich mich vor die Tür und wartete.
Zehn Minuten später war der Platz neben meinem Fenster immer noch leer. Hatte ich mich geirrt? Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Nein, er war da draußen.
„Ich weiß, dass du da bist“, sagte ich schließlich leise in das Nichts vor mir.
Keine Antwort. Ich hatte nichts anderes erwartet.
Die Aura wurde schwächer. William versuchte, mich abzuwimmeln, schaffte es aber nicht, sich vollkommen vor mir zu verbergen. Mein triumphierendes Lächeln verging mir jedoch, als mir klar wurde, dass er es doch geschafft hatte. Wenn er seine Aura abschwächen konnte … Na klar, wieso war ich nicht früher darauf gekommen?
Tagsüber bist du sicher.Nachts werde ich dafür Sorge tragen, dass dir nichts passiert.
Konnte es sein, dass er bisher jede Nacht vor meinem Fenster Wache gehalten hatte, ohne, dass es mir aufgefallen war?
„Du warst die ganze Zeit da, nicht wahr?“, stellte ich fest.
Stille war die Antwort, aber ich ließ mich nicht beirren.
„Danke für … für die Sache mit dem Fenster und den schönen Abend. Fürs Zuhören“, fuhr ich fort. „Es hat gut getan, sich einmal alles von der Seele zu sprechen. Also … danke. Für alles.“
Schweigen.
„Vielleicht … vielleicht könnten wir das mal wiederholen. Reden. Was meinst du?“
„Dass du lebensmüde bist. Und stur.“
William stand neben dem Fenster und schaute mich finster an.
„Ich will dich beschützen, aber du machst es mir nicht gerade leicht!“, schimpfte er.
„Ob du nun vor meinem Zimmer bist oder drin – was macht das für ein Unterschied?“, wollte ich wissen.
William rieb sich nervös den Nasenrücken.
Unsicherheit. Verwirrung.
„Das ist nicht normal. Du bist nicht normal“, entgegnete er schließlich halb zu sich selbst. Paradox, so etwas aus dem Mund eines Vampires zu hören.
„Nach so langer Zeit wieder mit einem Menschen zusammen zu sein ... Nur zusammen sein. Ich hatte geglaubt, nie wieder dazu in der Lage sein zu können. Aber hier stehst du und plauderst mit mir, als wäre nichts. Das ist … das ist einfach nicht normal!“
„Eigentlich ist das doch etwas Gutes, oder? Dass wir miteinander reden können, meine ich“, erwiderte ich vorsichtig.
„Wenn ich in deiner Nähe bin, höre ich nicht dein Blut. Es ist, als würdest du all das ausschalten, was meine Natur ausmacht. In deiner Nähe fühle ich mich wie … wie ein Mensch.“
Wieder rieb er sich den Nasenrücken.
„Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas Gutes ist“, gestand er. „Ich weiß es nicht …“
William warf mir einen eigenartigen Blick zu.
„Würdest du ein kleines Stück näher kommen?“, bat er unvermittelt. Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben.
„Ganz langsam. Nur … nur ein kleines Stück.“
Ich nickte und trat, etwas perplex, langsam einen Schritt nach vorne. William runzelte leicht die Stirn, was bei seinen sonst so ausdruckslosen Zügen ungewöhnlich an ihm aussah, bevor er sich wieder beherrschte.
„Näher“, befahl er.
Ohne zu überlegen tat ich, wie geheißen.
Als uns nur noch etwa eine Armlänge trennte, blieb ich stehen.
William streckte mir seine Hand entgegen. Ich fühlte, wie angespannt er war. Zögerlich legte ich meine Hand in seine. Seine Haut fühlte sich kalt und straff an, aber nicht unangenehm.
„Siehst du. Alles okay“, sagte ich.
William ließ meine Hand wieder los und seufzte resignierend.
„Bei Gott, wenn ich dich töte, weise ich gewissenhaft alle Schuld von mir“, gab er sich schließlich geschlagen.
„Wie gut, dass es dazu nie kommen wird“, erwiderte ich mit einem überzeugten Grinsen.
Heiligabend stand vor der Tür, und der Winter zeigte sich von seiner schönsten Seite. Zu Beginn der Woche war der erste Schnee gefallen, der nun alles unter einer wohlig weißen Decke begrub. Während ich die Einkaufspassage entlang schlenderte, bewunderte ich die festlich geschmückten Auslagen und konnte nicht umhin, mich von der weihnachtlichen Stimmung anstecken zu lassen. Schließlich hielt ich vor dem kleinen Buchladen, den ich gesucht hatte.
Puh, sämtliche Weihnachtseinkäufe waren getätigt. Immerhin war es nur noch knapp eine Woche bis zum Fest, und das Geschenk für meinen Vater musste ich per Post schicken, also war es höchste Zeit gewesen.
Wieder zu Hause angekommen, verstaute ich all meine Tüten rasch im Kleiderschrank.
„Na, alles bekommen, was du gesucht hast?“, fragte Naomi, die neugierig ihren Kopf durch die Tür gesteckt hatte.
„Ja hab ich, du Spannerin.“
Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Essen ist fertig.“
Der Abend war zu meiner Lieblingszeit des Tages geworden.
Ich konnte es jedes Mal kaum erwarten, bettfertig in meinem
langen Pyjama und meiner Wollweste das Fenster zu öffnen,
sobald die anderen in ihren Zimmern verschwunden waren. William zeigte sich zwar nur jeden zweiten oder dritten Tag, doch zumindest tauchte er jetzt regelmäßig bei mir auf. Außerdem wusste ich ja jetzt, dass er immer da war. Als ich ihm gesagt hatte, es würde mir nichts ausmachen, wenn er sich jeden Abend zeigen würde, hatte er nur gemeint, er solle eigentlich gar nicht hier sein und mir seinen “Ich-bin-ja-so-ein-böser-Junge“-Blick zugeworfen.
Wenn er dann kam, fragte er meistens höflich, wie mein Tag gewesen war, und so erzählte ich ihm von der Uni, meinen Mitbewohner, den Büchern, die ich gerade las – die kleinen Geschichten des täglichen Lebens eben. William hörte aufmerksam zu, stellte hier und da kleine Zwischenfragen und wenn es nicht so abwegig wäre, könnte man beinahe meinen, dass es ihn ernsthaft interessierte. Aber vermutlich interpretierte ich einfach zu viel in seine Höflichkeit hinein.
Fiel das Thema einmal auf ihn, blockte er komplett ab. Nur manchmal rutschten ihm Kleinigkeiten heraus. Ich wusste zum Beispiel, dass er gerne lass und die Tudors mochte.
Im Grunde genommen war es also eher ein Monolog, als ein Dialog.
Ein leichtes Klappern der Fenster kündigte sein Kommen an. Ich huschte zum Ende des Bettes, kuschelte mich in meine Decke und wartete, bis William neben dem Fenster auftauchte. So lief es meistens ab. Er wollte immer noch nicht, dass ich in seine unmittelbare Nähe kam.
„Guten Abend“, hieß ich ihn strahlend willkommen.
„Guten Abend“, gab William höflich zurück und nickte mir zu. „Du siehst glücklich aus“, stellte er nüchtern fest. „Ist etwas Gutes passiert?“
Ich zuckte die Schultern.
„Nicht wirklich. Ich war heute Weihnachtsgeschenke einkaufen und ...“
William blieb jedes Mal fast auf die Minute genau eine Stunde, bevor er mich daran erinnerte, dass es schon spät war und ich meinen Schlaf bräuchte. Als unsere Zeit heute fast abgelaufen war, knetete ich nervös meine Hände.
„William?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja?“
„Kommst du nochmal vorbei vor Weihnachten?“
Er zögerte.
„Wieso fragst du?“
„N-nur so. Also, kommst du?“
Es blieb einige Zeit still.
„Ich komme“, meinte er schließlich.
„Versprochen?“, hakte ich nach.
„Versprochen“, versicherte er mir. Er stieß sich von der Fensterbank ab. „Ich sollte jetzt besser gehen. Es ist spät.“
Bevor er sich wie üblich in Nichts auflöste, ruhte sein Blick ungewöhnlich lange auf mir. Dann drehte er sich abrupt in Richtung Straße. Ich glaubte gesehen zu haben, wie sich seine Züge verhärtet hatten, war mir aber nicht sicher.
„Gute Nacht, William.“
Zum Abschied hob ich die Hand und winkte ihm kurz zu. William tat es mir gleich.
„Gute Nacht, Emma.“
Dann verschwand er in die Nacht und ließ mich mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend zurück.
Einen Tag vor Heiligabend tauchte William wieder in meinem Zimmer auf. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob er sein Versprechen wirklich halten würde.
„Hier bin ich. Wieso wolltest du, dass ich komme?“, begrüßte er mich.
Nicht gerade die weihnachtliche Stimmung, dich ich mir für dieses Treffen erhofft hatte, aber sei`s drum.
Ich ging zum Schrank und kramte ein kleines, viereckiges Päckchen heraus.
„Fröhliche Weihnachten!“, sagte ich, während ich ihm sein Geschenk entgegenstreckte.
William schaute auf meine Hände, als läge darin eine Bombe, die jede Sekunde hoch gehen konnte.
Furcht.
Er schloss kurz die Augen, als wolle er sich sammeln. Als er sie wieder öffnete, war das Gefühl von Furcht verflogen und ein vorsichtiges Lächeln trat auf seine Lippen.
„Ich danke dir“, entgegnete er und nahm das Päckchen rasch an sich. „Aber ich …“
„Schon gut. Hab ich auch nicht erwartet“, winkte ich ab. „Nun pack schon aus!“
Mit wenigen, geschickten Handgriffen löste er das Papier und entblößte den ersten Band von Harry Potter.
„Du hast mal erzählt, du hättest noch nie unkonventionelle Literatur gelesen, da dachte ich … na ja …“
„Ich werde anfangen zu lesen, sobald ich kann“, versicherte er mir.
„Schön. Das ist … schön“, gab ich äußerst geistreich zurück. William legte das Buch auf meinen Nachttisch.
Trauer. Entschlossenheit.
Er schaute kurz gedankenverloren aus dem Fenster, ehe sein ausdrucksloser Blick wieder auf mir ruhen blieb.
„Ich habe sie getötet“, gestand er unvermittelt.
Es dauerte einige Sekunden, bis seine Worte zu mir durchgedrungen waren.
„Wen hast du getötet?“, fragte ich irritiert.
„Diejenigen, die dich in der Halle angegriffen haben. Ich habe sie getötet. Alle. Schon vor einigen Wochen.“
Jetzt war die weihnachtliche Stimmung endgültig flöten.
Schweigen.
Was sollte ich dazu auch sagen? Mich bedanken?
„Ähm … das … das ist gut“, brachte ich schließlich heraus. Wieso hatte er es mir nicht schon früher erzählt?
„Ja, das ist es wohl“, entgegnete er. Ein Hauch von Sarkasmus lag in seiner Stimme.
Da traf es mich wie ein Blitz: Freundschaft auf Zeit.
Meine Augen weiteten sich entsetzt, als ich verstand. So war es von Anfang an abgemacht gewesen.
William schien zu etwas so elementaren in meinem Leben geworden zu sein, dass ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht hatte, dass es nicht für immer so sein würde. Oder vermutlich hatte ich es auch einfach nicht wahr haben wollen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er längst zu einem Freund geworden war. Einem guten Freund.
„Bitte …“, flüsterte ich heißer.
„Es tut mir Leid“, flüsterte er und stand vor mir, noch ehe ich blinzeln konnte. Sein Blick verriet, dass es ein Abschied für immer war.
William umfasste mit beiden Händen meinen Kopf, so dass seine kühlen Daumen auf meinen Schläfen lagen. Sofort wurde mir schwarz vor Augen. Ich spürte, wie Panik mein Herz schneller schlagen ließ, bis ich glaubte, es müsste vor Schmerz zerspringen.
Dann war alles vorbei. William hatte in meinem Leben niemals existiert.
An diesem Morgen wachte ich ungewöhnlich spät auf, obwohl ich eine furchtbare Nacht hinter mir hatte. Ich hatte wieder geträumt. Diesmal war es nicht der übliche Traum gewesen, eher eine Kollage aus Horrorvisionen der schlimmsten Sorte. Zwei meiner Kissen lagen quer im Zimmer verstreut, und mein Wecker hatte ebenfalls dran glauben müssen, stumme Zeugen meiner Angst.
Zitternd setzte ich mich auf und schlang die Arme um meine Knie. Das Licht der Nachttischlampe brannte in meinen noch müden Augen.
Eine innere Stimme flüsterte mir, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, und ich glaubte ihr. Doch immer wenn ich versuchte herauszufinden, woher diese plötzliche Erleuchtung kam, begann mein Kopf zu Schmerzen. Die Angst wollte trotzdem nicht verschwinden, und wieso fühlte ich mich auf einmal so schrecklich allein?
Ich hievte mich umständlich aus dem Bett, zog die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster soweit es ging. Arktische Luft wehte mir entgegen. Mein Körper hatte nicht einmal den Anstand, zu frieren, als sei er eins mit der Kälte da draußen. Die weiße Schneelandschaft, die sich über Häuser und Bäume erstreckte, wirkte trostlos und einsam, die etlichen Weihnachtsdekorationen, die die Wände und Fenster zukleisterten, wie eine heuchlerische Maske des Glücks. Ich schaute den weißen Flocken zu, die unablässig in Richtung Erde segelten.
Irgendetwas fehlte.
Der Gedanke kam wie aus dem Nichts. Ich konnte nicht sagen was fehlte, nur, dass es wichtig war. Ich überlegte, ob ich in den letzten Tagen vielleicht etwas verloren hatte, aber mir fiel nichts ein.
Während des Frühstücks bot Logan mir an, ihn zum Training zu begleiten, aber ich lehnte dankend ab.
„Findest du es nicht ein wenig übertrieben, an Heiligabend ein Training anzusetzen?“, hatte Naomi geschimpft.
„Eine Meisterschaft gewinnt sich nun mal nicht von allein. Außerdem haben wir vorher darüber abgestimmt und alle waren mit dem Termin einverstanden“, verteidigte sich Logan.
„Jungs …“, bemerkte sie kopfschüttelnd.
Naomi, die ein Fünf-Gänge-Weihnachtsmenü auf die Beine stellen wollte, hatte mir ebenfalls angeboten, den Tag mit ihr zu verbringen, aber mit Adam an der Backe würde sie schon genug zu tun haben. Mir war ohnehin nicht nach Gesellschaft zumute.
Die Drei schienen sich wirklich auf diesen Tag zu freuen, und ich wollte ihnen mit meinen Launen nicht ihre tollen Pläne vermiesen. Nach tausendfachem „Ich-will-wirklich-nicht“ meinerseits gaben sie es schließlich – sichtlich unzufrieden mit dem Ausgang der Dinge – auf, mich überreden zu wollen.
„Stoß wenigstens beim Nachtisch dazu!“, flehte Naomi. „Deine Bratäpfel sind die besten!“
Meine Mutter hatte im Winter oft Bratäpfel gemacht.
„Die sind so weihnachtlich, findest du nicht?“, hatte sie einmal zu mir gesagt.
Nach ihrem Tod hatte ich mich selbst an einigen ihrer Rezepte ausprobiert. Es war nach wie vor eines meiner Lieblingsgerichte. Obwohl es nicht ganz fair von Naomi war, diesen Joker auszuspielen, gab ich mich schließlich doch geschlagen, zumindest in dem einen Punkt. Den Abend würden wir sowieso zu viert verbringen, was machte da schon eine halbe Stunde mehr oder weniger?
Den Vor- und Nachmittag verbrachte ich relativ unspektakulär, erledigte Hausaufgaben und las. Dad hatte mir eine Mail geschrieben, in der er sich für mein Geschenk bedankt hatte und mir ein schönes Fest wünschte. Ich schrieb eine kurze Antwort zurück und bedankte mich ebenfalls für mein Geschenk.
Um vier stieß ich zu Naomi und Adam, die geschäftig durch die Küche wuselten. Logan war auch bereits vor einer halben Stunde wiedergekommen und genehmigte sich nun nach dem Training eine ausgiebige Dusche.
Um sieben war es dann endlich so weit. Der Truthahn lag hilflos ausgebreitet auf einem Silbertablett in der Mitte des Esstisches und glänzte in seiner goldenen Kruste vor sich hin. Kartoffeln, Füllungen und Salate standen hübsch angereichtet in etlichen Schüsseln drum herum. Naomi hatte sich wirklich alle Mühe gegeben – ein Viersternekoch hätte es nicht besser machen können. Stolz erzählte sie mir von den Schwierigkeiten, die sie mit den Füllungen gehabt hatte, und von der Soße, die anfangs viel zu dünn gewesen war.
Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu und nickte, wenn ich es für angebracht hielt. Meine Gedanken waren weit weg vom Tisch, bei den verstörenden Träumen der letzten Nacht, die mir keine Ruhe lassen wollten, und bei diesem seltsamen Gefühl, dass mich am Morgen beschlichen hatte. Ich hatte Naomi davon erzählt, und sie hatte nur die Schultern gezuckt und gesagt, wenn es wirklich so wichtig sei, was ich glaubte verloren zu haben, würde es mir auf kurz oder lang bestimmt wieder einfallen. Aber wenn es mir doch so wichtig war, wie konnte ich es dann einfach vergessen?
Als die Teller geleert und die Hosenbunde um einige Zentimeter geweitet waren, spülten wir das Geschirr und verstauten die Reste im Kühlschrank. Davon würden wir vermutlich noch die ganze nächste Woche zehren können.
Anschließend versammelten wir uns um unseren bescheidenen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, den die Jungs vor einigen Tagen besorgt hatten. Die beiden grölten „Stille Nacht, heilige Nacht“ und einige andere Klassiker, und Naomi stimmte fröhlich mit ein. Ich summte gedankenverloren die Melodien mit. Dad und ich hatten Weihnachten nie besonders groß gefeiert.
Mom hatte es geliebt, aber ohne sie war es nicht mehr das Selbe gewesen.
Mom. Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich jetzt so sehen könnte? Das hätte sie sicher nicht gewollt …
Nachdem die Jungs beinahe jedes bekannte Weihnachtslied verunstaltet hatten, wurden die Geschenke ausgetauscht.
„Oh – mein – Gott … die schwarzen High Heels von neulich! Emma, du bist die Beste!“, jubelte Naomi und fiel mir ungestüm um den Hals. „Danke, danke, danke.“
Als sie das blaue Geschenkpapier zusammenknüllte und zu den restlichen Papierabfällen legte, überkam mich wieder dieses drängende Gefühl, ich müsste mich an etwas erinnern. Wieder überkam mich dieses Gefühl der Einsamkeit, obwohl ich umringt war von Menschen, die mich liebten.
Schnell blinzelte ich die aufkommenden Tränen weg und konzentrierte mich darauf, mir nichts anmerken zu lassen, wie ich es schon den ganzen Abend getan hatte. Noch nie hatte sich das Lächeln auf meinem Gesicht so falsch angefühlt.
Klopf, klopf.
„Hey, Emma.“
Zögerlich betrat Naomi das Zimmer. Ich schaute vom Schreibtisch fragend zu ihr auf.
„Hast du mal eine Minute?“, fragte sie, wohl mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse. Ich kannte diesen Ton. Sie hatte keinesfalls vor, sich abwimmeln zu lassen.
Seufzend schloss ich meinen Block und legte meine Notizen beiseite, um mich dem Unvermeidlichen zu stellen.
„Klar, was gibt`s?“
Sie lief zum Bett, setzte sich und atmete hörbar aus.
„Wie fange ich das jetzt am besten an … Also du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“
Ich nickte verständnislos.
„Weiß ich. Worauf willst du hinaus?“
„Emma, ist … ist irgendetwas passiert, von dem ich nichts weiß? Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst. Nur … bitte!“
Ich zuckte die Schultern.
„Es ist nichts passiert. Wieso fragst du?“
Fassungslos starrte sie mich an, als läge die Sache klar auf der
Hand. Ich starrte nur ahnungslos zurück. Naomi seufzte, dann fuhr sie fort.
„Anfangs dachte ich, mit dir nach Seattle zu ziehen wäre ein großer Fehler. Ich dachte, es würde nur unnötig alte Wunden aufreißen“, gestand sie. „Doch dann sagte ich mir, dass es möglicherweise das Beste so war, dass es zwar hart für dich werden würde, aber dass du vielleicht endlich mit deiner Vergangenheit abschließen könntest.“
Sie legte eine kurze Pause ein.
„Nach dem Überfall kamen mir jedoch Zweifel an meiner Entscheidung. Du wurdest noch schreckhafter als sonst, und du hast kaum ein Wort mit jemandem gewechselt, außer man hat es dir aus der Nase gezogen. Und dieser Anfall im Strandcafé …“
Der Schreck war ihr anzusehen, als sie sich an jenen Tag zurückerinnerte.
„Aber auf einmal hast du dich verändert. Du hast dich geöffnet, hast viel mehr erzählt, hast gelächelt. Es war, als hättest du dich von einem Tag auf den anderen in einen völlig neuen Menschen verwandelt. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich dich wirklich glücklich gesehen habe. Anfangs war ich noch skeptisch, aber mit der Zeit fing ich wirklich an zu glauben, dass du einen Neuanfang gestartet hattest.“
Ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll, bevor die Sorge wieder Einkehr hielt.
„Dann kam Weihnachten. Als du mich an diesem Morgen angesehen hast, das … das warst wieder du. Dein altes Du. Dein Lächeln war wie weggewischt, und du hast fast den ganzen Tag über kein Wort gesprochen. Ich hab versucht zu tun, als sei alles in Ordnung, aber langsam kann ich einfach nicht mehr nur zusehen, wie du so dahinvegetierst. Also erzähl mir nicht, dass nichts passiert ist. Was hat dich so verändert? Ich würde alles dafür geben, dass du wieder glücklich bist, aber das kann ich nicht ohne deine Hilfe!“
Flehend faltete sie ihre Hände.
„Bitte Emma, du bist meine beste Freundin. Lass mich dir helfen!“
Ja, ich war glücklich gewesen. Wirklich glücklich. Aber diese Wochen schienen mir jetzt wie ein rauchiger Schleier in meinem Bewusstsein, der sich nicht greifen ließ. Genau genommen konnte ich mich nur schwer daran erinnern, was genau ich in der Zeit alles getan hatte ... Mein Kopf begann wieder zu schmerzen und ich gab auf, darüber nachzugrübeln.
Ich stand auf und setzte mich neben Naomi auf die Bettkante. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und nahm ihre Hand. Sie legte ihren Kopf auf meinen und streichelte mit ihrer freien Hand mein Haar.
„Tut mir Leid, dass ich so kompliziert bin. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich will nicht, dass du dir ständig Sorgen um mich machen musst. Ich will dir kein Klotz am Bein sein“, flüsterte ich.
„Das bist du nicht. Das warst du nie“, entgegnete Naomi sanft. „Wir kriegen das schon wieder hin.“
„Ah, Emma, wie gut, dass ich sie treffe.“
Ich war gerade auf dem Weg zu meiner nächsten Stunde, als Miss Bloomberg vor mir auftauchte, meine Ethikprofessorin. Sie war eine kleine, quirlige, rundliche Frau mit stets geröteten Backen vom vielen Make-up, das kaum einen Teil ihres faltigen Gesichtes aussparte. Meist trug sie überdimensionale Ohr-ringe in den absonderlichsten Formen, ein flatteriges, violettes Baumwolloberteil und eine farblich darauf abgestimmte Hose. Ich mochte sie nicht besonders. Sie lächelte permanent, was ihr etwas Manisches verlieh und mich irgendwie an einen Clown erinnerte. Die konnte ich noch nie leiden.
„Das erste Treffen unserer Arbeitsgemeinschaft in diesem Jahr findet kommenden Freitag um vier in den Kunsträumen statt. Ich muss ehrlich zugeben ich war äußerst überrascht, als ich ihren Namen auf der Liste gesehen habe, aber hocherfreut. Junge Leute engagieren sich heutzutage viel zu selten für die Gemeinschaft, ein Jammer.“
Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
„Ach herrje, ich sollte längst bei meinem Kurs sein. Ich sehe sie dann am Freitag, Miss Hanson.“
Schon tänzelte sie von dannen und ließ mich fragend zurück. Wann bitte hatte ich mich für eine Arbeitsgemeinschaft eingetragen? Wenn ich sie das nächste Mal sah, würde ich dieses Missverständnis aufklären.
„Welche Arbeitsgemeinschaft leitet Miss Bloomberg eigentlich?“, fragte ich während des Abendessens.
Erstaunt hielten die anderen mitten in ihren Bewegungen Inne. Vermutlich hatten sie nicht erwartet, dass ich etwas sagen würde. Wollte ich auch nicht, aber ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des Gespräches mit Naomi am Abend zuvor. Ein, zwei Sätze und sie würden ein neues Thema anfangen. Dann hatte ich wieder meine Ruhe.
„Sie leitet dieses ‚Studenten für Studenten‘-Sozialding …. Wieso fragst du?“
Naomi klang betont beiläufig.
„Ich bin ausversehen auf der Anmeldeliste gelandet.“
Ich erzählte halbherzig von unserer Begegnung auf dem Gang.
„Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werde ich den Irrtum …“
Naomi sah gebannt auf ihren Teller und mied meinen Blick. Sie hatte mich noch nie belogen – bis jetzt. Vielleicht war es mir deshalb sofort aufgefallen.
Ich brach mitten im Satz ab. Eine dunkle Vorahnung keimte in mir auf. Was wenn …? Nein, das würde sie nicht … oder doch?
Lass mich dir helfen. Wir kriegen das schon wieder hin.
„Bitte sag mir, dass du nicht getan hast, was ich denke!“
Naomi lief rot an und lächelte entschuldigend.
„Kommt drauf an. Was denkst du denn?“
Sie hatte es tatsächlich getan!
„Was gibt dir das Recht, mich auf diese dämliche Liste zu setzten?“, fragte ich aufgebracht.
Adam und Logan, gefangen in dieser peinlichen Situation, saßen hilflos zusammengesunken in ihren Stühlen und wagten nicht, sich zu rühren. Aus ihren Mienen schließend wussten sie von Naomis Attentat.
„Emma, wir …“, begann Adam, wusste aber nicht, wie er fortfahren sollte.
Ich stand auf, nahm meinen halb geleerten Teller und stapfte in Richtung Spüle.
„Entschuldigt mich. Mir ist der Appetit vergangen!“
„Hab ja gleich gesagt, es ist keine gute Idee“, nuschelte Logan in sich hinein.
„Oh bitte! Wenigstens hatte ich den Mumm, etwas zu unternehmen! Du sitzt nur hier rum und beschwerst dich“, fauchte Naomi ihn an. „Emma, warte!“
Sie lief mir hinterher und zog an meinem Ärmel. Widerwillig blieb ich stehen.
„Es tut mir Leid, okay? Ich hätte das nie ohne deine Zustimmung tun sollen, aber du würdest dich nie freiwillig irgendwo eintragen und ich dachte … naja, wenn du dich verpflichtet fühlst, würdest du vielleicht hingehen.“
„Was bitte soll ich da?“
„Außer mit uns gehst du nie irgendwo hin, du hast so gut wie keine Kontakte zu den anderen Studenten. Das wäre eine gute Chance für dich, mal unter Leute zu kommen. Versuch`s doch
wenigstens! Was soll schon schief gehen? Und wer weiß, vielleicht gefällt`s dir sogar!“
Zugegeben, ich war ein soziales Wrack, aber manche Dinge ließen sich nun einmal nicht ändern, egal, wie sehr man es auch versuchte.
„Fein! Aber nur um dir zu zeigen, dass das eine ganz miese Idee war. Ich werde es schrecklich finden!“
Deswegen wurde ich selten aggressiv. In meinem Gehirn brannten förmlich alle Leitungen durch, und ich sagte Dinge, die ich sonst nie sagen würde. Hatte ich tatsächlich gerade zugestimmt, zu diesem Treffen zu gehen?
„Wir werden sehen …“, entgegnete Naomi.
Ich stellte das Geschirr ab, lief in mein Zimmer und ließ die Tür mit einem lauten Rums zuknallen.
Die Woche ging erschreckend schnell vorüber, und der Freitag hatte mich in seinem eisernen Griff. Obwohl ich wusste, dass Naomi es nur gut gemeint hatte, war ich immer noch sauer auf sie. Zumindest würde ich nach dem heutigen Tag etwas haben, das ich ihr rechthaberisch unter die Nase reiben konnte.
Mutlos öffnete ich die Tür zum Kunstraum. Sofort wehte mir der unangenehme Duft frischer Farbe entgegen. Alles war vollgestellt mit Pinseln, Leinwänden, bunten Kartons und dergleichen mehr, die Tische abgenutzt vom vielen Arbeiten. Eine kleine Gruppe von Helfern in weißen Schutzmänteln war bereits fleißig damit beschäftigt, Flächen von etwas zu bepinseln, das aussah wie riesige Stücke aus Pappe.
„Ah Emma, schön sie zu sehen.“
Miss Bloomberg löste sich von der Gruppe und kam auf mich zugeeilt.
„Schnappen sie sich einen Pinsel und ran ans Werk!“
Sie reichte mir einen Kittel und ich folgte ihr zu den freiwilligen Helfern.
„Das ist Emma, ein Neuzugang“, stellte sie mich vor.
„Hi Emma“, rief es im Chor.
Zwölf Gesichter lächelten mir enthusiastisch entgegen. Das würde schlimmer werden, als erwartet …
Die Truppe war gerade dabei, Plakate für einen anstehenden Wohltätigkeitsflohmarkt zu machen. In der Hoffnung, ruhig vor mich hinarbeiten zu können, verzog ich mich mit einem Stück Pappe an einen Tisch etwas abseits.
„Hey, ich bin Amber, nett dich kennen zu lernen.“
Da ging sie dahin, die Hoffnung.
Amber hatte eine lange, blonde Lockenmähne, die sie grazil am Hinterkopf zusammengefasst hatte, und ein Gesicht wie ein Engel. Sie trug einen Pullunder, einen langen Rock und Strumpfhosen – das lebende Klischee einer Mutter Theresa. Strahlend hielt sie mir ihre Hand entgegen, die ich widerwillig ergriff.
„Es ist so wichtig, dass wir den weniger Gesegneten unter uns beistehen, findest du nicht?“, meinte sie, nachdem sie sich dreist neben mich verpflanzt hatte. „Wir sollten Gott jeden Tag dafür danken, dass wir es so gut haben …“
Netterweise hatte sie gleich all ihre Freunde mitgebracht, und ich wurde zum Mittelpunkt des Geschehens und Gesprächspartner Nummer eins.
Nachdem ich eine halbe Stunde lang unzählige Zitate und Anekdoten aus der Bibel hatte über mich ergehen lassen und mir anhören müssen, dass es unheimlich erfüllend war, zu einer Armenspeisung oder einer Vorlesestunde im Kinderheim zu gehen, war ich mehr als dankbar, dass mich Amber bat, aus dem Nachbarzimmer einen Eimer neuer Farbe zu holen. Viel länger hätte ich das Gesäusel nämlich nicht mehr ausgehalten.
Es wunderte mich fast, das keiner der Zwölf einen Heiligenschein über sich schweben hatte.
Als ich eintrat, stellte ich überrascht fest, dass ich nicht allein war. Auf einem verdreckten Fenstersims saß eine Studentin, die fieberhaft in ein Telefongespräch verwickelt war. Sie trug eine enganliegende, abgewaschene und teilweise zerrissene Jeans, ein knappes Oberteil und eine Jeansweste, die sich perfekt ihrer großzügigen Oberweite anpasste. Ihr blondes, lockiges Haar fiel ihr in wilden Strähnen ums Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich den Regalen zu. Grün … Grün … Grün …
„… so was von abgefahren … Ja, klar, nächstes Wochenende … Mhm … cool, bis dann, tschau.“
Da. Ich griff nach einem der Eimer und holte ihn aus dem Regal. Puh. Die Teile waren schwerer, als sie aussahen.
„Du siehst nicht gerade aus wie jemand aus dem Clubder Gandhis von morgen.“
Ich erschrak. Der Eimer glitt mir aus der Hand und landete klappernd auf dem Boden vor meinen Füßen, die er nur um Haaresbreite verfehlte. Das Mädchen war direkt neben mir aufgetaucht und grinste mich verschmitzt an.
„Ähm …“
„Oh, wie unhöflich von mir“, entschuldigte sie sich und streckte mir ihre Hand entgegen. „Ich bin Taylor.“
„Ähm … Emma“, entgegnete ich, während ich ihr ebenfalls meine Hand reichte.
„Also Emma, was tut eine wie du in dieser sozialen Sackgasse?“, fragte Taylor unverblümt.
„Das … das ist eine lange Geschichte …“, gab ich überrumpelt zurück. Taylor zuckte die Schultern.
„Ich hab Zeit.“
Dann geschah etwas, dass bei mir noch nie vorgekommen war. Ich wollte ihr antworten, wollte mich mit ihr unterhalten. Ich fühlte mich … wohl in ihrer Gegenwart – was idiotisch war, weil ich sie gerade einmal geschätzte fünf Sekunden lang
kannte, und nicht nur das. Sie verkörperte im Grunde genommen die Anti-Emma schlechthin: offen, fröhlich, gelassen und geradezu schockierend direkt. Trotzdem wusste ich mit einer Sicherheit, von der ich nicht die geringste Ahnung hatte, woher ich sie nahm, dass ich ihr vertrauen konnte, sie vielleicht sogar mögen.
Gegen jegliche Vernunft und zu meiner eigenen Überraschung folgte ich dann tatsächlich spontan meinem Bauchgefühl.
„Ich … also … ich bin nicht gerade ein geselliger Mensch und, naja, meine … meine Freundin meinte, dass würde sich ändern, wenn sie … wenn sie meinen Namen auf diese Clubliste schreiben würde“, erzählte ich. Eigentlich geht sie das doch nicht das Geringste an, dachte ich gleichzeitig.
„Wenn du nicht hier sein willst, warum bist du dann gekommen?“
„Ich könnte dich dasselbe fragen“, gab ich zurück.
„Warum denkst du, dass ich nicht hier sein will? Ist das so ein abwegiger Gedanke?“, wollte sie wissen. Sie hatte so ein Funkeln in den Augen, von dem ich nicht recht wusste, ob es nun Sarkasmus war, oder etwas anderes.
„Naja, ich … ich dachte weil … also …“, stammelte ich verlegen vor mich hin, während ich eingängig ihr freizügiges Oberteil anstarrte.
Taylor lachte. Es war ein leichtes, ansteckendes Lachen. Sarkasmus also. Ich konnte nicht umhin, zumindest zurück zu Lächeln. Es fühlte sich gut an, mal wieder etwas zum Lächeln zu haben.
„Ja, Pullunder sind nicht so mein Ding“, meinte sie grinsend. Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Sagen wir einfach, in den Vorlesungen glänze ich nicht gerade mit meiner Anwesenheit, und daher hat man mir nahe gelegt, etwas guten Willen zu signalisieren, um es mit den Worten des Rektors auszudrücken. So, da ich dir jetzt quasi meine Lebensgeschichte vorgekaut habe, wäre es nur fair, wenn du mir antwortest, oder?“
Taylor zwinkerte mir schelmisch zu. Mein Lächeln wurde unwillkürlich breiter.
„Meine Freundin, sie … sie macht sich Sorgen um mich und sie bedeutet mir wirklich viel. Ich … ich war es ihr einfach schuldig. Lange Geschichte eben …“
„Vielleicht bekomme ich sie ja mal irgendwann zu hören.“
„Vielleicht.“
In dem Moment flog die Tür auf, und Amber kam hereingestürmt. Sie warf Taylor einen schockierten Blick zu und stellte sich heldenhaft zwischen uns, ein flehender Ausdruck lag auf ihren Zügen. Sie hatte aus der Szene wohl die falschen Schlüsse gezogen.
„Lass sie in Frieden, Taylor, sie hat dir nichts getan. Ich bitte dich, wir wollen doch keinen Streit, oder? Wir können doch alle Freunde sein! Keiner kann immer nur allein …“
Noch während sie sprach, lief Taylor unbeeindruckt um die verdutzte Amber herum und bezog ebenfalls vor mir Stellung.
„Sorry Amber, aber dass mit uns beiden würde sicherlich nie gut gehen.“
Dann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her zur Tür. Amber schaute mir hilfesuchend nach, nicht wissend, was sie jetzt tun sollte. Ich ließ sie sprachlos stehen und folgte Taylor nach draußen.
Stille senkte sich über den Raum, sobald wir eingetreten waren. Alle Blicke waren auf uns gerichtet. Taylor schien das nicht im Geringsten zu kümmern. Sie lief schnurstracks zu dem Tisch, der am weitesten von den anderen entfernt war, setzte sich und schaute mich erwartungsvoll an. Die Klubmitglieder begannen, aufgeregt hinter unseren Rücken zu tuscheln.
„Nur schwänzen, ja?“, fragte ich und hob skeptisch meine Augenbrauen.
„Ob du’s glaubst oder nicht: Das ist tatsächlich alles, was ich vorbringen kann“, gab Taylor grinsend zurück. „Enttäuscht?“
„Warum behandeln sie dich dann so?“
„Gerede, Gerüchte – wie das eben so läuft.“
„Willst du … naja, willst du nichts dagegen unternehmen?“
„Warum sollte ich? Wenn es jemand nicht für nötig hält, mich kennen zu lernen, um sich ein Urteil von mir zu machen, ist das sein Pech.“
Das Getuschel hinter uns wurde leiser. Miss Bloomberg trat zögerlich an uns heran.
„Ähm … alles in Ordnung bei ihnen?“, sagte sie und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Sie hatte also nicht den Plural gemeint.
„Alles bestens. Emma wollte mir gerade erklären, was zu tun ist, nicht wahr?“
Ich nickte.
„Oh. Schön. Gut. Dann … ähm …“, begann die Professorin verunsichert und schaute mich hilfesuchend an. Ich lächelte nur zurück. „… dann lasse ich sie beide Mal arbeiten.“
Sie blieb noch einige peinliche Sekunden vor uns stehen, bis sie schließlich geschlagen den Rückzug antrat.
Wenige Minuten später begannen Taylor und ich, gemeinsam eines der kleineren Plakate zu grundieren. Sie redeten beinahe ununterbrochen, aber ich mochte es, ihr zuzuhören. Sie hatte eine so unverfälschte Art an sich, dass man einfach nicht anders konnte, als sich von ihr mitreißen zu lassen. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, das Ganze hier machte tatsächlich Spaß.
Die zwei Stunden vergingen wie im Flug, und ich war fast enttäuscht, als wir schließlich unseren Arbeitsplatz aufräumen sollten.
„Ich … ähm … ich freu mich schon auf nächste Woche“, meinte ich.
„Ich mich auch“, gab sie lächelnd zurück.
Auf dem Flur stand bereits Naomi und wartete auf mich. Ich verabschiedete mich von Taylor, seufzte und lief zu ihr. Ich hasst es, wenn ich ihr Recht geben musste. Das würde sie mich die nächste Zeit nicht vergessen lassen.
„War das gerade Taylor Clayton, mit der du dich da unterhalten hast?“, begrüßte mich Naomi ungläubig.
„Ja, wieso? Kennst du sie?“
„Nur vom Hörensagen. Was wollte sie von dir?“
Widerwillig erzählte ich ihr von meiner neuen Bekanntschaft, doch Naomi reagierte nicht, wie ich erwartet hatte. Nachdem ich geendet hatte schwieg sie, schloss den Wagen auf, setzte sich hinters Lenkrad und schaute mich entgeistert an.
„Das meinst du ernst, oder?“
Kein „Ha, siehst du, ich wusste es!“? Kein „Na, was hab ich dir gesagt?“ ?
„Ich glaub das einfach nicht! Da schick ich dich in den Club der zukünftigen Nonnen und Pfarrer mit den verständnisvollsten und einfühlsamsten Menschen im ganzen Umkreis und du freundest dich mit der Mafia von Morgen an.“
„Taylor ist wirklich nett. Es stimmt nicht, was man über sie sagt“, verteidigte ich meine neue Freundin.
„Woher willst du das wissen?“
„Weil ich eben zwei Stunden mit ihr verbracht habe, vielleicht?“
„Solche Kriminellen machen einem doch nur was vor!“
Ich rollte mit den Augen.
„Du hast zu viele Filme gesehen! Ist ja auch egal, ich mag sie jedenfalls.“
Naomi grunzte etwas Unverständliches in sich hinein, und ich freute mich darüber, dass unser Streit letztendlich unentschieden ausgegangen war.
Der Freitag wurde für mich zum Mittelpunkt der Woche. Es kam mir vor, als tankte ich während der zwei Stunden, die ich mit Taylor verbrachte, alle Glückshormonreserven, die ich in mir hatte, praktisch komplett auf, während ich den Rest der Woche von diesen Vorräten zehren musste. Bald konnte ich mir kaum noch vorstellen, wie es ohne sie gewesen war. Bei ihr vergaß ich all meinen Frust, und dieses unerklärliche Gefühl der Leere schien fast vollständig vergessen.
Logan und Adam waren wie Naomi nicht sonderlich angetan von meiner neuen Freundin. Sie versuchten nicht einmal, ein gutes Haar an ihr zu lassen, aber ich glaubte, dass sie im Grunde genommen nur eifersüchtig waren. Ich wusste wie sehr es sie verletzte, dass es nun eine völlig Fremde war, die das vollbracht hatte, was sie schon seit Jahren vergeblich versuchten – mir meine Lebensfreude wieder zu geben. Aber so war es nun einmal, und eigentlich war das doch eine gute Sache, oder? Trotzdem lag das Thema Taylor vorerst auf Eis und wurde in stiller Übereinstimmung totgeschwiegen.
Der häusliche Unmut tat unseren Treffen jedoch keinen Abbruch, und Taylor ließ mich meist schnell vergessen, dass es überhaupt so etwas wie Probleme auf dieser Welt gab. Zumindest bis an jenem Freitag.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte ich besorgt. „Du bist heute so schweigsam.“
„Hast du am Sonntag Zeit?“, wollte Taylor wissen, als habe sie sich mit aller Mühe zu dieser Frage durchringen müssen. „Wir könnten uns bei mir zu Hause einen gemütlichen Nachmittag machen.“
Da fiel mir auf, dass wir uns noch nie außerhalb des Colleges getroffen hatten, obwohl wir uns so gut verstanden. Einerseits hatte ich Naomi nicht verletzten wollen, andererseits konnte ich Taylor ja schlecht zu uns in die Wohnung einladen, wo meine Mitbewohner doch so begeistert von ihr waren. Sie hatte mich aber auch noch nie zu sich eingeladen. Bis jetzt.
Ob sie sich schämte? Eigentlich sollte Taylor mich inzwischen besser kennen. Glaubte sie wirklich, so eine Lappalie wie eine zu klein geratene Wohnung würde etwas zwischen uns ändern?
„Öhm… klar. Gern. Klingt gut. Diktierst du mir schnell deine Adresse?“
Ich hatte noch nie von der Straße gehört, aber das musste nicht viel bedeuten – immerhin war Seattle eine große Stadt.
Taylor schaute den Zettel in meiner Hand an als überlege sie, ob sie ihn sich nicht vielleicht doch noch schnappen oder ihre Aussage irgendwie rückgängig machen könnte. Auch bei meinen Mitbewohner hielt sich – wie erwartet – die Begeisterung über meine Pläne für das kommende Wochenende in Grenzen. Ich war also offensichtlich die Einzige, die sich auf den Sonntag freute.
„Zeig mal die Adresse“, unterbrach Adam Naomi und Logan, die angesäuert vor sich hin brummten, nachdem ich während des Abendessens die frohe Kunde überbracht hatte. Als er auf den kleinen Schmierzettel sah, fuhren seine Augenbrauen überrascht in die Höhe.
„Bist du dir sicher, dass du dich nicht verschrieben hast?“, fragte er irritiert.
„Ja, ziemlich. Wieso?“
„Das ist eine der nobelsten Gegenden der Stadt.“
Zuerst verstand ich nicht, wieso der Taxifahrer mir so ein breites Grinsen entgegen schleuderte, nachdem ich ihm Taylor` s Adresse genannt hatte, am Ziel angekommen erledigte sich die Frage jedoch von selbst. Nobelgegend traf das hier nicht einmal annähernd.
Das Taxi hielt vor einer großzügigen Einfahrt, die durch ein gigantisches Eisentor versperrt war.
„Da wären wir, Miss.“
Schmierig lächelnd hielt mir der Fahrer seine offene Hand entgegen und wartete auf seine Bezahlung. Als er jedoch den hageren Dollar Trinkgeld sah, verschwand sein Lächeln augenblicklich.
„Ach kommen sie, als ob sie` s nötig hätten!“, beschwerte er sich.
Da ich keine Anstalten machte, meinen Geldbeutel erneut hervorzukramen, grummelte er wütend „Geizhals!“, bevor er mit quietschenden Reifen davon rauschte.
Fassungslos starrte ich auf die massiven Eisenstangen vor mir. Taylor hatte nie erwähnt, woher sie kam oder wer ihre Eltern waren. Ich hatte sie aber ehrlich gesagt auch nie wirklich danach gefragt. Taylor trug keine übermäßig teure Kleidung, und ihr Handy war älter als meines, von ihrem rabiaten Sprachstil ganz zu schweigen – da hatte ich mir meine eigenen Gedanken gemacht. Dieses Schloss war also das genaue Gegenteil des Mädchens, das ich zu kennen geglaubt hatte.
Kaum hatte ich geklingelt, erklang eine klare Frauenstimme aus der Freisprechanlage.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte die Stimme freundlich.
„Ähm … ich bin mit Taylor verabredet“, antwortet ich nervös.
„… Miss Hanson?“
„Mhm. Genau“, stimmte ich zu.
„Einen kleinen Moment bitte.“
Mit einem leisen Knarren schwangen die zwei großen Tore langsam auf und gaben den Weg auf das Grundstück frei. Neugierig lief ich die Einfahrt entlang, die zu beiden Seiten, ähnlich einer Allee, von massiven Bäumen umrahmt war. Sie mündete im Eingangsbereich des Hauses, einem kleinen Vorplatz mit Brunnen.
Taylor stand bereits in der Tür und lächelte mir schuldbewusst entgegen. Sie trug ihre üblichen skandalösen Jeans und einen Kapuzenpulli, ihre blonde Löwenmähne hatte sie lässig im Nacken zusammengefasst.
„Komm rein“, bat sie.
Staunend betrachtete ich die hohen Decken der Eingangshalle und die vornehme Möblierung, während mir eine Dienerin meine Jacke abnahm, nachdem sie mir einen eigenartigen Blick zugeworfen hatte. Ich war wohl nicht die Art Gast, an die man hier gewöhnt war.
„Es ist ziemlich dick aufgetragen, ich weiß, aber meine Eltern mochten diesen teuren Schick. Sie haben das Haus selbst gebaut und gestaltet.“
Mochten. Hieß das ihre Eltern waren ...
„Wohnst du hier allein?“, fragte ich.
Obwohl sich ein Schatten über ihre Augen legte, fuhr sie gelassen fort.
„Ja. Meine Eltern sind vor einigen Jahren verstorben.“
„Das tut mir Leid …“
„Das Leben geht weiter.“
Sie zuckte mit den Schultern und bedeutete mir, ihr die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer zu folgen, einem hübschen, hellen, großen Raum mit einer überraschend mädchenhaften Ausstattung. Altrosa und weiß waren die vorherrschenden Farben.
„Meine Mom und ich haben das Zimmer gemeinsam gestaltet, als ich auf die High-School kam. Nach ihrem Tod hab ich es einfach nicht über mich gebracht, etwas zu verändern“, erklärte sie.
Wir setzten uns ans obere Ende des breiten Himmelbetts – zweifelsfrei das Prunkstück des Raumes – und streckten unsere Füße auf der weichen Matratze aus.
„In meinem Leben hat sich im letzten Jahr viel verändert, weißt du“, begann Taylor ihre Geschichte. „Nachdem ich mein erstes Semester in Harvard absolviert hatte, sind meine Eltern gestorben. Mir ging es ziemlich mies zu dieser Zeit und ich habe das Studium abgebrochen. Als ich dann wieder einigermaßen auf dem Damm war, erkannte ich, dass ich nicht glücklich war mit meinem Leben. Also hab ich es geändert. Ich hab mich auf einem öffentlichen College eingeschrieben und mich von dem gelöst, was meine Eltern für mich vorgesehen hatten.“
Wir saßen ein kleines Weilchen schweigend nebeneinander, bevor sie leise weitersprach.
„Naja, die Sache mit dem Damm stimmt so nicht ganz.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich bin … krank. Unheilbar krank. Die Diagnose bekam ich kurz nach dem Tod meiner Eltern. Ich wusste, mir blieb nicht
mehr viel Zeit, und so war ich gezwungen zu überlegen, wie ich die Zeit, die mir noch geblieben war, nutzen wollte. Ich habe angefangen zu überlegen, was mir wirklich wichtig ist. Erfolg, Ansehen … das alles verliert seinen Wert, wenn du ohnehin keine Chance mehr hast, es zu erreichen. Das erste Mal in meinem war ich frei von all den Pflichten, die mir seit meiner Geburt auferlegt waren. Das erste Mal konnte ich mich fragen, was mir wichtig war, anstatt nur die Erwartungen anderer zu erfüllen. Das erste Mal lag mein Leben wirklich in meiner Hand, und ich konnte entscheiden, was ich damit tun wollte.“
Dann kehrte das strahlende Taylorlächeln auf ihr Gesicht zurück, dass ich seit unserem letzten Treffen so vermisst hatte, und sie fügte hinzu: „Vermutlich würden sich meine Eltern in Grabe umdrehen wenn sie wüssten, was ich hier unten treibe. Schon verrückt, wie das Leben manchmal so spielt, findest du nicht?“
Taylor würde sterben. Die fröhliche, lebensfrohe Taylor, die immer alles mit einem Lächeln sah, würde sterben. Wie konnte sie bloß so unbeschwert sein, wenn das Schicksal es doch so grausam mit ihr meinte?
„Fehlst du deswegen so oft? Weil du krank bist?“, fragte ich mit einem Kloß im Hals. Sie nickte.
„Aber wieso…“
„Wieso ich trotzdem als Schwänzerin dastehe? Ich will keine Sonderbehandlung, kein Mitleid, nur weil ich manchmal nicht ganz auf der Höhe bin. Außer dem Rektor weiß, auf meinen Wunsch hin, niemand von meiner Krankheit, nicht einmal die Dozenten, und das soll auch so bleiben.“
Sie warf mir einen gespielt mahnenden Blick zu.
„Du willst gar nicht, dass sie anders von dir denken, oder?“
Ich kannte dieses Verhalten nur zu gut, die Menschen zu vertreiben, die einem Nahe kommen wollen.
Taylor machte sich nicht einmal die Mühe, es zu leugnen.
„Es ist für alle besser so. Ich bin eigentlich kein Einzelgängertyp, aber was würde es bringen, sich jetzt einen Freundeskreis aufzubauen, wenn man später nur allen unnötige Schmerzen zufügt? Sie würden sich schlecht fühlen, ich würde mich schlecht fühlen … Es ist einfach besser so, wie es ist.“
„Warum hast du dich dann mit mir angefreundet?“, wollte ich wissen.
„Das mag eigenartig in deinen Ohren klingen, aber ich … ich hatte einfach so ein Gefühl, als wäre es das Richtige. Ziemlich abgedroschen, was?“
„Ein bisschen“, gestand ich. „Wie lange …“
Ich konnte den traurigen Gedanken nicht aussprechen.
„Wie lange mir noch bleibt? Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ein Monat. Vielleicht ein Jahr.“
Unfähig meine Freundin anzusehen, schaute ich auf die cremefarbene Bettdecke unter mir. Vielleicht ein Monat. Vielleicht ein Jahr. Vielleicht eine Woche oder ein Tag.
„Da haben wir` s“, unterbrach sie meine Gedanken und machte eine abwertende Handbewegung. „Du guckst, als sei ich schon tot – bin ich aber nicht! Du darfst gerne um mich trauern, aber bitte erst, wenn der Sensenmann schon da war. Ich will meine letzten Minuten auf Erden nicht als Trauerklos verschwenden, und ich will auch nicht, dass du das tust. Lass und den ganzen Mist einfach vergessen und einen lustigen Nachmittag zusammen verbringen, okay?"
Schwungvoll sprang sie aus dem Bett und hielt mir ihre Hand hin. „Lust auf eine Tour durchs Haus?“
„Also ich weiß nicht wie` s dir geht, aber ich bin am Verhungern. Was sagst du zu Pizza?“, meinte Taylor drei Stunden später, nachdem wir unsere Tour beendet hatten.
„Gerne.“
Wir schauten gerade ihrem Koch zu, wie er unsere schwerverdienten Pizzen in den Ofen schob, als es an der Tür klingelte.
„Erwartest du noch Besuch?“
„Eigentlich nicht ...“, setzte sie an, als die Dienerin, die mich vorher skeptisch in Empfang genommen hatte, hereingeeilt kam.
„Miss Clayton, ihre Cousins sind so eben eingetroffen.“
Kaum dass sie geendet hatte, tauchte im Türrahmen ein hünenhafter, junger Mann auf. Er schien ungefähr in unserem Alter zu sein, und hätte seine Miene nicht so vor Missbilligung und Überheblichkeit gestrotzt, hätte ich ihn vielleicht sogar als sympathisch empfunden. Er war attraktiv, genau der Typ Junge, auf den die Mädchen massenweise flogen: dunkelblondes Haar, blaue Augen und eine Ausstrahlung wie ein junger König Artus. Hinter ihm tauchten noch zwei weitere solcher Exemplare auf, einer mit etwas dunkleren Haaren und der andere mit schwarzen, kurzen Stoppeln, die mich an einen Militär erinnerten.
„Taylor. Du hast Gesellschaft, wie ich sehe“, begrüßte der Blonde seine Cousine, und es war kaum zu übersehen, dass ihm diese Tatsache nicht besonders in den Kram passte.
„Matthew. Ich hatte euch nicht vor nächster Woche erwartet“,
erwiderte sie nervös.
Taylor war ganz bestimmt nicht der Typ Mensch, der sich schnell einschüchtern ließ. Wenn selbst sie Respekt vor diesem Kerl hatte, sagte das mehr aus als tausend Worte.
„Ich denke, du solltest deinen Gast langsam verabschieden, meinst du nicht?“
Matthew schlenderte lässig auf uns zu und schien nicht im Traum daran zu denken, Taylor würde ihm widersprechen. Das tat sie auch nicht.
„Nichts gegen dich. Familienangelegenheiten, die nicht warten können. Das verstehst du sicher“, wandte er sich an mich, ein zuckersüßes Lächeln auf den Lippen.
„Ich … Ich wollte sowieso gerade gehen.“
Naja, nach meiner Pizza, aber die konnte ich mir jetzt wohl schenken.
„Ich begleite dich noch zur Tür.“
Taylor schob mich an ihren Cousins vorbei aus der Küche. „Fühlt euch inzwischen ganz wie zu Hause, Jungs“, fügte sie mit einem säuerlichen Unterton hinzu.
Schweigend liefen wir in die Eingangshalle, wo die Dienerin bereits mit meiner Jacke auf uns wartete.
„Bitte entschuldige den Rausschmiss. Matthew ist eigentlich gar kein so schlechter Kerl, auch wenn das nach der Aktion eben schwer zu glauben ist.“
„Wieso lässt du ihn so mit dir umspringen?“, fragte ich, immer noch ein wenig überrumpelt davon, so direkt vor die Tür gesetzt zu werden.
„Nach dem Tod meiner Eltern hat er … er hat mir sehr geholfen. Er war für mich da, als meine Familie nichts mehr von mir wissen wollte“, erwiderte sie, in ihren Augen glänzte aufrichtige Dankbarkeit.
„Ohne ihn wäre ich heute wahrscheinlich nicht mehr hier“, flüsterte sie, so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
„Wie meinst du …“
„Streich das letzte bitte“, unterbrach sie mich, wild mit ihren Händen gestikulierend. Ihre melancholische Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen.
„Bei dem Thema werde ich immer unerträglich sentimental und weiß am Ende gar nicht mehr, was ich überhaupt von mir gebe.“
Sie lächelte mich an, als sei nichts gewesen, und wir verabschiedeten uns.
Die Sonne streifte bereits den Horizont und die Allee, die bei meiner Ankunft noch so einladend gewirkt hatte, warf nun ihre dunklen Schatten auf mich herab. Auch der Wind hatte aufgefrischt. Unwillkürlich schlang ich meine Jacke enger um meinen Körper. Bloß schnell nach Hause, dachte ich.
Fast am großen Eingangstor angelangt, fing mein Kopf plötzlich an, wie verrückt zu brennen, von einer Sekunde auf die andere, ohne jegliche Vorwarnung. Ich presste wie eine Wahnsinnige meine Handflächen gegen die Schläfen und wimmerte vor Schmerzen. Mein Körper krampfte sich unnatürlich zusammen, Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und mit einem Mal war ich ganz glücklich darüber, die Pizza vorher nicht gegessen zu haben.
Ich zwang mich mit aller Kraft gleichmäßig zu atmen, und tatsächlich brachte ich die Schmerzen so weit unter Kontrolle, dass ich wieder einigermaßen klar denken konnte.
Es kommt vom Haus.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, woher dieser Gedanke gekommen war, doch ich wusste mit einer merkwürdigen Gewissheit, dass er der Wahrheit entsprach. Gegen jegliche Vernunft rannte ich wie besessen zurück zum Haus.
Taylor. Sie war in Gefahr.
Während ich an den Bäumen vorbei stürmte, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie etwas durch das Blätterdickicht rauschte. Eine Sekunde später raste eine schwarze Gestalt auf mich zu, die direkt aus der Baumkrone über mir geschossen kam. Knapp einen halben Meter vor mir blieb sie stehen, erleuchtet nur durch das trübe Licht der Straßenlaternen.
Der Statur zu urteilen war es ein Mann. Sein Gesicht hatte er durch eine Kapuze verhüllt, die nur schemenhaft seine Züge erahnen ließ. Es schien als habe er Angst, näher zu kommen, obwohl Killer praktisch auf seiner Stirn geschrieben stand. Wieder begann es, schmerzhaft in meinem Kopf zu zucken.
Ein Keller. Das schwache Licht einer Glühbirne. Zwei Männer, die gegeneinander kämpfen. Ein Regal, das ächzend zusammenbricht. Ein … Messer. Aus dem Brustkorb der Gestalt vor mir ragte ein Messer.
Die merkwürdige Vision war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Ein gellender, unerträglich hoher Schrei ertönte, dann sackte der Körper vor mir leblos in sich zusammen.
Weitere Schreie drangen aus der Dunkelheit an mich heran, dann war mit einem Mal alles wieder ganz still. Das Gefühl der Bedrohung, dass ich vorher so intensiv wahrgenommen hatte, löste sich langsam auf. Nur mein Herz pumpte immer noch in Rekordgeschwindigkeit, meine Hände waren schweiß- nass – und irgendwie war ich hintenüber gekippt. Erst jetzt spürte ich den rauen Asphalt unter meinen Fingern, ohne wirklich zu wissen, wie er dorthin gelangt war.
„Emma …?“
Ich war so auf den toten Körper vor mir fixiert gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie Taylor neben mich getreten war. Erschrocken fuhr ich herum.
„Es ist alles in Ordnung! Du bist in Sicherheit!“
Langsam beugte sie sich zu mir herunter.
„Komm, ich helf dir auf.“
Während ich zögernd Taylor` s Hand ergriff und sie mich wieder auf die Beine zog, löste sich aus ihrem Kragen eine gelblich schimmernde Kette, die hin und her baumelte und schließlich, als sie in meine Nähe kam, smaragdgrün aufleuchtete. Taylor blickte fassungslos auf den jetzt wieder gelb leuchtenden Stein über ihrer Brust.
„Sie ist eine von uns.“
Matthew war hinter Taylor aus der Dunkelheit aufgetaucht, sein Blick ungläubig auf mich gerichtet. Er schaute kurz über seine Schultern und nickte jemandem zu, den ich nicht sehen konnte, dann wandte er sich wieder uns zu.
Gelassen ging er neben der Leiche in die Knie und zog das Messer aus ihrer Brust – vermutlich sein Messer. Anschließend kramte er einen Flachmann aus der Innentasche seiner Jacke und goss den Inhalt über die leblose Gestalt zu meinen Füßen, bevor er sie mit einem Feuerzeug anzündete.
„Bringen wir das Mädchen erst einmal rein, während die Jungs hier draußen aufräumen.“
Taylor drängte mich in Richtung Haus und redete beruhigend auf mich ein, aber ich nahm sie kaum war. Wie gebannt starrte ich auf die Flammen, die rasend schnell den kompletten Körper des Mannes verschlungen hatten.
Abrupt blieb ich stehen und riss mich von ihr los.
„Was ist da eben passiert?“
Ich brachte kaum mehr als ein heißeres Flüstern zu Stande. Mein angsterfüllter Blick wanderte entsetzt zwischen Taylor und ihrem Cousin hin und her.
„Bitte vertrau mir, Emma. Komm mit ins Haus, alles wird wieder gut!“
Taylor ging vorsichtig einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück.
„Gut? Dein … dein Cousin hat jemand erstochen – nichts ist gut!“
„Emma, bitte“, versuchte sie es erneut und hob beschwichtigend die Hände. „Ich würde dir nie etwas tun, und das weißt du. Wir werden dir alles der Reihe nach erklären, aber komm mit ins Haus. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen, und es ist kühl hier draußen. Bitte.“
Egal, wie der Stand der Dinge auch sein mochte: Ich vertraute ihr. Ich gab mir ein Ruck und ließ mich von Taylor wieder beruhigend in die Arme nehmen, die erleichtert ausatmete. Irgendetwas sagte mir, dass Matthew ohnehin dafür gesorgt hätte, dass ich wieder in diesem Haus landete.
Nachdem man mich mit einem Beruhigungstee auf ein Sofa verpflanzt hatte, herrschte vorerst betretenes Schweigen. Taylor saß neben mir, Matthew hatte uns gegenüber Platz genommen. Wenig später kamen die anderen beiden Jungs, die mir Taylor nun als Connor und Josh vorstellte, zurück und leisteten uns im Wohnzimmer Gesellschaft. Ihre Kleidung war verschmutzt und zerknittert. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Fehlt nur noch die Schaufel mit Blut dran, dachte ich.
„Habt ihr alle erwischt?“, wollte Matthew mit ernster Stimme wissen.
„Sieht ganz so aus. Als wir fertig waren, haben wir noch einmal das Gelände abgesucht, um auf Nummer sicher zu gehen, aber keine neuen Spuren gefunden“, erwiderte Josh und fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durch sein kaum vorhandenes Haar.
„Gut.“
Matthew nahm ein Schluck von seinem Scotch, bevor er das
Wort schließlich an mich richtete.
„Wir sind Jäger“, begann er ohne größere Umschweife.
„Jäger?“, wiederholte ich skeptisch.
„Ja.“
„Und … und wasjagt ihr?“
„Vampire.“
Vampir. Vampir. Vampir.
Wieder begann dieses entsetzliche Pochen in meinem Kopf.
Mein Zimmer. Alles war verschwommen. Eine schattenhafte Gestalt stand neben dem Fenster.
„Womit wir beim Thema wären! Ich bin ein Vampir.“
Vampir. Vampir. Vampir.
Wie ein Echo hallte dieses Wort in meinem Kopf nach, auch als die Vision verschwunden war. Mir wurde übel und ich konzentrierte mich auf die Blumen, die vor mir auf dem Tisch standen, um einen Würgereflex zu unterdrücken.
„Dann waren die Typen da draußen …“, begann ich.
„Vampire, ja“, ergänzte Matthew. „Wieso bist du zum Haus zurückgerannt?“
War ja klar, dass das kommen würde. Es war eine Sache, sich selbst für einen kompletten Freak zu halten, aber würde ich jetzt die Wahrheit sagen, wäre es praktisch offiziell. Ich hatte immer gehofft, diese seltsamen Gefühle und Visionen würden irgendwann verschwinden. Ich hatte mir immer eingeredet, dass es die Schuld eines Traumas aus meiner Kindheit sei, nichts als kranke Hirngespinste. Aber was wäre, wenn das alles wirklich real war? Konnte das tatsächlich möglich sein? Und wenn ja, was hatte ich damit zu tun?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
„Als ich am Tor war, hab ich plötzlich eine Gefahr gespürt, die vom Haus ausging. Es … es ist schwer zu erklären. Ich wusste einfach, dass etwas nicht stimmt. Mein Körper ist dann praktisch wie von selbst zurückgerannt“, versuchte ich, mein Verhalten zu erklären.
„Verstehe. Ist das schon öfter passiert?“, fragte Matthew, ohne
wegen meiner diffusen Schilderung auch nur mit der Wimper zu zucken.
„Als ich … als ich klein war, hab ich es praktisch andauernd gespürt. Mit der Zeit wurde es dann weniger. Aber neulich … neulich hat es wieder angefangen. Was hat das alles zu bedeuten?“
Connor und Josh schauten Matthew genauso ratlos an, wie ich mich fühlte.
„Lass das Mädchen noch einmal das Medaillon berühren“, befahl er Taylor.
Sie tat wie ihr geheißen, zog die Kette aus und reichte sie mir. Kaum hatte das kühle Metall meine Haut berührt, wechselte der eingearbeitete Stein seine Farbe erneut von schimmerndem Gelb zu einem satten Smaragd. Connor und Josh keuchten unterdrückt.
Taylor legte sich die Kette wieder um, die erneut ihre alte Farbe annahm, und sah mich mittleidig an.
„Das ist nicht möglich!“, sagte Connor bestimmt.
„Könnte … könnte mir mal bitte jemand erklären, was es mit diesem Anhänger auf sich hat?“
„Der Stein ist mit einem uralten Zauber belegt. Er zeigt das wahre Wesen desjenigen an, der ihn berührt“, antwortete Matthew, erhob sich und lief auf uns zu. Er beugte sich zu Taylor vor und nahm den Anhänger zwischen seine Finger. Augenblicklich veränderte sich die Farbe zu demselben satten
Smaragd wie zuvor bei mir. Anschließend ließ sich Matthew mir gegenüber auf den Wohnzimmertisch sinken und fixierte mich mit seinen wachsamen Augen.
„Verstehst du jetzt? Du bist eine von uns, eine Jägerin.“
„Aber bei Taylor leuchtet er gelb“, versuchte ich, rational an die Sache heranzugehen. Ich und eine Jägerin? – Niemals! Das durfte einfach nicht sein!
„Bei einem gewöhnlichen Menschen leuchtet er blau, bei einem Jäger grün und bei einem Vampir rot“, erklärte sie ruhig.
Jegliches Gefühl war aus ihrer Stimme gewichen. Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, also schwieg ich und sah sie verunsichert an.
„Du weißt, dass ich krank bin, aber ich habe keine Krankheit im herkömmlichen Sinn“, versuchte sie es weiter.
Ich verstand immer noch nicht. Taylor seufzte traurig.
„Was ergibt sich, wenn du grün und rot mischst?“, fragte sie dann.
„Ähm… G…“
Oh nein. Jetzt hatte es bei mir Klick gemacht. Entsetzte starrte ich meine Freundin an, hoffte, sie würde meinen Verdacht widerlegen, aber sie tat das Gegenteil.
„Vor knapp einem Jahr griff ein Haufen Vampire unser Haus an – ein Haufen verdammt mächtiger Vampire. Es waren einfach zu viele, meine Eltern hatten keine Chance …“
Ich sah die grausigen Bilder jenes Tages vor ihrem geistigen Auge Revue passieren.
„Ich war an diesem Abend mit Freunden ausgegangen, und als
ich nach Hause kam, war drinnen bereits alles verwüstet. Meine Eltern waren noch am Leben – gerade so – und da dachten sich diese Blutsauger wohl, dass es doch ein netter Spaß wäre,
sie vor ihrem Tod noch mit ansehen zu lassen, wie sie ihre Tochter verwandeln.“
Sie machte eine kurze Pause, nippte an ihrem Glas und fuhr dann fort.
„Normalerweise ist das Gift, das für die Verwandlung verantwortlich ist, tödlich für einen von uns. Manchmal jedoch – eins zu einer Milliarde manchmal – überleben wir es. Ja, ich bin ein echter Glückspilz.“
Sie lachte bitter.
„Aber der Preis dafür ist unvorstellbar hoch. Wenn das Gift seine Wirkung entfaltet, werde ich zu einem willenlosen Monster, nicht mehr im Stande, rational zu denken oder handeln. Ich werde zu einem Dämon.“
Sie schwieg einen Moment, um erneut gedankenversunken einen Schluck aus ihrem Glas zu nehmen.
„Ich konnte den Hass in den Augen meiner Eltern sehen, als ich zu dem wurde, was sie am meisten auf dieser Welt verabscheuten. Mein Vater konnte es am Ende nicht mal mehr ertragen, mich anzusehen.“
Sie stellte ihr Glas klappernd wieder zurück auf den Tisch.
„Was danach passiert ist, erspar ich dir. Als Verwandte mich schließlich fanden und ich ihnen erzählt hatte, was vorgefallen war, wollten sie mich sofort töten, aber Matthew hat sie daran gehindert. Er sagte, solange sich die Verwandlung noch nicht vollzogen habe, solle ich verschont bleiben.“
„Deshalb trägt sie das Amulett. Zur Kontrolle“, fuhr Matthew tonlos dazwischen.
„Anfangs waren nur leichte, gelbliche Schlieren in dem Grün zu erkennen, aber mittlerweile …“
Nachdenklich umfasste sie das Medaillon mit ihrer freien Hand.
„Wie kann sie eine von uns sein?“, griff Josh schließlich wieder das Thema von vorher auf.
Mir fiel zu dieser Frage nur eine mögliche Lösung ein, und die mir gefiel mir gar nicht.
„Fragen wir sie doch selbst. Du hast eine Vermutung, nicht wahr?“
Schlaues Kerlchen, dieser Matthew. Aber ich mochte die Art nicht, wie er mich immer direkt zu einer Antwort drängte.
„Meine Mom ist gestorben, als ich noch sehr klein war. Sie hatte den Kontakt zu ihrer Familie schon seit langer Zeit abgebrochen, noch bevor sie meinen Dad kennengelernt hatte. Ich weiß also im Grunde genommen nichts über ihre Herkunft. Sie hat nie davon gesprochen.“
War Mom wirklich eine Jägerin? Das würde bedeuten, dieser Traum, den ich all die Jahre hatte, war tatsächlich eine Erinnerung. Meine Mutter hatte sich nicht selbst umgebracht. Sie hatte sich geopfert, um Dad und mich vor den Vampiren zu schützen, die ihre wahre Identität herausgefunden hatten. Deshalb hatte sie uns verlassen. Deshalb hatte sie ständig so gehetzt gewirkt. Endlich ergab alles einen Sinn. Ich hatte mir die dunklen Kreaturen nicht bloß eingebildet. Ich hatte die ganze Zeit über Recht gehabt.
„Wie ist der Name deiner Mutter?“
„Danielle.“
„Ich werde mich so schnell wie möglich mit dem Ältestenrat in Verbindung setzten müssen, um sie über die Situation zu informieren. Solange alles noch im Unklaren ist, bleibt das Mädchen im Haus.“
Matthew hatte sich inzwischen aufgerichtet und blickte seine
Familienmitglieder gebieterisch an.
„Ich … ich kann nicht hier bleiben!“
Ich musste schleunigst zurück in die Realität, oder zumindest an einen Ort, an dem ich mir einbilden konnte, dass das hier nicht die Realität war.
„Wir werden eine der Unseren nicht einfach schutzlos zurücklassen. Wenn du jetzt nach Hause fliehst, macht das die Tatsache, dass du eine Jägerin bist, nicht weniger wirklich. Du bist eine von uns, finde dich damit ab!“, gab Matthew unbewegt zurück.
So langsam glaubte ich, der Typ konnte Gedanken lesen …
„Ich bin zwanzig Jahre lang prima ohne Schutz zu Recht gekommen. Mal abgesehen davon: Ich … ich kenne euch doch überhaupt nicht! Außerdem könnt ihr nicht eine Bombe nach der anderen platzen lassen und mir danach sagen, was ich zu tun habe!“, begehrte ich auf – und das sogar mit einigermaßen stimmiger Grammatik.
„Sie hat Recht, Matthew. Wir können Emma nicht zwingen, hier zu bleiben. Lassen wir sie erst einmal eine Nacht über alles schlafen, morgen sehen wir weiter. Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass wir heute noch einmal angegriffen werden“, mischte sich Taylor ein.
„Solange sich die Ältesten dieser Sache nicht angenommen haben, bin ich für sie verantwortlich. Was, glaubst du, werden
sie sagen, wenn ich ihnen eine Leiche präsentiere?“, fauchte er seine Cousine an.
„Die Dinge lassen sich nun mal nicht immer hundertprozentig genau planen. Emma könnte um die nächste Ecke laufen und von einem Kronleuchter erschlagen werden. Wenn sie gehen will, lass sie gehen! Sie kennt das Risiko, also lass sie selbst entscheiden.“
Matthew funkelte Taylor böse an, wechselte einen Blick mit den beiden anderen Jungs, schaute mich eindringlich an und seufzte schließlich ergeben.
„Du bist dir der Gefahr bewusst?“, fragte er.
„Ja.“
„Nun gut. Ich will dich nicht gegen deinen Willen hier halten, auch wenn ich deine Entscheidung mehr als leichtsinnig finde. Damit wäre niemandem geholfen. Aber bedenke dass alles, was hier vorgefallen ist, geheim bleiben muss! Ein Wort zu irgendjemandem und wir alle bekommen größere Schwierigkeiten, als du dir je vorstellen kannst. Gibt’s du mir dein Wort darauf?“
Er sah mich ernst an.
„Ich verspreche es.“
Matthew musterte mich prüfend, als überlegte er, ob man mir trauen könnte. Schließlich nickte er.
„Morgen fährst du mit Taylor nach den Vorlesungen direkt hier her. Wir haben noch Einiges zu klären und du hast jetzt sicherlich viele Fragen. Für heute hattest du genug Aufregung.
Connor, sei so gut und bring sie nach Hause. Ich will sicher sein, dass sie gefahrlos dort ankommt.“
Als mich Connor vor unserem Haus absetzte, war es weit nach Mitternacht. Es überraschte mich trotzdem kein bisschen, dass alle noch auf den Beinen waren. Sie trauten Taylor keinen Meter und wie ich Naomi kannte, spielte die vermutlich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, die Polizei einzuschalten. Wie zur Bestätigung kam sie besorgt auf mich zugestürmt, sobald ich einen Fuß durch die Tür gesetzt hatte.
„Entschuldigt, ich hab total die Zeit vergessen“, begrüßte ich auch die Jungs, die hinter Naomi standen und mir neugierige Blicke zuwarfen.
„Wir hatten uns schon das Schlimmste ausgemalt!“, erklärte
sie.
„Du hattest dir schon das Schlimmste ausgemalt“, korrigierte Logan sie. „Naomi hatte schon alles durch: Mafia, Drogengangs, Auftragskillerin … also, was ist es denn nun?“
Vampirjägerin, antwortete ich in Gedanken.
„Nichts Dergleichen. Im Gegenteil …“
„Und du bist dir sicher, die haben dir nichts ins Glas gemischt?“, scherzte Logan, nachdem ich geendet hatte.
„Ich war selbst überrascht“, gestand ich.
„Ihr kennt euch jetzt schon wie lange? Drei Monate? Und du bist nie auf die Idee gekommen, sie mal nach ihrer Familie zu fragen?“ Naomi schüttelte entrüstet den Kopf.
„Es ist doch letztendlich egal, ob sie reich oder arm ist. Das ändert nichts an ihrem Charakter!“, schoss ich zurück.
„Amen“, stimmte Adam mir zu. „Also lag ich richtig, was die Adresse betraf. Sachen gibt`s!“
„Diese drei Cousins, Connor, Josh, und Matthew – oder? Jedenfalls sind Sie nur kurz zu Besuch und wollen dich morgen also gerne nochmal sehen?“, fragte Naomi mit einem viel zu breiten Lächeln.
„Wir haben uns ganz nett unterhalten und sie kennen hier in der Nähe keinen. Aber hör auf mich so anzustarren, so nett find ich sie nun auch wieder nicht.“
Ich hatte erzählt, dass Taylor`s Verwandte unerwartet früher aufgetaucht waren. Soweit stimmte noch alles. Ich hätte mich mit ihnen unterhalten und da hätten wir vergessen, auf die Zeit zu achten. War doch eine nette Umschreibung für eine Vampirattacke und ein Stelldichein mit einer, wie sich im Nachhinein herausstellte, Familie aus Vampirjägern.
„Wie lange haben die drei vor zu bleiben?“, erkundigte sich Logan in einem, wie mir schien, zu bemüht gleichgültigen Ton.
„Hab sie nicht gefragt. Ich vermute mal nicht allzu lange.“
Plötzlich wurde mir bewusst, dass diese Entscheidung auch mich beeinflussen würde.
Solange sich die Ältesten dieser Sache nicht angenommen haben, bin ich für sie verantwortlich.
Wer waren diese Ältesten? Und was würden sie mit mir tun, sobald sie hier waren und Matthew nicht mehr länger für meine Sicherheit verantwortlich war, wie er gesagt hatte? Gab es vielleicht so eine Art Hogwarts für Vampirjäger, auf das sie mich verfrachten würden?
Morgen würde ich alles erfahren. Dann würde ich weitersehen.
Wie ausgemacht fuhr ich am nächsten Tag nach den Vorlesungen mit Taylor nach Hause. Die drei Jungs saßen bereits am Wohnzimmertisch und bedienten sich an den süßen Teilchen, die dort kunstvoll aufgetürmt waren. Während Taylor und ich auf dem Sofa gegenüber dem von Matthew Platz nahmen, brachten zwei Dienstmädchen Kannen mit Tee und Kaffee. Connor und Josh hatten es sich jeweils auf einem der Sessel gemütlich gemacht. Matthew hatte sich als einziger nichts von den Köstlichkeiten vor sich genommen.
„Greift zu“, begrüßte er uns, als sei er der Gastgeber.
Verstohlen schaute ich zu Taylor, die sogleich beherzt zugriff und sich zwei Stücke Sahnetorten auf einen Teller schaufelte, während ich verlegen die Hände im Schoß knetete. Wie konnte es sie nicht stören, in ihrem eigenen Haus wie ein Gast behandelt zu werden? Aber das Thema hatten wir ja schon ...
„Probier mal, die sind hausgemacht. Echt `ne Bombe, sag ich dir!“, erklärte sie mit offenem Mund und hielt mir eine vollbeladene Gabel hin.
„Ähm … später vielleicht“, lehnte ich ab.
Taylor zuckte nachlässig die Schultern und verschlang eine weitere Kuchenladung, wobei Matthew ihr einen pikierten Blick zuwarf, der förmlich taktlos implizierte. Ich bemühte mich, mein Grinsen zu unterdrücken. Sie mochte dulden, dass er sich hier wie der Herr des Hauses aufführte, aber ungeschoren ließ sie ihn damit nicht davonkommen. Aber im Moment gab es Wichtigeres als ihre fehlenden Tischmanieren.
Die Jungs sahen mich an, also erwarteten sie, dass ich anfing. Ich räusperte mich. Dann los.
„Wer sind die Ältesten?“, begann ich die Fragerunde.
„Unsere Art wurde seit jeher von zwölf mächtigen Familien angeführt. Die Oberhäupter dieser Familien bilden den Rat der Ältesten. Sie bestimmen über unsere Gesetze und fungieren als höchste, vollziehende Gewalt.“
Matthew sprach mit größter Ehrerbietung.
Nicht gerade demokratisch, dachte ich.
„Was werden sie mit mir tun, wenn … wenn sie hier sind?“
„Zu aller erst werden sie dich kennen lernen wollen. So etwas wie dich gab es noch nie, und sie werden sicher eine ganze Menge Fragen an dich haben, zumal die Möglichkeit besteht, dass du aus einer ihrer Familien stammst.“
Als Kind hatte ich mir immer die wunderlichsten Dinge über meine potentiellen Großeltern ausgemalt, dass sie arbeitslose Kleinkriminelle waren, Amish oder gar Aliens, und dass meine Mutter deshalb von zu Hause fortgelaufen war. Aber so gnädig war das Schicksal natürlich nicht mit mir.
Naja, mit den Aliens war ich immerhin schon recht nah dran gewesen …
„Und … und nach dem Kennenlernen? Ich geh aufs College, hab eine Wohnung, Freunde … Ich will nicht, dass sich mein Leben ändert …“ Es klang wie eine verzweifelte Bitte.
„Das hat es bereits unweigerlich getan, Emma.“
Matthews Blick war mitfühlend, doch seine Worte hart wie in Stein gemeißelt. Unauslöschlich. Die Realität, vor der ich nicht länger davonlaufen konnte.
„Du hast Kräfte, die du nicht leugnen kannst. Gestern haben dich diese Fähigkeiten direkt in die Arme der Dunklen getrieben – und das Ganze funktioniert auch umgekehrt. Du setzt jeden Menschen, mit dem du zusammen bist, einer Gefahr aus. Willst du das etwa?“
Naomi. Adam. Logan. Ich würde sie alle mit in diese Hölle ziehen, wenn ich bei ihnen blieb. Darüber hatte ich zuvor noch nie nachgedacht, egoistisch wie ich war. Ich hatte immer nur mich in diesem Albtraum gesehen. Aber bis jetzt hatte ich es ja auch nur für einen Albtraum gehalten.
„Das Erbe der Jäger fließt durch dein Blut“, schaltete sich
Connor ein, als habe ich etwas missverstanden. Als sei das etwas Gutes. War es denn so abwegig, sich ein normales Durchschnittsleben zu wünschen?
„Wir könnten dir helfen, es zum Guten zu nutzen. Bist du denn kein bisschen neugierig? Vampirjagden, magische Kräfte … die meisten Teenies heutzutage würden morden, um so eine Chance zu bekommen!“
Ich war eben nicht wie die meisten. Das war schon immer mein Problem gewesen.
„Es mag für dich alles ein bisschen viel erscheinen im Moment, aber wenn du dich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hast, wirst du die Sache sicher mit anderen Augen sehen“, übernahm Matthew wieder.
„Und wenn nicht?“, fragte ich leise. Meine Stimme klang anklagend. Matthew seufzte resignierend.
„Emma, wir sind nicht deine Feinde! Es wird sich sicher eine zufriedenstellende Lösung für dich finden lassen. Wir werden dich zu nichts zwingen, das verspreche ich dir! …“
Seine Worte klangen feierlich, und ich bildete mir ein, Connor und Josh etwas zu laut einatmen zu hören.
„… Aber du kannst nicht von uns verlangen, dich einfach schutzlos zurückzulassen! Du bist eine von uns – vielleicht gehörst du sogar zu unserer Familie! Zählt das etwa nichts für dich? Willst du nicht wissen, woher du kommt?“
Matthew sah mich vorwurfvoll an – und er hatte recht. Ich hatte die Chance, meine Familie kennen zu lernen, Vampirjäger, die gegen das Böse kämpften. Die Guten. Wieso konnte ich dann nicht umhin, ein schlechtes Gefühl in der Magengegend zu haben?
Es gab Monster da draußen, die es auf mich abgesehen hatten, und hier gab es Menschen, die mich beschützen wollten. Ich sollte also eigentlich erleichtert sein, dankbar … oder? Aber wieso war da diese kleine Stimme in meinem Kopf, die mich zweifeln ließ?
Mein Zimmer. Es ist Nacht. Ich sitze auf meinem Bett und schaue in Richtung Fenster, rede mit jemandem. In den Schatten den Vorhanges regt sich etwas, jemand. Wer ist es? Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Vielleicht, wenn ich näher heranginge …
Ich stand aufrecht, vier verwirrte Augenpaare auf mich gerichtet. Seltsam, ich konnte mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein. Ein eigenartiger Schauer durchlief meinen Körper, wie ein Stromschlag, und vibrierte bis in die Fingerspitzen. Dieses Gefühl, dieses merkwürdige Aroma in der Luft …
„Vampir?!“
Hatte ich das gerade laut gesagt? Und was hatte diese Vision zu bedeuten? Wieso hatte ich das Gefühl, die Person im Schatten kennen zu müssen? Wer war sie?
„Emma?“
Taylor. Ich blinzelte verwirrt und wurde mir mit einem Mal wieder meiner Umgebung bewusst. Das Bild der Schattengestalt verschwand und wich dem des Wohnzimmers.
„Bitte entschuldigt“, brachte ich beschämt heraus.
Oh man, selbst unter den Freaks war ich ein Freak. Matthew grinste überheblich.
„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Du hast die Anwesenheit eines Vampires gespürt, und du hattest recht.
Das ist eine bemerkenswerte Leistung für jemandem, dem nie beigebracht wurde, Auren zu empfangen“, lobte er mich stolz. In seinen Augen lag ein unheimliches, aufgeregtes Glitzern. Er betrachtete mich wie ein Sportscout, der gerade einen äußerst vielversprechenden Nachwuchsspieler entdeckt hat, und das machte mir Angst.
„Aber … aber so etwas ist mir in Taylor` s Nähe vorher noch nie passiert“, wunderte ich mich laut.
„Wir reden hier nicht von Taylor“, erwiderte Connor gelassen.
„Wieso sitzen wir dann noch hier und essen Kuchen?“, fragte ich geschockt. Ängstlich sah ich mich im Raum um.
„Keine Sorge, der Blutsauger ist in einer Zelle im Keller sicher aufbewahrt. Der tut garantiert keinem mehr was“, bemerkte Josh gelassen.
„Ihr habt einen Vampir im Keller?“
„Einer der Typen, die uns gestern Abend angegriffen haben“, erklärte Connor, und aus seinem Tonfall war nicht schwer zu erraten, wer diesen großen Fang gemacht hatte.
„Solange wir hier sind, werden wir ihn zum Trainieren verwenden. Einige Jäger betreiben Forschung mit ihnen, aber keiner von uns besitzt das nötige Alter oder die Erfahrung, um sich an dieses Gebiet heranzuwagen“, ergänzte Matthew.
„Nichts geht über einen Übungskampf nach dem Mittagessen!“, warf Connor ein und zwinkerte mir zu. „Willst du ihn sehen?“
„Sie hat gestern das erste Mal in ihrem Leben einem Vampir gegenübergestanden. Meinst du nicht, wir sollten die Sache ein wenig langsamer angehen?“, empörte sich Taylor.
„Genau. Sie stand gestern einem blutsaugenden Monster gegenüber und meinte trotzdem, auf unseren Schutz verzichten zu können. Vielleicht wird ihr das die Augen öffnen“, erwiderte Matthew ernst, bevor er an mich gewandt hinzufügte, „Und sag nicht, du wärst nicht neugierig.“
Zugegeben, ein ganz kleines bisschen neugierig war ich schon, auch wenn mein gesunder Menschenverstand das nur zu gerne leugnen würde. Connor jedenfalls genügte mein Schweigen als Antwort völlig aus. Erwartungsvoll sprang er auf.
„Na worauf warten wir dann noch?“
„Du benimmst dich wie ein aufgedrehter Anfänger.“ Kopfschüttelnd trat Josh an seine Seite.
„Leidenschaft für den Beruf, Bruderherz, Leidenschaft für den Beruf!“, verkündete Connor, nachdem er Josh überschwänglich einen Arm um die Schultern gelegt hatte.
„Leidenschaft“, stieß der mürrisch aus. „Die hat uns schon mehr als ein Mal in Schwierigkeiten gebracht, wenn ich dich daran erinner dürfte, Bruderherz.“
„Hach, immer so pessimistisch …“
Während wir uns auf den Weg in den Keller machten, zankten sich die beiden fröhlich weiter.
„Sind sie eigentlich alle drei Brüder?“, flüsterte ich Taylor zu, da Matthew dicht hinter uns lief.
„Nein, nur die beiden Streithähne da vorne. Matthew ist Einzelkind.“
Das erklärte wohl Einiges. Naja, wenigstens etwas hatten wir gemein.
Als uns Connor schließlich in die Bibliothek führte, glaubte ich zuerst, er müsse wohl ausversehen falsch abgebogen sein –was ihm bei diesem Palast niemand verübeln konnte. Doch als ich Taylor einen irritierten Blick zuwarf, grinste sie nur und deutete auf das Regal, vor dem er zum Stehen gekommen war. Zuerst schien Connor völlig wahllos nach einem der Bücher zu greifen, nahm es dann aber nicht heraus sondern zog es nach vorne wie einen Schalter. Das Buch fiel nicht herunter, wie es eigentlich zu erwarten war, sondern verharrte in seiner Position.
Es überraschte mich nicht sonderlich, als sich das schwere Holz daraufhin aus den Angeln hob und ein Stück zur Seite schwang. Womit ich allerding nicht gerechnet hatte war der riesige Fahrstuhl, der dahinter zum Vorschein kam und fast zweimal die Größe unseres Badezimmers besaß.
Kein dunkler, Spinnenweben durchzogener Gang mit Fackeln
an den Wänden?, dachte ich sarkastisch.
„Cool, was?“, ließ Connor euphorisch verlauten.
Taylor verdrehte die Augen.
„Das ist so was von klischeehaft, dass es fast schon wehtut.“ Dann wandte sie sich mir zu.
„Meine Eltern liebten alte Agentenfilme mit geheimen Labors und all so Zeugs. Sie sagten, es erinnere sie an ihr eigenes Leben und daran, dass sie für ‚das Gute‘ kämpfen. Mein Vater hat den Aufzug nach meiner Mutter benannt, in Anlehnung an ihre gemeinsame Leidenschaft sozusagen.“
Sie deutete auf einen eingravierten Namen unter dem Knopf mit der Aufschrift U für Untergeschoss. Liz. Vermutlich die Kurzform für Elisabeth.
„Das Stockwerk, in das wir fahren, liegt unter dem normalen Kellergeschoss, quasi ein zweites Untergeschoss.“
Neben dem Pool und dem Weinkeller ein Gefängnis zu verstecken, wäre vermutlich auch keine so gute Idee gewesen.
Hier lagern wir unsere besten Rieslinge und … oh, hier einen Vampir, den wir vor zwei Wochen gefangen haben.
Als sich der Fahrstuhl wieder öffnete, traten wir in eine Art Vorraum, dessen Wände komplett aus massivem Metall bestanden. Außer einer ebenso massiven Tür an jeder Wandseite, war der Raum vollkommen leer. Über der mittleren Tür leuchtete ein rotes Schild mit der Aufschrift Gefahr, es fiel mir also nicht besonders schwer zu erraten, welche Richtung wir einschlagen würden.
„Sind die Wände aus Silber?“, erkundigte ich mich und griff nach dem üblichen Vampir-Ein-mal-Eins.
„Nein, kein Silber, aber ein anderes, äußerst stabiles, Metall. Eine gewöhnliche Steinmauer wäre kein besonders effizientes Hindernis für die Kräfte eines Dunklen“, entgegnete Matthew.
„Vergiss am besten die ganzen Silber-Knoblauch-Stich-ins- Herz-Geschichten, die Vampiren angeblich schaden. Bringt alles nix“, fügte Taylor hinzu.
„Aber Matthew hat den Vampir, der mich gestern angegriffen hat, mit einem Stich ins Herz getötet …“
Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte ich an die gestrige Attacke zurück. Immerhin hatte ich nicht besonders viel Zeit gehabt, dass Ganze zu verdauen.
„Meine Waffe war mit einem speziellen Gift getränkt und musste präzise in beide Herzkammern treffen, so dass das Toxikum das Herz schnellstmöglich vollständig zerstören konnte. Ein einfacher Messerstich ins Herz hätte nichts bewirkt“, erklärte er beiläufig, als redeten wir über das Wetter.
Nachdem Connor das Sicherheitssystem außer Kraft gesetzt hatte, das sich in Form eines kleinen Kastens, der aussah wie ein etwas zu groß geratener Taschenrechner, neben der Tür befand, schlenderte er munter unter dem Gefahr-Schild hindurch in den angrenzenden Raum. Ich warf dem leuchtenden Rot noch einen letzten, skeptischen Blick zu, bevor ich ihm folgte.
Ich hatte mich schon auf das Schlimmste gefasst gemacht, als wir in einen zweiten Vorraum traten. Diesmal gab es nur einen weiteren Durchgang, der sich am Ende des Raumes befand. Wieder machte sich Connor an einem kleinen Kasten zu schaffen. Wieder wappnete ich mich für das Schlimmste – doch diesmal zu Recht.
Vor uns erstreckte sich ein langgezogenes Steingewölbe, das auf beiden Seiten von mehreren Zellen gesäumt war, durch deren dicke Gitterstäbe man einen Blick in ihr Inneres erhaschen konnte. An den nassen, modrigen Wänden befanden sich Handschellen, tonnenweise Ketten und Gerätschaften, deren Zweck ich lieber nicht wissen wollte. Ein fauliger Geruch lag in der Luft, und außer einigen Neonröhren, die an der Decke angebracht waren, gab es keine weiteren Lichtquellen. Kaum zu glauben, dass sich zwei Stockwerke höher eine luxuriös eingerichtete Villa befand.
Aus einer der hinteren Zellen drang ein gequältes Stöhnen – der Vampir.
„Darf ich dir vorstellen: Chester, unser neustes Haustier.“ Connor lehnte lässig an den Gitterstäben und warf dem Gefangenen ein überhebliches Grinsen zu.
Chester war an Händen, Füßen und Hals an die Wand gekettet, seine Klamotten bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Er hatte den Körper eines durchschnittlichen Mittdreißigers, keine Fledermausflügel oder Krallen, aber eine ungewöhnlich helle Haut. Sein Gesicht war das Einzige, das ihn zweifelsfrei von einem Menschen unterschied. Dunkle Schatten lagen unter seinen eingefallenen Augen, die mir leuchtend rot entgegen schienen wie das Gefahr-Schild. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass die Haut unter seinen Augen tatsächlich um einiges dunkler war als sonst, irgendwie rußig. Merkwürdige, graue Linien drückten sich dort aus der Haut, als habe er schwarze Venen. Dann waren da noch diese schicken Riesenbeißerchen, die drohend unter seinen Lippen hervor lugten. Die Raserei, die auf seinen Zügen lag, verstärkte diese optischen Unterschiede nur noch.
So sah also ein Vampir aus.
Ich schauderte als ich das angetrocknete Blut bemerkte, das seinen Körper an einigen Stellen bedeckte. Sein Blut?
Gestern hatte ich noch Angst vor ihm und seinen Freunden gehabt, aber jetzt, da er so hilflos angekettet war, hatte ich … fast Mitleid mit ihm.
„… Deine Sprüche werden dir schon noch vergehen, Jäger. Spätestens in der Hölle sehen wir uns wieder! ...“, keuchte Chester verächtlich. Connor lachte nur.
„Wenigstens ist er stubenrein“, verkündete er über Chester` s wütende Flüche hinweg. „Komm ruhig ein Stück näher, von da hinten siehst du ja kaum was.“
Tatsächlich stand ich am weitesten von der Zelle entfernt, was aber durchaus beabsichtigt war. Zögernd trat ich näher an das Gefängnis des Vampires heran, bis ich fast direkt vor den dicken Gitterstäben stand. Mein Herz hämmerte unbarmherzig in meiner Brust, und ein unangenehmes Ziehen machte sich in meinem Bauch breit.
Ich verharrte einen Moment, biss die Zähne zusammen und trat schließlich einen letzten Schritt nach vorne, ehe ich zaghaft die kalten Eisenstangen mit meinen Fingerspitzen berührte und erneut den Blick der blutroten Augen auffing.
Wut. Schmerz. Trauer. Reue. Hilflosigkeit.
Meine Finger klammerten sich fester an das Metall, um die Tränen, die plötzlich in meinen Augenwinkeln brannten, im Zaum zu halten. Waren das etwa seine Gefühle?
„Was zum …“
Wer der drei Jungs hinter mir das gerade entsetzt ausgestoßen hatte, konnte ich nicht sagen. Ich konnte nur noch in Chesters nunmehr strahlende, grüne Augen starren. Seine Gesichtszüge entspannten sich langsam, der Wahnsinn, der vorher darin gelegen hatte, fast gänzlich verschwunden. Auch die Schatten unter seinen Augen waren verschwunden, die Eckzähne geschrumpft. Er sah fast … normal aus.
„Was bist du?“, fragte er mit einer Stimme, die das Krächzen von zuvor höchstens erahnen ließ.
„Was hast du getan, Emma?“, Matthew riss mich aus meiner Starre, packte mich grob an den Schultern und drehte mich gewaltsam zu sich herum.
„N-Nichts. Ich hab ihn nur angesehen. Was … was ist gerade passiert?“
„Das würden wir auch gerne wissen!“, meinte Josh.
„Er ist weg. Einfach … verschwunden. Ich bin frei!“, unterbrach Chester unsere Spekulationen. Dann fing er an zu weinen.
„Verdammte Scheiße ... seine Tränen. Seht euch seine verdammten Tränen an!“, stieß Connor aus.
Der Vampir, die Augen schon ganz verquollen vom Salzwasser, sah mich verwundert an, während seine Lippen immer und immer wieder stumm das Wort Danke formten.
Für einen Moment waren wir alle sprachlos, schauten entgeistert den weinenden, schluchzenden Vampir an, bis Matthew schließlich als erster seine Worte wieder fand.
„Wer ist weg?“
Dann tat Chester noch etwas Unerwartetes – er lächelte. Ein völlig gelöstes, ehrliches, menschliches Lächeln, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
„Der Blutdurst. Das Verlangen, jedem schlagenden Puls in diesem Raum das Leben auszusaugen. Weg. Ich bin wieder ein Mensch!“
„Das ist unmöglich!“, beteuerte Matthew, als wolle er nicht nur uns, sondern auch sich selbst von dieser Tatsache überzeugen.
„Probiert es aus! Ich bin angekettet und ausgeblutete, was sollte ich schon gegen euch ausrichten können?“, forderte ihn Chester heraus.
„Hol einen Beutel“, befahl Matthew Josh.
Kaum eine Minute später kam er mit einer Blutkonserve aus dem hinteren Teil des Gewölbes geeilt, die er seinem Cousin reichte. Der Schloss ohne Zögern die Zelle auf, öffnete das Ventil des Beutels und kippte dem Vampir den gesamten Inhalt gnadenlos über sein Gesicht.
Chester schloss Mund und Augen, reckte seinen Kopf in die Höhe als stünde er unter der Dusche und ließ die Prozedur reglos über sich ergehen, sorgsam darauf bedacht, keinen Tropfen des Blutes zu sich zu nehmen.
„Taylor, geh mit Emma nach oben und warte auf uns!“, befahl Matthew scharf.
Ich ahnte, was er vorhatte. Hatte Ich diese Veränderung bei Chester bewirkt?
Wir mussten uns nicht lange gedulden, bis die Jungs nachkamen und schweißgebadet das Wohnzimmer betraten.
„Es war verrückt. Kaum, dass du mit der Kleinen im Fahrstuhl warst, ist der Blutsauger völlig ausgetickt. Hat das Blut von sich abgeleckt wie ein Irrer, und die Augen waren schneller wieder rot, als wir gucken konnten. Hat geglaubt, wir hätten ihn mit einem Bann belegt oder so was, um ihn zu quälen, und
sich beinahe von den Ketten losgerissen. Junge, Junge, so was hab ich noch nie gesehen!“, erzählte Connor atemlos an Taylor gewandt.
„Das erklärt, warum der Dunkle Emma gestern nicht sofort angegriffen hat. War wohl ein bisschen verunsichert, der Gute“, spekulierte Josh.
„Kleine, in dir steckt Potential!“ Connor gab mir einen kameradschaftlichen Klaps. Matthew nickte.
„Mich würde nicht wundern, wenn sie einer der alten Linien entstammen würde. Ohne ihre Fähigkeiten bewusst einzusetzen, hat sie diesen Vampir praktisch in einen Menschen verwandelt. Wenn bereits die äußerlichen Veränderungen ein solch gewaltiges Ausmaß haben, wer weiß, welche Auswirkungen sie erst auf die Kraft der Dunklen ausüben! Sie wären vollkommen machtlos, kaum stärker als gewöhnliche Menschen. Sie könnte diesem endlosen Krieg eine völlig neue Wendung geben!“, verkündete Matthew enthusiastisch, wobei er mir beide Hände auf die Schultern legte, wie ein Trainer, der seinen Schützling vor einem Kampf anfeuern will.
„Wow, wow, wow. Wir wissen noch nicht mal, was genau sie da eben gerade gemacht hat, und ob deine Vermutungen überhaupt der Wahrheit entsprechen. Mal ganz davon abgesehen, ist sie keine Kampfmachine!“, schaltete sich Taylor ein.
„Ich … ich weiß nicht, von was für einem Krieg ihr da sprecht, aber ich will nichts damit zu tun haben“, pflichtete ich ihr bei.
„Diese Kräfte sind ein Geschenk! Hast du eine Ahnung, was andere dafür tun würden, diese Fähigkeiten zu besitzen? Dukönntest unzählige Menschenleben retten!“, stimmte Connor seinem Cousin zu.
„Hört endlich auf damit!“, schrie ich verzweifelt.
Ich riss mich von Matthew los und trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Chester` s Gesicht, sein Vampirgesicht, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Diese roten Augen bedeuteten den Tot, und ich würde nie wieder in solche Augen blicken.
„Du … du sagtest, du könntest herausbekommen, wer meine Familie ist. Tu das und ich werde sie treffen“, fuhr ich fort. „Aber mit Vampirjagden will ich nichts am Hut haben! Ich … ich kann das nicht!“
„Wir können uns nicht aussuchen, wie wir geboren werden, und wir können vor unserem Schicksal nicht davonlaufen“, erwiderte Matthew ruhig. Seine Worte hatten etwas Endgültiges – und das machte mir mehr Angst, als alles andere.
„Ich … ich will nach Hause“, bat ich Taylor.
Sie nickte, warf Connor einen vielsagenden Blick zu und legte tröstend einen Arm um mich.
„Morgen werden die Ältesten hier eintreffen. Ich lasse dich gegen sieben abholen“, bemerkte Matthew kühl.
Nach einem genuschelten Abschied folgte ich Connor zum Wagen.
„…, du wärst unsere Nummer eins! Du bist wie ein … Staubsauger für Vampirkräfte. Und mal ganz davon abgesehen, dass du im Geld schwimmen würdest …“
Staubsauger, wie schmeichelhaft. Darauf konnte ich mir ja echt was einbilden. Schon seit wir losgefahren waren versuchte Connor, mich von den Vorzügen eines Jägerdaseins zu überzeugen, aber ich hörte ihm kaum zu. Meine Gedanken hatten immer noch an der Tatsache zu knabbern, dass ich offenbar wie geschaffen für diesen Job war. Mal ehrlich, Ich? Das Schicksal hatte sie wohl nicht mehr alle!
Connors Handy begann zu klingeln. Ich beachtete es nicht weiter.
„Hey Josh … mhm … verstehe, ja … und das Mädchen? ... okay, bis gleich.“ Er legte auf und warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, bevor er mitten auf der Straße eine spektakuläre Wendung hinlegte. „Arbeit, Baby!“
„Hast du mir vorhin überhaupt zugehört? Kein Interesse!“, protestierte ich.
„Glaub mir, hast du erst eines dieser Monster abgeschlachtet, gibt es nichts Besseres!“, gab Connor unbeirrt zurück.
Das Einzige, das ich bis jetzt abgeschlachtet hatte, war mein Sparschwein, und dabei würde es auch bleiben!
Connor trat das Gaspedal durch, was den Reifen ein äußerst unangenehmes Quietschen entlockte und mich noch tiefer in meinen Sitz presste. Dann konnte der Spaß ja beginnen.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte ich Connor nicht dazu überreden können, mich einfach abzusetzen, also standen wir nun vor einem abbruchreifen Häuserblock irgendwo in einem verlassen Teil der Stadt. Große Plakate kündigten eine utopische Wohnsiedlung an, die hier bald entstehen sollte. Es hatte einige verdächtige Todesfälle im Umkreis gegeben, und so hatten die Jäger mehrere Alarmmelder in den Gebäuden hier angebracht.
„Woher wollt ihr wissen, ob es nicht einfach nur eine streunende Katze oder ein Obdachloser war?“, fragte ich.
„Wir haben so unsere Methoden, aber keine Sorge, die lernst du schon noch schnell genug kennen“, gab er vage zurück.
Als er mir daraufhin die Beifahrertür aufhielt, wollte ich mich zuerst weigern auszusteigen, aber gegen seine Muskelkraft hatten meine schlaksigen Ärmchen keine Chance. Mühelos hievte er mich mit einer Hand aus dem Wagen und zog mich grob hinter sich her. Also gab ich es schließlich auf mich zu wehren und folgte ihm freiwillig.
„Braves Mädchen.“
„Weißt du was? Ich mochte Chester lieber!“
„Autsch. Du brichst mir das Herz.“
Connor lief zielstrebig auf den Eingang des Hauses zu, wobei er mich sorgsam im Auge behielt.
„Bleib dicht hinter mir!“, befahl er.
„Hatte ich vor“, gab ich mürrisch zurück.
Einige Flurlichter waren noch intakt und eingeschaltet – ein Indiz dafür, dass vor uns schon jemand hier gewesen sein musste. Connor deutete mit dem Kopf in Richtung Keller. War ja klar.
Die Treppe zum Untergeschoss mündete in einem Raum, in dem die Heizanlage und einige alte Möbel standen. Von überall bröckelte der Putz ab, und die Wände waren voll mit Graffitis und undefinierbaren, dunklen Flecken. In die Wand gegenüber von uns war eine Tür eingelassen, die einen Spaltbreit
geöffnet war. Bingo.
„… Man hat uns ebenso wie euch in eine Falle gelockt! Lasst uns nichts überstürzen ….“
Vorsichtig folgten wir der Stimme und näherten uns der Tür. Ich schluckte. So begannen die besten Szenen in einem Horrorfilm – die, in denen jemand starb.
Als ich sehnsüchtig zur Treppe zurücksah, zischte Connor und warf mir einen mahnenden Blick zu, der wohl so viel heißen sollte wie „Wage es ja nicht, dich aus dem Staub zu machen!“. Er krallte sich mein Handgelenk, um auf Nummer sicher zu gehen, beugte sich leicht vor und flüsterte etwas Unverständliches. Das Holz schwang ohne einen Ton von sich zu geben so weit auf, dass wir hindurch schlüpfen konnten. Ich schaute ihn fragend an, er zuckte nur lässig mit den Schultern.
Kaum hatte ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt, drang ein beißender Geruch in meine Nase. In der Mitte des Raumes lag eine blutüberströmte, junge Frau, deren Torso vollkommen zerfetzt war, als habe sich ein wildes Tier an ihr zu schaffen gemacht. Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, beim Anblick der Leiche nicht zu keuchen, schreien oder mich zu übergeben.
Vor Schreck nahm ich erst gar nicht die anderen Personen im Raum wahr. Links von der Leiche und näher bei uns standen Taylor, Josh und Matthew, der schussbereit eine Waffe in den Händen hielt. Ihnen knapp zehn Meter gegenüber standen zwei Männer und eine Frau – die Vampire offensichtlich. Mein Blick blieb an einem der Männer hängen, und als seine blauen Augen schließlich auf meine trafen, fing mein Kopf plötzlich Feuer. Die Schmerzen schnürten mir die Kehle zu und nahmen mir den Atem. Ich bekam keine Luft. Ein schier unerträgliches Pochen schien meinen Kopf von innen heraus zum Bersten bringen zu wollen, aber etwas hinderte es daran, durchzustoßen.
Gerade als ich glaubte, es keine Sekunde länger mehr auszuhalten, brach die unsichtbare Mauer in sich zusammen. Eine Druckwelle fuhr durch meinen Körper, deren Wucht mich beinahe in die Knie zwang. Dann schien für einen kurzen Moment alles vorbei zu sein, bis eine gewaltige Flut von Bildern auf mich einzustürmen begann.
William.
Ich erinnerte mich wieder.
„… Keiner von euch verdient es, zu leben.“
Aus meinen Augenwinkeln heraus sah ich, wie Matthew die Waffe entsicherte – und sie auf William richtete. Ohne es bewusst zu wollen, fing ich an zu rennen. Die Kugel durfte ihn nicht treffen, nicht jetzt, da ich ihn gerade wiedergefunden hatte.
PENG.
Ein Schuss hatte sich gelöst. Ängstlich starrte ich zu William, doch die Kugel schien ihn verfehlt zu haben, obwohl er mich voller Entsetzten ansah.
Alle redeten plötzlich durcheinander, Vampire und Jäger. Die Stimmen verschmolzen zu einem Summen, mir wurde schwindelig und der Raum begann, sich vor meinen Augen zu drehen. Etwas warmes, Klebriges lief über meine Hände, und als ich nachschauen wollte, konnte ich nur unscharf erkennen, dass durch meine Finger eine rote Flüssigkeit ran. Auch meine Jacke und mein Shirt waren durchtränkt, was sich auf meiner Haut unangenehm und kalt anfühlte. Warum war mir auf einmal so schrecklich kalt?
Ich fing noch ein letztes Mal William`s Blick auf, bevor die Schmerzen unbarmherzig über mich hereinbrachen und ich das Bewusstsein verlor.
Kälte und Schwerelosigkeit. Mein Körper fühlte sich an, als würde er schweben. Wind peitschte von allen Seiten gegen meinen vor Schmerz pochenden Glieder.
Weiß verhüllte Gesichter und Schläuche.
Stimmen. So viele Stimmen.
Ein kurzer, stechender Schmerz.
Stille. Dunkelheit.
Ein gleißendes Licht.
„Guten Morgen, Sonnenschein.“
Ich musste mehrere Male blinzeln, bis mein Blick sich aufklarte und ich das Gesicht der Krankenschwester erkannte, die sich geschäftig an etwas neben mir zu schaffen gemacht hatte.
„Wo bin ich?“, brachte ich mühevoll hervor, überrascht von den Anstrengungen, die mich diese winzige Frage bereits kostete.
„Du bist im Krankenhaus, Schatz. Du hast deinen Blinddarm rausbekommen, weißt du nicht mehr? Keine Sorge, die Operation ist gut verlaufen. Schlaf ruhig noch ein bisschen, Liebes, alles ist in Ordnung.“
Sie schenkte mir noch ein beruhigendes Lächeln, dann ging sie zur Tür und schaltete das Licht wieder aus.
Blinddarm? Die gute Frau war wohl in das falsche Zimmer geraten! Mit meiner rechten Hand, aus der eine Infusionsnadel ragte, strich ich vorsichtig über die Stelle neben meinem Herzen, an der die Kugel mich getroffen haben musste.
Treffer versenkt.
Schon diese zaghafte Berührung ließ mich zischend ausatmen. Ich war angeschossen worden. Ich war wahrlich und leibhaftig angeschossen worden.
William. Ich hatte mich wieder erinnert.
Was war passiert, nachdem ich angeschossen worden war? Wie war ich hier her gekommen? Hatte William gegen Matthew und die anderen gekämpft?
Frage über Frage huschte so schnell durch meinen Kopf, dass ich nicht einmal die Zeit hatte, mir über jede einzelne Gedanken zu machen.
Im Zimmer hing keine Uhr, zumindest hörte ich es nicht ticken, und selbst wenn wäre ich zu schwach gewesen, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn zum Lichtschalter zu laufen. Ein Blick aus den Jalousien verhangenen Fenstern zeigte einen wolkenverhangenen Nachthimmel. Die Antworten würden also bis morgen auf sich warten lassen müssen, wann auch immer das sein mochte.
Ich seufzte, gab meinem kraftlosen Körper nach und schloss die Augen. Der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten und nahm die quälenden Fragen mit sich, wenigstens für ein kleines Weilchen.
Ein leises Klappern ließ mich aufhorchen. Es war immer noch stockfinstere Nacht, aber das Fenster stand jetzt einen Spaltbreit offen. Ich war nicht überrascht, als ich in der Ecke des Zimmers eine schattenhafte Gestalt ausmachte. Spätestens das vertraute Prickeln auf meiner Haut hätte ihn verraten. Erleichterung durchströmte mich. William war okay.
„Hi“, begrüßte ich ihn mit brüchiger Stimme.
Es kostete mich all meine Kraft, meine Schmerzen zu überspielen und ein lautes Stöhnen zu unterdrücken. Was auch immer sie mir zuvor in die Venen gepumpt hatten – ich wollte mehr davon! Mein Brustkorb fühlte sich an, als würde sich jemand mit einem Messer daran zu schaffen machen.
Anstelle einer Antwort kam die Schwester von vorher ins Zimmer. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bis ich ihren leeren Blick sah. Sie war vollkommen auf einen Schlauch neben meinem Bett fixiert, durch mich schien sie förmlich hindurchzusehen. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie eine Spritze mit durchsichtigem Inhalt an. Sofort spürte ich, wie die ungewohnte Flüssigkeit durch meine Venen schoss und den Schmerz linderte. Anschließend verschwand die Schwester genauso leise aus der Tür, wie sie gekommen war.
Gedankenkontrolle. William hatte sie schon einmal in meiner Gegenwart angewandt, auf dem Dach des LaLune an Logan` s Geburtstagsparty. Nur hatte ich da die betroffenen Personen nicht zu Gesicht bekommen, während er noch an ihrem Hirn zu Gange war.
Ein kalter Schauer durchfuhr mich, als mir klar wurde, dass er das Selbe auch bei mir gemacht haben musste, als er meine Erinnerungen gelöscht hatte. Schnell versuchte ich, den Gedanken zu verdrängen.
„Danke“, murmelte ich.
„Bist du lebensmüde oder einfach nur bescheuert?“
Die Frage preschte aus seinem Mund, als hätte er seit Stunden auf nichts Anderes gewartet, als diese Worte loszuwerden – was durchaus der Fall gewesen sein könnte.
„Wieso hast du dich vor diese Kugel geworfen?“
„Ich hab mich wieder an alles erinnert und ich … ich weiß auch nicht. Es ging so schnell. Du hättest sterben können …“
Ein bitteres Auflachen entfuhr ihm. Einen Augenblick später stand er drohend am Ende meines Krankenbettes, die Hände aufgestemmt und seinen Oberkörper angespannt zu mir vorgebeugt.
„Du solltest niemals den Fehler machen, mich zu unterschätzen! Glaubst du ernsthaft, diese lächerliche, kleine Kugel hätte mir etwas anhaben können? Diese halbwüchsigen Jägerhätten keine Chance gegen einen Vampir von meinem Rang!“, schimpfte er wütend.
„Bist du nur gekommen, um mir Vorwürfe zu machen?“
William ließ das Ende des Bettes los und straffte die Schultern. Sein kalter Blick blieb auf mir ruhen.
„Deine Erinnerungen erneut zu löschen hätte vermutlich wenig Erfolg, das heißt für dich gibt es keinen Weg mehr zurück. Du wirst ab jetzt sowohl in deiner, als auch in unserer Welt leben müssen, und wenn du vorhast, auch nur einen Monat zu überstehen, wirst du Schutz benötigen. Dir bleiben also genau zwei Möglichkeiten. Da du wohl über gewisse Fähigkeiten verfügst, würden es die Jäger sicher begrüßen, wenn du dich ihnen anschließt. Sie scheinen dich bereits in ihrer Mitte akzeptiert zu haben.“
Er schwieg einen Moment, als wisse er nicht recht, wie er weitermachen sollte.
„Oder …“, ermutigte ich ihn.
William zögerte, wandte sich von mir ab. Die Augen in die Nacht gerichtet, fuhr er schließlich fort.
„Oder ich nehme dich unter meinen Schutz. Du hättest dich niemals wieder an mich erinnern sollen, und doch hast du meinen geistigen Befehl durchbrochen. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie das geschehen konnte: das Band zwischen uns besteht nach wie vor.“
Ein verächtliches Schnauben entfuhr ihm.
„Aber das ist noch lächerlicher, als völlig ohne Schutz zu sein. Ich sollte nicht einmal hier sein. Ich …“
„Bitte fang nicht wieder mit deiner Ich-bin-ja-so-gefährlich-halt-dich-besser-von-mir-fern-Tour an!“, fuhr ich dazwischen. Verdutzt schwang sein Kopf wieder in meine Richtung, als habe ich ihn geohrfeigt. „Das glaub ich erst, wenn deine Eckzähne zentimetertief in meiner Halsschlagader stecken. Außerdem gibst du selbst zu, dass dieses Band zwischen uns nach wie vor besteht. Sollen wir das einfach ignorieren?“
„Ich werde eine Lösung für dieses Problem finden.“
„Es geht hier aber nicht nur um dich. Ich … ich stecke genauso in dieser Sache drin wie du, also hab ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden!“
Spöttisch schüttelte er den Kopf.
„Da gibt es nichts zu reden.“
Langsam merkte ich, wie meine Augenlider schwerer wurden. Verdammt. Das Schmerzmittel begann, zu wirken.
William lächelte schwach.
„Schlaf jetzt. Du brauchst viel Ruhe.“
Ein Blinzeln später starrte ich buchstäblich ins Leere. Das Fenster war zu und William verschwunden. An diesen Abgängen würden wir definitiv noch arbeiten müssen! Ein „Bis bald!“ hatte schließlich noch keinem geschadet.
Ich nehme dich unter meinen Schutz.
Was hatte er damit wohl gemeint? Wollte er mich in einen Vampir verwandeln? Hatte er mit es gibt kein Zurück mehr womöglich meine Menschlichkeit gemeint? Entweder Vampir oder Jäger, war es das?
Ich ließ mich tiefer in die Kissen unter mir sinken und fragte mich einmal mehr, wie es nur so weit hatte kommen können. Die restliche Nacht blieb ohne weitere Besucher. Erst der nächste Morgen brachte wieder Leben in mein Zimmer. Nach der Visite, bei der immer noch von einer Blinddarm-OP die Rede war, obwohl die Schwester sogar den Verband um die Wunde wechseln musste, traten Taylor, Matthew, Josh und Connor mit reservierten Mienen an mein Bett.
„Hier, frisch vom Souvenirshop im ersten Stock. Ich hoffe, sie gefallen dir.“
Taylor hielt mir einen hübschen Strauß bunter Frühlingsblumen entgegen. Nachdem sie mir das unhandliche Riesending in die Arme gedrückt hatte, eilte sie zum Schrank und kramte fachmännisch eine der billigen Krankenhausvasen daraus hervor, als habe sie das schon öfter getan. Sie füllte sie zur Hälfte mit Wasser, nahm mir das Bienenparadies wieder ab und stellte es anschließend auf einen kleinen Tisch neben die Reste meines Frühstücks.
„Wie fühlst du dich?“
„Ganz gut, denke ich.“
Ich war immer noch ein wenig groggy von den vielen Schmerzmitteln, aber sie erfüllten ihren Zweck, das war die Hauptsache.
Die Vier nahmen schweigend Platz.
„Woher kanntest du diesen Vampir?“, fragte Matthew ohne Umschweife.
„Er … er hat mir einmal das Leben gerettet, als mich ein anderer Vampir angegriffen hat. Dann hat er meine Erinnerungen gelöscht, aber irgendwie konnte ich mich trotzdem wieder erinnern, als ich ihn gesehen habe“, fasste ich unsere Beziehung in aller Kürze zusammen.
„Vampire retten nicht einfach irgendwelche Leben, schon gar nicht vor ihrer eigenen Rasse!“, mischte sich Connor ein.
„Habt ihr bei all euren Vorurteilen nicht einmal in Erwägung gezogen, dass es auch … naja, nette Vampire geben könnte?“, fragte ich vorsichtig.
„So etwas wie nette Vampire gibt es nicht, Emma! Fakt ist: Vampire töten Menschen. Hat der Fluch erst einmal von jemandem Besitz ergriffen, gibt es kein Zurück. Sie sind nicht länger Herr ihrer Instinkte, und das ist kein Vorurteil sondern eine schlichte Tatsache“, entgegnete Matthew kühl.
„Kann man nicht lernen, es zu kontrollieren?“
„Mit jedem Mord, den sie begehen, mit jedem Blut, das ihre Lippen benetzt, verkümmert ihre Seele mehr und mehr. Die Liebe in ihren Herzen erlischt, und es gibt nichts mehr, das über das Tier in ihnen gebieten könnte.“
Matthew` s Blick bohrte sich in meinen.
Ich werde dich nicht belügen. Viele Menschen haben durch mich ihren Tod gefunden.
Ich schluckte. Nein, William war kein herzloses Monster. Er empfand Reue und Trauer bei dem Gedanken an das, was er getan hatte. Scham. Ja, seine Seele mochte gelitten haben, aber sie war noch nicht verloren.
„Woher … woher wollt ihr das wissen? Könnt ihr beweisen, was ihr da behauptet?“
„Dieser elende Blutsauger hat ihr Hirn ganz schön in die Mangel genommen“, kommentierte Josh, während er sich erschöpft das Gesicht in die Hände legte.
„H-hat er nicht! Meinem Hirn geht es blendend!“
Wieso wollten sie so fest an das Böse glauben, wenn sie doch für das Gute kämpften?
„Nette Vampire? Muss ich dich tatsächlich an die Leiche erinnern, die …“
„Connor, lass es gut sein“, unterbrach ihn Matthew und erhob sich. „Im Grunde genommen läuft es darauf hinaus: Du vergisst diesen Vampir und schließt dich uns an, oder du bestehst darauf, dich lieber von ihm als von uns vor Seinesgleichen schützen zu lassen – vorausgesetzt, dein Vampirfreund lässt sich darauf ein.“
„Er … er hat es mir bereits angeboten“, gestand ich.
Matthew Augen weiteten sich für einen kurzen Augenblick, dann hatte er sich wieder im Griff und setzte sein übliches Pokerface auf.
„Das ist doch verrückt! Sie ist verrückt! Sie ist verwirrt und wohl kaum in der Lage, so eine Entscheidung zu treffen! Ach was sag ich, Entscheidung! Eigentlich gibt es da nicht zu entscheiden! Sie wird …“, barst es aus Connor heraus, bis Matthew ihn mit der Hand zum Schweigen brachte.
„Spätestens wenn sie gemeinsam vor den Ältestenrat treten, wird diese Farce ein Ende haben, und sie wird die Wahrheit erkennen. Mit uns im Nacken und ihren Kräften ist sie bis dahin sicher.“
Er sah mich eindringlich an.
„Es ist deine Entscheidung, Emma. Wir werden heute Abend wiederkommen und uns anhören, welche Wahl du getroffen hast. Solltest du dich für ihn entscheiden, wird der Rat der Ältesten wie bereits erwähnt überprüfen wollen, ob du diese Wahl wirklich aus freien Stücken getroffen hast. Sag das deinem Vampir.“
Die Jungs verließen ohne ein weiteres Wort geschlossen das Zimmer.
Matthew ließ nur allzu deutlich durchblicken, dass er William nicht traute, und obwohl er mir die Entscheidung überlassen wollte, schien für ihn außer Frage zu stehen, welcher Seite ich mich am Ende anschließen würde.
„Bevor wir herkamen, hab ich bei dir zu Hause angerufen, um deine Freunde zu beruhigen. Naomi ist rangegangen, und als ich sie auf dich angesprochen hab meinte sie, du seist für einige Tage unpässlich. Als ich sie fragte, wo du seist, sagte sie nur, ich solle mir keine Sorgen machen. Alles sei gut und du kämest bald wieder. Ich vermute mal, dein Freund hat ihnen einen Besuch abgestattet, um dich nicht in Erklärungsnot zu bringen“, erklärte Taylor, ohne den sauren Unterton, der zuvor bei ihren Cousins geherrscht hatte. „Egal, wie du dich entscheidest, solange du mit ganzem Herzen dahinterstehst, hast du nichts zu befürchten. Du wirst immer meine Freundin sein, ungeachtet dessen, wie deine Zukunft aussieht.“
Sie tätschelte flüchtig meine Hand, stand auf und schickte sich an, ihren Cousins zu folgen. Hatte sie mir etwa gerade unterschwellig geraten, mich für William zu entscheiden?
An der Türschwelle hielt sie noch einmal kurz inne.
„Pass auf dich auf, Emma.“
„Du auch“, erwiderte ich mit belegter Stimme.
Taylor setzte ihr strahlendes Lächeln auf, das ich so sehr an ihr mochte, und nickte, bevor sie endgültig aus der Tür verschwand.
Wenigstens musste ich mir um meine Mitbewohner vorerst keine Sorgen machen. Das war nun schon das zweite Mal, dass die Ärmsten wegen mir eine Gehirnwäsche verpasst bekommen hatten. Auf Dauer konnte das nicht gesund sein …
Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. So viel war geschehen in den letzten zwei Tagen. Der Angriff, meine neu entdeckten Kräfte, William. Ich konnte diese dunkle Welt, von der ich schon immer geahnt hatte, dass sie existiert, nicht länger leugnen. Und was noch viel schlimmer war – ich war nun ein Teil davon. Welcher Teil genau, das wusste ich selbst noch nicht.
Mein Verstand war sich seiner Sache ziemlich sicher: Jäger.
William selbst hatte mir dazu geraten. Doch mein Herz hatte ebenfalls seine Wahl getroffen: William.
Ich versuchte mir einzureden, wie dumm diese Entscheidung war. Er war der einzige seiner Art, der in meiner Gegenwart noch keinen Menschen umgebracht hatte oder mich umbringen wollte – und das auch nur, wenn man die Vision, die ich von ihm hatte, mal außen vor ließ. Aber die war, musste man fairer Weise eingestehen, abgebrochen, bevor es zur Sache gegangen war. Vielleicht war die Frau ja noch am Leben?
Oder vielleicht war ich einfach nur vollkommen wahnsinnig geworden! William hatte gestanden, schon oftmals gemordet zu haben. Er hatte sich ohne Zögern aus meinem Hirn verbannt, wieso sollte er dann jetzt die Verantwortung für mich übernehmen wollen? Was wenn er darauf hoffte, ich würde mich für die andere Seite entscheiden? Wenn er sein Angebot nur aus Höflichkeit unterbreitet hatte, weil wegen ihm eine Kugel in meinem Ausschnitt gelandet war?
Allerdings hatte er mich vor meinem wahnsinnigen Vampirverfolger gerettet, obwohl er mich genauso gut hätte sterben lassen können. Was hätte mein Leben ihn schon kümmern sollen? Er hatte jeden Abend vor meinem Fenster Wache gehalten, um mich zu beschützen. Konnte ich ihm da wirklich so egal sein?
Aber selbst wenn: Meine Mutter war eine Jägerin gewesen, und meiner Kraft zu urteilen war ich ebenfalls eine von ihnen. Konnte ich diesem Erbe einfach so entkommen? Meiner eigenen Familie den Rücken kehren? Und schlimmer noch, mich mit ihrem Erzfeind verbünden? Eine Halbjägerin und ein Vampir – mal ehrlich, konnte das gut gehen?
Der Abend brach schneller an als mir lieb war, und mit ihm
die Stunde der Entscheidung. William war der Erste, der in meinem Krankenzimmer erschien. Noch bevor er überhauptdie Chance hatte, etwas zu sagen, ergriff ich das Wort.
„Kannst … kannst du mich leiden?“
Bei dieser unverblümten Frage zogen sich seine dunkelbraunen Augenbrauen argwöhnisch zusammen.
„Selbst wenn …“, begann er, doch diesmal war ich diejenige, die ihn unterbrach.
„Beantworte bitte einfach meine Frage. Magst du mich?“
Das ließ ihn verstummen. Ich versuchte verzweifelt in seinen leuchtend blauen Augen, die mich unverwandt anblickten, seine Antwort zu lesen. Ohne es zu bemerken, hatte ich die Luft angehalten.
„Nein“, erwiderte er, nachdem er seinen Blick von mir abgewandt hatte.
„Sag mir das nochmal ins Gesicht.“
Warum war es mir bloß so wichtig, was er von mir hielt?
William wand seinen Kopf wieder in meine Richtung. In seinen Augen schienen bedrohliche Flammen zu züngeln. Er sah gefährlich aus, seine Züge angespannt.
„Bitte,ich kann dich leiden. Was ändert das? Sag mir, dass du dich für die Jäger entschieden hast, damit ich von hier verschwinden kann.“
„Ich hab mich aber nicht für die Jäger entscheiden, sondern für dich.“
Er setzte bereits zu einer Erwiderung an, doch ich kam ihm erneut zuvor.
„Ich weiß das ist dumm, verrückt und entbehrt jeder logischen Grundlage, aber find dich damit ab. Außer, du ziehst dein Angebot wieder zurück.“
„Und du bist dir deiner Sache sicher?“
„Es ist amtlich: Ich bin auf die dunkle Seite der Macht übergetreten.“
Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Oh Mann, diese Schmerzmittel hatten es echt in sich.
William legte Daumen und Zeigefinger an seinen Nasenrücken und seufzte.
„Ich muss wahnsinnig sein.“
„Heißt das, du bist einverstanden?“
Seine Züge entspannten sich ein wenig, das bedrohliche Feuer
erlisch. Dieses Mal war sein Blick Antwort genug. Mein Herz machte einen kleinen Satz und ein zaghaftes, erleichtertes Lächeln trat auf mein Gesicht.
„Du bist also eine Jägerin …“, stellte er fest.
„Halb-Jägerin. Mein Vater ist ein Mensch, sofern er mir nicht demnächst gesteht, ein Gobelin oder so was zu sein … G-gibt es denn Gobelins?“, fragte ich, ernsthaft besorgt.
„Nein, keine Gobelins, Feen, Riesen oder was dir sonst noch so einfällt. Und Harry Potter ist genauso erfunden wie Mickey Maus“, erklärte er nüchtern.
„Du kennst Mickey Maus?“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Es war so absurd, das Wort aus seinem Mund zu hören.
Williams Mundwinkel zuckten verdächtig, bis auch er ein kleines, widerwilliges Lächeln zu Stande brachte.
„Man muss auf dem Laufenden bleiben.“
„Hast du das Buch gelesen?“
Er wusste, dass ich auf mein Weihnachtsgeschenk anspielte.
„Selbstverständlich. Ich ...“
Dann verschwand sein Lächeln schlagartig. Er trat kaum merklich einen Schritt weiter in Richtung Fenster und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tür. Auch mein Lächeln verblasste, und ich folgte seinem Blick.
Matthew betrat das Zimmer, gefolgt von seinen beiden Cousins und Taylor. Eine angespannte Stimmung legte sich über den Raum, wie eine unangenehme Duftnote, und vertrieb diesen kurzen Moment der Sorglosigkeit. Matthew hatte William sofort ins Visier genommen, und es wunderte mich fast, dass zwischen ihnen keine Funken aufstoben.
„Wie hast du dich entscheiden?“, erkundigte er sich, obwohl die Antwort offensichtlich war.
„Ich möchte, dass er mich beschützt.“
Ich fühlte mich schlecht, die Jäger einfach so abzuspeisen, aber ich hatte eine Wahl treffen müssen, und das hatte ich getan.
Matthew nickte knapp. Nach unserem Gespräch von heute Morgen konnte ihn mein Entschluss kaum überrascht haben.
„Die Ältesten sind vor wenigen Stunden eingetroffen. Sie erwarten dich und den Dunklen sobald du aus dem Krankenhaus entlassen wirst bei Taylor` s Haus. Sofern die Integrität des Blutsaugers bestätigt ist, könnt ihr gehen“, erklärte er geschäftsmäßig. Seine Worte troffen geradezu vor Sarkasmus, und es war kaum zu überhören, dass Matthew diese Tatsache für völlig ausgeschlossen hielt. Er wollte William tot sehen und schien äußerst zuverlässig, dass ihm dies gelingen würde.
„Wir können sie doch nicht mit diesem Monster allein lassen!“, begehrte Connor auf, der ernsthaft geschockt über den
Verlauf dieses Gespräches schien.
„Ich habe Emma versprochen, dass wir ihr die Entscheidung überlassen, und ich halte mein Wort. Der Dunkle hat ihr bis jetzt noch nichts getan, zumindest, soweit ich feststellen kann, und wenn er klug ist, wird er das auch weiterhin so halten“, entgegnete er, ohne den Blick von mir zu nehmen.
Es war eine eindeutige Warnung an William. Matthew funkelte ihn hasserfüllt an, was seinen nächsten Worten nur umso mehr einen drohenden Unterton verlieh.
„Sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen ist, Blutsauger. Denk dran!“
„Wir werden da sein“, entgegnete William kühl.
Matthew schickte sich bereits an zu gehen, als ich ihn zurückhielt.
„Matthew, du sagtest du könntest herausfinden, wer meine Mutter war. Hast du … hast du etwas über sie in Erfahrung bringen können?“
Der Zeitpunkt mochte vielleicht schlecht gewählt sein, aber meine Neugier war stärker als die Scham. Nervös spielte ich mit meinen Fingern, bis er mir mit unerwartet weicher Stimme antwortete.
„Dein Großvater ist ein Mitglied des Ältestenrates und kann es kaum erwarten, dich kennen zu lernen.“
Taylor kam mich jeden Tag besuchen, um mir ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten. Keiner von uns verlor ein Wort über das, was in den letzten Tagen geschehen war, und obwohl ich noch ungefähr eine Million Fragen hatte, war ich dankbar dafür. Ein wenig Normalität tat vermutlich uns beiden gut. Wenn ich alleine war, konnte ich ohnehin an nichts anderes mehr denken. Vampire, Jäger, eine verloren geglaubte Verwandtschaft – das war schon eine ordentliche Portion, die ich da zu schlucken hatte. Da kam ein wenig Ablenkung mehr als gelegen.
William hatte seinen alten Wachposten wieder aufgenommen. Ich spürte, wie er sich jeden Abend vor dem Fenster meines Krankenzimmers postierte. Wir redeten nicht und er kam auch nicht herein, doch es war ein tröstlicher Gedanke zu wissen, dass er dort war. Und manchmal brauchte es keine Worte, um sich zu verstehen. Wir beide waren nervös angesichts dessen, was uns bald erwarten würde. Außerdem war ich nicht die Einzige, deren Leben aus den Fugen geraten war. Von nun an hatte mich William an der Backe, und obendrein durfte er wegen mir auch noch in ein Haus voller Vampirjäger einmarschieren. Nicht gerade der Start einer Märchenbuchfreundschaft.
Am Abend vor meiner Entlassung sprachen wir das erste Mal seit meiner Entscheidung wieder miteinander. Ich war schon eingeschlafen, als es am Fenster rüttelte.
„William?“, fragte ich krächzend, während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb.
„Verzeih, dass ich dich wecken musste“, entschuldigte er sich. „Als ich herkam, hattest du dich bereits zur Nachtruhe gelegt.“
Mein Kopfkissen zurechtrückend setzte ich mich auf und wartete, bis er fortfuhr.
„Ich hole dich morgen um Viertel nach neun ab. Du nimmst dir ein Taxi, nehme ich an?“
Ich nickte. Connor oder einen anderen der Jäger konnte ich ja schlecht bitten, mich abzuholen. Eine andere Option wären meine Mitbewohner gewesen. Da die aber erstens nicht besonders gut auf Taylor zu sprechen waren und ich sie zweitens unmöglich bitten konnte, mich nachts durch die Gegend zu kutschieren, ohne ihnen einen deftigen Grund zu liefern, blieb mir wohl nichts anderes übrig.
William verschwamm für einen kurzen Moment, bevor er auf das Ende meines Bettes zeigte. Dort lag jetzt ein kleines, dunkles Bündel Stoff.
„Ich habe dir etwas zum Anziehen besorgt.“
Stimmt, bei meiner Einlieferung waren all meine Sachen blutverkrustet gewesen, und bei einer Not-OP waren so etwas wie Knöpfe und Reisverschlüsse das Letzte, womit sich ein Arzt rumschlagen wollte. Mit anderen Worten: Meine alten Klamotten waren völlig zerfetzt und Blut durchtränkt. Aber in den letzten Tagen war so viel durch meinen Kopf gegangen, dass ich mir um solche banalen Dinge überhaupt keine Gedanken gemacht hatte.
„Danke. Das hatte ich total vergessen …“, gestand ich.
Gedankenverloren streckte ich meinen Arm nach dem Bündel aus, doch sobald ich wieder aufschaute, war William bereits verschwunden. Typisch.
Das ist doch lächerlich, dachte ich. Ich konnte es einfach nicht über mich bringen, aufzuschließen. Vor einer knappen halben Stunde hatte mich das Taxi vor unserem Block abgesetzte. Seitdem starrte ich nun schon wie eine Blöde unsere Haustür nieder, als könnte ich sie so dazu bringen, irgendwie von selbst aufzuspringen.
Da drin lebten Menschen, die mir am Herzen lagen, die nicht im Traum daran dachten, dass noch eine Welt außerhalb ihrer eigenen existierte, eine dunkle Welt. Würde ich diese Dunkelheit nun auch in ihr Leben bringen? Wie würden sie auf mein Kommen reagieren?
„Oh, hey Emma! Schön, dass du wieder da bist!“
Erschrocken fuhr ich hoch. Naomi trat aus der Wohnung mit einem dicken Müllbeutel in der Hand.
„Du stehst da wie bestellt und nicht abgeholt. Stimmt etwas nicht?“
„Ähm … N-n-nein, alles okay. Ich war nur gerade in Gedanken ...“
„Ach so. Übrigens, ich hab dir die Mitschriften der letzten Woche auf deinen Schreibtisch gelegt. Es ist nicht übermäßig viel, also solltest du relativ zügig alles nachgeholt haben.“
Letzte Woche. Sie wusste also, dass ich länger fortgewesen war.
„Danke …“
„Kein Thema!“, winkte sie lächelnd ab und nahm beschwingt die ersten Stufen. Ich schaute ihr kurz hinterher, bevor ich endlich eintrat. Ob William ihr aufgetragen hatte, mir die Mitschriften zu besorgen? War ihr überhaupt bewusst, dass ich fort gewesen war? So richtig bewusst bewusst?
Ich konnte einfach nicht widerstehen nachzuhaken.
„Weißt …. weißt du, wo ich gerade herkomme?“, fragte ich vorsichtig, nachdem sie wieder zurück war.
„Natürlich. Du warst weg, und jetzt bist du wieder da“, erklärte sie, als sei es die natürlichste Sache der Welt.
„Aber weißt du, wo ich war?“
„Na weg“, erklärte sie und schaute mich dabei an, als sei ich hier diejenige, die etwas nicht mitbekommen hatte.
„Emms, du glaubst ja nicht, wie ich dich vermisst hab“, begrüßte mich Logan theatralisch, der aus dem Wohnzimmer angeschlendert kam und meine Schultern sofort mit einem seiner muskulösen Sportlerarme eroberte. Das Gewicht ließ mich augenblicklich ein wenig nach unten sacken. „Bei den beiden Turteltäubchen hier fühlt man sich ja wie das dritte Rad am Wagen!“
Er warf Naomi und Adam, der mit ihm gekommen war, einen verstohlenen Blick zu, während die beiden sich übertrieben lang küssten.
„Neidisch?“, warf Adam schelmisch ein.
„Hättest du wohl gern!“
„Wenn du nicht langsam mal zu Potte kommst, sucht sich unsere Emma noch jemand anders! Du bist doch sonst nicht zimperlich, wenn es um das andere Geschlecht geht“, neckte Adam ihn weiter.
Meine Wangen glühten auf wie eine Herdplatte, und ich drehte mich beschämt von Logan weg. Ich mochte ihn wirklich gerne, aber – so ausgelutscht das auch klingen mochte – eben nur wie einen guten Freund. Im Grunde seines Herzens wusste Logan, wie die Dinge standen, oder zumindest glaubte ich, dass es so war.
Naomi schien mein Unbehagen bemerkt zu haben, denn sie stieß ihrem Freund übertrieben hart in die Rippen. Logan grinste hämisch, aber auch er bekam noch sein Fett weg.
„Und du hör auf sie Emms zu nennen und dich wie ein Berggorilla an sie zu klammern! Du weißt, dass sie das nicht mag!“
„Du hängst doch auch ständig an ihr!“, verteidigte er sich.
„Ich bin ihre beste Freundin, ich darf das!“, gab Naomi gebieterisch zurück. Um ihre Aussage zu untermauern, schlang sie ihren Arm um meine gerade freigewordenen Schultern, während sie und Logan sich munter weiterzankten.
Wieder überkam mich dieses Gefühl der Einsamkeit. Keiner der drei verlor ein Wort der Verwunderung über meinen Verbleib. Sie würden nie erfahren, was wirklich geschehen war, dass ich angeschossen wurde. Sie würden nie erfahren, dass ich meine Familie widergefunden hatte, dass ich magische Kräfte besaß. Sie würden nie von William erfahren, obwohl er nun ein Teil meines Lebens war. Wir lebten in zwei völlig verschiedenen Welten und die einzige zu sein, der diese Tatsache bewusst war, ließ mich mehr denn je erkennen, wie anders meine Welt wirklich war.
Als es gegen Abend zuging, verschwanden meine Mitbewohner um Punkt neun in ihren Zimmern, nachdem sie mir alle eine gute Nacht gewünscht hatten. Eins musste man William lassen, wenn er etwas machte, dann richtig.
Ich öffnete das Fenster und genoss die kühle Brise, die mir entgegenkam. Würde es ab jetzt immer so sein? Jeden Abend ein anderes Abenteuer? Viel mehr Adrenalinstöße würde mein armes Herz vermutlich nicht mehr verkraften – von meiner Psyche mal abgesehen.
Mein warmer Baumwollpyjama lag einladend auf dem Bett. Wie gerne hätte ich mich jetzt in meine Decken gekuschelt und ein nettes Buch gelesen. Aber es stand mal wieder Drama auf dem Programm. Ich würde meinen Großvater kennen lernen und ihm im nächsten Moment sagen, dass ich mit einem Vampir Freundschaft geschlossen hatte. Das würde gewiss eine freudige Familienzusammenführung werden.
Während ich wartete wurde mir kalt, und ich zog die Jacke über, die ich von William bekommen hatte. Wie er wohl an die Klamotten gekommen war? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er einfach so in einen Laden marschiert war. Jedenfalls hatte er keinen schlechten Geschmack. Die Sachen waren dezent, ließen sich bequem tragen und passten wie angegossen.
Wie immer spürte ich seine Anwesenheit, noch bevor ich ihn sehen konnte.
„Ich warte unten auf dich“, drang es aus der Dunkelheit an mich heran. Wer brauchte schon schnöde Begrüßungsfloskeln, wenn man auch gleich zur Sache kommen konnte?
Ohne Erwiderung schloss ich das Fenster, stopfte mir meinen Geldbeutel und meinen Schlüssel in die Jackentasche und verließ die Wohnung. Unten angekommen hielt ich nach ihm Ausschau, wobei ich mir angesichts der offensichtlich menschenleeren Straße ziemlich dämlich vorkam.
„William …?“, flüsterte ich zaghaft.
Obwohl kein Laut zu hören gewesen war, wusste ich plötzlich,
dass er zu meiner Rechten stand. Trotzdem fuhr ich zusammen, als ich ihn tatsächlich wenige Meter von mir entfernt im Schatten eines Baumes stehen sah.
„Du hast mich erschreckt“, erklärte ich überflüssiger Weise. „Dann scheine ich ja endlich einmal etwas richtig gemacht zu haben.“
„Bewegst du dich immer so schnell?“, fragte ich, seine vorherige Aussage ignorierend.
Mir fiel auf, dass ich ihn noch nie wirklich hatte ein längeres Stück einfach nur laufen sehen.
„Es ist unsere natürliche Fortbewegungsweise. Warum sollte ich mit Absicht langsamer gehen wollen?“
„Weil ich dich darum bitte.“
Die Worte klangen aus irgendeinem Grund wie ein intimes Geständnis, daher fügte ich rasch hinzu: „Also … du weißt schon, damit ich mit deinen Superkräften mithalten kann. Deshalb … würdest du ein bisschen langsamer machen? ... Für mich?“
Als Antwort trat William bedächtig einige Schritte aus dem Schatten hervor. Ich lächelte dankbar. Er schaute die Straße herab, ohne mich anzusehen.
„Ich bleibe in deiner Nähe.“
Schon hatte ihn die Dunkelheit wieder verschlungen, und mein Taxi kam um die Ecke geprescht.
„Tut mir Leid junge Frau, aber so wie es aussieht, könnte es sich noch ein Weilchen hinziehen.“
Der Fahrer bedankte sich bei dem Polizisten für die Auskunft und stieg zurück ins Taxi. Mit es meinte der Gute den kilometerlangen Monsterstau, in dem wir uns verfangen hatten. Seit einer geschlagenen halben Stunde hatte sich die Masse von Autos um uns herum keinen Millimeter weiterbewegt. In den Nachrichten war von einem „gigantischen Massencrash“ die Rede, in den mehrere Autos und ein Laster verwickelt waren, man sprach sogar von einer Explosion. Jetzt war praktisch der gesamte Verkehr in der Innenstadt lahmgelegt.
Nervös schaute ich auf die Uhr. Eigentlich hätten wir um zehn bei Taylor sein sollen. Jetzt war schon fast halb elf. Die Bahnstationen waren aufgrund des Unfalls vermutlich ebenfalls total überfüllt, diese Ausweichmöglichkeit viel also flach. Eine andere gab es nicht.
Ich warf einen Blick über die nebenliegenden Fahrbahnspuren zum Bürgersteig. Irgendwo dort, im Schutz der Häuser, wartete William.
Aus einer spontanen Eingebung heraus gab ich dem Taxifahrer das Geld, das ich ihm schuldete, und quetschte mich zwischen den wartenden Autos hindurch zum Gehweg.
„Warten sie, wo wollen sie hin?“, rief er mir nach, doch ich beachtete ihn nicht sondern stieg schon über die Motorhaube des nächstbesten Wagens.
William wusste sicherlich ebenso wenig einen Ausweg aus dieser Lage wie jeder andere, aber alles war besser als noch länger untätig in diesem alten, stinkenden Rücksitz darauf zu warten, dass sich etwas tat.
Diesmal ließ er mich wissen wo er war, und ich folgte seiner mentalen Spur zum Lieferanteneingang eines Restaurants, der sich ein wenig abseits der Straße in einem Hinterhof befand. Naja, zumindest war es mal ein Restaurant gewesen, aber nun waren die Türen mit Ketten verriegelt und ich erinnerte mich vage an ein Laden-zu-vermieten-Schild, ehe ich zwischen den Häusern eingebogen war. Hier in der Gegend gab es viele gute Lokale, da war die Konkurrenz groß.
„Tut mir Leid, dass du wegen mir hier so lange warten musstest“, entschuldigte ich mich.
„Du kannst nichts dafür.“
„Mit deinem Hyperspeed wären wir schon längst da“, überlegte ich laut.
Wir würden uns definitiv monstermäßig verspäten. Ob das ein schlechtes Omen war?
„Vielleicht solltest du mich einfach Huckepack tragen …“, nuschelte ich scherzhaft in mich hinein.
In Williams Augen stahl sich ein eigenartiger Glanz. Im nächsten Moment wurde mir der Boden unter den Füßen weg-gerissen und ich lag in seinen Armen.
„Du solltest besser deine Augen schließen“, empfahl er.
Bevor ich überhaupt eine Chance hatte zu protestieren oder gar überrascht zu sein, presste mich ein gewaltiger Luftzug noch weiter in seine Arme. Er flog förmlich die Hauswand hinauf. Vor Schreck schlang ich meine Arme wie eine Boa Konstriktor um seinen Hals und stieß ein entsetztes Keuchen aus.
William jagte pfeilschnell durch die Nacht, sprang mühelos von Haus zu Haus. Sofort folgte ich seinem Rat und kniff die Augen zu. Zum einen waren wir so schnell, dass ich sowieso nur Schemen erkenne konnte, zum anderen brannte der Wind so unerträglich, dass es mir Tränen in die Augen trieb. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust, und ich wagte kaum zu atmen.
„Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Ich lasse dich nicht fallen.“
Unfähig zu antworten, nickte ich kaum merkbar. William verstärkte seinen Griff ein wenig.
„Ich halte dich ganz fest.“
Aus diesem Kerl sollte einer Schlau werden. Zuerst war es ein Weltuntergang, wenn ich ihm nur zu nahe kam, jetzt trug er mich fest an sich gepresst auf seinen Händen.
Erschreckend stellte ich fest, dass ich mochte, wie er sich anfühlte. Seine starken Arme, die mich umfingen, sein muskulöser Oberkörper, der gegen meinen gepresst war, der dezente Duft von Wald und Natur, der mir noch nie zuvor an ihm aufgefallen war, sein kalter Hals unter meinen Händen ...
Stopp, wieso zum Geier schwirrte mir auf einmal so girliemäßiges Zeug im Kopf rum? Das mussten die Nerven sein! Rasch vergrub ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge, um meine erhitzten Wangen abzukühlen, und bemühte mich an etwas anderes zu denken.
William bewegte sich so geschmeidig, dass nur ein sanftes hin und her Wiegeln darauf hinwies, dass er sich überhaupt bewegte. Einmal öffnete ich sogar trotz des anhaltenden Gegenwindes noch einmal kurz die Augen, um mich wirklich davon zu überzeugen, dass er nicht stehen geblieben war. War er nicht.
Mich überkam das eigenartige Gefühl, dass ich so etwas schon einmal erlebt hatte. Nachdem ich angeschossen worden war, hatte ich diesen seltsamen Traum gehabt, oder zumindest hatte ich geglaubt, es sei einer gewesen. Es hatte sich genauso angefühlt. Kälte und Schwerelosigkeit. Wind peitschte von allen Seiten gegen meinen Körper. William musste mich damals ins Krankenhaus gebracht haben! Ich war bis jetzt davon ausgegangen, die Jäger hätten einen Krankenwagen gerufen …
Abrupt endete der stete Luftzug gegen meinen Körper und das Rauschen in meinen Ohren ließ nach. Wir waren zum Stehen gekommen. Ich schlug vorsichtig die Augen auf. Ungläubig starrte ich auf das große, eiserne Tor vor Taylors Haus, das nun direkt vor uns aufragte.
Langsam entließ mich William aus seinem Griff und stellte mich behutsam auf die Füße, während er mit seinen tiefblauen Augen meinen Blick gefangen hielt. Als ich mich vollständig von ihm lösen wollte, gaben meine Beine unter mir nach und ich wäre fast gestürzt, hätte William mich nicht aufgefangen. Meine rechte Hand war automatisch haltsuchend zu seinem Oberarm geschnellt, mit der anderen hielt ich seinen dunklen Mantel umklammert. Mir war noch nie aufgefallen, wie groß er eigentlich war. Jetzt, wo wir Körper an Körper standen, überragte er mich um ein ganzes Stückchen. Ich musste meinen Kopf ziemlich nach hinten beugen, um seinen Blick erwidern zu können.
Ich schluckte nervös und zwang mich, etwas zu sagen, um mich davon abzulenken, wie nah wir uns waren.
„Das war … schnell“, brachte ich mit leicht bebender Stimme heraus. „Aber vielleicht warnst du mich das nächst Mal lieber vor, wenn du so eine Kamikaze-Aktion starten willst.“
„Es war schnell? Das ist Einzige, was du dazu zu sagen hast? Es war schnell?“, fragte er gereizt. „Kannst du nicht wenigstens einmal so tun, als hättest du Angst vor mir? Ich bin gerade in einer mordsmäßigen Geschwindigkeit über die Dächer der Stadt gejagt!“
„Du … du bist ja auch ein … du weißt schon“, stammelte ich. Was wollte er denn von mir hören?
„Du sagst es – ich bin ein Vampir! Ich bin ein Monster, verstehst du das nicht?“
Er packte mich bei den Schultern und schüttelte mich leicht.
„Rette dich, bevor es zu spät ist! Du hast gesehen, zu was ich im Stande bin. Ich bin ein Raubtier, ich töte. Irgendwann werde ich auch dich töten. Willst du es so weit kommen lassen?“
Ich sah es in seinen Augen, die Angst, mir etwas antun zu können. Angst, sich nicht kontrollieren zu können. Angst, für meinen Tod verantwortlich zu sein.
„Du wirst mich nicht töten.“
Ja, William war gefährlich, aber ich wusste, er könnte nie mir gefährlich sein. Das mochte selbstherrlich klingen und naiv, aber tief in meinem Herzen wusste ich, dass es die Wahrheitwar.
William beugte sein Gesicht drohend zu mir hinab.
„Was macht dich da so sicher?“, knurrte er.
Ich wich seinem eindringlichen Blick aus und schaute auf meine Hand, die sich dort in seinen dunklen Mantel gegraben hatte, wo eigentlich sein Herz schlagen sollte. Ich entkrampfte meine Finger und ließ meine ausgestreckte Hand auf der Stelle ruhen. Dann schaute ich wieder zu ihm auf.
„Mein Herz“, antwortete ich, ohne groß nachzudenken. „Ich … ich weiß du meinst es nur gut, wenn du mich warnen möchtest, aber du hast deinen Standpunkt bereits mehr als deutlich gemacht. Im Krankenhaus musste ich eine Entscheidung treffen, und das habe ich getan. Wenn du also keinen Rückzieher machen willst, wäre dann ja wohl alles geklärt.“
William seufzte und verdrehte die Augen.
„Ihr Herz. So etwas musste ja kommen! Ich gebe es auf.“
Er schüttelte resignierend den Kopf und sah mich traurig an.
„Früher oder später wirst du die Wahrheit erkennen.“
Eine kurze Pause entstand.
„Kannst du alleine stehen?“, fragte er schließlich.
„Glaub schon.“
Auch wenn meine Beine noch immer weich wie Butter waren, so hatte das Zittern schon deutlich nachgelassen. Jedenfalls rauschte ich nicht gleich wieder in Richtung Asphalt, nachdem William vorsichtig von mir abgelassen hatte.
Als er sicher war, dass ich mich wieder selbst auf den Beinen halten konnte, ging er wie üblich auf Abstand. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, er wäre geblieben. Ich fühlte mich, wie wenn mir jemand an einen zugigen Wintertag die warme Jacke weggenommen hätte.
Hör gefälligst auf so einen Blödsinn zu denken und konzentrier dich lieber auf das, was dich hinter dem Tor da erwartet!, ermahnte ich mich, schüttelte den Kopf und Schritt zur Tat.
Ich klingelte, und wie bei meinem ersten Besuch erschien wieder die klare Frauenstimme aus der Freisprechanlage.
„Name?“, rauschte es.
„Emma Hanson.“
„Ich lasse das Tor öffnen.“
Schweigend traten wir auf das Grundstück. Ob Chester immer noch hier war? Wenn die Sache heute schief lief, würde William dann sein Schicksal teilen? Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter. Daran wollte ich erst gar nicht denken.
Als wir die Stelle passierten, an der mich Chester mit seinen Freunden attackiert hatte, blieb ich kurz stehen und ließ jenen Tag noch einmal lebendig werden. Ich hatte die Gefahr sofort gespürt, die von jenen Vampiren ausgegangen war, ihre dunklen Absichten, der Drang nach Blut. Bei William hatte ich so etwas noch nie gespürt, selbst bei unserer ersten Begegnung in der Halle nicht, wo ich ihm blutend und am Rande der Bewusstlosigkeit ausgeliefert gewesen war. Eine leise, nervige Stimme in meinem Kopf flüsterte mir dass, wäre eine andere Person als ich damals dazwischen gegangen, William nicht gezögert hätte, seiner Natur nachzugeben. Aber dieser Gedanke verstörte mich bei weitem nicht so sehr, wie er es sollte.
Bevor ich die wenigen Treppen bis zur Eingangstür hinaufstieg, blickte ich mich besorgt zu William um. Ein eiskaltes Funkeln lag in den tiefen seiner blau leuchtenden Augen, wie an jenem Tag, als er mein Gedächtnis gelöscht hatte.
Nein! Dieses Mal würde es nicht so laufen! Dieses Mal würden wir uns nicht wieder voneinander trennen! Die Jäger wollten mich auf ihrer Seite haben, also würden sie sich hüten, William gegen meinen Willen etwas anzutun, oder nicht?
Was wäre so schlimm daran? Im Grunde genommen kennst du den Kerl doch eigentlich gar nicht!, dachte ich für eine grausame Sekunde.
Nüchtern betrachtet war es ja auch so. Und doch war die Vorstellung, ihn ein zweites Mal zu verlieren, undenkbar. Er gab mir das Gefühl, sicher zu sein. Er gab mir halt in einer Welt, die so neu und erschreckend war, so unfassbar, dass ich glaubte, mich ohne ihn in diesem Wahnsinn zu verlieren. Er war mein Anker, mein Retter. Mein Freund.
Unsere Blicke verschmolzen für einen kurzen intensiven Moment und rangen einander das stumme Versprechen ab, dass wir für unsere Freundschaft kämpfen würden. Und wir waren nicht bereit, diesen Kampf zu verlieren.
Die Tür wurde geöffnet, und die missmutige Bedienstete vom letzten Mal kam zum Vorschein.
„Die Herrschaften erwarten sie bereits“, begrüßte sie uns, während sie mir die Jacke abnahm und William demonstrativ ignorierte. Der beachtete sie erst gar nicht, sondern sondierte erst einmal die feindliche Umgebung. Sein Blick schien scheinbar unauffällig über den Raum zugleiten, doch das bedrohliche Flimmern in seinen Augen verriet seine wahren Absichten. Letztendlich verharrte sein Blick starr zu meiner Linken gerichtet. Sekunden später kam Matthew dort zum Vorschein, an seiner Seite Connor und Josh. Beide hatten die Arme verschränkt und schauten abwertend zu William. Taylor war nicht dabei.
„Ihr seid spät dran. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht“, empfing Matthew uns.
Es bestand kein Zweifel daran, dass er damit ausschließlich Sorgen um mich meinte. Er untermalte seine Aussage mit einem unheilverkündenden Nicken zu William und einem freundlichen Lächeln zu mir.
„Folgt mir bitte“, bat er und führte uns zum großen Speisesaal im Erdgeschoss.
Fast synchron öffneten Connor und Josh die beiden massiven Holztüren, die den Eingang in den Raum versperrten. Der lange, antike Tisch, der normalerweise das Prunkstück des Saals bildete, war entfernt worden. Stattdessen standen nun vor den Wänden zu beiden Seiten des Raumes jeweils zwei Reihen Stühle, auf denen adrett gekleidete Männer und Frauen aller Altersstufen Platz genommen hatten.
Am anderen Ende des Saals – also uns gegenüber – war vor dem Kamin eine Erhöhung aufgebaut worden, auf der sich nur eine Stuhlreihe befand. Die mittleren vier Stühle sahen aus wie Throne. Sie besaßen im Gegensatz zu den restlichen breitere Lehnen und waren deutlich größer und prunkvoller. Auf jedem von ihnen saß ein Mann in einem stolzen Alter, die es trotz ihres greisenhaften Aussehens schafften, unter all den Anwesenden durch ihre Köpersprache gebieterisch hervorzustechen. Instinktiv wusste ich, dass man sich von ihrem Alter nicht täuschen lassen sollte. Die übrigen Männer und Frauen auf der kleinen Tribüne waren meist deutlich jünger, aber auch sie waren von einer unverwechselbaren Aura der Macht umgeben.
Die ganze Anordnung erinnerte stark an einen Gerichtssaal, und genau das war es vermutlich auch irgendwie. Ob mein Großvater unter den Versammelten war?
Kaum waren wir eingetreten, ging ein aufgeregtes Gemurmel durch die Reihen. Die vier älteren Herren warfen sich vielsagende Blicke zu. Matthew bedeutete uns vor das Podest zu treten, verbeugte sich kurz vor den Anwesenden und zog sich dann zusammen mit seinen Cousins an den Rand des Saales zurück. Als sich schließlich einer der vier Alten erhob, wurde es schlagartig still.
„Im Namen aller heiße ich dich in unserer Mitte herzlich Willkommen, Emma. Natürlich hätten wir uns die Gegebenheiten dieses Treffens ein wenig anders erhofft, aber du bist mit unserer Welt nicht vertraut und diese…“, er hielt kurz inne und warf William einen vernichtenden Blick zu, „… Situation ist selbst für uns außergewöhnlich. Matthew hat sicherlich nicht versäumt, dich über die Umstände zwischen Unsereins und den Dunklen aufzuklären, gehe ich recht in dieser Annahme?“
Ich nickte verlegen.
„Das hat er“, entgegnete ich.
„Dennoch hast du dich auf seine Seite geschlagen“, stellte der Alte fest, doch es klang wie eine Zurechtweisung.
„So … so ist es nicht“, verteidigte ich mich.
„Und wie ist es dann?“
Obwohl die Stimme des Alten ruhig blieb, spürte man den stählernen Unterton, der jedes seiner Worte unterlegte.
„Wir sind Freunde.“
„Freunde?“, hakte er nach.
Ich wusste, worauf er hinauswollte.
„Ja. Nur … Freunde.“
Wieder blieb der Blick des Alten skeptisch.
„Daher … daher spielt es keine Rolle, dass er ein Vampir ist. So sehe ich ihn nicht“, versuchte ich, mich zu erklären.
Ein aufgeregtes Getuschel ging durch die Reihen der Anwesenden.
„Es spielt keine Rolle?“
Jetzt spürte man den stählernen Unterton nicht nur.
„Ich … ich will mit eurem Krieg nichts zu tun haben. Ich will einfach nur mein Leben weiterleben. Der Vampir kann mir das ermöglichen. Er kann mich vor eurer Welt schützen“, erwiderte ich, bewusst darauf bedacht, Williams Namen aus dem Spiel zu lassen. Seinem Gesichtsausdruck zu urteilen war er äußerst dankbar dafür.
Das verschlug dem Alten nun endgültig die Sprache. Er sah mich an, als wäre ich vollkommen verrückt geworden.
„Mein liebes Kind, ist dir bewusst, was du da sagst?“, stieß er schließlich völlig entgeistert aus. „Seinesgleichen sind der Grund, weshalb du erst vor unserer Welt beschützt werden musst!“
„Ich habe …“, ich wollte ihm gerade von meinen Kräften erzählen, doch dann erinnerte ich mich wieder daran, wie aufgeregt Matthew und die anderen beiden gewesen waren, als sie davon erfahren hatten. Mein Instinkt sagte mir wenn diese Versammlung von meinen Fähigkeiten erfahren würde, wäre William verloren. Ich wäre verloren. Sie würden mich nie gehen lassen. Ich war die ultimative Waffe.
Ich konnte mir gerade noch verkneifen, flehend zurück zu Taylors Cousins zu schauen. Wenn ich nichts sagte, würden sie es tun. Garantiert.
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und diesen beängstigenden Gedanken so weit wie möglich zu verdrängen. Pokerface. Ich würde mich darum kümmern, wenn es so weit war. Eins nach dem anderen. Im Moment hieß es hoffen und beten. Vielleicht würde es ja ausnahmsweise einmal helfen …
„Ähm … Ich weiß, dass er mir nie etwas tun würde“, sagte ich stattdessen.
„Und woher weißt du das?“
„Weil … weil ich heute hier stehe. Er hat mir bereits mehr als ein Mal das Leben gerettet und meinem Blut widerstanden. Ich vertraue ihm.“
Ein erstauntes Raunen erhob sich um uns herum.
„Ist dir bekannt, dass die Dunklen die Fähigkeit haben, das Gedächtnis zu manipulieren?“, fragte der Alte.
„Das … das ist mir bekannt, ja.“ Nur zu gut.
„Woher willst du dann wissen, dass er das nicht auch bei dir getan hat?“
„Weil er es schon einmal getan hat, damit ... damit ich ihn vergesse. Aber ich habe mich wieder von allein an ihn erinnert“, gestand ich.
Der Alte lächelte triumphierend.
„Von allein? Was macht dich da so sicher? Woher willst du wissen, dass er dich nicht für seine Zwecke manipuliert, um an uns heranzukommen?“
„Ich …“, begann ich, verstummte dann aber. Ich fühle es einfach, beendete ich den Satz in Gedanken.
Doch plötzlich stiegen Zweifel in mir auf. Was, wenn der Älteste Recht hatte? Wenn William meine Gedanken kontrollierte ohne, dass ich mir dessen bewusst war? Ich meine, immerhin ist das ja der Sinn der Sache, dass man es nicht merkt …
Das Lächeln des Alten wurde breiter.
„Wir könnten dir helfen, seine Unschuld zu beweisen. Wenn du diesem Vampir wirklich so sehr traust, wie du behauptest, hast du doch nichts zu verlieren, oder?“
„Beweisen? … Wie?“ Ein ungutes Gefühl mache sich in meiner Magengegend breit.
„Wenn du es gestattest, werde ich mich in deinen Erinnerungen umsehen. Wenn du manipuliert wurdest, werde ich es erkennen. Also, was sagst du?“
„Tun sie es.“
Als ob ich eine Wahl hätte …
Der Alte warf William ein hämisches Grinsen zu, bevor er seine Augen wieder auf mich richtete und es in meinem Kopf anfing, seltsam zu kribbeln. Er versuchte, Einlass in mein Denken zu bekommen, das konnte ich schmerzhaft spüren. Ich wusste, dass ich mich dagegen wehren könnte, spürte die Mauer, die mein Körper automatisch um meinen Geist errichtete, doch ich rang sie gegen meine Instinkte gewaltsam nieder. Wenn es nötig war, um William heil hier raus zu bringen, sollte er sich ruhig da oben umsehen. Wir hatten nichts zu verbergen … naja, fast.
Es fühlte sich ekelhaft an, als der fremde Geist in meinen eindrang, als würde sich ein dicker Wurm durch mein Gehirn bohren. Mir wurde übel und ich zitterte. Ich spürte Erinnerungen aus meiner Kindheit hochkommen, an meine Mutter. An unseren Umzug nach ihrem Tod, die schwarze Leere, die ich so lange gefühlt hatte. An das erste Treffen mit Naomi, an meine High-School Abschlussfeier, an die ersten Tage zurück in Seattle und schließlich an William. Wie er mich gerettet hatte, wie er an meinem Fester stand und wir plauderten, wie er an Weihnachten mein Gedächtnis gelöscht hatte, und wie wir uns wieder begegnet waren.
Die Erinnerungen an William wurden wieder und wieder abgespult, immer intensiver. Die Kopfschmerzen wurden so unerträglich, dass ich die Augen schließen musste. Der Alte suchte fanatisch nach einer Lücke, nach einer Ungereimtheit, die rechtfertigen könnte, dass mir William etwas suggeriert hatte. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Die Erinnerungen an sich schienen ihn zwar nicht zu interessierten sondern nur das Leck, das er hoffte darin zu finden, aber es war dennoch erniedrigend, einem Fremden Einblick in all diese intimen Momente gewähren zu müssen. Sie gehörten nur mir und niemand hatte das Recht, sie sich zu nehmen.
Gerade als ich glaubte, es keine Sekunde länger mehr auszuhalten, zog er sich so schlagartig aus meinem Geist zurück, dass ich benommen nach hinten taumelte.
Als ich mich wieder aufgerichtet hatte sah ich, wie das hämische Grinsen aus dem Gesicht des alten Mannes verschwunden war. Ein verwundertes Flüstern ging durch die Reihen von Anwesenden. William stand noch immer vollkommen ungerührt neben mir, doch seine Augen glühten vor unterdrückter Wut. Er warf mir einen kurzen Blick zu, in dem tiefes Bedauern lag. Offensichtlich wusste er, wie diese Erinnerungsleserei funktionierte.
„Ich kann keine weitere Manipulation feststellen“, erklärte der Alte schließlich, und es war ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihm diese Tatsache gegen den Strich ging. „Trotzdem würden wir uns gerne noch mit jedem von euch allein unterhalten, wenn dein Freund nichts dagegen hat.“
Jetzt änderte er seine Taktik: Einzelverhöre. Eine Verzweiflungstat. Aber wenn wir das Spielchen nicht mitspielten, sah es aus als hätten wir doch etwas zu verbergen.
Da sowohl William als auch ich schwiegen und somit unser stummes Einverständnis gaben, nickte der Älteste Matthew zufrieden zu, der seine Cousins daraufhin anwies, erneut die Türen zu öffnen.
„Wenn ich bitten dürfte“, heuchelte der alte Mann mit unverhohlener Ironie zu William, während er mit ausgestreckter Hand an das andere Ende des Raumes wies. Der nickte höflich und schaute mich eindringlich an, bevor er sich in Richtung Portal wandte und elegant aus dem Saal schritt. Matthew, Connor und Josh folgten ihm. Ich hoffte inständig, dass William seine Selbstbeherrschung noch ein kleines bisschen länger halten konnte. Matthew würde ihn da draußen sicherlich in die Mangel nehmen, und ich hatte vorhin ein Messerschaft unter Connors Jacke hervor lugen sehen…
„Bitte verzeih mein rabiates Handeln, Emma“, lenkte der alte Mann wieder die Aufmerksamkeit auf sich, nachdem die vier gegangen waren. „Ich musste auf Nummer sicher gehen.“
Er lächelte versöhnlich, und ich spürte, dass er es aufrichtig bedauerte, so gehandelt haben zu müssen. Jetzt, da William den Saal verlassen hatte, war die Atmosphäre merklich entspannter. Die Falten auf der Stirn des alten Mannes hatten sich ein wenig geglättet, was ihn um Jahre jünger wirken ließ. Auch der sarkastische Unterton in seiner Stimme war verschwunden, was ihr fast einen weichen Klang verlieh.
„Aber Sei es, wie es sei. Wir sind heute nicht nur zusammengekommen, um uns mit solch unerfreulichen Themen auseinanderzusetzten.“
Okay, dieses Gespräch nahm gerade eine hundertachtzig Grad Wendung.
„Ich denke es ist höchste Zeit, dass du jemanden kennen lernst. Deinen Großvater.“
Er tauschte einen kurzen, vielsagenden Blick mit dem Ältesten zu seiner Linken aus, der sich daraufhin ebenfalls erhob.
Mein Großvater. Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich den Mann, der nun würdevoll das kleine Podest herabstieg und auf mich zukam. Ich konnte in seinem Aussehen nichts von meiner Mutter oder mir wiederfinden, aber seine stolze, ruhige Art erinnerte mich ungemein an sie.
Ich wusste, dass meine Mutter ihn sehr geliebt hat. Während der seltenen Momente, in denen sie mir von ihm erzählt hatte, schlich sich in ihre Augen immer dieser liebevollen Glanz, mit dem sie meinen Vater sonst immer bedachte. Umso schwerer musste es ihr gefallen sein wegzulaufen. Ob Großvater deswegen wütend auf Mom war? Ob er wütend auf mich war, weil ich den Jägern ebenfalls den Rücken kehren wollte?
Ich hatte so viele Fragen an ihn. Wie war meine Mutter früher gewesen? Wie war sie aufgewachsen? Hatte ich noch andere lebende Verwandte? Was war mein Großvater für eine Person und wie sah sein Leben aus?
Als er bei mir war, legte er mir liebevoll eine Hand auf die Wange.
„Ich erkenne so viel von deiner Mutter in dir wieder …“, flüsterte er ehrfürchtig, während er mich ungläubig ansah als hätte er Angst, ich könnte mich jeden Moment in Luft auflösen. „Es ist mir eine Freude dich endlich kennen zu lernen, mein Kind.“
Er strahlte über das ganze Gesicht, bevor er mich großväterlich umarmte. Auch ich musste lächeln. Etwas in mir schien zu spüren, dass wir verwandt waren, und das fühlte sich richtig an.
Als mein Großvater sich schließlich wieder von mir löste, wurden seine Züge ernst. Er legte seine Hände auf meine Schultern und betrachtete mich eingehend.
„Egal, was der Dunkle dir angedroht hat oder wie er dich unterwirft – vertrau uns, wir können dir helfen! Bei uns bist du in Sicherheit! Du musst es uns nur sagen.“
Mit einem Schlag bekam seine Herzlichkeit von zuvor einen bitteren Nachgeschmack. Unwillkürlich machte ich mich von ihm los. Im Moment schien es eher, als wollten mich die Jäger unterwerfen. So viel also zur freudigen Familienzusammenführung …
„Er … er hat nichts dergleichen getan. Er hat mich weder erpresst, noch bedroht noch … noch sonst irgendetwas. Er hat lediglich angeboten, mir zu helfen, und ich habe seine Hilfe angenommen“, entgegnete ich ruhig, obwohl mir danach zumute gewesen wäre, ihm wütend und schreiend eine bissige Erwiderung entgegen zu schleudern, dem ganzen Saal. Wieso musste alles in meinem Leben nur immer so kompliziert sein?
„Er ist ein verdammter Vampir, ein Mörder! Du ziehst dieses Monster uns, deiner Familie, den Jägern, vor? “, gab er aufgebracht zurück.
Ich zuckte vor seinen Worten zurück und biss mir in die Lippe, um meine Tränen zurückzuhalten. Das Schlimmste war, dass ich ihn vollkommen verstand. Mir war bewusst, zu was William fähig war, ich hatte es ja selbst gesehen! Wieso drängten mich meine Instinkte dann zu ihm, wenn die Sache vom Verstand her so klar war? War ich zur Masochistin geworden? Wollte ich sterben?
Ich kam mir wie ein Junkie vor, und William war meine Droge. So fühlte es sich an, Abhängigkeit. Ich musste ihn einfach in meinem Leben haben, es war ein Bedürfnis so natürlich wie Essen oder Schlafen. Lebensnotwendig.
„Ja.“
Ich hatte verstanden, dass es für die Jäger keine Rolle spielte, wie ich meine Entscheidung rechtfertigen würde, solange es die gleiche blieb. Für sie würde es immer falsch sein.
Die Atmosphäre im Raum war wieder geladen. Jetzt war ich diejenige, die von den Anwesenden mit missbilligenden Blicken gelöchert wurde. Deutlicher hätte ich meinen Standpunkt wohl nicht vertreten können.
Mein Großvater wollte schon zu einer Erwiderung ansetzten, als der Älteste von zuvor das Wort erhob.
„Du bist dir deiner Sache also wirklich ganz sicher?“, fragte er scharf. Von der Freundlichkeit zuvor war nichts mehr zu spüren, auch wenn er bemüht war, den Schein zu waren.
„Das bin ich.“
„Nun gut. Wir haben dir die Entscheidung frei gestellt, und du hast gewählt. Dagegen können wir nichts einwenden“, entgegnete er resignierend. Es klang als wünschte er sich, die Sache mit der Entscheidungsfreiheit nicht ganz so großzügig angegangen zu sein. „Du bist dir der Gefahr bewusst, der du dich aussetzt, und der Tatsache, dass wir dir nicht werden helfen können?“
„Ja, das … das bin ich.“
„Dann würden wir uns jetzt noch gerne mit dem Dunklen allein unterhalten, bevor wir die Angelegenheit zu einem Abschluss bringen können. Dein Großvater begleitet dich nach draußen.“
Die beiden Männer sahen sich ernst in die Augen, ehe mein Großvater sich umwandte und ohne mich anzusehen an mir vorbeischritt. Ich folgte ihm schweigend zur Tür, während im Saal aufgeregtes Tuscheln einsetzte. Zwei Jäger aus den hinteren Rängen eilten herbei, um sie für uns aufzuhalten. Sie nickten meinem Großvater ergeben zu und beugten leicht ihre Köpfe, während er an ihnen vorbeilief. Mich würdigten sie nur eines betretenen Blickes.
Plötzlich wandelte sich die Verlegenheit zu Hass. Ich erschrak, doch als ich mich umsah erkannte ich, dass diese Feindseligkeit nicht mir galt. Matthew, Adam und Connor kamen uns mit William entgegen. Ich hatte halb damit gerechnet, dass zumindest einer der Vier irgendwo Blut auf seiner Kleidung haben würde oder eine Schramme im Gesicht, aber keiner von ihnen wies etwas Derartiges auf. Wäre ich Katholikin gewesen, hätte ich mich jetzt wahrscheinlich bekreuzigt. Besorgt sah ich zu, wie sich die Türen wieder hinter uns schlossen. Was würden sie wohl mit ihm machen?
Als könnte ich durch sie hindurchsehen, wenn ich mich nur genug anstrengte, starrte ich wie in Trance auf das massive Holz, bis ein Räuspern meine Gedanken unterbrach. Mein Großvater hatte auf einem Sofa Platz genommen, das vor den Saal auf den Flur gestellt worden war. Ich zögerte einen Moment, dann setzte ich mich befangen neben ihn und studierte ausführlich meine Jeans. Lange sagte niemand etwas.
„So hattest du dir das erste Treffen mit deinem Opa sicher nicht vorgestellt“, unterbrach der alte Mann letztlich die Stille. Offensichtlich hatte er sich mittlerweile etwas beruhigt und war wieder auf Annäherungskurs. Ich hatte ihm den Anfang aber auch nicht gerade leicht gemacht.
Überrascht sah ich zu ihm auf. Die Zornesfalten auf seiner Stirn hatten sich geglättet, seine warmen, braunen Augen lagen fast liebevoll auf mir.
„Nicht ganz“, gab ich zu.
„Nach so vielen Jahren von dir zu erfahren … es war, als wäre ein Teil meiner Tochter zu mir zurückgekehrt. Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles“, versuchte er, sich für seinen Ausbruch von zuvor zu entschuldigen.
„Ich … ich weiß.“
Ich hätte wahrscheinlich nicht viel anders reagiert, wäre ich an seiner Stelle gewesen.
„War sie glücklich, deine Mom?“, fragte er.
„Ich … ich glaub schon. Sie hat Dad sehr geliebt. Ich war erst fünf als sie starb, deswegen erinnere ich mich nicht mehr so gut an sie, wie ich es gerne würde“, gab ich ebenso zaghaft zurück, während ich in Gedanken die wenigen bruchstückhaften Erinnerungen, die mir geblieben waren, wieder an die Oberfläche beförderte.
„All die Jahre war sie ganz in meiner Nähe“, bemerkte er traurig. „Sie war schon immer eine Kämpfernatur, deine Mutter, aber dass sie es tatsächlich geschafft hat, den Dunklen zu entkommen …“
Als könnte er es immer noch nicht fassen, schüttelte er ungläubig den Kopf.
„Als Danielle mir erzählte, sie wünschte sich ein normales Leben, habe ich sie ausgelacht. Ich sagte, sie würde keine Woche aushalten, ohne angegriffen zu werden. Stattdessen wurden fast zehn Jahre daraus …“
„Letzten Endes haben sie sie doch gefunden“, gestand ich bitter. „Mom wusste, dass die Vampire sie aufgespürt hatten. Sie hat Dad und mich verlassen, um uns zu beschützen, aber es war schon zu spät. Sie wussten von uns. Mom starb, weil sie uns beschützen wollte. Sie … sie hat sie alle mit sich genommen und verbrannt …“
Es war ein eigenartiges Gefühl, das alles so offen auszusprechen.
„Du warst dabei“, stellte er fest und sah mich mitleidig an.
Ich verdrängte schnell die grausamen Bilder jener Nacht, die mich so lange im Traum heimgesucht hatten, und fuhr fort.
„Nach Mom`s Tod zog ich mit Dad nach New York. Erst als ich nach Seattle zurückkehrte, traf ich wieder auf … Vampire.“
Es half nichts, das Wort musste ich ab jetzt wohl offiziell in meinen Wortschatz aufnehmen.
„Das war vor knapp einem halben Jahr. Mein … mein Freund hat mich damals vor ihnen gerettet.“
Ich machte eine kurze Pause, wandte den Blick von dem alten Mann neben mir ab und schaute erneut verlegen in meinen Schoß, wo ich meine Hände ineinander verknotete.
„Ich habe schon immer gewusst, dass ich anders bin. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen, fühle Dinge, die ich mir nicht erklären kann.“
Ich seufzte.
„Natürlich hat mir das niemand geglaubt. Also hab ich es verdrängt, hab versucht ein normales Leben zu führen, dazu zu gehören. Ich habe diesen dunklen Teil meines Wesens verleumdet, mich Selbst verleumdet. Aber dann … dann kam er und ich musste diesen Teil von mir nicht länger verstecken. Ich konnte ich sein, ohne mich deswegen schuldig oder anormal fühlen zu müssen. Es war als wäre ich in zwei Teile gebrochen gewesen und er … er hätte mich wieder zusammen gesetzt.“
Als mein Großvater hatte er das Recht zu erfahren, warum ich mich für William entschieden hatte. Zumindest das war ich ihm schuldig gewesen. Mochte er darüber nun denken, was er wollte.
„Ich kann nachvollziehen, warum du so fühlst, doch hätte dich jemand unserer Art zuerst gefunden, wäre es genauso gewesen“, wand er ein.
„Vielleicht …“, meinte ich nachdenklich.
„Du empfindest dem Vampir gegenüber Dankbarkeit, und dazu hast du auch jedes Recht. Außerdem ist er ein hübscher Kerl und du ein junges, ansehnliches Mädchen. Aber du gehörst nicht zu ihm.“
Etwas in mir rebellierte bei diesen Worten, doch das Gefühl war zu eigenartig und fremd, als dass ich es hätte fassen können. Was war das?
Mein Großvater bemerkte offensichtlich nichts von meinem Inneren Zwiespalt, sondern lamentierte weiter vor sich hin.
„So etwas würde nie gut gehen. Kennst du ihn überhaupt richtig? Bist du dir ganz sicher, dass er nicht unlauterer Absichten hegt? Was macht dich so sicher, dass du ihm trauen kannst?“, fragte er in der Hoffnung, mich doch noch überzeugen zu können.
„Wir … wir sind wirklich nur Freunde!“, versicherte ich ihm verlegen. „Und was das Vertrauen angeht … Intuition, Gefühl, Instinkt … Ich … Ich weiß es einfach. Außerdem … Naja, warum sollte ich euch trauen? Euch kenne ich noch weniger …“, konterte ich.
Aus irgendeinem Grund hielt ich es für angebracht, dass Band zwischen William und mir zu verschweigen. Das war etwas, dass nur uns etwas anging, niemanden sonst. Ich dachte nicht drüber nach, warum ich so empfand. Es war einfach so.
„Touché“, gab er sich geschlagen.
Wieder schwiegen wir eine Weile.
„Du weiß, dass ich nicht mit dir in Kontakt bleiben kann, wenn du dich für ihn entscheidest“, begann er schließlich.
„So etwas habe ich mir schon gedacht.“
„Versprichst du mir wenigstens, dass du gut auf dich Acht geben wirst?“, fragte er. Es klang wie ein Friedensangebot.
„Bist du nicht enttäuscht oder wütend über meinen Entschluss?“
„Ich habe schon einmal eine Tochter verloren, weil ich ihre Wünsche nicht respektieren konnte, und ich lerne aus meinen Fehlern. Du bist meine Enkelin und ich will, dass du glücklich bist.“
Er legte erneut seine Hand an meine Wange, und diese Mal legte ich meine darüber.
„Werde glücklich.“
Ohne ein weiteres Wort legte Großvater seinen Arm um meine Schultern, und ich lehnte mich an ihn. Gemeinsam genossen wir diesen Moment der Nähe, der uns nicht lange bleiben würde. Hatte ich mich wirklich richtig entschieden? Ich hoffte es.
Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis die beiden Türen geöffnet und wir gebeten wurden, wieder einzutreten. Ich machte mich von meinem Großvater los und schenkte ihm ein schwaches Lächeln, ein stummer Abschied, ehe ich zu William ging, der allein vor den nunmehr drei Ältesten stand. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, doch ich spürte die Erleichterung, die darunter verborgen lag. Noch bevor der Älteste von zuvor das Wort erhob wusste ich, dass wir es geschafft hatten.
„Der Dunkle hat uns keinen Grund gegeben, warum wir eurer Allianz nicht zustimmen sollten. Darüber hinaus scheint er, wie ich zugeben muss, über eine Selbstbeherrschung zu verfügen, die seinesgleichen sucht“, erklärte er an mich gewandt, sichtlich unzufrieden mit dem Ausgang der Anhörung. Er bemühte sich erst gar nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. Mein Herz machte vor Erleichterung einen kleinen Hüpfer. Er hatte meine Erinnerungen offenbar falsch gedeutet. Der Älteste schrieb William die Fähigkeit zu, sich unter Menschen aufzuhalten, anstatt das Gegenteil anzunehmen – nämlich dass eigentlich ich diejenige mit den Superkräften war! Besser hätte es gar nicht laufen können! Mich wunderte nur, dass Matthew nichts dazu sagte. Warum half er uns? Hatte ich ihn falsch eingeschätzt? Vielleicht war er ja doch gar nicht so übel …
„Aber solltest du je deine Meinung ändern, werden wir dich stets mit offenen Armen empfangen. Dieser Tag wird nichts daran ändern, dass du eine von uns bist. Vergiss das nicht, Emma.“
Er deutete mit einem Handschwenk auf die noch offenen Türen.
„Ihr dürft gehen, wie wir es versprochen haben.“
William neigte leicht seinen Kopf nach vorne.
„Es war mir eine Ehre.“
„Die Ehre war ganz auf unserer Seite“, erwiderte der Älteste.
Nach diesem geheuchelten Abschied beiderseits verließ William unter den ätzenden Blicken der Jäger den Saal. Ich schaute noch ein letztes Mal zu meinen Großvater, bevor ich William folgte. Ob ich ihn je wieder sehen würde?
„Und denk an unsere Abmachung, Vampir“, ermahnte ihn der Älteste, kurz bevor William die Türschwelle erreicht hatte. Er blieb stehen, machte auf dem Ansatz kehrt und schaute dem Ältesten fest in die Augen.
„Keine Sorge. Das werde ich.“
Gemeinsam verließen wir das Haus, ohne noch einmal zurückzuschauen.
„Wir haben es tatsächlich geschafft!“, flüsterte ich verwundert, als wir die Allee zurück schlenderten. Es waren die ersten Worte, die wir miteinander wechselten, seit uns Matthew vor etwas über einer Stunde in Empfang genommen hatte.
„Sieht ganz so aus“, erwiderte er, nicht minder überrascht.
„Von was für einer Abmachung habt ihr da am Ende gesprochen?“, fragte ich neugierig.
„Sie haben gesagt wenn der Tag kommt, an dem du mein wahres Gesicht erkennst, solle ich dich gehen lassen. Ich habe versprochen, dass ich dich nicht aufhalten werde.“
„Mit anderen Worten: Sie glauben immer noch, dass ich irgendwann zu ihnen zurückkommen werde“, seufzte ich.
„Nicht nur sie“, gestand William.
„Dein Vertrauen in mich ist echt überwältigend.“
„Du kannst dir noch nicht einmal annähernd vorstellen, worauf du dich da eingelassen hast, Emma. Glaubst du ein paar Vampire, die Menschen aussaugen, ist das Einzige, mit dem du fertigwerden müsstest? Du wirst mit Dingen konfrontiert werden, die deine schlimmsten Albträume übertreffen“, entgegnete er beschwichtigend. „Ich werde dich nicht vor allem beschützen können ...“
„Glaubst du ich würde von all diesen Dingen verschont bleiben, wenn ich die andere Seite gewählt hätte?“, gab ich zurück.
William massierte sich frustriert den Nacken, atmete bewusst laut aus und schüttelte den Kopf.
„Das werden wir wohl nie erfahren du kleiner Starrkopf, oder?“, neckte er mich.
Verdutzt starrte ich in sein Gesicht, das von seinen Worten unbewegt geblieben war. Hatte er gerade wirklich mit mir gescherzt, um die Atmosphäre aufzulockern?
Als sich sein Mund schließlich zu einem Lächeln verzog, bekam ich es tatsächlich mit der Angst zu tun.
„Okay, das ist unheimlich!“, gab ich zu.
Daraufhin lächelte er nur umso breiter.
Freude.
Das Gefühl spritze geradezu aus ihm heraus, und es war unmöglich, es nicht auch zu spüren.
„Wir haben es tatsächlich geschafft“, wiederholte er.
„Ja, das haben wir.“
Aufgeregt lief ich in meinem Zimmer auf und ab, während ich jede zweite Sekunde einen nervösen Blick auf die Uhr warf, als würde die Zeit so schneller vergehen. Der Tag heute war die reinste Folter gewesen.
Als ich gestern mit William auf mein Taxi gewartet hatte, war er plötzlich nachdenklich geworden.
„Was hast du?“, hatte ich ihn gefragt.
„Ich möchte, dass du morgen meine Familie kennen lernst“, hatte er entschlossen verkündet.
„Ich bin jetzt für dich verantwortlich, aber allein kann ich mein Versprechen, dich zu beschützen, unmöglich einhalten. Unter meinesgleichen habe ich … eine gewisse Stellung, die Pflichten mit sich bringt. Ich werde dich manchmal allein lassen müssen, deshalb bin ich auf ihre Hilfe angewiesen“, gestand er. Es war ihm deutlich anzuhören, dass er sich eine andere Lösung gewünscht hätte. Er schien keinen besonders guten Draht zu seinen Verwandten zu haben.
„Hat deine Familie nicht auch dieselben Pflichten wie du?“, erkundigte ich mich nüchtern.
„Zurzeit lebe ich bei meinem Onkel. Hierarchisch bin ich ihm übergeordnet, also nein“, erklärte er.
„Und … und wie sieht diese Hierarchie aus?“
Ohne auf meine Frage einzugehen, wandte William den Blick ab und schaute zum Ende der Straße.
„Dein Taxi kommt. Ich hole dich morgen Abend um neun ab.“
Weg war er. Wie immer.
Abwesend stieg ich in den Wagen und nannte dem Fahrer unsere Adresse. Williams Familie. Hieß das, Vampire kamen auch auf natürliche Weise zur Welt? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht ...
Schwammige Erinnerungen unseres Wiedersehens in dem Keller tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Eine Frauen und ein Mann. War das die Familie gewesen, von der er gesprochen hatte?
Angestrengt versuchte ich, mich an Gesichter oder ähnliches zu erinnern, aber je mehr ich mich bemühte, desto kläglicher versagte ich. Ich war ja auch zu sehr damit beschäftigt gewesen, angeschossen zu werden, da konnten einem so kleine Details schon mal entfallen.
Ich hatte also nicht die geringste Ahnung, was mich heute Nacht erwarten würde, aber wieso sollte es mir auch einfacher ergehen als William? Er hatte sich für mich einer ganzen Horde hochrangiger Jäger ausgeliefert, die ihn nur zu gerne einen Kopf kürzer gesehen hätten. Nun war ich an der Reihe, das war nur fair. Doch wie um alles in der Welt sollte ich mich seiner Familie gegenüber bloß verhalten? William war immerhin der einzige Vampir, mit dem ich je wirklich gesprochen hatte. Die anderen waren weniger kooperativ gewesen … Und wenn man bedachte, wie die Jäger auf William zu sprechen gewesen waren, war es ziemlich wahrscheinlich, dass seine Familie im Gegenzug ebenfalls nicht besonders begeistert davon sein dürfte, dass er sich mit einem Menschen-Schräg- strich-Jägermädchen herumtrieb. Blieb also zu hoffen, dass sie ihre Reißzähne bei sich behalten würde …
Ich spürte Williams Anwesenheit, noch ehe er neben dem Fenster aufgetaucht war. Punkt neun. Wie ausgemacht.
Ich bemühte mich, den dicken Kloß in meinen Hals zu ignorieren und lässig zu wirken, was angesichts der Tatsache, dass ich gleich mit was weiß ich wie vielen Stundenkilometern auf den Armen eines Vampires durch die Nacht jagen würde, nicht gerade einfach war.
„Bringen wir` s hinter uns“ sagte ich, bevor mich mein Mut verlassen konnte, und hielt mich erst gar nicht mit schnöden Begrüßungsfloskeln auf. Ich kniff meine Augen zu und wartete auf das Unvermeidliche. Ruhig atmen und an etwas Schönes denken,bläute ich mir ein.
Aber nichts geschah.
Erst blinzelte ich vorsichtig, dann blickte ich verwirrt zum nunmehr leeren Platz neben dem Fenster. Hinter mir ertönte ein Räuspern. Ich fuhr herum und sah William, der mich amüsiert anstarrte, neben der Tür stehen.
„Wir nehmen heute das Auto“, erklärte er und bedeutete mir, ihm aus dem Zimmer zu folgen.
„Das Auto?“ fragte ich verwundert.
„Ich kann dich ja schlecht andauernd durch die Gegend tragen. Abgesehen davon schienst du das letzte Mal nicht sonderlich begeistert gewesen zu sein von meiner Fortbewegungsmethode.“
„Du … du besitzt ein Auto?“
Wenn es um Vampire ging, war ich mit Vorurteilen behaftet wie jeder andere: transsilvanische Schlösser, Gräber, Fledermäuse und alte Fürsten wie den berühmten Graf Dracula. Ein Auto passte da nun wirklich nicht ins Bild.
William zuckte nur mit den Schultern.
„Es war ein Geschenk. Außerdem ist es ab und zu ganz unterhaltsam, sich den menschlichen Erfindungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu widmen.“
„Hast du überhaupt einen Führerschein?“
William verdrehte genervt die Augen.
„Ich war praktisch dabei, als das Auto erfunden wurde, also ja, ich weiß, wie man fährt“, antwortete er.
„Es ist nur … ich weiß auch nicht. Mit dir über so was zu reden ist eine Sache, aber du in einem Auto … das ist … merkwürdig“, brachte ich schließlich heraus.
„Tut mir leid, deine Weltansicht so in den Grundfesten erschüttert zu haben“, entgegnete er belustigt.
„Ha, ha, sehr witzig. Wessen Schuld ist es denn, dass ich diese Vorurteile über euch noch nicht ausgemerzt hab, he? Mister Ich-sag-lieber-zu-wenig-als-zu-viel“, entgegnete ich gereizt und versuchte, seinen strengen Blick zu imitieren.
„Willst du dich jetzt mit mir streiten oder wollen wir los, bevor es wieder graut?“, versuchte er sich raus zu winden.
Eigentlich wollte ich etwas Schlagfertiges erwidern, doch als mir Williams Hand auf der Türklinke auffiel, kam mir plötzlich ein Gedanke.
„Aber Naomi und …“, begann ich besorgt.
Als Antwort tippte sich William nur mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Jetzt war es an mir, mit den Augen zu rollen. Klar, was sonst.
„Darüber muss ich auch noch ein ernstes Wörtchen mit dir sprechen …“
Ohne weiter auf mich einzugehen öffnete er die Tür und ging seelenruhig durch die Wohnung. Ich griff nach meiner Jacke und meiner Tasche und folgte ihm mit einem flauen Gefühl im Bauch. Vermutlich sollte ich mir auch langsam eine ordentliche Portion Abgebrühtheit zulegen. Die konnte ich in nächster Zeit wohl gut gebrauchen.
William hatte seinen Wagen direkt vor unserem Block geparkt, ein schwarzes, luxuriös wirkendes Ding, das aussah wie eine Präsidentenkarosse. Er öffnete mir gentlemanlike die Tür und ich stieg ein. Als William sich hinter das Lenkrad setzte konnte ich nicht anders als verblüfft zuzusehen, wie er den Wagen startete, als sei es für ihn das Natürlichste der Welt.
„Wo fahren wir eigentlich hin?“, wollte ich wissen.
Zu einem abgelegenen Friedhof? Einem alten Schloss?
„Zum Nationalforst nordöstlich von Seattle. Mit dem Auto brauchen wir circa eine halbe Stunde.“
Ich musste darüber lächeln, wie abfällig er mit dem Auto betonte.
„Wie schnell bist du zu Fuß?“
Ich war neugierig. Er überlegte.
„Vielleicht fünf Minuten.“
„Aha.“
Ich spielte mit meinen Fingern, wie immer, wenn ich nervös war.
„Als du … als du gestern von Hierarchie gesprochen hast … ich meine hast du … ähm … Geld? Bist du reich?“, sagte ich, um das Gespräch am Laufen zu halten.
Als William mir einen verdatterten Blick zuwarf, lief ich rot an. Ich war nicht besonders gut in Smalltalk.
„Ach, vergiss die Frage einfach …“, winkte ich verlegen ab.
„So unverblümt hat mich das noch nie jemand gefragt, aber ja, man könnte mich wohl als reich bezeichnen“, antwortete er ehrlich. Erst Taylor und jetzt auch noch William. Ob das Teil ihrer Welt war?
Eine kleine Weile herrschte peinliche Funkstille, dann wagte ich mich an ein anderes Thema heran.
„Was, wenn sie deine Bitte ablehnen? Deine Familie, meine ich.“ Und das war ziemlich wahrscheinlich.
„Das werden sie nicht“, erwiderte er schlicht, doch im Gegensatz zu seinen enthusiastischen Worten stahl sich ein besorgter Ausdruck auf seine vollkommenen Züge.
„Warum werde ich dann das Gefühl nicht los, ich sollte mir ernsthaft Sorgen wegen des Zusammentreffens machen?“, meinte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
„Weil sie Vampire sind. Das allein sollte schon Grund genug zur Sorge für dich sein, meinst du nicht?“, entgegnete er ungehalten.
„Im Grunde genommen weiß ich ja gar nicht, was ein Vampir überhaupt ist“, gab ich ebenso gereizt zurück. „Du sagst es ständig, aber was bedeutet das eigentlich? Ein Vampir sein? Ich meine welche Klischees entsprechen der Wahrheit, und welche nicht?“
„Finde es heraus. Frag mich.“
„Ich kann dich alles fragen was ich will? Und … und du wirst auch ganz bestimmt antworten?“, wiederholte ich verdutzt.
„Ich habe mich bisher nur bedeckt gehalten, weil ich wusste, dass ich deine Erinnerungen ohnehin wieder löschen würde. Das ist nun nicht mehr der Fall“, erklärte er.
Es gab so vieles, das ich wissen wollte, und wir hatten noch nicht einmal mehr eine halbe Stunde Zeit. Wo sollte ich da bloß anfangen?
Naja, zumindest die Blutfrage war ja schon mal geklärt. Also begann ich mit dem meiner Meinung nach Zweitoffensichtlichsten.
„Wie wird man zum Vampir?“
„Man kann als Vampir geboren oder durch den Biss eines Vampires verwandelt werden.“
„Wo ist da der Unterschied?“
„Erstere sind weitaus mächtiger und höher in unsere Hierarchie gestellt.“
Also war William tatsächlich bereits in diese Welt geboren worden.
„Warum … warum sind eure Augen manchmal rot?“
„Tagsüber sind sie immer rot. Nachts nur, wenn wir hungrig oder emotional aufgewühlt sind.“
„Aha … Schlaft ihr in Särgen?“
„Das musste ja kommen“, schnaubte er. „Nein, grundsätzlich schlafen wir nicht in Särgen. Wir schlafen eigentlich gar nicht.“
„Was heißt eigentlich gar nicht?“
„Es ist nicht nötig“, erklärte er schlicht.
Ich nahm die Informationen schweigend in mich auf und beschloss, erst all meine Fragen zu stellen und mich danach über William`s Antworten zu wundern.
„Hast du ein Spiegelbild?“
„Ja.“
„Kannst du Silber berühren?“
„Ja.“
„Was ist mit Weihwasser oder einem Kruzifix?“
Ein verschmitztes Lächeln spielte um Williams Mundwinkel. Er langte mit einer Hand in den Kragen seiner Jacke und zog eine Kette daraus hervor, an der ein Kreuz baumelte.
„Ich denke, das beantwortet deine Frage.“
Er steckte die Kette wieder zurück, und ich fuhr fort.
„Sterbt ihr wirklich nur durch einen Pflock ins Herz?“
„Du lässt wirklich kein Klischee aus, oder?“, seufzte William.
„Aber nein. Es gibt noch andere Möglichkeiten wie Köpfen oder Ausbluten, doch Verbrennen ist die einzig sichere Methode. Unsere Körper sind enorm regenerationsfähig. Wenn unser Gewebe nicht vollständig zerstört ist, besteht immer eine gewisse Chance auf Heilung.“
„Was ist mit der Sonne? Verbrennen Vampire, wenn sie mit Sonnenstrahlen in Berührung kommen?“
„Ja und nein. Vampire der höheren Ordnung können sich problemlos in der Sonne aufhalten. Vampire der unteren Ordnung verbrennen, wie es die Legenden besagen, wenn auch nicht so lächerlich schnell, wie es immer in diesen Filmen dargestellt wird.“
„Du guckst dir Filme über Vampire an?“
„Du guckst dir ja auch Filme über Menschen an, oder?“
Wo er Recht hat …, dachte ich.
„Welchen Platz hast du in dieser Hierarchie?“
Angst.
„Nächste Frage.“
„Warum?“
„Darum.“ Er sah mich mit seinen tiefenblauen Augen eindringlich an und ich wusste, er würde nichts weiter dazu sagen.
„Na schön …“ Diese eine Frage würde ich ihm durchgehen lassen. „Wie alt bist du?“
„Fünfhundertzwei. Halt dich fest!“
Das war die einzige Warnung, die ich erhielt, bevor William völlig unvermittelt mitten auf der Straße eine spektakuläre Wendung hinlegte und mit voller Fahrt in den Wald preschte. Ich war bis dato so in unser Gespräch vertieft gewesen, dass ich noch nicht einmal bemerkt hatte, dass wir uns bereits im Forst befanden.
Mein Schrei blieb mir in der Kehle stecken. Ich schloss erschrocken die Augen und krampfte meine Hände um den Sitz. Was folgte, war jedoch lediglich ein kurzes Ruckeln, dann fuhr das Auto so ruhig weiter wie zuvor.
Als ich es wagte, meine Augen wieder zu öffnen, sah ich, dass wir nun auf einem schmalen Pfad weiterfuhren, der vorher garantiert noch nicht dagewesen war.
„Was war das gerade?“
Der Schreck hatte meine Stimme um einige Oktaven höher geschraubt. William starrte mich resigniert an, seinen Kopf nachdenklich zur Seite geneigt.
„Wir benutzen Schutzzauber, damit unsere Häuser unentdeckt bleiben. Andere hätten an der Stelle, an der wir abgebogen sind, nur Wald gesehen“, antwortete er schließlich.
„Ja, andere wie ich! Du … du hättest mich ruhig vorwarnen können, und deine Speedy Gonzales Nummer wäre auch nicht nötig gewesen!“, schimpfte ich aufgebracht.
„Ich habe dich vorgewarnt.“
Fast hätte ich gelacht.
„Das konnte man wohl kaum als Vorwarnen bezeichnen! Willst du, dass ich irgendwann einen Herzinfarkt bekomme?“
William blickte stur geradeaus, als er antwortete.
„Du schreist nie. Als wir uns das erste Mal in den Lagerhallen in Seattle getroffen haben, hast du nicht geschrien. Selbst als du in diesem Keller festgehalten wurdest, hast du keinen Mucks von dir gegeben. Und als ich dich auf meinen Armen durch die Nacht getragen habe … Jeder normale Mensch hätte geschrien, aber du bist still geblieben. Warum? Warum kannst du nicht ein Mal deiner Angst freien Lauf lassen? Es ist fast so, als mache dir das alles nichts aus, als wäre dir dein Leben vollkommen egal!“
Jetzt sah er mich direkt an, und ich wich seinem Blick aus.
„So … so ist es nicht …“, begann ich leise, verstummte dann aber.
Im Grunde genommen hatte er ja Recht. Ich hatte meinem Leben bis jetzt nie wirklich viel Bedeutung beigemessen. Ein Teil von mir war in jenem Feuer vor fünfzehn Jahren zusammen mit meiner Mutter gestorben, und der Teil der übrig geblieben war sehnte sich danach, seiner zweiten Hälfte ins Feuer zu folgen, so wie es hätte von Anfang an sein sollen. Hätte ich meiner Mutter nicht das Versprechen gegeben, auf meinen Vater auszupassen … nun, wer weiß, ob ich dann heute noch hier wäre? Alles, was ich seitdem getan hatte, hatte ich für ihn getan. Gelächelt, geatmet, gegessen … gelebt. Später hatte ich es auch für Naomi getan, die so gut zu mir gewesen war.
Ja, damals hatte ich schmerzhaft erfahren müssen, dass ich anders war, und ich war der festen Überzeugung gewesen, dass mich diese Andersartigkeit zum Tod verurteilt hatte. Viel mehr noch, lieber wollte ich den Tod, als mit dieser Andersartigkeit, dem Wissen von dieser dunklen Welt, leben zu müssen. Als in ihr leben zu müssen. Erst jetzt, viele Jahre später, hatte ich erfahren, wie anders ich wirklich war. Ich musste nicht mehr vor einer unbekannten, dunklen Welt davonlaufen, vor einer namenlosen Gefahr. Jetzt wusste ich, mit was ich es zu tun hatte. Ich traf nicht mehr Entscheidungen, weil mein Vater und Naomi es so wollten – jetzt traf ich Entscheidungen für mich. Ich lebte für mich.
„Wir sind da“, unterbrach William meine Gedanken.
Wir hatten vor einem massiven, schmiedeeisernen Tor Halt gemacht, das sogleich wie von selbst aufschwang. Als wir hindurch gefahren waren, konnte man am Ende des Weges ein schemenhaftes helles Etwas erkennen, dass sich in seiner Beschaffenheit vom Wald um uns herum abhob, aber immer noch zu sehr von Bäumen umrahmt war, als dass man es hätte als Haus ausmachen können. Die abendliche Dunkelheit trug ihr übriges dazu bei.
Wir fuhren auf das helle Etwas zu, bis sich das dichte Buschwerk um uns endlich lichtete und ein altes, im viktorianischen Stil gehaltenes Herrenhaus zum Vorschein kam. Es war dreistöckig und aus rötlichem Stein gefertigt. Weiße Holzsäulen und Fensterrahmen, die das Anwesen zierten, verliehen dem Haus eine freundliche Note, das Dach bestand aus schwarzen Ziegeln. Hier und da waren Lampions befestigt, die einen das Haus trotz der späten Stunde gut erkennen ließen. Rechts wurde es von einer riesigen Eiche gesäumt, deren gigantisches Blätterdach sogar Teile des unteren Stockwerkes überdachte, die dem Haus vorgestellt waren. Das Anwesen zwar war nicht ganz so groß, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber immer noch groß genug, um mich ein wenig einzuschüchtern. Es war so geschickt in seine Umgebung integriert, dass es aussah, als würde der gesamte Wald ringsum dazu gehören.
Unter der Eiche parkten bereits zwei Autos, ein schwarzer BMW und ein silberner Ford. William tat es ihnen gleich und stellte seinen Wagen daneben.
„Kein altes Gruselschloss, ich muss dich leider enttäuschen.“
William war bereits ausgestiegen und hielt mir die Beifahrertür auf.
„Es ist wunderschön“, gestand ich.
Kaum zu glauben dass in so einem Haus … Und da fiel mir schlagartig wieder ein, wieso wir eigentlich hier waren. Mein Herzschlag stimmte einen unnatürlich schnellen Rhythmus an, mein Hals wurde trocken und meine Beine fühlten sich an, als hätten sie einen Marathon hingelegt. William warf mir einen ermutigenden Blick zu, bevor wir Seite an Seite in Richtung Haus liefen.
Eine breite, etwas längere Treppe führte hinauf zum Eingangsbereich, der von einer überdachten Veranda dominiert wurde. Als wir die große, hölzerne Eingangstür erreicht hatten, drehte sich William noch einmal zu mir um.
„Dir wird nichts geschehen, das verspreche ich dir.“
Ich nickte nur, zu mehr war ich nicht fähig, und wir gingen hinein.
Ich weiß nicht, was ich erwartete hatte, das war es aber auf jeden Fall nicht gewesen. Wir traten in eine kleine Eingangshalle, von der aus je rechts und links einen geschwungene Treppe ins zweite Obergeschoss führte. Der Fußboden bestand, passend zu dem rötlichen Gestein der Außenfassade, aus hellem Holz, das aufwendig poliert war und den Anschein von braunem Marmor hatte. Licht spendeten zahlreiche, in der Decke eingelassene kleine Lampen, die kreisförmig um einen altmodischen Kronleuchter angeordnet waren. Direkt darunter befand sich ein runder, dunkler Holztisch, auf dem ein pompöses, buntes Blumengesteck stand, dass dem Raum eine angenehme Duftnote verlieh. Nirgends waren Spinnenweben, alte Ritterrüstungen oder vermoderte Teppiche zu finden. Hätte ich nicht gewusst, wo wir waren, hätte ich es wahrscheinlich fast einladend gefunden.
„Darf ich dir deine Jacke abnehmen?“, fragte William, der sich seine bereits über den Arm gehängt hatte.
„Ähm … gerne.“
Innerhalb eines Augenaufschlages hatte er die Sachen verstaut und war wieder an meiner Seite. Ich folgte William geradeaus am Tisch vorbei in ein mehr als großzügig geschnittenes Wohnzimmer. Sofort fielen mir die dicken, schweren, weinroten Vorhängen auf, welche die opulente Fensterfront umrahmten. Dicke, weinrote Vorhänge. Mir war, als hätte ich so welche schon einmal irgendwo gesehen ...
Draußen war durch die späte Tageszeit nicht viel vom Wald zu erkennen, und so wirkte das ebenfalls hell erleuchtete Wohnzimmer wie ein Zufluchtsort im Herzen der dichten, düsteren Baumlandschaft um uns. Aber ich hatte nicht besonders viel Zeit, einen genaueren Blick um mich zu werfen, denn vor der weißen, ledernen Sofagarnitur, die den Großteil des Inventars ausmachte, standen fünf blasse Gestalten, die uns bereits erwartet hatten. Drei mehr als erwartet, na das fing ja schon mal gut an! Ihre Macht pulsierte auf meiner Haut und brandmarkte sie unverkennbar als das, was sie waren – Vampire. Noch locker zwei Meter trennten uns von ihnen, was dem ohnehin verklemmten Klima einen zusätzlichen Dämpfer verpasste.
„Darf ich vorstellen: … “, eröffnete William das Gespräch, bevor er reihum begann, „Gabriel Reynold, mein Onkel …“
Mister Reynolds hatte leuchtend grüne Augen, dunkelblondes, kurzes Haar, einen leichten Bartansatz und einen sanftmütigen Gesichtsausdruck. Er trug eine dunkle Jeans, eine blassblaues Hemd und einen dunkelgrauen Blazer. Ich schätzte ihn so um die Mitte dreißig, vom Äußerlichen her zumindest. Der Wolf im Schafspelz?, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf. Das Alles hier wirkte viel zu einnehmend, um nicht auch einen Haken zu haben. Aber das würde ich wohl noch früh genug herausfinden.
„ … seine Frau Helen, …“
Auch ihre Züge wirkten freundlich, ihre blaugrauen Augen strahlten mich gutmütig an. Sie trug ein schlichtes, enganliegendes, cremefarbenes Kleid und darüber eine einfach gestrickte, graue Weste, die dem Outfit seine Strenge nahm. Sie musste ebenfalls um die Mitte dreißig sein. Ihre Haare waren meinen recht ähnlich, und doch ganz anders. Perfekter. Das Braun schimmerte das man meinte, es könnte einen blenden, wenn man zu lange hinsah, und keine einzige Strähne ihrer leicht gelockten Frisur saß falsch. Ich musste an meinen Mopp von Haaren denken und den Haarreif, den ich nachlässig hinein geschoben hatte. Wieso hatte ich mir bloß nicht mehr Zeit genommen, mich fertig zu machen?
„… ihre …“, er tauschte rasch einen eigenartigen Blick mit seinem Onkel aus, bevor er fortfuhr, „… Kinder Christine und Joseph, …“
Christine entsprach im Gegensatz zu ihren Eltern schon eher dem, was man unter „typisch Vampir“ verbuchen würde. Sie trug ausschließlich schwarz: ein sehr weibliches, kurzes Jackett und darunter einen abgestuften, voluminösen Rock. Von ihren langen, gelockten, dunkelbraunen Haaren hatte sie Rechts einige Strähnen mit einer überdimensionalen, blauen Rosenbrosche hochgesteckt. Das Braun ihrer Augen ging schon fast in ein Obsidian über, und obwohl sie um ein höfliches Lächeln bemüht war, sprach ihre ernste, fast hasserfüllte Mimik eine ganz andere Sprache. Sie war deutlich kleiner als die anderen und fast einen halben Kopf kleiner als ich. Altersmäßig konnte sie nicht älter als fünfzehn oder sechzehn sein.
Josef war der Größte der fünf und mehr als stämmig gebaut. Die Muskelberge, die unter seinem kurzen, weißen Shirt hervor lugten, standen im krassen Gegensatz zu dem spitzbübischen Grinsen, das jeglichen Anschein von Gefahr sofort wegwischte, und seiner braunen Sturmfrisur, deren Locken fröhlich um seinen Kopf tanzten. Er war legerer gekleidet als seine Verwandten, trug über seinem Shirt lässig ein offenes ärmelloses, schwarzes Jackett und eine gewöhnliche Jeans. Dem Anschein nach war er in einem ähnlichen Alter wie Willliam, um die Mitte zwanzig. Wäre er über den Campus spaziert, wäre er unter all den Studenten kein bisschen aufgefallen – naja, fast. Jeder aus dieser Familie hätte locker als Topmodel durchgehen können. Keine einzige Unreinheit zeichnete sich auf ihren makellosen Gesichtern ab, und ihre Körper waren die reine Sünde.
„ … und Eric, ein Bekannter der Familie.“
Der junge Mann hielt sich etwas abseits von den Reynolds. Seine Kleidung bestand aus einem schwarzen Rollkragenpulli und einer vornehmen Stoffhose. Seine Haare waren rotbraun und extrem kurz geschnitten, was ihm einen militärischen Touch verlieh. Er machte einen eher reservierten Eindruck, doch in seinen grünschimmernden Augen leuchtete Neugier auf.
„Onkel, Tante, Eric – das ist Emma“, stellte er am Ende auch mich vor.
„Ähm … es … es freut mich, sie alle kennen zu lernen“, sagte ich, wie es die guten Manieren verlangten. Bitte springt mich nicht an, bitte springt mich nicht an, bitte …
„Es ist uns eine Ehre, sie in unserem Heim willkommen heißen zu dürfen“, begrüßte mich Williams Onkel.
Langsam, als befürchte er, ich könnte zurückschrecken, überbrückte er gemäßigten Schrittes den Abstand zwischen uns und hielt mir vorsichtig eine Hand hin. Ich ergriff sie ebenso zaghaft. Seine Haut war kalt, aber nicht unangenehm, und sein Händedruck sanfter als erwartet. Es war ein eigenartiges Gefühl, da William Körperkontakt sonst immer vermied.
Die Spannung im Raum löste sich ein wenig und ich spürte, dass mir von keinem der Fünf Gefahr drohte – zumindest nicht im Moment.
„Aber warum denn so schrecklich formell?“, knuffte Helen ihren Mann liebevoll, nachdem sie an seine Seite getreten war.
„Nenn mich Helen. Schön, dass du gekommen bist.“
Sie hielt mir ebenfalls eine Hand hin.
„Wir wollen das arme Mädchen ja nicht gleich so überrumpeln, oder?“, neckte Gabriel seine Frau.
Überrumpelt war ich allerdings, aber aus einem ganz anderen Grund. Wo blieben die Beschimpfungen? Wo blieben die Drohungen? Wo blieb das Sie ist eine Jägerin und wir wollen nichts mit ihr zu tun haben?
„Wenn ihr mich dann bitte entschuldigen wollt“, kam es gepresst von Christine, die gleich daraufhin wie der Blitz davon rauschte.
„Natürlich“, erwiderte ihr Vater leise, während er traurig in die Richtung sah, in die seine Tochter verschwunden war. Josef machte Anstalten, ihr zu folgen, aber Helen schüttelte nur betrübt den Kopf und bat ihren Sohn durch einen Wink mit der Hand zu bleiben.
„Auch ich möchte mich empfehlen“, kam es dann von Eric. Er nickte mir noch einmal zu, bevor er im Gegensatz zu Christine in normalem Schritttempo den Rückzug antrat.
„Bitte verzeih. Unsere Tochter meint es nicht böse. Es ist lange her, seit sie das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen hat. Gib ihr ein wenig Zeit“, bat Gabriel.
„Oh … Okay“, versprach ich betreten.
„Setzen wir uns doch, dann können wir in Ruhe reden“, schlug Helen vor und nahm auf der Couch in ihrem Rücken Platz, ihren Mann hinter sich her ziehend. Ich setzte mich neben William auf ein gemütliches, breites Sofa gegenüber von den Beiden. Josef ließ sich auf einem nahegelegenen Sessel nieder.
„Greif ruhig zu!“, ermunterte mich Helen. Sie deutete auf die große Glasschale vor mir, die auf einem antiken Tisch stand, der die Mitte der Sitzgarnitur bildete. Darin befanden sich allerlei Kekse und Gebäck, zweifelsohne ausschließlich für mich.
„Oh, wir haben dir ja noch gar nichts zu trinken angeboten. Möchtest du vielleicht einen Saft oder Limonade?“, erkundigte sie sich gastfreundlich.
„Ein … ein Saft wäre nett. Vielen Dank.“
Williams Tante erhob sich augenblicklich, zwinkerte mir strahlend zu und verschwand aus dem Wohnzimmer, nur um Sekunden später mit einem Glas und einer großen Karaffe zurückzukehren.
„Ihr … ihr Haus ist wirklich unglaublich schön“, meinte ich, während Helen mir einschenkte. Was für ein dämlicher nullachtfünfzehn Spruch, schalt ich mich gleich darauf.
„Freut mich, dass es dir gefällt. Und bitte sag Gabriel zu mir.“
„Und wehe du siezt mich! Ich bin zwar alt, aber das muss ja keiner wissen. Schlicht und einfach Josef.“
Jetzt hielt mir auch Josef lachend eine Hand hin, und ich ergriff sie ohne groß zu überlegen.
„Schlicht und einfach Emma“, erwiderte ich und konnte noch immer kaum fassen, wie sich dieses Gespräch entwickelte. Die schienen wirklich nichts gegen mich zu haben, was mich seltsamerweise nervöser machte, als wenn sie mich nicht hätten leiden können.
„Wer hätte gedacht, dass ich mal auf du und du mit einer Jägerin sein würde? Das Leben ist schon eine verdrehte Sache.“
„Stimmt. Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit nur noch Knoten zu sehen“, gestand ich. Josef hatte so eine einnehmende, direkte, nette Art an sich, dass ich gar nicht anders konnte, als etwas zu erwidern. Der gutmütige Riese.
„Tut mir Leid, das wir einer dieser Knoten sind“, entschuldigte sich Josef breit grinsend.
„Ihr seid bis jetzt der netteste Knoten, der mir untergekommen ist“, erwiderte ich und lächelte zurück.
Wir mussten beide über diese skurrile Situation lachen, und auch Gabriel und Helen schienen sich zu freuen, dass ich ein wenig aufgetaut war. Nur William hatte seinen besorgten Gesichtsausdruck beibehalten und war still geblieben.
Da fiel mir ein, dass es noch einen anderen netten Knoten in meinem Leben gab – Taylor. Ich war so damit beschäftigt gewesen, mir Sorgen über dieses Treffen zu machen, dass ich darüber hinaus völlig vergessen hatte, dass Taylor gestern nicht zur Anhörung erschienen war. Auch ihre Kurse hatte sie heute nicht besucht. Seit meiner Entscheidung hatte ich also nicht mehr mit ihr gesprochen. Was sie wohl dazu sagen würde? Ob es ihr gut ging? Den Schlimmstfall wollte ich mir erst gar nicht ausmalen…
„Kannst du deine Fähigkeiten gezielt einsetzten?“, wollte Josef wissen und lenkte meine Gedanken wieder ins Hier und Jetzt. Um das Thema kamen wir wohl nicht herum, schließlich waren meine Kräfte Schuld, dass ich nun hier war. Trotzdem war es mir unangenehm, so offen über „meine Kräfte“ zu sprechen. Das machte sie nur umso realer, und das machte mir Angst.
„Ähm, n-nein. Tue ich gerade etwas?“, fragte ich besorgt. Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht, wie es sich wohl für einen Vampir anfühlen musste, wenn er in meiner Nähe war.
„Ich glaube schon. Es ist merkwürdig. Ich spüre, dass du zum Teil ein Mensch bist, höre das Blut durch deine Adern fließen, aber das Verlangen danach … Es ist weg“, gab er frei heraus zu.
„Ich weiß nicht, wie ich es mache. Es passiert einfach. Ich weiß nicht einmal, was genau ich mache“, gestand ich.
„Es scheint als hättest du die Fähigkeit, Vampireigenschaften zu unterdrücken oder gar verschwinden zu lassen“, überlegte Gabriel. „Ich habe noch nie von einem Jäger mit ähnlichen Fähigkeiten gehört.“
„Du bist praktisch das Pend…oh…“ Helen wurde von einem Handyklingeln unterbrochen, ihr eigenes wie sich herausstellte. Sie zog ein I-Phone aus ihrer grauen Weste und warf mit einem entschuldigenden Blick um sich, bevor sie den Anruf entgegennahm. „Reynolds, was kann ich für sie tun? ... Ah, hey Susanne … Mhm … verstehe, ich bin gleich da!“
Nachdem sie das Handy wieder zurückgesteckt hatte, erhob sie sich.
„Ich muss weg, ein Notfall im Krankenhaus. Bitte entschuldigt. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder, Emma. Es war schön, dich kennen zu lernen.“
Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und blinzelte mir noch ein letztes Mal freundlich zu, bevor sie davonhuschte. Moment mal, hatte sie gerade Krankenhaus gesagt?
„Ich dachte, Vampire könnten nicht krank werden …“, sprach ich aus, was ich dachte.
Gabriel sah William mit unverhohlenem Unglauben an, wartete anscheinend auf eine Art stumme Erlaubnis, bis William schließlich resignierend die Schultern zuckte. Ich wartete gespannt.
„Das ist richtig“, antwortete Gabriel vorsichtig, als habe er Angst das auszusprechen, was ihm eigentlich auf der Zunge brannte. Williams Augen funkelten bedrohlich, während er seinen Onkel beobachtete, er sagte jedoch nichts.
„Meine Frau sprach vom Virginia Mason Medical Center hier in Seattle. Sie ist die Oberschwester dort. Verzeih, ich dachte William hätte das dir gegenüber erwähnt“, erklärte er nach einem weiteren Blickduell mit William, dass er offensichtlich gewonnen hatte.
„Das muss er wohl vergessen haben“, presste ich so ironisch heraus, wie ich nur konnte, und warf William einen vernichtenden Blick zu.
„Dir wird nichts geschehen, das verspreche ich dir!“, ahmte ich ihn übertrieben theatralisch nach. „Ja, weil deine ach so gefährliche Familie nicht mal halb so gefährlich ist, wie du es mir weiß machen wolltest. Ein schöner Freund bist du, du …“, mir fiel nicht annähernd ein Wort ein, das meiner momentanen Wut gebührend Ausdruck verliehen hätte, also griff ich in meiner Verzweiflung auf rohe Gewalt zurück. Mit aller Kraft, die ich aufwänden konnte, boxte ich ihm mehrmals gegen die Schulter. Das hatte zwar auf ihn vermutlich dieselbe Wirkung, wie ein Lufthauch – und au, verdammt waren das harte Schultern – aber das kümmerte mich nicht. „… gemeiner Kerl. Ich meine ein Krankenhaus? Ernsthaft? Da wimmelt es doch nur so von Blut! Keine Selbstkontrolle, das ich nicht lache! Argh… Ich könnte dich … du …“
William brachte mich zum Verstummen, indem er mir seinen Zeigefinger auf die Lippen legte. Meine Überraschung über diese Geste hielt jedoch nicht lange an. Ich plusterte die Backen auf und schnaubte durch die Nase aus, wie ein aufgebrachtes Kind. Nur mit Mühe widerstand ich dem Wunsch, ihm in den Finger zu beißen – nicht zuletzt aus Angst, einen Zahn zu verlieren.
„Auch wenn du das im Moment vielleicht nicht glauben möchtest, hatte ich triftige Gründe für mein Handeln. Und was die Familie meines Onkels angeht – man sollte niemals vorschnell urteilen. Nur weil sie nicht deinen Standards von Gefahr entsprechen, heißt das noch lange nichts.“ Er klang ruhig, aber in seiner Stimme schwang deutlicher Tadel mit.
„Es war jedoch niemals meine Absicht, deine Gefühle zu verletzen. Trotzdem habe ich es getan, und das tut mir leid“, fügte er aufrichtig hinzu.
„Nenn mir diese Gründe und ich denke darüber nach, nochmal ein Auge zuzudrücken“, lenkte ich kleinlaut ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Williams eisblaue Augen bohrten sich in meine.
„Mein Onkel und meine Tante gehören zu einer speziellen Art von Vampiren, sogenannten Hominiden. Ich befürchtete, du würdest bestärkt durch diese eine gute Erfahrung nachlässiger im Umgang mit unserer Art werden. Bedingt durch deine Kräfte bist du das ohnehin bereits. Aber das könnte der letzte Fehler sein, den du in deinem Leben begehst. Freunde sollten einander beschützen, und das habe ich getan“, griff er auf meine vorherige Schimpftirade zurück.
Er schien es wirklich gut zu meinen, auch wenn ich seine ständige Rumbeschützerei eindeutig für übertrieben hielt, aber der gute Wille zählte ja bekanntlich auch, zumindest ein bisschen.
„Auge zugedrückt“, befand ich kurz angebunden. „Was sind Hominiden?“
William überließ es seinem Onkel zu antworten.
„Unsere Ernährungsweise unterscheidet sich von der unserer Artgenossen. Dadurch können wir uns unter Menschen aufhalten, ohne eine ständige Gefahr für sie zu sein, da wir nicht von ihrem Blut angezogen werden.“
„Wenn ihr euch nicht von Blut ernährt … von was ernährt ihr euch dann?“
„Das ist bei jedem unterschiedlich. Helen ernährt sich zwar von Blut, aber ausschließlich von verunreinigtem, krankem Blut. Während sie sich von einem Patienten nährt, reinigt sie gleichzeitig sein Blut, wodurch sich ihr Verlangen selbstständig reguliert. Ihre Reißzähne produzieren ein Sekret, dass sie über den Biss in ihr Opfer einschleust, was dann dazu führt, dass das Blut in seinen ursprünglichen, gesunden Zustand versetzt wird. Das Serum hält nicht für immer, aber der Patient fühlt sich kurzzeitig besser und Helen kann sich nähren, wann immer sie will.“
„Verstehe, deshalb arbeitet sie in einem Krankenhaus“, erwiderte ich fasziniert, obwohl mir mulmig wurde bei dem Gedanken, dass ein Vampir einfach so in einem öffentlichen Krankenhaus rumspazieren konnte und Patienten aussaugen. Ich hatte mich mit der Existenz einer dunklen Welt abgefunden, mit Vampiren und Jägern, aber erst jetzt wurde mir bewusst, dass diese Welt womöglich einen viel größeren Einfluss auf die „gewöhnliche“ Welt hat, als bisher angenommen
„Was ist mit ihnen?“
„Dir“, korrigierte mich Gabriel.
„Ähm … ja, dir“, lenkte ich ein und freute mich im Geheimen darüber, dass er mir diese Vertrautheit gestattete, auch wenn es mir unhöflich erschien.
„Das Gleiche wie du, möchte ich meinen. Aber es genügt vollauf, wenn ich nur jeden zweiten Tag etwas zu mir nehme. Mein Körper nutzt seine Ressourcen weitaus wirkungsvoller, als es bei Sterblichen üblich ist“, entgegnete er.
Ein Vampir, der das Selbe aß, wie ein Mensch. Ich konnte nicht fassen, was ich gerade erfahren hatte, und noch viel weniger, dass William nie ein Sterbenswörtchen darüber verloren hatte.
„Also lebt ihr ganz normal unter Menschen?“
Gabriel schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nur unsere Arbeit verbindet uns mit der Welt der Sterblichen. Es ist beinahe unmöglich, sich aus unserer Welt vollkommen zurückzuziehen. Wir müssen darauf achten, dass Nomaden – Vampire ohne festen Wohnsitz, die in unser Revier kommen, keinen Verdacht erregen. Im Vergleich zu euch Menschen ist unsere Anzahl geradezu verschwindend gering, und das ist auch gut so. Mehrere Vampire in einer Stadt würden auffallen.“ Er machte eine kurze Pause, während sich ein trauriger Glanz in seine Augen stahl. Mir war nur zu bewusst, was er mit „auffallen“ meinte – Tote, viele Tote.
„Außerdem müssen wir auf unsere Kinder Rücksicht nehmen. Josef und Christine sind gewöhnliche Vampire. Für sie ist ein Leben unter Menschen undenkbar“, erklärte er fest, warf seiner Frau jedoch einen entschuldigenden Seitenblick zu. Auf meine verdutzte Mimik fügte er hinzu: „Die Beiden sind nicht unsere leiblichen Kinder, auch wenn ich sie wie solche empfinde. Helen kann keine Kinder gebären.“
„Oh … Das … das tut mir leid.“
„Das muss es nicht. Christine und Josef sind alles, was wir uns immer gewünscht haben. Wir haben uns hier unseren eigene kleine Welt geschaffen, aber der Fluch, mit dem wir leben müssen, währt ewig, und es vergeht kein Tag, an dem wir das nicht zu spüren bekommen. Wir vielleicht noch mehr als andere. Wir können keine Menschen sein, und unserer eigene Art sind wir fremd“, erklärte er mit einem wankelmütigen Lächeln.
„Die sind bestimmt nur neidisch auf euch …“, überlegte ich laut. Gabriels Lächeln verblasste.
„Sie verachten uns. In ihren Augen sind Menschen niedere Lebewesen und jeder, der sich mit ihnen einlässt, ist nicht viel besser als sie“, eröffnete er mir. „Seit jeher sind Menschen und Vampire Erzfeinde, so will es unsere Geschichte. Es ist unglückliche Ironie, dass der einzige Weg, unseren Fluch zu brechen, in der Überwindung eben jenes Konfliktes liegt.“
„Was ist das für ein Flu…?“
Ich spürte eine plötzliche Unruhe im Raum, die von Josef ausging.
Sorge.
Als ich mich unterbrach und ihn fragend ansah, erhob er sich.
„Bitte entschuldigt mich. Ich werde besser nach Christine sehen. Bis bald, Emma. Du kommst doch wieder, oder?“
Er versuchte beiläufig zu klingen, doch sein Kummer war ihm deutlich anzumerken. William setzte schon zu einer Antwort an, als ich ihm zuvorkam.
„Wenn ich darf gerne.“
William grummelte etwas Unverständliches, aber ich beachtete ihn nicht.
„Falls ich Christine Unbehagen bereitet habe, tut es mir Leid. Sagst du ihr das bitte?“
„Ich werde es ihr ausrichten.“
Kaum hatte er fertig gesprochen, jagte er aus dem Zimmer, gerade noch so schnell, dass ich ihm mit den Augen folgen konnte.
„Dann werde ich besser auch das Feld räumen, sonst habt ihr beiden ja gar nichts mehr von eurem Abend. William zeigt dir sicher gerne sein Zimmer, dort könnt ihr in Ruhe reden. Es war mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen, Emma. Wenn du uns wieder einmal besuchen möchtest, bist du jeder Zeit herzlich willkommen.“
Ich bedankte mich für seine Gastfreundschaft, nahm das Angebot dankend an und verabschiedete mich ebenfalls von ihm. Dann ließ er William und mich allein.
Peinlich berührt saßen wir nun da und schwiegen um die Wette. Das war`s. Keine Hindernisse mehr. Keine Geheimnisse. Seine Familie wusste von mir, meine … naja, “Familie“ wusste von ihm. Wir konnten einfach Freunde sein. Warum verhielt sich William dann, als würde uns das Schlimmste erst noch bevorstehen? An seine übliche Sauertopfmiene war ich ja gewöhnt, aber das hier … Da war noch etwas. Etwas, das mir ganz und gar nicht koscher war.
Ich nahm mir einen Keks und versuchte, den Gedanken zu
verdrängen. Vermutlich machte ich aus einer Mücke einen Elefanten. Und ich hielt William für den Pessimisten von uns Beiden!
„Also … Möchtest du mein Zimmer sehen?“
William war der Erste, der seine Sprache wieder fand. Die Frage klang zurückgenommen. War er etwa nervös?
„G-gerne.“
Wieder verlor niemand ein Wort, während ich ihm in den zweiten Stock folgte, wo das Zimmer lag. Obwohl, Gemächer traf es eher. Vom Flur aus traten wir in ein geräumiges Arbeitszimmer, vor dessen pompöser Fensterfront, in die farbige Ornamente eingearbeitet waren, ein robuster, aus dunklem Holz gefertigter Schreibtisch thronte. Der schlanke Computerbildschirm, der darauf stand, wollte so gar nicht in das Bild der sonst so antik gehaltenen Einrichtung mit Lehnstühlen, Kerzenständern und dergleichen passen. An beiden Seitenwänden grenzte durch eine Flügeltür je ein weiterer Raum an, links das Schlafzimmer, rechts eine Bibliothek, wie William mir erklärte. Beide waren nur durch das Arbeitszimmer zu erreichen.
Ich lief zum Schreibtisch und ließ meine Hand über das schwere Holz gleiten. An den Kanten waren feine Schnitzereien eingearbeitet. Mit meinem Zeigefinger folgte ich den vielen verschnörkelten Kreisen und Mustern, die aus einer alten, mystischen Welt zu stammen schienen.
„Sind das Buchstaben?“
„Ja.“
„Was bedeuten sie?“
Ich verharrte kurz auf einem besonders kunstvollen Zeichen,
dass mir merkwürdig vertraut vorkam.
„Per aspera ad astra. Durch das Raue zu den Sternen.“
„Kannst du Latein?“, wollte ich von ihm wissen.
„Fließend.“
„Sprichst du viele Sprachen?“
„Einige.“
Ich ließ vom Holz ab und wandte mich in Richtung William, der vor der Tür zur Bibliothek stand.
„Kannst du mir auch mal ausführlicher antworten, als nur mit einem kläglichen Wörtchen? Das machst du immer, wenn wir miteinander reden! Ich fühl mich wie eine Tratschtante, die dich die ganze Zeit vollschwallt.“
Als Erwiderung lächelte er nur schwach.
„Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“
Während ich demonstrativ stehen blieb, einen Laut der Entrüstung ausstieß und mich darüber aufregte, dass er mich mal wieder einfach so ohne weiteres übergangen hatte, war William bereits in das Nachbarzimmer verschwunden.
„Hey…!“, begann ich und wollte ihn gerade zur Rede stellen, als mich der Anblick der Bibliothek verstummen ließ.
Die einzige Lichtquelle war ein offener Kamin, dessen Feuer das Zimmer in angenehme Wärme tauchte. Davor, in der Mitte des Raumes, standen ein einladendes Sofa mit weinrotem Polster und ein Lesesessel mit Schemel und einem kleinen Beistelltischchen, der wie dafür geschaffen war, stundenlang darin zu schmökern. Die Wände, außer der Fensterfront, die von den gleichen weinroten Vorhängen umrahmt war, wie die
im Wohnzimmer, bestanden lediglich aus überfüllten Bücherregalen, die sich bis an die Decke zogen. Das Braun der Regale deckte sich mit dem Braun des Holzfußbodens. Es wurde lediglich durch ein etwas dunkleres Braun unterbrochen, das zu einem großen, flauschigen Teppich gehörte, der unter die Couchgarnitur gelegt worden war, was sie nur umso einladender machte.
Andächtig schritt ich an den übermäßig großen Regalen entlang. Die meisten Bücher waren ihren Einbänden zu urteilen sehr alt, aber es schien, als mache ihnen das nicht besonders zu schaffen. Sie wirkten weder porös noch abgenutzt, nur teilweise ein wenig verstaubt.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, bis er schließlich an dem Lesesessel und dem Beistelltisch hängen blieb.
Ein Buch, das auf den Boden fällt. Eine antike Bibliothek. Dicke, weinrote Vorhänge. Eine Öllampe auf einem Tisch. Eine robuste, aufwändig verzierte Flügeltür aus Holz.
Ich zwinkerte ein wenig verdutzt. Die Öllampe stand nicht mehr da, aber der Tisch war eindeutig derselbe, Zweifel ausgeschlossen. Die Vorhänge, der Boden, die Tür … Ich erinnerte mich wieder. Ich hatte die Bibliothek schon einmal in einer Vision gesehen. Meiner ersten Vision von William.
„Alles in Ordnung?“
Gedankenversunken wie ich war, schrak ich unwillkürlich zusammen. William war einige Schritte hinter mir aufgetaucht. Ich nickte.
„Es ist … überwältigend.“ Mit einem unbestimmten Schwenk meiner Arme schloss ich das gesamte Zimmer ein. „Das alles. Hast du die alle gelesen?“
„Die meisten.“
Da fiel mir der Koloss von Buch auf, den er in seinen Händen hielt. Fragend schaute ich auf den großen, kunstvoll gearbeiteten, braunen Einband, auf dem in goldenen Lettern der Schriftzug Verbum Dei prangte.
„Die Geschichte der Vampire. Es erzählt, wie wir zu dem wurden, was wir sind. Von unserem Fluch.“
Sobald ich auf dem Sofa Platz genommen hatte, reichte William mir das Monument von einem Buch und stellte sich anschließend vor den Kamin, um nachdenklich in die tanzenden Flammen zu starren.
Ich hatte den Wälzer auf meine Schenkel gebettet und blätterte mich neugierig durch die großen, stabilen Seiten. Die Schrift glich den Symbolen auf dem Schreibtisch. Auf Papier sahen sie sogar noch ästhetischer aus. Was aber mein Auge fesselte, waren die zahllosen schwarz weiß Bilder, die oft mehr Fläche einnahmen, als die geschriebenen Passagen. Auf vielen waren monsterähnliche Wesen mit Flügeln abgebildet, Kriege und Schlachten, in denen Menschen gegen sie gekämpft hatten, und andere Kreaturen wie ein Minotaurus, über die ich lieber nichts wissen wollte.
„Schlag die erste Seite auf“, befahl William.
Ich tat wie geheißen. Die Illustration, die mir daraufhin entgegen prangte, war das komplette Gegenteil der anderen, die später folgen würden. Gottähnliche, traumhaft wirkende Gestalten tummelten sich in einer friedlichen Welt, die aussah wie ein Versuch, den Himmel selbst einzufangen.
„Der Ort, an dem alles begann. Das Paradies“, bemerkte William ohne mich anzusehen, sein Blick weiterhin ins Feuer gerichtet. Er stand vollkommen regungslos da, lediglich das Lichtspiel der Flammen verlieh seinen Zügen Lebendigkeit.
Dann begann er, zu erzählen.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Doch ein Teil jenes Lichtes verharrte an seines Herren Seite. Der Herr befahl dem Lichte, an seinen vorher bestimmten Platze zu ziehen, doch das Licht antwortete: Mein Platz ist an deiner Seite, Herr. Ich möchte dein Diener sein und über deine Werke wachen. Und Gott der Herr freute sich darüber und sprach: So sei es. Er nannte das Licht Luzifer, und so ward der erste Engel geboren. Aus Luzifers Licht schuf Gott weitere Lichter, und sie alle gelobten ihrem Herrn die Treue und halfen ihrem Bruder, über die Werke des Herrn zu wachen.“
William hielt kurz inne, um sich zu sammeln, dann fuhr er fort. Ich folgte ihm, während ich mich weiter durch die passenden Bilder blätterte, die das Erzählte untermalten.
„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele. Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden, seiner eigenen himmlischen Stätte nah, und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Luzifer fragte den Herrn: Gott, wieso bringst du dieses Geschöpf an solch einen heiligen Ort? Hast du nicht die Erde für sie bereitet? Und Gott sprach: Sie sind nicht weniger deine Brüder und Schwestern als Raphael und Cupra. Ich gab ihnen meinen Odem, euch gab ich mein Licht. Ihr alle seid meine Kinder, und ich liebe einen wie den anderen. Bei diesen Worten schmerzte es Luzifer, der zuvor nie Schmerz gekannt, und so ward der Neid geboren.
In Gestalt einer Schlange stahl sich der Gekränkte zu den verhassten Menschen und überredete diese geistreichen Wortes, des Herrn Gebot zu übertreten. Und er schwang sich sogleich auf an die Seite seines Herrn, über die Menschen zu richten, deren Unheil er selbst heraufbeschworen, und war frohen Mutes, als er Zeuge ihrer Verbannung aus dem himmlischen Paradies ward. Doch Gott vermochte seine menschlichen Kinder nicht aus seinem Herzen zu bannen. Stets blickte der Herr auf die Erde hinab um seine Kinder vor den Torheiten zu bewahren, welche über der menschlichen Seele liegen gleich einer zweiten Haut, denn er hat die Menschen zu Herren seiner göttlichen Werke auf Erden gemacht, um die er seither fürchtet, gleich wie um das Wohl seiner menschlichen Kinder.
Wahrlich, Gott machte die Menschen zu Herren über sich selbst, doch vergaßen sie gar bald wer der Herr war, der sie einst geschaffen, geblendet von Hochmut und Stolz. Die Menschenkinder frönten frei ihrer lasterhaften Herzen Sehnsüchte ohne zu achten des Herren Gebot, dass sie schon einmal übertraten. Und so wuchs das giftige Geschwür des Neides in Luzifer, das bereits früh gesät worden war, und brachte das Licht Gottes nach und nach zum erlischen. Er, der Schönste und Größte unter den Himmelswesen, der sein Dasein willig der Erfüllung seiner auferlegten Pflichten geopfert, der seines Herrn Streben stets treu gefolgt war, der des Herrn Gebote immerzu geachtet hatte, der niemanden liebte außer Gott den Herrn, musste nun mit ansehen, wie der Herr seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit den Menschen schenkte. Den Menschen, denen nichts heilig war, die Gottes Gebote mit Füßen traten, die sich lieben durften, die ein eigenes Leben führen durften und sich doch Gottes Liebe gewiss sein konnten.
So schaute Luzifer Jahr um Jahr, Krieg um Krieg voll Abscheu auf die Menschen herab, sah Mord, Sklaverei, Frauenschändung, grausame Tyrannen, die ihr Volk unterdrückten und doch behaupteten, von Gottes Gnaden ihres Amtes zu wallten. Und so geschah es, dass sich der Neid Luzifers schließlich in Hass wandelte.
Luzifer suchte sich Verbündete unter seinen Brüdern und Schwestern, um dem Herrn entgegenzutreten, auf das er das Menschengeschlecht nicht nur aus dem Paradies, sondern auch aus seinem Herzen verbannen möge. Und der Tag kam und Luzifer betrat mit seinen Gleichgesinnten die heiligen Hallen des Herrn. Und der Herr hieß seine Kinder willkommen und sprach: Was vermag eure Herzen zu erschüttern, dass ihr die heiligen Hallen eures Herrn betreten müsst? Ich sehe schon lange, wie euer Licht schwindet, und ich sehe es mit großer Trauer und Furcht. Was vermag eure Seelen zu erschüttern, dass ihr euch von eurem Herrn abwenden wollt? Da antwortete Luzifer: Die Menschen sind es, mein Herr, die unsere Herzen und unsere Seelen zu erschüttern vermögen. Siehst du nicht, wie sie den Erdenplanet, den du dem Paradiese gleich geschaffen, in den Untergang führen? Siehst du nicht, wie sie sich selbst den Untergang bereiten, deinen Gesetzen trotzen, wann immer sie es vermögen? Kehre jenen unreinen Wesen den Rücken zu und wende dich deinen wahren Kindern, deinen treuen Kindern zu! Die Menschen sind deiner Liebe nicht wert!
Der Herr erhob sich von seinem goldenen Thron und antwortete: Ich sehe die Nacht, denn ich habe sie selbst geschaffen, so wie ich den Tag schuf. Wende deinen Blick ab vom Schatten, mein Sohn, ehe es zu spät ist. Die Menschen sind nicht so schlecht, wie du denkst. Zügle deinen Hochmut, mein Kind, und lass deine Seele wieder strahlen im Lichte deines Herrn, aus dem du geboren wurdest.
Doch Luzifer, dessen Hass gleich eines hässlichen Parasiten von ihm zehrte und seiner Seele keine Ruhe lassen wollte, widersprach dem Herrn: Auf Erden wurde das Licht schon vor vielen Jahren vom Schatten der Menschen verschlungen. Sie sind es, derer du dir sorgen machen solltest, mein Herr. Ihren Herzen wohnt die Finsternis inne. Wie vermag ich dort noch Hoffnung zu finden, wo nur Dunkelheit herrscht? Die Menschen haben euch geblendet, mein Herr, dass ihr glaubt des Tages zu schauen, wo doch der Nacht unseliges Antlitz euch entgegen scheint! Befreit euch von ihrem bösen Zauber, mein Herr, und überlasst sie ihrem Schicksal! Sie sind es nicht wert, sich länger eure Kinder zu nennen!
Nun war auch der Zorn des Herrn geweckt, der zu seinem Kinde sprach: Wie kannst du es wagen, so mit deinem Herrn zu sprechen? Hab ich dir und deinen Brüdern und Schwestern nicht ein Heim gleich das eines Königs bereitet? Hab ich euch nicht stets vor Unglück bewahrt? Hab ich euch nicht ein ewiges Leben in Glück geschenkt? Doch deine verwöhnte Seele vermag darin keinen Frieden zu finden. Du willst sie, deren Los ohnehin ärmer ist als das deine, noch gänzlich zu Boden treten, auf das sie sich nie über dich erheben mögen. Das Menschengeschlecht ist bereits auf die Erde gebannt, doch du willst sie auch noch aus meinem Herzen bannen, auf das es dir allein gehöre. Sage mir, mein Sohn, habe ich dich nicht mit mehr Gaben ausgestattet, als jeden anderen? Bist du nicht glücklich bei mir? Wahrlich, du warst einst der schönste und tugendhafteste unter dem Engelsgeschlecht, doch Neid hat deine Seele vergiftet. Es bestürzt mich, dass ich erst jetzt zu sehen wage, was ich schon lange hätte sehen müssen. Du bist keineswegs besser als die Menschen, deren frevelhaften Charakter du stets zu rügen suchst, bist du doch selbst ein Frevler!
Daraufhin wand sich Luzifer erzürnt und gedemütigt seinen Geschwistern zu und sprach: Seht, meine Brüder und Schwestern, unser Gott hat uns verlassen! Er hatte die Wahl, und er hat die Menschen erwählt. Über uns, die ihm stets treu ergeben waren, hat er die Menschen erwählt. Mich, seinen einst geliebten Sohn, schmäht er gleich eines Verbrechers, wo doch die wahren Verbrecher ungehindert auf Erden weilen dürfen. Ihr alle seht das Unglück, welches die Menschenkinder selbstverschuldet über sich bringen, ihr seht es schon seit vielen Jahrhunderten. Allen Warnungen zum trotze hielten sie es nicht für nötig, sich zu ändern, im Gegenteil: sie trieben ihre Ausschweifungen immer weiter. Doch anstatt sie ihrer angemessenen Strafe zukommen zu lassen, gewährt man ihnen eine Gnadenfrist nach der anderen, und wir sind es am Ende, die das Unheil, dass diese Geschöpfe angerichtet haben, wieder zu richten haben. Ich frage euch, ist das gerecht? Wollt ihr länger als Sklaven dieser niederen Kreaturen leben, die unserer heiligen Gaben nicht teilhaft sind? Wollt ihr länger mit ansehen, wie sie die Erde, die man ihnen schenkte, zu Grunde richten? Wollt ihr länger unter einem Gott leben, der ihnen mehr Liebe schenkt als euch? Ich sage nein! Macht mich zu eurem neuen Gott! Lasst uns das Paradies vollkommen machen, wie es schon immer hätte sein sollen, und die lästige Plage der Menschheit endgültig von Erden tilgen, auf das wir nicht mehr gezwungen seien, ihre Fehler zu richten! Lasst uns ein neues, ein besseres Himmelsreich schaffen, das uns allein gehört! Lasst mich euer neuer Herr sein!
Da rief einer seiner Brüder: Ja, du sollst unser neuer Herr sein! Ein Anderer rief: Das ist Gotteslästerei! Und bald erhoben sich immer mehr Stimmen, gute wie schlechte, und das Himmelsgeschlecht ward nicht länger geeint. Jene, die ihrem Herrn die Treue hielten, standen schließlich jenen, die ihrem Bruder die Treue hielten, gegenüber, gleich zwei menschlichen Armeen vor einem Kriege. Und es sollte Krieg geben, der Schlimmste, den die Welt je zu sehen gedachte.
Der Herr hatte schweigend betrachtet, wie jene zwei Fronten sich bildeten. Im Angesicht dessen vergoss er drei einsame Tränen, der verlorenen Hoffnung, der verlorenen Liebe und der verlorenen Treue wegen, ehe er seine Stimme ob die aller erhob und sprach: Du willst das Höchste, mein Sohn, doch dafür sollst du tief fallen. Ich verbanne dich aus dem Paradies! Auf Erden sollst du nun wandeln, gleich den Menschen, denen du dich so sehr grämst. Überwinde deinen Hass, lebe in Freundschaft mit deinen menschlichen Brüdern und Schwestern, so wird das Reich deines Herrn dir offen stehen wie zuvor.
Und so geschah es, dass sich der Himmel auftat, und Luzifer hinab fiel in der Erden Schoß.“
William hörte auf zu zitieren und schwieg erneut. Mir wurde erst nach einigen Minuten wirklich bewusst, dass es ruhig im Raum geworden war. Nur das stetige Knistern des Feuers schwelte im Hintergrund. Er hatte so eindringlich erzählt, dass es mir vorkam, als sei ich dabei gewesen, an jenem Ort im Himmel. Es dauerte seine Zeit, bis ich mit meinen Gedanken wieder in der Bibliothek angelangt war.
„Was ist passiert, nachdem Luzifer auf die Erde verbannt wurde?“
„Er und all jene, die gegen Gott rebelliert hatten, wurden in einen menschlichen Körper gebannt und bekamen ein menschliches Leben. Sie waren nun wohlhabende Bürger, die sich von den Menschen nur durch ihre himmlischen Kräfte unterschieden. Gott hoffte, wenn er ihnen einen guten Start in ihr neues Leben ermöglichen würde, fiele es den Gefallenen leichter, sich einzugewöhnen und die Menschen zu akzeptieren. Aber Luzifer, gedemütigt und geschlagen, sah die Menschen für sein Unglück verantwortlich, und es lag nicht in seiner Natur jenen nachzugeben, die seiner Meinung nach unter ihm standen. Die Gefallenen, die nun erstmals ohne die Führung Gottes ihr Leben selbst bestimmen konnten, wussten mit dieser Verantwortung nichts anzufangen, und so ernannten sie ohne Zögern Luzifer zu ihrem neuen Herrn. Da es für sie ebenfalls neu war, Gefühle in menschlichem Ausmaß zu empfinden, waren sie verwirrt, und so hielten sie sich an Luzifers Hass, der ihnen vertraut schien.
Sie lebten viele Jahre wie Könige auf der Erde, hatten menschliche Diener und Reichtümer, mieden aber ansonsten die Geschäfte der Menschen. Sie mieden das Leid der Menschen, erfreuten sich im Stillen daran, mieden es, Menschen zu berühren, gar mit ihnen zu Sprechen. Sie lebten neben den Menschen, ausschließlich unter sich, unfähig, den von Gott gewünschten Bund mit den Sterblichen einzugehen. Sie achteten jedoch nach wie vor Gottes Regeln, entsagten den fleischlichen Lüsten, beteten, fasteten … so ziemlich alles, was man eben von einem Gläubigen erwarten würde.
Doch die menschlichen Körper der Abtrünnigen wurden älter, und so geschah es, dass der erste von ihnen seinem Alter erlag. Wenige Tage später wurde ein Säugling geboren und zur Burg gebracht, auf der die Gefallenen lebten. Das Kind hatte nach der Geburt sein Elternhaus in Flammen gesteckt, war aber selbst unversehrt geblieben. Luzifer und sein Gefolge galten unter den Menschen als Götter, Übermenschen, und so erhoffte man sich Hilfe von ihnen. Schnell war klar, dass das Kind die Wiedergeburt des verstorbenen Abtrünnigen sein musste, und somit erneut in eine menschliche Hülle gezwungen worden war, ohne in den Himmel aufzufahren, was Luzifer erhofft hatte. Er hatte geglaubt, wenn er nur sein menschliches Leben ausharrte, hätte er seine Strafe abgebüßt, aber dem war nicht so.
Jahrhunderte der Wiedergeburt vergingen, und Luzifer wurde mit jedem seiner Leben rachsüchtiger und gefährlicher. Mit den Jahren entdeckte er fasziniert, dass es einige wenige Menschen gab, die ebenfalls außergewöhnliche Kräfte besaßen, und es wurde schnell zu seiner Lieblingsbeschäftigung, jene zu beobachten. Man könnte es als eine Art Forschungsprojekt beschreiben, mit dem er sich die Zeit vertrieb …“
„Was waren das für Menschen? Hexen?“, unterbrach ich ihn.
„Nein, nicht das, was du unter Hexen verstehst. Diese Menschen waren lediglich bessere Beobachter und gebildeter, als die meisten ihrer Mitmenschen, viele waren Wissenschaftler oder Heiler. Sie mischten Kräutermixturen, hielten Rituale ab und beschworen die Naturgeister. Aber sie trugen keine Magie in sich.“
„Wo ist da der Unterschied?“
„Dazu komme ich noch“, wich er für den Moment aus. „Jedenfalls hatte man bereits damals herausgefunden, das Blut eine wichtige Rolle für das Leben eines Menschen spielt. Bei Ritualen nahm es daher oft eine zentrale Rolle ein: man betröpfelte Opfergaben mit seinem Blut oder benutzte es für Heiltränke oder Zauber. Luzifer entwickelte eine Leidenschaft für solche Rituale, besonders, wenn es dabei um Menschenopfer, Bestrafungen oder Verstümmelungen ging, auch, wenn er selbst dabei noch keine Rolle spielen durfte. Aber das sollte sich bald ändern.
Eines Abends, als er gerade mit seinen Brüdern und Schwestern bei Tisch saß, kam ein Dienstjunge völlig aufgelöst in die Halle und warf sich vor Luzifer nieder. Zitternd berichtete er, er habe im Wald die Leiche einer Göttin gefunden, und sie mögen das Dorf verschonen. Tatsächlich fand man im Wald die Leiche einer jungen Frau, einer der Gefallenen. Der Beweis war erbracht, als neun Monate später wieder ein Säugling mit außergewöhnlichen Fähigkeiten geboren wurde. Sobald sich das Mädchen an sein früheres Leben erinnern konnte, berichtete es, was in jener Nacht geschehen war. Sie war nach all den Jahren neugierig geworden, hatte sich Luzifer widersetzt und trotz Verbot die Burg alleine verlassen. Sie wollte sich mit einigen menschlichen Jünglingen treffen, die ihr das sterbliche Liebesspiel zeigen wollten, da die Abtrünnigen der Lust ebenso entsagten wie allem anderen, was sie von Gott als unheilig kannten. Aber die Männer behandelten sie grob, und als sie sich wehren wollte, drohten sie ihr damit, sie an Luzifer zu verraten. So ließ sie die Tortur über sich ergehen. Am Ende bekamen die Männer Angst, man würde ihnen doch irgendwie auf die Schliche kommen, und so töteten sie das Mädchen hinterrücks. Anschließend verstümmelten sie ihren Leichnam auf bestialische Art, damit ihre göttliche Kraft sie nicht wiedererwecken konnte, wie sie glaubten. Dies war das erste Mal gewesen in all den Jahren, dass ein Abtrünniger durch die Hand eines Menschen gestorben war.
Wutentbrannt ließ Luzifer die Männer und ihre Familien suchen und zu sich bringen. All der Hass, der sich während seiner Zeit auf der Erde stillschweigend in ihm gesammelt hatte, brach sich nun Bahn. Er nahm sich eine der menschlichen Frauen, stach ihr ein Messer in den Unterleib und füllte anschließend einen Kelch mit ihrem Blut.
Ihr habt einer der Unsrigen das Heiligste genommen, nun werden wir es einer der euren Gleichtun, sagte er und nahm einen Schluck des Blutes, wie er es bei menschlichen Ritualen schon so oft gesehen hatte. Die entsetzten Gesichter der anderen Sterblichen, die befürchteten, ihnen drohe nun das gleiche Schicksal, stachelten ihn nur an. Er forderte seine Brüder und Schwestern auf, es ihm gleich zu tun, und kurz darauf war jeder der Sterblichen in dieser Halle tot und die Kelche gefüllt mit ihrem Blut. Luzifer erklärte den Menschen nun offen den Krieg, und die Gefallenen schlossen sich ihrem Herrn willig an. Nach all den Jahren ließen sie ihren Gefühlen nun freien Lauf, konnten ihrem Hass, ihrer Wut, ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen. Sie hörten auf, nach Gottes Regeln zu leben, und wüteten regelrecht unter den Menschen. Töteten. Versklavten. Folterten nach Herzenslust.
Gott, der das Ganze nur hilflos mit ansehen konnte, war so zornig, wie er es noch nie zuvor gewesen war, und verfluchte die Gefallenen. Er kehrte ihr verdorbenes Inneres nach außen und verdammte sie dazu, auf ewig unsterblich unter den Sterblichen zu wandeln. Sie sollten genug Zeit bekommen, dass Ausmaß ihrer Handlungen zu bedauern. Nur die Nacht würde es ihnen von nun an gestatten, das Monster, das sie waren, zu verbergen, und ein menschliches Äußeres aufrecht zu erhalten. Sie sollten sich fortan ausschließlich vom Blut Sterblicher nähren, Sklaven ihres Durstes sein, ihrer Urinstinkte, die sie zuvor bei Menschen so sehr verachtet hatten, und überall wo sie auftraten das Leid verbreiten, dass sie im Moment so sehr genossen. Die Bedingung für eine Rückkehr ins Paradies, für das Brechen des Fluches, blieben dieselben: Ein friedliches Zusammenleben mit den Menschen. Gott hoffte, wenn sich die Gefallenen so ihrer verfinsterten Seelen bewusst würden, würden sie sich wieder dem Licht zuwenden und so endlich ihren Fehler einsehen. Dafür nahm er sogar in Kauf, dass viele Menschen ihre Leben lassen mussten.
Aber das Gegenteil trat ein. Wie ein störrisches Kind lachte Luzifer nur über den Fluch, den der Herr über ihn und seine Geschwister gebracht hatte, und rebellierte umso mehr.
Die Situation geriet völlig außer Kontrolle, als Luzifer einen Weg fand, die Menschen ebenfalls mit dem Fluch zu „infizieren“. Die Gefallenen mussten sich nun nicht mehr selbst die Hände schmutzig machen, sondern hatten eine Armee von untoten, unsterblichen Menschen, die ihnen zu Diensten war. Um eine Apokalypse zu verhindern, entsandte Gott als letzten Ausweg ein Heer seiner treusten Diener unter der Führung von sieben Erzengeln auf die Erde, die dem Heer Luzifers entgegentraten. Ein langer, harter Kampf folgte, den letztendlich keine der beiden Seiten gewann.
Die Erzengel und jene, die noch von ihrem Heer übrig blieben, opferten sich, um ihren abtrünnig gewordenen Geschwistern auf der Erde ständig Einhalt gebieten zu können, und wurden zu Jägern. Sie gaben ihre himmlische Existenz auf und nahmen eine menschenähnliche Lebensweise an. Sie sind, was ihr Menschen unter Hexen versteht, um auf deine Frage von zuvor zurückzukommen. In ihnen steckt noch immer ein Teil von Gottes Licht, ihre Magie, wenn man so will.
Aus den Gefallenen, den Dunklen, wie wir von den Jägern genannt werden, machte der Volksmund die Vampire. Seither herrscht Krieg zwischen den beiden Fronten.“
Vampire und Jäger stammten von Engeln ab? Und ich hatte Religionsunterricht immer für langweilig gehalten!
„Was ist mit Luzifer passiert? Ist er gestorben?“
William lächelte bitter.
„Er ist gestorben, aber zu einem hohen Preis. Man sagt, als Gott Luzifer schuf, übertrug er ausversehen einen Teil seiner Göttlichkeit auf ihn.“
„Also wurde Luzifer auch zu einem Gott?“, schlussfolgerte ich.
„So ähnlich. Luzifer wurde zu Gottes Gegenspieler – er wurde zum Teufel, zu Satan. Der Herrscher der Unterwelt, er ist die Unterwelt. Als Luzifer begriffen hatte, dass er nicht gegen Gottes Armee gewinnen konnte, mobilisierte er ein letztes Mal all seine Kraft für einen letzten Schlag und setzte somit in seiner Verzweiflung die göttliche Macht frei, die ihm innewohnte. Er wusste er lag im Sterben, und sein einziger Gedanke war zu verhindern, dass er wiedergeboren wurde, koste es, was es wolle. In den Himmel konnte er nicht auffahren, auf Erden wollte er nicht weilen – also fiel er erneut und schuf sich dort sein eigenes Reich, die Hölle.“
„Also gab es bis dorthin … nur den Himmel? Luzifer hat die Hölle selbst geschaffen?“, fragte ich verwundert.
William schüttelte den Kopf.
„Wie ich bereits sagte, Luzifer ist die Hölle, so, wie Gott der Himmel ist. Gott mag die Erde zwar geteilt haben in Land und Wasser, in Licht und Dunkelheit – aber eines hatte er vergessen: Gut und Böse. Für alles muss es immer einen Ausgleich geben, die Welt muss im Gleichgewicht sein, Jing und Yang. Ohne dieses Gleichgewicht kann nichts existieren, ohne Licht gäbe es keine Dunkelheit, ohne Trauer keine Freude. Mit dieser letzten Teilung war der Schöpfungsakt Gottes nun komplett und die Welt, wie wir sie heute kennen, war geboren“, erklärte er.
„Willst du damit sagen, es lief so oder so darauf hinaus? Dass wir das Böse brauchen?“
„Es mag auf den ersten Blick befremdlich sein, aber ja. Weltfrieden, Reich Gottes auf Erden – das alles ist eine Utopie. Ohne Böse gäbe es kein Gut. Wir Vampire sind das Gewicht, das die Erde in der Waage hält. Darum wird dieser Krieg nie enden, kann nie enden. Und darum ist es auch praktisch unmöglich, unseren Fluch zu brechen. Ein unsterblicher Fluch, im wahrsten Sinne des Wortes.“
Ich saß regungslos auf dem Sofa, den Blick abwesend auf die Buchseiten auf meinem Schoß gerichtet. Entfernt nahm ich wahr, wie William seinen Platz vor dem Kamin verließ und sich auf den Sessel gegenüber setzte. Er wollte mir Zeit geben, das gehörte zu verarbeiten.
In Gedanken ging ich noch einmal alles durch, was er mir erzählt hatte. Ein Teil von mir, die Jägerin, wusste, dass es stimmte, und mit William als lebenden Beweis war es schwer sich einzubilden, dass die Geschichte unmöglich der Wahrheit entsprechen konnte. Ein bedeutend größerer Teil von mir jedoch, der Mensch, wollte alles leugnen, wollte noch immer einen Weg aus diesem Albtraum finden. Seit ich in den Schatten die Stimmen hören konnte, wollte ich eine Erklärung. Woher kamen diese Stimmen? Wieso waren sie da? Was wollten sie in unserer Welt?
Jetzt hatte ich die Antworten. Jetzt hatten die Stimmen Namen. Eine Geschichte. Sie waren nicht länger abstrakt, unantastbar. Sie waren real. Und wie konnte man leugnen, was Realität war? Wie konnte man aus einem Albtraum aufwachen, wenn man gar nicht schlief?
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich William vorsichtig, und riss mich aus meinen trüben Gedanken. Ich nickte knapp.
„Danke, dass du es mir erzählt hast“, sagte ich aufrichtig, nachdem ich das Buch geschlossen und seinen Blick gesucht hatte.
„Du hattest ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren“, erwiderte er, und seine Augen verrieten, dass auch er aufgewühlt war. Ich reichte William das Buch und er stellte es zurück ins Regal.
„Es war heute ein aufregender Tag, und es ist schon spät. Ich sollte dich jetzt besser nach Hause bringen.“
Eigentlich hätte alles so schön sein können. Ich musste mich nicht mehr zwischen zwei Weltmächten entscheiden, musste mich nicht mehr davor fürchten, als Mitternachtssnack für eine hungrige Vampirfamilie zu enden und mein Erinnerungsvermögen war ebenfalls gesichert. Ja, es hätte alles so schön sein können, wäre da nicht meine Jägerfreundin gewesen, die ich schon seit mehr als zwei Woche nicht mehr gesehen hatte. Nachdem Taylor nicht bei der Anhörung erschienen war und die vergangenen Tage über weder ihre Vorlesungen, noch die AG besucht hatte, begann ich, mir langsam aber sicher ernsthafte Sorgen zu machen. Als ich also an diesem Donnerstag plötzlich inmitten des Studentengetümmels einen vertrauten, zerzausten Blondschopf aus machte, glaubte ich, mein Herz müsse vor Erleichterung stehen bleiben.
„… steigt eine Party und ich wollte dich …“, setzte Logan an, doch ich unterbrach ihn wirsch. Ich hatte ohnehin nur mit halbem Ohr zugehört.
„Vergiss nicht, was du sagen wolltest. Ich bin gleich wieder da!“, vertröstete ich ihn und rannte ohne ein weiteres Wort der Erklärung quer über den Hof, bis ich nach Luft schnappend vor Taylor zum Stehen kam und mir die Seite hielt. Junge, meine Kondition war wirklich miserabel. Taylor sagte nichts, schaute mich nur mit ihren unergründlichen, blauen Augen an. Ob sie sauer auf mich war? Warum sagte sie nichts?
„Du warst nicht bei der Anhörung“, begann ich schließlich ohne große Umschweife. So langsam schien der Umgang mit Williams auf mich abzufärben. Zu meiner Überraschung klang es verletzter, als ich beabsichtigt hatte.
„Ich wollte, aber sie haben mich nicht gelassen. Meinten, ich könnte mich zu sehr aufregen, und das würde meinen ‚Zustand‘ verschlimmern. Schwachsinn, als ob ich mich von einem läppischen Blutsauger aus der Fassung bringen lassen würde! Da steh ich doch drüber!“, schimpfte sie und schüttelte frustriert den Kopf. „Naja, was soll`s … Aber wie man hört, bist du ja auch ohne mich ganz gut zu Recht gekommen.“
Ein schelmisches Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.
„Du hast die Jägerwelt ganz schön aufgemischt, weißt du das? Die können immer noch nicht fassen, dass sie dich mit einem Vampir haben weggehen lassen. Matthew ist total ausgerastet, nachdem du weg warst. Ich hab ihn noch nie so frustriert erlebt, und nach all den Jahren, in denen er mir immer Vorträge über meine Impulsivität gehalten hat, ist das echt eine Genugtuung.“
Sie zwinkerte mir dankbar zu, und auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, konnte ich doch nicht umhin zu bemerken, wie schrecklich blass ihre Haut geworden war. „Geht es … geht es dir gut?“, fragte ich, obwohl die Antwort nur zu offensichtlich war. Taylor lächelte beschwichtigend.
„Nicht wirklich, aber das ist schon okay. Es konnte nicht ewig so weitergehen, wie bisher, dass wusste ich schon von Anfang an. Bald kann ich nicht mehr zur Uni.“
Wir setzten uns auf den Rand des großen Brunnens, der der Blickfang des Innenhofs war. Ich tauchte meine Hand in das kühle Nass und zog gedankenverloren Muster durchs Wasser.
„Bist du sauer auf mich?“, wollte ich wissen.
„Bist du gerne mit dem Vampir zusammen? Macht er es erträglicher für dich, in unserer Welt zu sein?“, konterte sie.
„Ja“, entgegnete ich schüchtern. Was war bloß so schlimm daran, es zuzugeben? Ja, ich war gerne mit William zusammen – na und?
„Dann hab ich keinen Grund, sauer auf dich zu sein. Du hast mich weder belogen noch betrogen. Du hast getan, was für dich am besten war, und als deine Freundin kann ich das nur unterstützen.“
„Aber er ist ein Vampir…“, begann ich unsicher.
„Und er macht dich glücklich. Von mir aus könnte er Godzilla sei. Solange er gut zu dir ist, stört mich das nicht.“
Als ich sie nur verwundert ansah, fügte sie hinzu: „Vielleicht ist es dir ja nicht aufgefallen, aber ich sehe die Dinge ein wenig anders, als meine Familie. Ich sehe nicht mehr alles nur schwarz und weiß. Wenn der Vampir es geschafft hat, dich aus deinem Schneckenhaus zu locken, muss er etwas Gutes an sich haben.“
„Nach allem, was dir passiert ist, bist du da nicht wahnsinnig wütend?“, fragte ich verunsichert.
„Ich bin wütend, aber es war schließlich nicht dein Freund, der uns überfallen hat. Ihn für mein Unglück verantwortlich zu machen, wäre nicht fair. “
So einfach war es also für sie? Wie konnte sie trotz allem, das ihr widerfahren war, noch an das Gute in diesen Wesen glauben? Nicht, dass ich unbedingt darauf abzielte, William vor Taylor schlecht zu machen, aber wäre ich an ihrer Stelle … Manche Dinge kann man einfach nicht verzeihen.
„Was meinst du damit, du siehst nicht mehr alles nur schwarz und weiß?“
„Ich meine, dass alles manchmal gar nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick scheint“, entgegnete sie lächelnd.
Bevor ich etwas erwidern konnte, reckte sie ihren Hals und warf einen belustigten Blick über meine Schulter.
„Ich glaube, du solltest lieber wieder zurück zu deinen Freunden. Wenn Blicke töten könnten … Mann oh Mann, die können mich wirklich nicht ausstehen, oder?“
Ich warf ebenfalls einen Blick hinter mich, wo Naomi, Adam und Logan schnell ihre Blicke abwandten und so taten, als wären sie in ein Gespräch vertieft. Auffälliger ging es ja wohl kaum. Schauspielerei gehörte eindeutig nicht zu ihren Stärken.
„Sie meinen es nicht so …“, seufzte ich entschuldigend.
„Ist schon gut, ich bin ein großes Mädchen, ich kann damit umgehen.“
„Also ist zwischen uns alles gut?“, wollte ich mich vergewissern.
„Zwischen uns ist alles gut. Ich habe dir einmal gesagt, dass du immer meine Freundin sein wirst, egal für welches Leben du dich entscheidest, und daran hat sich auch nichts geändert.“ Taylor stand auf und wischte sich mit den Händen den Dreck von der Jeans.
„Tja, ich schätze, dann sehen wir uns spätesten nächsten Freitag in der AG. Und richte deinem Vampir aus, er soll gefälligst gut zu dir sein, sonst kriegt er es mit einer Jägerin zu tun!“, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen.
„Ich werde es ihm ausrichten“, erwiderte ich.
„Bist du noch zu retten? Wir sind hier im dritten Stock! Gibt es keine andere Möglichkeit? Kannst du dich nicht … beamen oder so was?“, zischte ich aufgebracht, während ich am Fenster stand und ehrfürchtig den Abstand zwischen meiner jetzigen Position und dem Bordstein abschätze. Das mussten locker zehn Meter sein. Nie und nimmer würde ich da runter springen, auch nicht mit William.
„Du willst nicht, dass ich deine Mitbewohner weiterhin geistig beeinflusse, und eine andere Möglichkeit, unbemerkt aus dieser Wohnung zu kommen, gibt es nicht. Außerdem bist du schon einmal mit mir geflogen, und es wäre ja nicht für lange. Nur dieser eine Sprung, den Rest fahren wir mit dem Auto“, erwiderte William ruhig.
„Da hatte ich keine andere Wahl! Du … du hast mich damals so schnell hochgehievt, dass ich gar keine Chance hatte zu begreifen, was genau du eigentlich vorhattest. Jetzt hab ich eine ungefähre Vorstellung, und die gefällt mir gar nicht …“
William lehnte lässig an meinem Schreibtisch, die Arme verschränkt. Als Erwiderung zuckte er nur mit den Schultern.
„Du warst diejenige, die unbedingt noch einmal in meine Bibliothek wollte. Von mir aus müssen wir nicht fahren. Ich verstehe sowieso nicht, warum du freiwillig in …“
„Wenn du noch einmal ein Haus voll blutrünstiger Vampire sagst, zück ich ein Feuerzeug, ich schwöre es!“
William war nicht gerade begeistert gewesen, als ich ihn gefragt hatte, ob er mich wieder einmal mit zu sich nach Hause nehmen würde. Wir verbrachten all unsere gemeinsamen Abende damit, an meinem Fenster zu sitzen und zu reden – was nicht schlecht war, aber wenn es um das Thema ich Mensch, er Vampir ging, lief es immer auf den selben Streitpunkt hinaus: Meine Sicherheit. Er wurde wütend, ich wurde wütend, und am Ende löste er sich in Luft auf, bevor einer von uns etwas sagen konnte, das er später bereuen würde. Außerdem achtete er immer noch penibel darauf, mich möglichst wenig zu berühren, und wenn ich meine Tage hatte, kam er erst gar nicht in mein Zimmer, sondern verbrachte den Abend auf dem Baum vor meinem Fenster, wenn überhaupt. William vertraute meinen ominösen Fähigkeiten nicht, mich vom Blutdurst eines Vampires abzuschirmen, aber er musste endlich einen Weg finden, damit klar zu kommen, sonst würde diese Streiterei nie ein Ende nehmen. Da von ihm keine Fortschritte zu erwarten waren, hatte ich die Initiative ergriffen. Wenn ich öfter zu ihm nach Hause ging und mit seiner Familie klar kam, würde er vielleicht ein wenig lockerer. Hoffentlich.
„Fein, wir springen. Aber halte mich ja gut fest! Wehe du lässt locker, bevor ich wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stehe!“, warnte ich ihn. Unsicher streckte ich meine Arme aus und schloss die Augen. Gleich darauf spürte ich, wie sich Williams starke Arme um mich schlossen und meine Füße nicht länger den Boden berührten.
„Ich werde dich nicht fallen lassen, versprochen“, flüsterte er, belustigt über meine absurden Ängste, in mein Ohr.
Ein kräftiger Druck legte sich auf meinen Körper und meine Haare wirbelten stürmisch um mein Gesicht, als William sprang. Wenige Sekunden später war wieder alles ruhig. William lockerte seinen Griff, und ich öffnete meine Augen.
„Beide Beine auf dem Boden, wie versprochen“, sagte er, während er seine Hände vollständig von mir löste. Mit weichen Knien schaute ich hinauf zu meinem Zimmer, aus dem wir gerade geflogen waren.
„Hat uns auch sicher niemand gesehen?“, fragte ich nervös.
„Wenn ich will, kann ich für das menschliche Auge völlig unsichtbar sein.“
„Hach, ich weiß ja … Vermutlich spricht da das schlechte Gewissen aus mir. Ich hasse es, das alles hinter Naomis Rücken zu tun. Ich weiß, ich kann ihr nichts sagen, aber das ändert nichts daran, dass ich mich wie eine Betrügerin fühle. Wie eine fiese Doppelagentin.“
„Du willst deine Freundin schützen, daran ist nichts Falsches.“
„Ja, wahrscheinlich“, seufzte ich, obwohl ich nicht wirklich davon überzeugt war.
Argwöhnisch beäugte ich den Suppenteller vor mir, während drei Augenpaare abwartend auf mich gerichtet waren. Williams Onkel hatte mich eingeladen, mit ihm zu Abend zu essen, nachdem er erfahren hatte, dass ich zu Besuch kommen würde. Als wir vor einer halben Stunde angekommen waren, war Gabriel bereits eifrig in der Küche zu Gange gewesen. Helen stand neben ihm und half, Gemüse zu schneiden. Beide hatten eine Kochschürze um und lächelten uns freudestrahlend an, als wir eintraten. Eigentlich war ich davon ausgegangen, sie würden etwas beim Lieferservice bestellen, aber anscheinend konnte Gabriel kochen. Warum sollte er es auch nicht können?, schalt ich mich. Immerhin isst er ja auch wie ein Mensch, also kann er sein Essen auch zubereiten wie einer. Trotzdem war es ein merkwürdiger Anblick, dem Vampir dabei zuzusehen, wie er fachmännisch den Inhalt diverser Töpfe begutachtete, hier und da probierte, würzte und neue Zutaten dazu gab. Das Ganze war so erschreckend normal, dass ich mich für einen kurzen Moment ernsthaft fragte, ob Gabriel und Helen wirklich Vampire sein konnten. Aber die trügerische Energie, die von ihnen ausging, ließ sich nicht verschleiern, so wenig, wie ich meinen Herzschlag verschleiert konnte.
„Emma, William, wie schön, dass ihr da seid!“, begrüßte uns Gabriel fröhlich.
„Hallo ihr beiden“, kam es von Helen, die sofort ihre Paprika bei Seite legte und auf uns zueilte.
„Hallo, Mrs. Reyn… ähm, Helen”, korrigierte ich mich, als sie mir einen scherzhaft tadelnden Blick zuwarf. „Kann ich helfen?“
„Kommt gar nicht in Frage, du bist unser Gast!“, wehrte Helen energisch ab. „Es dauert nicht mehr lange, wir rufen euch, wenn es fertig ist.“
Damit wurden wir praktisch aus der Küche geworfen.
Jetzt saß ich hier am Tisch, William neben mir, Gabriel und Helen uns gegenüber. Die Suppe roch zumindest schon einmal nicht schlecht, das war immer ein gutes Zeichen. Wenn mich nur nicht alle so anstarren würden. Egal, Augen zu und durch. Ich straffte meine Schultern und nahm, zu meiner Verlegenheit laut schlürfend, einen kleinen Löffel voll.
„Wow, das schmeckt echt super lecker“, bemerkte ich überrascht. Vielleicht ein wenig zu überrascht, Williams peinlich berührtem Blick zu urteilen. Vermutlich hätte ich die Suppe vorher ein wenig vertrauensvoller begutachten sollen.
„A-also nicht, dass ich das nicht erwartet hätte. Ich meine warum sollten sie auch nicht kochen können, oder? Nur weil, naja sie wissen schon …“, fügte ich entschuldigend hinzu und gestikulierte hilflos mit meinen Händen. Diesmal brauchte ich William nicht erst anzusehen um zu wissen, dass ich damit nur in ein weiteres Fettnäpfchen getreten war.
Reden war in meiner derzeitigen Verfassung wohl keine so gute Idee, also beschloss ich, mich wieder dem Essen zuzuwenden. Beschämt senkte ich meinen Kopf und nahm einen größeren Löffel voll Suppe, an dem ich mich natürlich prompt verschluckte. Konnte es eigentlich noch peinlicher werden? Nach ein paarmal undamenhaftem Röcheln hatte ich mich wieder gefangen.
„Bitte entschuldigen sie. Ich wollte sie nicht beleidigen, das alles ist … einfach nur so seltsam“, beendete ich meinen Satz schließlich. „Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich meine sie sind ein Vampir und sie kochen Suppe und ... und am liebsten würde ich jetzt in ein Loch verschwinden und nie wieder auftauchen“, gestand ich.
„Wenn dich meine Suppe schon so aus der Fassung gebracht hat, warte bis du erst mein Hühnchen gekostet hast!“, kommentierte Gabriel fröhlich.
Ich schaute zu ihm auf, und im selben Moment fingen wir beide an zu lächeln. Auch Helen schmunzelte hinter vorgehaltener Hand. Es würde sicherlich noch ein kleines Weilchen dauern, bis ich mich in der Gegenwart der Beiden vorbehaltslos wohl fühlte, aber ich war mir sicher, wir waren auf einem guten Weg.
„William hat uns erzählt, du bist in deinem ersten Studienjahr. Weißt du denn schon, was du später machen möchtest?“, wollte Gabriel wissen.
„Mein Vater besitzt eine kleine Kanzlei in New York. Ich möchte dort später als Anwaltsgehilfin arbeiten“, antwortete ich.
„Du planst also nicht, nach deinem Studium in Seattle zu bleiben?“
„Nein. Meine Freunde hatten vor, hier zu studieren, und sie haben mich gebeten, mit ihnen zu kommen. William hat ihnen auch sicher von meiner Mutter erzählt und … naja, es war an der Zeit, sich den Geistern meiner Vergangenheit zu stellen und damit abzuschließen. Deswegen bin ich nach Seattle gekommen, aber ich hatte nie vor, hier zu bleiben.“
„Verstehe.“
Ich nahm einen weiteren Löffel voll von der köstlichen Suppe, bevor ich weitersprach. Gabriel wusste wirklich, wie man kochte.
„Was machen sie beruflich?“
Haben sie überhaupt einen?, fügte ich in Gedanken hinzu. Bei Helen jedenfalls war es so. Andererseits hatte ich William diese Frage zwar noch nie gestellt, aber ich war mir trotzdem ziemlich sicher, dass er keinen hatte. Es sei denn, man zählte Vollzeitvampir jetzt als Beruf. Unter meinesgleichen habe ich … eine gewisse Stellung, die Pflichten mit sich bringt, hatte er einmal zu mir gesagt. Ob es so was wie Vampirpräsidenten gab?
„Ich arbeite als Lehrer an einer High-School.“
Ein Lehrer also. Irgendwie passte das zu ihm.
„Welche Fächer unterrichten sie?“
„Englisch und Philosophie. Aber es kommt häufig vor, dass ich auch andere Fächer unterrichte, wenn ein Lehrer fehlt. Ich habe viele Jahre lang studiert und mir ein breites Spektrum an Wissen angeeignet. Von Zeit zu Zeit gebe ich auch Vorlesungen an Unis, ich habe viele befreundete Professoren.“
„Sie haben studiert?“, konnte ich nicht umhin zu fragen, und spürte gleich darauf, wie meine Wangen aufglühten. Natürlich hatte er das, wenn er Lehrer war. Gott, ich musste endlich diese dämlichen Klischees überwinden!
Gabriel lachte.
„Ich muss gestehen es ist schon lange her, aber ich denke gerne an diese Zeit zurück“, erwiderte er. Helen schnaubte aufgebracht.
„Das glaube ich gerne. Euch Männern stand es immerhin frei alles zu tun, wonach euch der Sinn stand. Wir Frauen dagegen waren gerade mal gut genug, euch Nachwuchs zu schenken und den Haushalt zu schmeißen. Damals war es ein Skandal, wenn eine Frau nur daran dachte, eine Universität zu besuchen. Die Männer hatten das Sagen und wir hatten zu gehorchen“, erinnerte sich Helen bitter.
„In der Tat, früher war vieles einfacher“, neckte Gabriel seine Frau und küsste sie auf die Stirn. Helen versuchte halbherzig, ihren Mann entrüstet wegzustoßen, gab sich aber schließlich geschlagen, als der nächste Kuss auf ihrem Mund landete. Sie lehnte sich an Gabriels Schulter und nahm seine Hand.
Ich räusperte mich verlegen und senkte meinen Blick. Ich wusste nie so recht, wie ich mich in solchen intimen Momenten verhalten sollte, was nicht gerade von Vorteil war, wenn man mit Naomi und Adam zusammen wohnte.
„Möchtest du noch etwas von dem Reis, Emma?“, bot William an, als hätte er meinen stummen Hilfeschrei gehört.
„Ähm … j-ja, gerne“, sagte ich und hielt ihm meinen Teller hin. Helen und Gabriel hatten inzwischen wieder gemäßigten Abstand zueinander genommen.
Nach Hauptspeise und Nachtisch samt mehrmaligem Nachschlag, hielt ich mir glücklich den Bauch.
„Es ist noch Tiramisu da, falls du möchtest“, meinte Gabriel.
„Nein, danke. Ich glaube, noch einen Nachschlag würde ich nicht überleben. Aber das Essen war wirklich unglaublich gut, danke für die Einladung“, winkte ich ab.
„Ich danke für dein Kommen. Es war schön, während des Essens einmal Gesellschaft zu haben.“
Ich schaute zu William und Helen, die schweigend in ihren Stühlen neben uns saßen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sie mit am Tisch zu haben, da sie schließlich selbst nichts zu sich nahmen. Kein Wunder, dass Gabriel normalerweise alleine aß. Ob die Beiden den gleichen Ekel vor Menschenessen empfanden, wie ich bei der Vorstellung an Blut? Zumindest ließen sie sich nichts anmerken.
Ich wollte gerade aufstehen und meinen Teller wegräumen, als Helens kalte Hand sich leicht auf meine legte.
„Lass nur, Schatz, wir machen das schon.“
„Aber …“
„Kein aber. Du und William habt sicher noch Pläne für den Abend, nicht wahr?“, ließ sie munter verlauten und warf William und mir einen anzüglichen Blick zu.
William verengte seine Augen zu bedrohlichen Schlitzen, was der munteren Atmosphäre von zuvor einen plötzlichen Dämpfer verpasste. Sein Mund bewegte sich so schnell, dass ich lediglich ein kleines Zischen hören konnte. Helens erschrockenem Gesichtsausdruck zu urteilen hatte er etwas zu ihr gesagt, aber zu leise und zu schnell, als dass ich es hätte mit meinen menschlichen Ohren auffangen können. Helen antwortete ihm mit derselben Geschwindigkeit und vermied es, mich anzusehen. Ihre fröhliche Stimmung schien gänzlich verflogen, und als sie zu Ende gesprochen hatte, verbeugte sie sich sogar vor William. Gabriel sah William mit unergründlicher Miene an, bevor er es seiner Frau gleichtat und ebenfalls vor William knickste. Ohne mir Zeit zu lassen, aus der Szene schlau zu werden, wandte er sich zum Gehen und schien zu erwarten, dass ich ihm folgte.
„Ähm, also … Nochmal danke für das gute Essen“, verabschiedete ich mich leise und lief William nach. An der Treppe hatte ich ihn schließlich eingeholt und versperrte ihm den Weg.
„Was war das da gerade? Nur weil deine Tante glaubt, dass zwischen und was läuft, musst du sie doch nicht gleich so … was auch immer du zu ihr gesagt hast! Was hast du überhaupt zu ihr gesagt? Und warum um alles in der Welt hat sie sich vor dir verbeugt?“, fragte ich, ohne Luft zu holen.
„Ich habe ihr lediglich klar gemacht, dass ich in unserer Hierarchie über ihnen stehe und sie gut daran täten, diese Tatsache nicht zu vergessen“, erwiderte er, als sei damit alles geklärt.
„Um Himmels Willen, deine Tante wollte uns doch nur ein wenig aufziehen. Naomi macht so was dauernd mit mir. Gehst du mit all deinen Vampirfreunden so herrisch um, wenn sie sich mal einen Spaß mit dir erlauben? Muss ich in Zukunft auch vor dir niederknien?“
Obwohl ich auf der ersten Stufe stand, überragte mich William immer noch um wenige Zentimeter, was meiner Rede ein wenig von der Überlegenheit nahm, die ich mir von meiner erhöhten Position ursprünglich erhofft hatte.
„Wie ich mit anderen meiner Art umgehe, hat nichts mit dir zu tun. Und so etwas wie Vampirfreunde besitze ich nicht. Ich habe Diener oder Verwandte, mit denen ich den Umgang pflege, der meiner Stellung gebührt. Freunde sind ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Du bist die Einzige der ich gestatte, unkonventionell mit mir zu sprechen, da die Umstände in deinem Fall anders liegen“, erklärte er ohne jegliche Emotion auf seinen Zügen. Es war eine schlichte Tatsache für ihn.
Wollte er damit sagen, ich war sein einziger Freund? Das erklärte Einiges. Und ich dachte Ich hätte Probleme. Gegen William war ich ja das reinste Herdentier. Er war nicht unwirsch oder wortkarg, weil es zu seinem Charakter gehörte, sondern weil er es nicht anders kannte. Weil er niemandem hatte, mit dem er sprechen konnte. Weil er tief in seinem Herzen einsam war. Die Erkenntnis traf mich wie ein Pfeil in meine Brust, und ich sah William mitfühlend an. Ich kannte diese Einsamkeit. Ich kannte sie nur zu gut.
„Stimmt etwas nicht? Habe ich dich mit meinen Worten gekränkt?“, wollte William verunsichert wissen. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, alles gut. Ich hab mich nur darüber gefreut, dass die Umstände bei mir anders liegen.“
Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel, bis ich aus einem Reflex heraus meine Hand auf seine Wange legte, mich leicht zu ihm vor beugte und flüsterte: „Ich bin froh, dass wir Freunde sind. Ich hab dich nämlich wirklich gern.“
Diesmal trat William nicht den Rückzug an, und so ruhte meine Hand einige Sekunden lang auf seiner kühlen Haut. Dadurch ermutigt tat ich etwas, dass ich mir selbst nie zugetraut hätte. Ich hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die andere Wange. Als mir klar wurde, was ich da gerade getan hatte, machte ich mich ruckartig wieder von ihm los, rannte die Treppe hoch und sah mich erst wieder um, als ich oben angekommen war.
William stand immer noch da, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Eine Hand hatte er auf die Stelle an seiner Wange gelegt, wo ich ihn zuvor geküsst hatte.
„Wer zuletzt in deinem Zimmer ist!“, rief ich nach unten, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken und mich selbst auf andere Gedanken zu bringen. Was war bloß in mich gefahren? Es war, als wären meine Finger von seiner Haut auf magische Weise angezogen worden. Die Worte waren mir entschlüpft, noch ehe ich darüber nachdenken konnte, sie zurückzuhalten, und der Kuss … den wollte ich einfach nur noch verdrängen. Ja, verdrängen war gut.
Ich rannte den Flur entlang in die Richtung, in der Williams Räume lagen, und war nicht besonders überrascht, als ein Luftzug an mir vorbeirauschte. So langsam gewöhnte ich mich an seine übermenschlichen Fähigkeiten. Als ich an der richtigen Tür angelangt war, stand William bereits im Türrahmen.
„Verloren“, kommentierte er nüchtern.
Ich verdrehte die Augen.
„Ja, was für eine Überraschung!“, erwiderte ich sarkastisch, während ich nach Sauerstoff hechelte.
„Warum lässt du dich dann darauf ein, wenn du doch genau weißt, dass du nicht gewinnen kannst?“
Ich wusste, dass diese Frage nicht nur unserem kleinen Wettrennen von eben galt. Gleich würde er wieder anfangen, wie gefährlich er war und diese ganze Chose. Aber er war eben nicht vor meiner Berührung zurückgewichen. Zum ersten Mal hatte ich ihn berührt – bewusst berührt – und er hatte es zugelassen. Und als ich ihm dabei in die Augen gesehen hatte, waren es nicht Schock oder Abneigung, die sich darin gespiegelt hatten, sonder Überraschung und Erleichterung. Fast schon Freude. William mochte es leugnen, aber er wollte, dass ich mich darauf einließ. Er wollte unserer Freundschaft eine Chance geben. Sein Widerstand begann zu bröckeln. Endlich.
„Meine Mom meinte immer, nur wer nicht kämpft, hat schon sicher verloren. Außerdem ist das Leben viel zu kurz, um Kompromisse einzugehen, zumindest für einen von uns“, erinnerte ich ihn. Er schien kurz zu überlegen, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich trat er resignierend einen Schritt zur Seite, um mich hinein zu lassen.
„Vielleicht hätte ich doch darauf bestehen sollen, dass du dich vor mir verbeugst“, nuschelte er in sich hinein, aber so, dass ich es hören konnte.
„Ach komm, das meinst du nicht ernst!“
„Glaubst du …“
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich auf drei Bücher eingeschränkt hatte, die ich schließlich zum Durchstöbern mit zum Sofa nahm. Immer wieder musste mir William Bücher vorschlagen, zusammenfassen oder von ihnen abraten. Ich hätte mich auch damit begnügen können, die ganze Nacht einfach nur die Regale entlang zuschreiten, seiner Stimme zu lauschen und mir all die fantastischen Dinge auszumalen, die sich wohl hinter den Buchdeckeln verbargen, aber die Neugier, es genauer zu wissen, gewann schließlich doch die Oberhand. William nahm auf dem Sessel mir gegenüber Platz, während er dabei zusah, wie ich mich in Kreaturen von A-Z, einem Lexikon über Fabelwesen und mystische Gestalten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, vertiefte. Ab und an machte er kleine, ergänzende Bemerkungen zu einzelnen Artikeln oder beantwortete Fragen, während er selbst an einem lateinischen Wälzer zu Gange war.
Es konnte noch keine Stunde her sein, seit wir uns gesetzt hatten, als William aus heiterem Himmel sein Buch mit übertriebener Lautstärke zuschnappen ließ und mich frustriert ansah. Ich zuckte erschrocken zusammen und schaute fragend zurück.
„Ich muss dich für eine kleine Weile alleine lassen. Ein Vampir aus meiner Linie hat mich gerufen, und die Angelegenheit kann bedauerlicher Weise nicht warten. Es wird nicht lange dauern, hab keine Sorge. Du bist vor ein Uhr wieder zu Hause, versprochen.“
„Gerufen? Wie hat er dich gerufen? Und diese Angelegenheit … ich muss mir doch keine Sorgen um dich machen, oder?“, fragte ich ängstlich. Williams Blick zu urteilen war er nicht besonders scharf darauf, was auch immer es war.
„Er hat sich telepathisch mit mir in Verbindung gesetzt und nein, es besteht kein Grund zur Sorge. Reine Formalitäten.“
Ach so, telepathisch, na klar. Wenn`s weiter nichts ist. Hätte ich auch selber drauf kommen können, schoss es mir sarkastisch durch den Kopf. William legte sein Buch beiseite, stand auf und zögerte kurz, bevor er fortfuhr. „Oder soll ich dich lieber jetzt schon nach Hause bringen?“
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne noch ein bisschen hier bleiben. Wir sind ja gerade erst gekommen und man hat ja nicht jeden Tag die Chance, sich an so antiken Kunstwerken zu vergreifen.“ Demonstrativ klopfte ich auf die Seite in meinem Buch, auf der ich stehen geblieben war. William schien erfreut über meine Antwort und nickte.
„Schön, aber bitte bleib in der Bibliothek, bis ich wieder da bin, versprichst du mir das?“, fragte er ernst.
„Aber das …“
„Versprich es“, unterbrach er mich. „Bitte“, fügte er sanfter hinzu.
„Wenn du dich dann besser fühlst: Ich verspreche es! Zufrieden?“
„Ich komme so schnell zurück wie ich kann“, erwiderte er nur, und im nächsten Moment war er verschwunden.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war erst kurz nach elf, also noch relativ früh für meine Verhältnisse. Was William wohl zu tun hatte?
Die meiste Zeit war ich froh darüber, wenn wir das Übernatürliche aus unseren Unterhaltungen bannen konnten, in solchen Momenten aber bereute ich, nicht mehr über seine Spezies zu wissen. Was bedeutete aus seiner Linie? Und wie funktionierte diese Sache mit der Telepathie?
Egal, es brachte ja sowieso nichts, jetzt darüber nachzugrübeln. Ich würde ihn einfach danach fragen, wenn er wiederkam. Resignierend widmete ich mich wieder meinen Kreaturen von A-Z.
Kaum zehn Minuten nachdem William sich in Luft aufgelöst hatte, ließ mich der Klang eines Klaviers aufhorchen. Jemand hatte zu spielen begonnen. Wer es wohl war?
Ich legte das Buch beiseite und ging neugierig der Quelle der Musik entgegen, die nur zwei Türen weiter ihren Ursprung hatte. Das Zimmer war offen, und so konnte ich nicht umhin, einen kurzen Blick zu riskieren. An einem schwarzen Flügel am anderen Ende des Raumes saß Christine, die ihre Finger elegant über die Tasten gleiten ließ. Sie trug ihr langes, dunkles Haar offen und durchgängig schwarze Kleidung, wie das erste Mal, als wir uns begegnet waren. Nur der Vollmond, der durch die großen Fenster fiel, schenkte dem Raum sein Licht, was die friedvolle und melancholische Atmosphäre, welche die Musik geschaffen hatte, nur verstärkte.
Ich blieb im Türrahmen stehen, schloss meine Augen und ließ mich von der traurigen Melodie davontragen. Ich erkannte das Stück, Chopins Nocturne. Ein wundervolles Stück. Eine Ode an die Nacht und ihren ganz eigenen Zauber. Fast, als singe die Nacht selbst, erzählte von ihrer Einsamkeit. Ich lauschte ihrer Geschichte, bis sich die Welt um mich herum auflöste und nur noch aus Noten zu bestehen schien.
Abrupt kam das Spiel zu einem Ende.
Widerwillig öffnete ich die Augen und sah direkt in Christines blasse Züge.
„Oh … Bitte … bitte entschuldige, ich wollte dich nicht stören. Ich hab nur gerade dein Spiel bewundert“, gestand ich.
Sie erwiderte nichts, sondern starrte mich einfach nur mit unergründlicher Miene nieder. Okay, zweiter Versuch.
„Das … das ist eines von Chopins schönsten Stücken, findest du nicht? Die Klassiker sind eben doch die Besten.“
Keine Reaktion.
„Ich hab früher auch gespielt, weißt du. Aber dann ist meine Mom gestorben und sie hat es mir beigebracht und … naja, ich hab nach ihrem Tod damit aufgehört.“
Immer noch keine Reaktion. So langsam gingen mir die Ideen aus. Vielleicht sollte ich mich einfach umdrehen, weglaufen und so tun, als sein das Ganze nie passiert ...
Gerade als ich diese Idee ernsthaft in Erwägung zog, räusperte sie sich kaum merklich.
„Warum ist William nicht bei dir?“, fragte sie, ein anklagender Unterton lag in ihrer Stimme. Sie sprach leise, aber klar und bestimmt.
„Irgendwelche Formalitäten, die nicht warten konnten. Irgendwer hat telepathisch nach ihm gerufen oder so ähnlich. Er meinte, es würde nicht lange dauern“, fasste ich Williams Abgang kurz und bündig zusammen.
„Und er hat dich hier einfach alleine zurückgelassen?“, wollte sie ungläubig wissen.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich bin eigentlich gekommen, um mir seine Bibliothek anzusehen, und dazu brauche ich ihn nicht. Außerdem sind ja deine Eltern noch im Haus, es besteht also nicht die Gefahr, dass irgendein böser Axtmörder aus dem Wald kommt und mich hier unbeschützt vorfindet“, scherzte ich. Christine schien das jedoch kein bisschen lustig zu finden.
„Du hast mehr Angst vor einem potentiellen Axtmörder als vor den Vampiren, die hier im Haus leben? Dann bist du dümmer, als du aussiehst!“, befand sie kalt.
„Nein, aber ich … ich habe Kräfte die bewirken, dass ihr … also, dass Vampire … naja, also bei mir seid ihr irgendwie nur wie gewöhnliche Menschen und …“, stotterte ich verlegen vor mich hin, überrumpelt von ihrer abweisenden Art. Hatte sie mit ihrer Familie etwa noch nicht darüber gesprochen?
Ein bitteres Lachen unterbrach mich.
„Du nennst mich allen Ernstes einen gewöhnlichen Menschen?“, fragte Christine, diesmal ernsthaft aufgebracht.
Sie stand blitzschnell auf und stand in weniger als einer Sekunde direkt vor mir. Ihren Augen färbten sich fast unerträglich langsam zu einem satten dunkelrot, die Eckzähne verlängerten sich. Ich spürte, dass sie eine ernsthafte Bedrohung für mich darstellen würde, wenn ich nicht schnell etwas unternahm. Sie war so außer sich, dass ich ihre Empfindungen im ersten Moment gar nicht richtig deuten konnte. Alles war bunt zusammengewürfelt, als sei sie ein wildes Tier, das seinen Empfindungen nicht Herr war.
„Das ist es, was ich bin. Ein Monster.“
Schmerz. Trauer. Abscheu.
Wie konnte jemand nur einen so ungeheuren Selbsthass empfinden? Das Gefühl war so stark, dass es sich anfühlte, als hätte mir jemand einen unangenehmen Schlag in die Magengegend versetzt. Zum Glück waren diese Gefühlswallungen nie von langer Dauer.
„Quatsch. E-es … es gibt Leute, die sehen wesentlich … wesentlich schlimmer aus, als du“, scherzte ich erneut und hoffte, dass es dieses Mal besser ankommen würde.
Das gewünschte Lächeln blieb zwar aus, aber dafür machte sie einen vollkommen baffen Gesichtsausdruck, der zum schießen gewesen wäre, wäre die Situation nicht so ernst gewesen. Ich nutzte dieses Überraschungsmoment und fuhr fort.
„Außerdem … außerdem bist du gerade im ultimativen Vampirmodus und … und du stehst einfach da, anstatt … Naja, Hals und so ... S-siehst du, entvampisierende Kräfte.“
Ich deutete mit einem Zeigefinger werbend auf mich und wartete angespannt auf ihre Reaktion. Erleichterung machte sich breit, als Christine ihre Fänge wieder einfuhr und die Augen erneut ihren gewöhnlichen, satten Blauton annahmen. Ich atmete erleichtert aus. Krise abgewendet.
Schneller als ich gucken konnte, lag ihre Hand auf meinem Hals. Verwundert, fast zaghaft streichelte sie über die pulsierende Stelle, unter der die dicke Vene lag. Ich spürte, wie das Blut darin unter ihren Händen hindurch schoss, als versuchte es, seinem Schicksal zu entfliehen.
„Es ruft nicht mehr nach mir. Warum ruft es nicht nach mir?“, stieß Christine verwundert hervor, ohne die Hand vom Fleck zu bewegen. „Du bist tatsächlich eine Jägerin, oder? Wie machst du es? Wie machst du, das es aufhört?“
„Ich … ich weiß es nicht.“
Endlich zog sie ihre Hand wieder zurück. Sie wischte sich über die Augen, als habe sie geweint.
„Möchtest du … möchtest du noch ein bisschen bei mir bleiben? Nur bis William wieder kommt?“, fragte sie schüchtern.
Ihr Zorn von zuvor war vollkommen verraucht und schien einer Art Verehrung Platz gemacht zu haben. Erwartungsvoll sah sie mich mit großen Augen an.
„K-klar. Gerne“, willigte ich ein, auch wenn mir dieser plötzliche Stimmungswechsel nicht ganz geheuer war. Vielleicht hatte William doch ein bisschen recht behalten, was seine Einschätzung der Familie anbelangte, auch wenn er das natürlich nie von mir hören würde.
Freude.
Christine lächelte zaghaft, was ihrem Gesicht etwas Elfenhaftes verlieh. Ein krasser Kontrast zu dem grimmigen, verbitterten Emo-Charm, mit dem ich sie kennen gelernt hatte. Irgendetwas sagte mir, dass sie normalerweise auch nicht besonders viel zu Lächeln hatte. Schade eigentlich, denn das stand ihr ungemein gut.
„Komm, setz dich zu mir“, bat sie und führte mich zum Klavierschemel, auf dem sie vorher gesessen hatte. Von weitem war mir gar nicht aufgefallen, wie groß er war. Es hätte locker noch eine dritte Person darauf Platz gefunden.
„Soll ich irgendetwas Bestimmtes für dich spielen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Mach einfach da weiter, wo du aufgehört hast.“
Das ließ sich Christine nicht zweimal sagen. Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, flogen ihre Finger wieder ungehemmt über die Tasten und entlockten dem Flügel die zartesten Klänge. Sie verschmolz mit dem Instrument, legte ihre Seele in jede einzelne Note. Ich hätte ewig neben ihr sitzen und ihrem Spiel lauschen können.
„Möchtest du auch einmal spielen?“, wollte sie wissen, nachdem sie zwei weitere Meisterwerke zum Besten gegeben hatte.
„Lieber nicht …“, winkte ich mit einem ehrfürchtigen Blick auf den Steinways-Schriftzug vor mir ab. „Ich habe es ernst gemeint als ich sagte, dass ich schon seit Jahren kein Klavier mehr angefasst habe. Das einzige, das ich vielleicht noch zusammenbringen würde, ist die Tonleiter.“
„Ich kann dir ja Unterricht geben“, bot Christine an. „Es ist gar nicht so schwer. Komm, wir fangen mit etwas Leichtem an. Kennst du Beethovens Für Elise? ...“
Christine war eine geduldige Lehrerin, und ich hatte das Stück überraschend schnell drauf. Selbst den etwas komplizierteren Mittelteil spielte ich in relativ kurzer Zeit fehlerlos. Aus Spaß begannen wir, ein wenig zu experimentieren und im Duett zu spielen. Als unsere Hände das erste Mal ineinander krachten, weil ich meinen Einsatz verpasst hatte, schreckte ich aus Gewohnheit zurück. Ein Fehler.
Christine hielt verletzt inne und betrachtete traurig ihre Handflächen.
„Sie sind kalt, nicht wahr? Für dich fühlen sie sich kalt an“, bemerkte sie, ohne den Kopf zu heben.
„N-nein, das ist es nicht“, wehrte ich schnell ab. „William reagiert meistens nur sehr …“, ich suchte nach dem richtigen Wort, „… gereizt, wenn ich ihn berühre. Ich hatte Angst, es sei bei dir auch so. Dass du … dass du es nicht möchtest, wenn ich dich anfasse.“
„Er fasst dich nicht an? Nie?“, fragte sie überrascht.
„Fasst nie. Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Er tut gerade so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit“, beschwerte ich mich.
„Seid ihr beiden eigentlich, naja, du weißt schon…“, deutete Christine an und hob vielsagend die Augenbrauen. Augenblicklich schoss mir das Blut in den Kopf.
„Warum denken das bloß alle?“, schoss es, zu meiner eigenen Überraschung, plötzlich aufgebracht aus mir hervor. „Wir sind nur Freunde! Freunde! Nur … nur Freunde. Kann eine junge Frau nicht einfach so mit einem jungen Mann rumhängen, ohne, dass gleich etwas laufen muss?“, verteidigte ich mich aufbrausend und fragte mich insgeheim, warum mich das eigentlich so störte. Konnte mir doch egal sein, was alle dachten! Immerhin hatte ich William noch vor wenigen Stunden dasselbe gesagt.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Es sah mir normalerweise nicht ähnlich, wegen so einer Kleinigkeit Aufhebens zu machen. Das musste das Wetter sein. Es war ungewöhnlich warm und schwül für diese Jahreszeit, das schlug wohl auf die Stimmung.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern. Es ist nur, weißt du, normalerweise ist William ein Einzelgänger, und wenn er mit anderen in Kontakt tritt, dann nur, weil er es muss. Aber dich scheint er zu mögen – wirklich zu mögen. Ich meine er hat keine Vorteile von eurer Freundschaft, im Gegenteil, aber trotzdem …“, ließ sie den Gedanken in der Luft hängen. Aber trotzdem…
Ich winkte ab.
„Wenn, dann muss ich mich entschuldigen. Es sieht mir eigentlich nicht ähnlich, jemanden so anzufahren.“
Um meinen Fauxpas von zuvor wieder gut zu machen, nahm ich ihre Hand in meine und drückte sie leicht.
„Also: bitte entschuldige“, bat ich kleinlaut.
„Es … es ist also nicht unangenehm für dich, einen von uns zu berühren?“, wollte Christine leise wissen. In ihrer Stimme lag eine eigenartige Dringlichkeit.
„Ähm … Nein, nur … naja, anders eben“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Christine nickte, mied meinen Blick und schaute unsicher auf ihren Schoß, als schämte sie sich.
„Das klingt jetzt sicher komisch, aber würde es dir etwas ausmachen, mich zu umarmen? Nur ganz kurz? Du bist der erste Mensch seit … seit so vielen Jahren, der …“, ihr versagte die Stimme und sie schaute flehend zu mir auf.
Ohne zu überlegen rutschte ich an ihre Seite und legte langsam meine Arme um ihren steifen, schmächtigen Oberkörper.
„Danke“, wisperte sie in mein Ohr.
„Gern geschehen.“
Christines Augen leuchteten und ich sah, wie viel ihr diese kleine Geste bedeutet hatte. Ich freute mich ins Geheim darüber, denn in der Regel war ich es immer, die getröstet werden musste. Es fühlte sich gut an, auch einmal etwas zurückgeben zu können.
Ein Räuspern ertönte aus Richtung der Tür, und wir beide wirbelten herum und entfernten uns ruckartig voneinander, wie zwei verliebte Teenager, die beim Rummachen erwischt worden waren.
„Darf man fragen, was ihr beiden da treibt?“, wollte Josef amüsiert wissen, der gelassen am Türrahmen lehnte und in sich hinein grinste. Ich zuckte zusammen, als Christine in Vampirgeschwindigkeit an die Seite ihres Bruders huschte.
„Ich habe Emma Klavierunterricht gegeben. William wurde gerufen und musste kurz weg, da hat sich Emma in mein Zimmer verirrt. Sie hat früher auch gespielt, weißt du? Wir haben eben sogar ein kleines Stück im Duett eingeübt“, sprudelte sie aufgeregt drauf los, wie ein kleines Kind, das seinem Vater von einem spannenden Tag im Kindergarten erzählen will. Josef lächelte sanft und streichelte Christine über die Haare.
„Es freut mich, dass ihr beide euch so gut versteht“, erwiderte er, doch etwas schimmerte in den tiefen seiner Augen. Besorgnis? Hatte er etwa Bedenken wegen mir? Warum sollte er? Aber mir blieb keine Zeit, diesem Gedanken lange nachzuhängen, denn etwas anderes rückte in den Fokus meines Interesses, als Josef sich weiter über seine Schwester beugte und die beiden sich küssten. Und zwar nicht auf die typische Bruder-küsst-Schwester-Art, sondern auf die Freund-küsst-Freundin-Art. Ich war so entsetzt, dass ich nicht einmal meinen Blick abwenden konnte.
Vielleicht ist das bei Vampiren ja so üblich, dachte ich entgeistert. Sie trinken Menschenblut, sie töten - warum nicht auch Inzucht?
„Emma, alles okay bei dir?“, erkundigte sich Christine besorgt, nachdem ihr Mund wieder frei war. Josef grinste und legte besitzergreifend einen Arm um sie.
„Ich glaube die Gute denkt, wir sind blutsverwandt, Schatz“, schlussfolgerte er scharfsinnig.
„Seid ihr das denn nicht?“, erwiderte ich. Zugegeben, die beiden machten nicht gerade den Eindruck von Zwillingen, aber es war immerhin keine Seltenheit, dass sich Geschwister nicht ähnlich sahen, oder?
„Du lieber Himmel, nein. Und darüber bin ich heilfroh“, entgegnete Josef.
„Ach so. Verstehe.“
Trotzdem war der Gedanke daran mit jemandem zusammen zu sein, der wie ein Bruder für einen war – verwandt hin oder her – mehr als befremdlich, fand ich.
„Hat William denn nie mit dir über uns gesprochen?“, wunderte sich Christine.
„Überrascht dich das etwa? Du kennst ihn doch. Es hat ja schon fast an ein Weltwunder gegrenzt, dass er sie uns überhaupt vorgestellt hat!“, entgegnete Josef.
„William redet nicht gerne über Privates. Eigentlich weiß ich so gut wie gar nichts von ihm …“, gestand ich. Wir unterhielten uns immer nur darüber, wie mein Tag gelaufen war, über Themen, die ich gerade am College behandelt hatte oder den neusten Klatsch und Tratsch, den ich so aufgeschnappte. Wenn es auf ihn zusteuerte, lenkte er jedes Mal ab und machte die Luken dicht.
„Ich weiß nur, dass er wohl eine höhere Stellung in eurer Hierarchie bekleidet.“
Christine schüttelte empört den Kopf.
„Und das lässt du ihm durchgehen?“
„Was soll ich machen? Er will nicht mit mir darüber sprechen, und dafür hat er sicher seine Gründe“, verteidigte ich ihn, war aber in Stillen ihrer Meinung. Vertraute er mir zu wenig? Glaubte er nach allem, was wir zusammen erlebt hatten, könnte ich die Wahrheit nicht ertragen? Was konnte er zu verbergen haben, das so schrecklich war?
„Eine höhere Stellung … pah …“, stieß Christine verächtlich aus. Josef stieß ihr leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Genug über William gelästert! Außerdem ist das eine Sache zwischen Emma und ihm, das geht uns nichts an. Das müssen die Beiden schon unter sich ausmachen“, mahnte er sie entschieden.
„Aber …“
Josef brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. Leichte Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab, und Christine seufzte ergeben. Vermutlich hatte William ihnen verboten, mit mir über solche Dinge zu sprechen, das würde ihm ähnlich sehen. Das ich überhaupt mit ihnen sprach, würde ihm wahrscheinlich schon gegen den Strich gehen, doch irgendwie gefiel mir der Gedanke, ihn aus der Bahn zu werfen. Wenigstens ein kleines bisschen. Aber ich wollte die Beiden auch nicht in Schwierigkeiten bringen, also widerstand ich dem fast übermächtigen Verlangen, sie ein wenig über William auszuhorchen, und somit war das Thema vom Tisch, zumindest für den Moment.
„Kannst du auch Klavier spielen?“, lenkte ich das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema und deutete auf den Flügel.
„Ich? Nein, ich bin nicht der musisch veranlagte Typ, ich bin eher handwerklich orientiert. Viele der Möbel in diesem Haus habe ich selbst gezimmert“, erzählte er stolz.
„Josef hat eine Werkstatt in einer der Garagen. Das Holz fällt er selbst im Wald“, ergänzte Christine.
„Unsterblichkeit bringt viel Zeit mit sich, da sucht man sich besser ein Hobby. Da wir keiner regulären Arbeit nachgehen können wie Gabriel und Helen, sitzen wir praktisch in diesem Haus fest“, gab Josef leichthin von sich. „Also falls du je einen Schrank, Stuhl, Tisch oder sonst was gebrauchen solltest, bin ich dein Mann.“
Christine deutete auf mehrere Schränke und den Klavierschemel.
„Alles Originale, wie die Regale in Williams Bibliothek. Sie sind wunderschön, nicht wahr?“
Ich nickte erstaunt. Das waren sie in der Tat.
„Kurz und gut: Ich bin der Picasso des Holzes“, fasste Josef zusammen. „Aber ich wollte euch Zwei nicht stören. Ich gehe besser wieder in die Werkstatt und…“
„Bleib doch und hör uns ein wenig zu! Emma hat sicher nichts dagegen, oder Emma?“, bat Christine.
„Nein, natürlich nicht. Ich würde mich freuen, wenn du noch ein bisschen hier bleibst“, erwiderte ich.
„Wenn das so ist, wie könnte ich da nein sagen?“, willigte Josef ein, drückte Christine noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und zwinkerte mir fröhlich zu, bevor er auf das Sofa zusteuerte, das am nächsten zum Flügel stand. Wir machten mit dem Spielen da weiter, wo wir aufgehört hatten, während Josef schweigend hinter uns saß und lauschte. Später schaffte es Christine sogar, ihn nach einiger Überzeugungsarbeit dazu zu bringen, ebenfalls etwas zum Besten zu geben. Auch wenn es nicht im Entferntesten an ihr eigenes Spiel herankam, war es für einen Amateur gar nicht so übel.
Christine und ich würdigten seinen spontanen Einsatz mit kräftigem Applaus und Josef verbeugte sich gespielt übertrieben.
„Danke, danke, sie waren ein ganz fantastisches Publikum, danke meine Dam…“, brach er plötzlich mitten im Satz ab und starrte entsetzt zur Tür. Ich brauchte mich nicht erst umzudrehen um zu wissen, wer dafür verantwortlich war.
„Was hat das hier zu bedeuten?“, begrüßte mich William verärgert und war mit einem Augenschlag am anderen Ende des Raumes. Er verschränkte seine Arme und baute sich gebieterisch vor mir auf, den Mund zu einer strengen Linie zusammengekniffen.
Erschöpft. Genervt.
Warum auch immer er gerufen worden war, etwas Erfreuliches war es wohl nicht gewesen, seiner derzeitigen Stimmung zu urteilen.
„Ich … ich habe Christine Klavier spielen gehört. Eins kam zum anderen und sie hat mich eingeladen, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten“, erklärte ich.
„Hattest du mir nicht versprochen, in der Bibliothek zu bleiben?“
„Ich …“, begann ich und senkte entschuldigend meinen Kopf. Stimmt, da war doch was in der Richtung gewesen …
„Du was?“, herrschte er mich an, jedes Wort gesetzt wie ein Messerstich. Ich zuckte zusammen.
Wut.
Na toll, jetzt hatte seine Laune ihren Höhepunkt erreicht. Wenn er erst einmal so drauf war, ließ er nicht mehr mit sich reden.
„Christine ist gefährlich! Sie kann ihren Durst kaum kontrollieren, und du marschierst mit deinem Puls einfach seelenruhig in ihr Zimmer, als ob nichts wäre!“, schrie er nun fast. Das seine Cousine anwesend war, schien ihn nicht im mindesten zu interessieren. „Ich habe dir geschworen, dich zu beschützen, aber du machst es mir verdammt noch mal nicht gerade leicht, diesen Schwur zu halten!“
Ich seufzte. Die alte Leier.
Als ich gerade zu einer Erwiderung ansetzten wollte, entfuhr mir ein gedehntes Gähnen. Es war wohl doch später geworden, als William angekündigt hatte.
„Können wir … können wir uns bitte morgen Abend weiterstreiten und du fährst mich jetzt einfach nach Hause? Du bist genervt und ich bin zu müde, um dir etwas entgegensetzten zu können “, gab ich frei heraus zu in der Hoffnung, ihm so den Wind aus den Segeln zu nehmen. William atmete hörbar aus uns schürzte die Lippen.
„Verzeih, es war … ein langer Abend. Du hast Recht, wir sollten diese Auseinandersetzung zu einem geeigneteren Zeitpunkt weiterführen – unter vier Augen“, entgegnete er mit einem Seitenblick auf Christine und Josef. Die beiden standen ein wenig abseits und hatten das Gespräch stillschweigend mit verfolgt. Auf ihren Gesichtern zeigte sich keinerlei Regung, doch ich hätte zu gerne gewusst, was wohl in diesem Moment in ihren Köpfen vor sich ging.
„Also ...“, begann ich an Christine gewandt, auch wenn ich William neben mir förmlich brodeln hören konnte. „Danke für den Unterricht, es hat wirklich Spaß gemacht.“
„Mir … mir auch“, gestand Christine.
Sie warf William kurz einen abschätzenden Blick zu, dann senkte auch sie beschämt den Kopf.
„Hättest … hättest du Lust, mich noch einmal zu besuchen? … Nächsten Samstag vielleicht?“
„Die ganze Sache gefällt mir nicht“, ließ William nun schon zum zehnten Mal an diesem Abend verlauten, während wir das schmiedeeiserene Tor zum Anwesen der Reynolds passierten. Wie versprochen war ich heute mit Christine zum Klavier spielen verabredet, was Mr. Pessimismus natürlich ganz und gar nicht in den Kram passte. Seit wir losgefahren waren, versuchte er nun schon, mich wieder zum Umkehren zu bewegen. Wir waren sowieso schon spät dran, weil er sich anfangs geweigert hatte, mich überhaupt zu fahren.
„Wir sind da, gib’s auf“, entgegnete ich gut gelaunt.
Mit seinen schimmernden, blauen Augen starrte er mich ratlos an, dann schüttelte er resignierend den Kopf.
„Ich werde in deiner Nähe bleiben, falls du mich brauchst.“
Kaum hatte ich das Haus der Reynolds betreten, kam Christine schon die Treppe hinunter geschwebt. Wie immer war sie ganz in schwarz gekleidet, trug eine dunkle Jeans und ein blusenmäßiges Longshirt, das mit vielen Schleifen und Ketten im Gothikstil versehen war. Ihr imposantes, schwarzes Haar hatte sie kunstvoll zu einem Zopf zusammengefasst. Unter Williams vernichtenden Blicken begrüßte sie mich schüchtern. Dieser unmögliche Kerl konnte es einfach nicht lassen! Wann würde er endlich begreifen, dass ich bei ihm und seiner Familie nicht in Gefahr war?
William setzte sich auf den Platz, den Josef vorherige Woche für sich vereinnahmt hatte, und ließ mich buchstäblich keine Sekunde aus den Augen, während Christine mit mir zu Gange war. Ich konnte förmlich seinen bohrenden Blick in meinem Rücken spüren, der jeder meiner Bewegungen folgte. Als Josef und kurze Zeit später Helen und Gabriel vorbeischauten, um Hallo zu sagen, stand William blitzschnell auf, trat an meine Seite und funkelte die Neuankömmlinge finster an, wie ein Hund, der ein Stück Knochen verteidigt. Ich verdrehte nur die Augen, erwiderte das Hallo und schlug William in Gedanken mit dem Flügel eins über. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Wahnsinn jedoch, als ich austreten musste und William darauf bestand, mich zu begleiten.
„Meinst du nicht, dass du ein kleines bisschen übertreibst?“, fragte ich genervt, während er mir zum Bad folgte.
Ein verärgertes „Nein“ war die einzige Reaktion, die ich auf meine Frage bekam. Ich seufzte, betrat das Bad und war erleichtert, als er mich ohne Gegenwehr die Tür zu machen ließ. Fast hatte ich erwartet, er würde darauf bestehen, mit hinein zu kommen. Zugetraut hätte ich es ihm, so wie er heute wieder drauf war.
Ich beschloss, ihn einfach so gut es ging zu ignorieren, bis er wieder zur Vernunft gekommen war. In dem Versuch, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, hielt ich beim Herauskommen meinen Blick starr geradeaus an die gegenüberliegende Wand gerichtet (in die entgegengesetzte Richtung von William zu starren wäre dann wohl doch ein wenig zu auffällig gewesen), wo sich eine Tür befand, die mir vorher noch nie aufgefallen war. Naja, immerhin war ich ja auch noch nicht oft hier gewesen, und letztes Mal hatte mich Christines Klavierspiel alles anderen vergessen lassen.
Wie in Trance trat ich einen, dann noch einen Schritt näher heran und blieb schließlich mitten im Gang wie angewurzelt stehen. Eine merkwürdige Energie ging von der Tür aus, oder von dem, was sich dahinter verbarg. Ähnliche Zeichen wie auf Williams Schreibtisch waren in den massiven Holzrahmen geschnitzt, was die Tür von den anderen auf dem Flur unterschied. Die Energie schien nach mir zu greifen, mich zu sich zu rufen, und ich folgte dem Ruf, ohne mich darüber zu wundern. Es war ein trauriges Wehklagen, das mir durch Mark und Bein fuhr. Ich wollte diese Schmerzen lindern, musste diese Schmerzen lindern.
„… Emma …?!“
Irgendwo in einem entfernten Winkel meines Gehirns realisierte ich, dass William meinen Namen rief, aber es war so leise, dass ich nicht darauf einging. Es gab Wichtigeres. Die Tür, ich musste sie öffnen.
Ich wollte einen weiteren Schritt nach vorne wagen, als William plötzlich vor mir stand und mich am Weitergehen hinderte. Er hatte meine ausgestreckte Hand mit seiner eingefangen und hielt mich am Handgelenk fest, mit der anderen Hand rüttelte er schmerzhaft an meiner Schulter, bis ich ihm in die Augen sah. Seine Worte wurden lauter, klarer, und ich merkte, dass er fast schon schrie.
„Emma, hör auf damit! Hörst du mich? Emma!“
„Was war das gerade?“, brachte ich heraus, in dem Versuch, meine Benommenheit abzuschütteln. Es funktionierte.
William ließ sofort erleichtert von mir ab, und ich rieb mir geistesabwesend mein Handgelenk.
„Was ist hinter dieser Tür?“
„Eric experimentiert gerne mit seinen Fähigkeiten. Du bist noch neu in dieser Welt und daher besonders anfällig für jede Form von übermenschlicher Energie. Du bist noch nicht in der Lage, dich gegen sie abzuschirmen“, erklärte William, als rede er über das Wetter. „Halte dich in Zukunft einfach von der Tür fern und geh nicht zu nah ran. Wenn du gebührenden Abstand hältst, sollte so etwas nicht noch einmal vorkommen.“
Er sah mich mahnend an.
„Ich … ich werde es mir merken.“
„Gut, dann lass uns wieder zurück ins Zimmer gehen“, sagte er betont ruhig und wies mir mit dem Arm, vor zu gehen. Christine stand besorgt im Türrahmen und Josef, Helen und Gabriel waren die Treppe hinaufgeeilt, um nach dem Rechten zu sehen. Williams lauter Tonfall musste sie alarmiert haben.
Ich lächelte um ihnen zu zeigen, dass alles in Ordnung war, und William befahl ihnen, wieder ihren Aufgaben nachzugehen. Gleich darauf lösten sich die drei in Luft auf und wir waren wieder die Einzigen auf dem Gang.
Ich wusste nicht, was es war, aber etwas an der ganzen Sache kam mir komisch vor. Es hatte sich nicht nur um bloße Energie gehandelt, die mich in ihren Bann gezogen hatte, da war ich mit sicher. Ich hatte etwas Lebendiges gespürt, Gefühle – und zwar nicht die von Eric. Was das anging, betrug mich mein Gespür nie. Was verbarg sich also wirklich hinter der geheimnisvollen Tür?
Zu Williams Missfallen war aus den zwei Samstagen schnell eine Tradition geworden. Meistens holte mich William gegen acht Uhr ab und Gabriel wartete dann schon mit einem seiner inzwischen berühmt berüchtigten Essen. Anschließend spielte ich Klavier mit Christine, und danach besuchten wir entweder Josef in seiner Werkstatt oder die ganze Familie, abgesehen von Eric, kam im Wohnzimmer zusammen und wir spielten Karten (Pokern war eine Art „Volkssport“ unter Vampiren, wie Josef es einmal ausgedrückt hatte).
Als ich William einmal auf Eric angesprochen hatte, hatte er nur gesagt, Eric ginge privaten Angelegenheiten nach, und er sei nur noch für kurze Zeit auf Besuch. Besonders ausführlich war das nicht gewesen, aber typisch William war es alles, was ich aus ihm hatte heraus kitzeln können. Auch Christine und die Anderen waren bei dem Thema nicht gerade gesprächig. Ich vermutete, dass es etwas mit dem Vorfall an der seltsamen Tür von neulich zu tun hatte, der peinlich totgeschwiegen wurde.
Ich hatte Williams Rat zwar beherzigt und die Tür so gut wie möglich ignoriert, doch die Neugier blieb. Aber ich war nicht dumm. Auch wenn ich nicht mehr in ihren Bann geriet, so konnte ich die starke übernatürliche Energie, die aus dem Raum zu strömen schien, immer noch deutlich spüren. Der gesunde Menschenverstand war also ausnahmsweise einmal stärker als meine Neugier.
Eric war jedoch nicht der einzige, der mir zurzeit Kopfzerbrechen bereitete. Als Taylor zwei Wochen hintereinander nicht zu ihren Vorlesungen und der AG erschienen war, erreichte mich Donnerstagabend eine Mail von ihr.
Ich hatte einen kräftigen Schub und die Anfälle kommen jetzt fast täglich. Meine Cousins sind angereist, also konnte ich dich nicht anrufen – kein Kontakt mehr mit Jägern und so, du weißt schon. Die drei lassen mich keine Sekunde aus den Augen. Sie denken ich spiele gerade Angry Birds auf meinem Handy.
Ich weiß, dass klingt jetzt seltsam, aber mach dir bitte nicht allzu viele Sorgen um mich. Ich werde dir noch länger erhalten bleiben, als du es vermutlich erträgst ;)
Taylor
Seitdem hatte sie sich nicht wieder gemeldet, und natürlich machte ich mir trotzdem die größten Sorgen. Mir war schleierhaft, woher sie in dieser Situation ihren Optimismus nahm. Sie würde vermutlich noch in den Sekunden ihres Todes irgendeinen flotten Spruch loslassen, wie ich sie kannte, und Matthew und die anderen würden dumm aus der Wäsche gucken.
Taylor. Ich konnte kaum glauben, dass ich sie nie wieder sehen würde. Ausgerechnet jetzt, da sie mich am meisten brauchte, konnte ich nicht für sie da sein. Hatte sie schmerzen? Angst? Wann würde Matthew entscheiden, dass sie zu weit gegangen war, und sie umbringen? War sie vielleicht sogar schon ... Nein, an so etwas durfte ich erst gar nicht denken!
Vielleicht geschah doch noch ein Wunder und alles würde wieder gut werden. Ich werde dir noch länger erhalten bleiben, als du es vermutlich erträgst – ja, sie führte definitiv etwas im Schilde. Aber was?
Der Samstag hatte also inzwischen den Freitag abgelöst und war zu meinem Lieblingstag der Woche avanciert. Selbst William schien sich langsam mit dem Gedanken anzufreunden, dass an den Samstagstreffen nichts mehr zu rütteln war. Neuerdings ließ er mich sogar mit Christine allein und verzog sich in sein Zimmer, um seinen ominösen Vampirgeschäften nachzugehen.
„So, genug geübt für heute, sonst beschwert sich Josef wieder, ich hätte dich zu lange in Beschlag genommen“, beendete Christine den Unterricht für diesen Abend.
„Was steht für heute auf dem Plan?“, fragte ich.
„Canasta, glaube ich. Sagst du William Bescheid? Dann hole ich inzwischen Josef aus der Werkstatt.“
Schon war sie verschwunden.
Ich stand auf und steuerte in die Richtung von Williams Zimmer. Kaum, dass ich den Raum verlassen hatte, spürte ich wieder diese Energie, die von der seltsamen Tür ausging. Nein, es war noch nicht die Energie, etwas baute Energie auf.
Ich wollte mich von der Tür abwenden, wie ich es inzwischen gewohnt war, aber plötzlich konnte ich mich nicht mehr von der Stelle bewegen. Die Macht, die aus dem Raum strömte, wurde stärker, greifbarer, bis sie schließlich bei mir angelangt war. Im Bruchteil einer Sekunde rauschten verzweifelte Schreie durch meinen Kopf. Ich sah Bilder, die so schnell auf mich einschlugen, dass ich mir nicht eines davon merken konnte.
Angst. Panische Angst. Schmerz.
Ich konnte den Schmerz so deutlich fühlen, als sei es mein eigener, Höllenschmerzen, die mich von innen heraus zu verbrennen drohten. Alles um mich herum verlor seine Konturen, und ich konnte kaum noch atmen, geschweige denn um Hilfe schreien. Die Energie war freigesetzt und verbreitete sich wie eine Welle rasend schnell über das ganze Stockwerk, als wolle sie es in die Luft jagen. Jemand musste den Auslöser stoppen, bevor es zu spät war.
Etwas in mir regte sich bei diesem Gedanken. DU kannst es. Du kannst es stoppen. Du hast die Macht dazu.
Woher diese Eingebung kam, wusste ich nicht, aber ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Mein Körper hatte bereits für mich entschieden, und trotz meiner eingeschränkten Sicht gelang es mir, den Türknopf zu greifen. Ein eigenartiges Knistern überlief meine Haut, aber ich ignorierte es, drehte meine Hand herum und öffnete die Tür.
Schlagartig ebbte die Welle ab und die Energie zog sich an ihren Ursprungsort zurück. Das Zimmer saugte die Energie ein wie ein Staubsauger, und so schnell wie alles begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Keine Stimmen mehr. Keine Schreie. Keine Schmerzen.
Von dem starken Sog mitgerissen stolperte ich unbeholfen über die Türschwelle. Ich musste einige Male blinzeln bis meine Sicht wieder hergestellt war und ich, erst verschwommen, dann immer deutlicher, die Umrisse eines kleinen Mädchens erkennen konnte, das nur wenige Meter vor mir in der Mitte des Raumes stand – einem Monstermädchen, um genauer zu sein.
Ich keuchte entsetzt und schlug die Hand vor den Mund. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so angsteinflößendes gesehen. Aus ihrem fast kahlen Schädel, über den sich picklige, abgenutzte Haut spannte, sprossen nur einige dünne, fettige Haarbüschel. Ihre Regenbogenhaut war von einem satten Rot, der Rest, der eigentlich weiß hätte sein sollen, pechschwarz. Außerdem hatten ihre Augen eine eigenartige Form. Sie waren zu lang und schmal, als habe man sie durch Gewalt in die Länge gezogen. Wie bei dem Vampir aus meinem Traum verliefen in einem Radius von einigen Zentimetern rund um ihre Augen graue, hervorstechende Linien, die sich aus der Haut wölbten und von einem dunklen Schatten untermalt wurden. Ihren Mund hatte sie leicht geöffnet, was zwei Reihen von Haifischzähnen entblößte. Um es kurz zu machen: Die Kleine war der personifizierte Horrorfilm.
Als ich mir gerade überlegte, ob ich lieber in Ohnmacht fallen oder wie eine Irre drauf los schreien sollte, veränderte sich das Aussehen des Kindes von einer Sekunde auf die andere, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Aus der spärlichen Kopfbehaarung wurden schulterlange, weißgraue Haare, die sich in großen Locken um ihren zarten Kopf wiegten. Ihre Augen zogen nach und wurden komplett weiß, die grauen Linien verblassten. Auch die Zähne wurden kleiner, nur die Schneidezähne blieben, wie sie waren. Ihr Gesicht war nun von geradezu vollkommener, markelloser, fast weißer Haut überzogen, die aussah wie Porzellan. Ihre rosigen Lippen bildeten einen hübschen Kontrast dazu. Es war, als hätte ich mir die grausige Gestalt von zuvor nur eingebildet.
Jetzt, da ihr Gesicht fast menschlich aussah, wagte ich es, meinen Blick davon loszueisen und ihren restlichen Körper genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Kleine trug ein aufwändiges, langärmeliges, weiß-blaues Rüschenkleid, das ihr bis über die Knie reichte, und in Kombination mit den langen, weißen, vornehmen Schnürstiefeln und dem weißen Haarband, das ihre Locken zu bändigen versuchte, sah sie aus wie eine vornehme, junge Lady aus einem früheren Jahrhundert – abgesehen von der Augensache natürlich. Von einem Extrem zum Anderen. Wer war sie? Was tat sie hier? War sie die Quelle der mysteriösen Energie gewesen? Was hatte Eric mit ihr zu tun?
Doch noch ehe ich mir überlegen konnte, was ich als nächstes tun sollte, riss die kleine schlagartig ihren Mund auf und schrie aus Leibeskräften drauf los. Erschrocken hielt ich mir die Ohren zu, um dem schrillen, unerträglich lauten Klang zu entkommen, als mich plötzlich jemand von hinten packte, auf seine Arme hob und in atemberaubender Geschwindigkeit mit mir davonjagte. Ich konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf Gabriel und Christine erhaschen, die ins Zimmer gestürzt kamen, bevor ich mich nur Augenblicke später im Wald wiederfand.
Ich löste meine Hände von dem dunklen Stoff, in den ich sie instinktiv hinein gegraben hatte, und schaute in Williams wütendes Gesicht, zu dessen Oberteil er gehörte. Ohne ein Wort entließ er mich aus seinem Griff, verschränkte die Arme, wie er es so oft tat, wenn er sauer war, und starrte mich nieder. Er atmete ein paar Mal hörbar ein und aus, bis er schließlich doch als erster sein Schweigen brach.
„Was genau hast du an halte dich von der Tür fern nicht verstanden? Ist dir klar, was du für ein unfassbares Glück hast, dass du jetzt überhaupt noch am Leben bist?“, spie er aus und trat einen bedrohlichen Schritt auf mich zu, um seine Worte zu untermauern.
„Ich wollte die dämliche Tür eigentlich gar nicht öffnen! Es … es ist einfach passiert! Mal abgesehen davon bist du doch nur sauer, weil du mich angelogen hast und ich dir auf die Schliche gekommen bin! Da brauchst du dich nicht zu wundern, dass ich nicht nach deiner Pfeife tanze! Wie soll ich dir je vertrauen, wenn es dir offensichtlich so schwer fällt, mir zu vertrauen?“, schleuderte ich nicht minder aufgebracht zurück und blinzelte Tränen der Wut und der Enttäuschung aus meinen Augenwinkeln, die sich ungewollt dort eingenistet hatten. William kam noch einen weiteren Schritt näher, und wir standen nun fast Körper an Körper.
„Glaubst du das wirklich? Das ich dir nicht vertraue?“
Er umfasste meine schmalen Oberarme mit seinen kräftigen Händen.
„Emma, ich vertraue dir mehr als jedem anderen, aber genau aus diesem Grund möchte ich dich beschützen! Ich gestehe dir zu, dass du gewisse Kräfte besitzt, die unsere Verbindung erst möglich gemacht haben, aber das verleiht dir noch lange keinen Freifahrschein für deine Sicherheit in meiner Welt! Die wirklich Mächtigen unter uns werden sich von deinen kleinen Tricksereien bestimmt nicht aufhalten lassen, dir trotzdem die Kehle aufzuschlitzen, wenn ihnen der Sinn danach steht! Außerdem weißt du jetzt schon mehr über uns, als vermutlich jeder normale Mensch verkraften würde. Du hast den brutalen Tod deiner Mutter und anderer unschuldiger Menschen mit eigenen Augen gesehen, reicht dir das etwa noch nicht? Muss ich erst vor deinen Augen jemanden aussaugen um dich davon zu überzeugen, dass du gewisse Dinge gar nicht erst wissen willst?“, die letzte Frage schrie er fast. Das eisige Blau seiner Augen funkelte gefährlich.
„Du hast Recht. Die Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit gemacht habe, waren schrecklich. Aber weißt du, was damals das Schlimmste für mich war? Nicht zu wissen, wovor ich mich eigentlich fürchten sollte, vor unbekannten Schatten davon zu laufen. Du musst mir ja nicht jede gottverdammte Einzelheit erzählen. Nur ab und zu so was wie Übrigens, in dem Zimmer da wohnt ein kleines Monstermädchen oder Hey, hab ich eigentlich schon erwähnt, dass es auch Vampire gibt, die kein Menschenblut trinken wäre ganz nett. Was soll ich also deiner Meinung nach denken, wenn du mir solche grundlegenden Dinge verschweigst? Ich … ich verstehe einfach nicht, wo dein Problem liegt!“, schleuderte ich zurück.
Ohne etwas zu erwidern schnappte sich William unvermittelt mein Handgelenk, drehte sich um und marschierte los. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden, doch ich hätte genauso gut versuchen können, mich aus einem Schraubstock zu befreien.
„H-hey, was tust du da? Wo gehen wir hin?“, beschwerte ich mich.
Meinen Protest bewusst ignorierend, zog er mich unverfroren weiter hinter sich her, ohne sich nach mir umzusehen. Irgendwann gab ich auf und folgte ihm gehorsam durch den dunklen Wald, meine Entrüstung in mich hineinfressend. Jedes Mal, wenn ich über einen Ast stolperte, wartete er kurz, bis ich mich wieder gefangen hatte, dann ging es weiter wie zuvor. Ich hatte Mühe, mit seinem strammen Tempo mitzuhalten, aber auch das kratzte ihn nur wenig. Was hatte er nun wieder vor? Seine Drohung von zuvor wahr machen und wirklich jemanden beißen? Nein, das würde er nie tun! ... Oder doch?
Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit schmollend hinter ihm her getaumelt war, erschien endlich ein Licht am Ende des Tunnels, im wahrsten Sinne des Wortes. Zwischen die Bäume begann, sich ein schwaches Leuchten zu schlängeln, das mit der Zeit immer mehr Bäume einhüllte und uns näher an seine Quelle heranführte. Als wir weiter dran waren, breitete es sich zu einem Lichtermeer mitten im Wald aus, eine leuchtende Lichtung, aus der eigenartige Gebilde hervor lugten, die ich noch nicht genauer bestimmen konnte.
Einige Minuten später erkannte ich schließlich, was das Ziel dieser kleinen Wanderung war. Wir durchbrachen die letzten Bäume, die uns von dem Ursprung der Lichter trennten, und standen schließlich am Fuße eines Friedhofs. Endlich blieb William stehen und ließ mein Handgelenk wieder los.
Vor den Gräberreihen standen zwei lebensgroße Engelsstatuen und bildeten eine Art Eingangsportal. Eine steinerne Träne lief jeder der beiden Schönheiten über die Wange, und ihre Züge wirkten besorgt und mütterlich, als ob sie sich um all die Seelen sorgten, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten.
William ließ mich gewähren, als ich die zwei passierte und neugierig ins Innere der Gedenkstätte vordrang. Jedes Grab war sorgsam gepflegt, mit Blumen und einer leuchtenden Petroleumlampe dekoriert (daher die vielen Lichter), und besaß einen individuellen Grabstein mit Namen und den üblichen Inschriften. Einige zeigten allerdings auch an Stelle des Namens lediglich eine Art Beschreibung der Person auf wie zum Beispiel junge, braunhaarige Kellnerin und das Datum ihres Todes. Manche reichten teilweise bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Um die Größe der Lichtung besser einschätzen zu können, zählte ich je die Gräber einer Reihe und einer Spalte und kam so auf die grobe Zahl von ungefähr fünfhundert Gräbern.
Fast am anderen Ende des Friedhofes angelangt befand sich ein Altar, der mit Abstand das mächtigste Steingebilde abgesehen von den beiden Engeln am Eingang darstellte. Ein großes Kreuz prangte dahinter, das auf einem Steinblock thronte. In der Mitte des massiven Kreuzes befand sich ein Hohlraum, in den eine Lampe eingelassen war. Es war dieselbe Sorte wie die auf den Gräbern. Sie diente dazu den Altar zu erhellen, in den, durch ein Glasdach von der Außenwelt abgeschirmt, ein großes, altes Buch eingelassen war. Über dem Glasdach stand eingemeißelt: An jene, die durch unsere Hand ihr Leben ließen. Möget ihr in Frieden ruhen. Das Buch lag aufgeschlagen da und gab den Blick auf handgeschriebene Notizen frei. Manche nur bloße Gedanken, manche ähnlich Gedichten, manche Nachrichten an kürzlich Verstorben. Die neuste war nur wenige Monate alt.
Vergib mir, Jason, dass ich dir das Kostbarste genommen habe, was uns auf Erden geschenkt ist. Meine Seele wird auf Ewig Buße tun und deiner Gedenken. Ich hoffe, du bist nun an einem schöneren Ort, stand dort in feinsäuberlicher Handschrift. Unterschrieben war mit Christine. Da verstand ich. Zaghaft fuhr ich mit einer Hand über die Inschrift.
Durch unsere Hand.
Ich trat einen Schritt zurück und suchte die Kanten des Altars ab – und ich wurde fündig. Kaum zu erkennen, war am rechten, unteren Rand ein kleines, verschnörkeltes J eingraviert. Josefs Erkennungszeichen. Er versah all seine Möbel damit, oder in diesem Fall Skulpturen. Josef hatte diesen Altar gefertigt, genauso wie vermutlich auch die unzähligen Grabsteine. Alle Menschen, die hier begraben wurden, waren keinen natürlichen Tod gestorben. Sie waren Vampiren zum Opfer gefallen: Josef, Christine und William. Jeder von ihnen hatte seinen Teil hierzu beigetragen, und würde es auch weiterhin tun.
„Eine Tradition, die Gabriel eingeführt hat, als er mit seiner Familie hierher kam“, erklärte William.
Ich wandte mich vom Altar ab und schaute hinter mich. Er war mir gefolgt.
„Manchmal, wenn ich den Mut dazu aufbringen kann, komme ich hierher. Zünde eine Kerze an. Spreche ein Gebet. Es ist alles was ich tun kann, um für die hunderte von Leben, die ich ausgelöscht habe, Buße zu tun“, gestand er leise.
Er lief zu einem nahegelegenen Grabstein und legte behutsam seine Handfläche darauf.
„Ich beneide die Menschen hier. Ich werde nie haben können, was ihnen so selbstverständlich zusteht. Frieden ist ein mächtiges Wort, besonders für jene meiner Art.“
Ich machte einige vorsichtige Schritte in seine Richtung, blieb aber auf gebührendem Abstand.
„Ihr habt hier einen wundervollen Ort geschaffen und den Menschen eine würdige letzte Ruhestätte gegeben. Ihr habt getan, was ihr konntet.“
Traurig drehte er sich zu mir um.
„So schön dieser Ort auch sein mag, es ist keine geweihte Erde. Sie hatten nie die Trauerfeier, die sie verdient hätten. Ihre Körper liegen hier, ohne je beweint worden zu sein. Eine grausame Einsamkeit, findest du nicht?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie sind nicht einsam. Ihr habt dafür gesorgt, dass sie nicht einsam sind“, widersprach ich ihm, aber ich spürte seine tiefe Trauer und wusste, dass ihm meine Worte kaum Trost schenken konnten.
Dann tat William etwas, das er noch nie zuvor getan hatte. Langsam schritt er auf mich zu, bis er schließlich direkt vor mir stehen blieb. Ich hielt unwillkürlich die Luft an. Zaghaft legte er seine großen, mächtigen Hände an meine Wangen und umrahmte mein Gesicht.
„Ich habe ständig Angst, dein Grab könnte das Nächste sein. Das könnte ich nicht ertragen, Emma! Wie könnte ich dir da etwas anvertrauen, von dem ich weiß, dass es dich noch mehr in meine Welt hineinziehen würde? Wenn es dazu führen könnte, sei die Chance auch noch so gering, dass ich dich hier begraben müsste? Wie könnte ich?“
Erschöpft legte er seine kühle Stirn an meine und schloss die Augen.
„Ich will dich beschützen.“
Ich legte meine Hände auf seine und schloss ebenfalls die Augen.
„Ich weiß. Aber durch mein Blut bin ich bereits ein Teil deiner Welt. Versuch nicht zu ändern, was nicht mehr zu ändern ist. Hilf mir lieber, mich in deiner Welt zu Recht zu finden.“
William zog meinen Kopf näher an sich heran, barg ihn an seine muskulöse Brust und umarmte mich.
„Ich will dich nicht verlieren, Emma.“
Ich erwiderte seine Umarmung.
„Das wirst du nicht, versprochen.“
Ich genoss es, Williams Körper an meinem zu spüren. Er roch unheimlich gut, nach Wald und ungehemmter Natur, und in seinen starken Armen fühlte ich mich wie der glücklichste und unbesiegbarste Mensch auf Erden. Als könnte mir nichts etwas anhaben, solange er nur bei mir war. Zwischen uns herrschte eine tiefe Verbundenheit, wie ich sie mit jemand anderem noch nie erlebt hatte. Dieses Gefühl schien so natürlich und richtig zu sein, dass ich mich vollkommen darin verlor. Es gab keine Zweifel. Keine Probleme. Es gab nur ihn und mich und die unerklärliche Vollkommenheit des Augenblickes.
Plötzlich riss mich William aus meinen Gedanken, indem er abrupt von mir abließ und mich hinter sich schob, seine Haltung angriffsbreit. Seinen Blick hatte er angespannt auf eine Gestalt zwischen den beiden Engeln am Eingang gerichtet, die rasant schnell näher kam und schließlich wenige Fuß vor uns Halt machte. Es war ein Mann mittleren Alters, zweifelsohne ein Vampir. Er trug einen vornehmen Businessanzug mit Krawatte, der zu seinem geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck passte. Sein dunkles, kurzes Haar hatte er nach hinten gegeelt. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt, arrogant, seine grünen Augen bedrohlich, als er sie einen unerträglich langen Moment auf mich richtete. Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf William und verbeugte sich gekonnt.
„Wie schön euch wieder zu sehen, Majestät.“
„Ich hoffe, ich störe nicht“, heuchelte er, denn ihm war eindeutig nur zu bewusst, wie sehr er störte, und ihn schien das kein bisschen zu kratzen. Im Gegenteil, er schien die Situation sichtlich zu genießen. Sein Lächeln wurde breiter, doch ich hatte das unbestimmte Gefühl, aus welchen Gründen auch immer er so verdammt gut drauf war – ich würde sicherlich nicht darüber lachen.
„Ich hatte in eurer Stadtresidenz nach euch gesucht, aber man sagte mir, ihr seid bei eurem Onkel. Den guten Gabriel habe ich ja auch schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen, also dachte ich mir, warum nicht gleich vorbeischauen? Unsere Verabredung war zwar erst für morgen angesetzt, aber ein günstiger Zufall erlaubte es mir, früher abzureisen. Und euer Vater wird sich über die frühe Kunde von euch sicherlich … freuen“, meinte er sarkastisch, mit einem abwertenden Seitenblick auf mich.
Stadtresidenz? Majestät? Anscheinend hatte William mehr zu beichten, als ich befürchtet hatte.
„Davon bin ich überzeugt, Javier“, erwiderte William ruhig, doch ich konnte seine innere Anspannung fühlen.
Javier, wie der Mann anscheinend hieß, erwartete nun offensichtlich, dass mich William ihm vorstellte – so deutete ich zumindest die fragenden Blicke, die er mir ununterbrochen zuwarf – aber William schwieg.
„Nun gut“, quittierte Javier schließlich gelassen Williams Schweigen. „Wünscht ihr, dass ich ohne euch zum Haus zurückkehre, Majestät?“
„Nein Javier, ich bin hier fertig“, gab William in einem Ton zurück, der keinen Widerspruch duldete. In der nächsten Sekunde lag ich in seinen Armen und wir rasten, gefolgt von Javier, zum Haus zurück, ohne ein Wort der Erklärung.
Was hatte das alles verdammt noch mal zu bedeuten? Wer war Javier und woher kannte er William und die Reynolds?
Gabriel, Helen, Christine, Josef und das eigenartige, weißhaarige Mädchen warteten bereits im Wohnzimmer auf uns. Sobald wir eintraten standen sie auf, verbeugten sich vor William und warfen mir besorgte Blicke zu.
„Wie ihr selbst sehen könnt, Bote, hat sich seit dem letzten halben Jahr im Hause meines Onkels nichts verändert. Wäre dem so gewesen, hätte der Hof Nachricht von mir erhalten“, erklärte William gebieterisch.
„Das Mädchen lebt noch, in der Tat, aber wie mir scheint ist ein neuer Bewohner hinzugekommen“, erwiderte Javier mit Bedacht und bezog sich nun das erste Mal direkt auf mich, womit er William zu einer direkten Konfrontation zwang.
„Gabriel hat damit nichts zu tun. Es handelt sich hierbei um eine private Angelegenheit meinerseits, über die ich mit meinen Vater bei nächster Gelegenheit selbst zu sprechen gedenke“, gab William zurück, was eine klare Warnung an Javier war.
„Selbstverständlich, Majestät, aber nichts desto trotz erwartet der König meine sofortige Rückmeldung, und ihr wisst, ich bin ihm gegenüber verpflichtet – so gerne ich es euch zu liebe auch verschweigen würde – die Wahrheit zu sagen, die volle …“, er schaute schadenfroh zu mir, „… Wahrheit.“
„Dann werde ich euch begleiten müssen, um euch dieses tragische Dilemma zu ersparen“, entgegnete William kurz angebunden.
„Es wäre mir eine Ehre und ein Privileg, wenn eure Majestät mich begleiten würden, aber ich werde bereits am nächsten Abend abreisen“, ließ Javier mit gespieltem Bedauern verlauten.
„So sei es. Ich werde alles Notwendige veranlassen, um euch bei der morgigen Dämmerung folgen zu können. Ihr seid bis dahin wie immer eingeladen, mein Gast zu sein.“
„Wie eure Hoheit wünschen. Eure Majestät sind zu gütig“, schmeichelte Javier und beugte als Zeichen seiner Dankbarkeit den Kopf. Williams Augen funkelten eiskalt.
„Geht nun, Bote. Ihr werdet in meinem Heim bereits erwartet“, befahl William.
„Sehr wohl, Hoheit.“
Javier verbeugte sich noch ein letztes Mal, dann war er verschwunden.
Eine peinliche Stille legte sich über den Raum, bis schließlich William das Wort ergriff, ehe es jemand anders tun konnte.
„Ich bringe Emma nach Hause. Wir reden, sobald ich wieder da bin“, beschloss er und bedeutete mir, mit ihm zu kommen. Keiner sagte ein Wort, während ich ihm nach draußen folgte und ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen sollen. Was sollte man in so einer Situation auch sagen? Es war ja nicht so, als gäbe es für solche Fälle irgendwelche gesellschaftlichen Konventionen.
Erst nachdem wir losgefahren waren, fand ich meine Sprache wieder.
„Du weißt schon, dass du irgendwann reden musst, oder?“, fragte ich rhetorisch und hob erwartungsvoll eine Augenbraue.
„Ich fürchte, ich habe gar keine andere Wahl. Also bringen wir es hinter uns. Was willst du wissen?“
Ich fühlte mich wie damals, als wir das erste Mal hierher gefahren waren. Kaum zu glauben, dass das schon wieder fast ein Viertel Jahr her sein sollte.
„Welchen Platz hast du in der Vampirhierarchie?“, wollte ich von ihm wissen, obwohl es bei Hoheit ja nicht viele Möglichkeiten gab. Meine Stimme hatte einen anklagenden Tonfall angenommen. Was hatte er mir wohl noch alles verschwiegen?
„Ich bin der Sohn des Königs“, erwiderte er ruhig, ohne mich anzusehen, aber ich spürte, wie aufgewühlt er innerlich war.
Unbewusst ruckte ich auf meinen Sitz ein Stück von ihm weg. Na toll, ich hatte mir nicht nur einen Durchschnittssupervampir angelacht, nein, der Sohn des Vampirkönigs musste es sein! Als ob ich mir in seiner Nähe nicht sowieso schon wie ein nichtsnutziger niemand vorkam! Die dumme, kleine Halbjägerin, die keinen Schimmer von der Welt hatte, in die sie eigentlich gehörte. Die nicht einmal ihre Kräfte kontrollieren konnte. Kein Wunder, dass die Typen in der Halle damals keine Chance gegen ihn gehabt hatten. Das erklärte auch seinen Drang, dauernd alles und jeden rumzukommandieren.
William legte behutsam seine Hand auf meine und ich erstarrte unter der Berührung seiner kühlen Haut.
„Bitte tu das nicht. Es hat sich nichts verändert. Ich bin immer noch der, der ich vorher war.“
Dann schaute er mich direkt an.
„Ich bin immer noch dein Freund.“
Zögernd ließ er wieder von mir ab, und ich zog sofort meine Hand auf meinen Schoß, möglichst weit aus seiner Reichweite.
„Dieser Bote, Javier, was wollte der hier? Warum wart ihr verabredet?“, wollte ich wissen, ohne auf seine Worte einzugehen.
William widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Straße, ein trauriger Ausdruck legte sich über seine Züge.
„Javier ist beauftragt, meinem Vater regelmäßig Bericht von Gabriel zu erstatten. Auf Grund seiner ungewöhnlichen Lebensweise – seiner menschlichen Lebensweise – wurde Gabriel von unserer Art ausgestoßen, aber als Mitglied der Königsfamilie und wegen seines hohen Alters gehört er immer noch zu den Stärksten unter uns. Um ihn im Auge zu behalten wurde ich mit der Aufgabe betraut, im Namen des Königs für eine gewisse Zeit in seiner Nähe zu bleiben. Deshalb sollte ich mich mit Javier treffen.“
„Javier ist also eigentlich nur der Mittelmann zwischen dir und deinem Vater. Du spionierst Gabriel und die Anderen offen aus“, fasste ich zusammen.
„Ja.“
Ich schluckte. Deshalb hatte sich William immer so merkwürdig in der Nähe seines Onkels verhalten, so überlegen. Deshalb verhielt er sich, als gehöre er nicht zur Familie, und deshalb hatte er gezögert, mir Gabriel überhaupt erst vorzustellen. Kein Wunder dass er anfangs nicht besonders begeistert darüber gewesen war, dass wir seinen Onkel jeden Samstag besuchten. Und obwohl die Reynolds wussten, was William tat, hatten sie mich mit offenen Armen willkommen geheißen. Und ich hatte nichts bemerkt. Oder wollte ich nichts bemerken? Wie sollte ich ihnen bloß je wieder in die Augen sehen?
„Du wohnst eigentlich auch nicht bei Gabriel“, vermutete ich.
„Ich habe ein Penthaus in der Stadt. Aber da Gabriel wusste, dass ich oft zu Besuch kommen würde, hat er mir als Zeichen seiner Unterwürfigkeit und des guten Willens Räume in seinem Haus zur Verfügung gestellt.“
Apropos Räume.
„Was hat es mit diesem weißhaarigen Mädchen auf sich?“
William seufzte.
„Manchmal wenn jemand mit unserem Gift infiziert wird, sich in einen von uns verwandelt, gibt es Komplikationen. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Jedenfalls läuft dann die Wandlung nicht so ab, wie sie es sollte, nicht vollständig. Das Monster übernimmt die Kontrolle, bis nichts mehr von der ursprünglichen Persönlichkeit übrig ist. Man ist nicht mehr fähig, rational zu denken, zu handeln, oder überhaupt etwas zu empfinden.“
„Man wird zu einem Dämon“, warf ich leise ein.
„Ja.“
William fragte nicht, woher ich das wusste, er nahm es einfach hin.
„Aber was ist da der Unterschied zu einem Vampir? Hast du nicht selbst gesagt, dass euer Fluch darin besteht, Sklaven eurer Triebe zu sein?“, wunderte ich mich laut.
„Der Unterschied ist, das wir danach Reue empfinden können, Entsetzen, Trauer, Genugtuung. Trotz allem sind wir in der Lage, Gefühle zu empfinden, zu fühlen, auch wenn unsere Instinkte oft die Überhand gewinnen. Ein Dämon ist dazu nicht mehr in der Lage“, erklärte er.
„Heißt das … ist das kleine Mädchen etwa ein Dämon?“
„Noch nicht, aber bald. Ihr Name ist Liliane und sie wurde vor knapp zweihundert Jahren gebissen. Ihr Blut enthielt eine Substanz, die das Vampirgift lange Zeit in Schach gehalten hat, doch sie war nicht stark genug, dass Gift komplett zu neutralisieren. Es hat sich all die Jahre unaufhaltsam durch ihren Körper gefressen und ihn langsam infiziert. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem Schicksal als Dämon zu entkommen: In dem Moment, in dem sich die Wandlung vollendet, der Moment, bevor du deine Persönlichkeit verlierst, genau in dieser Zeit muss man von einem Vampir der Königsfamilie gebissen werden. Nur dieses Gift ist mächtig genug, jemanden noch in einen gewöhnlichen Vampir verwandeln zu können. Injiziert man das Gift davor, vor diesem explosiven Stadium, wird das Gift die Person umbringen, und danach bist du für immer verloren. Bei Liliane hatte sich dieser Prozess zu lange hingezogen um zu wissen, wann der richtige Moment gekommen war, und keiner wollte ihr Leben aufs Spiel setzen.“
Wie schrecklich, so viele Jahre mit diesem Wissen ausharren zu müssen.
„Ist Eric in der Hoffnung zu Gabriel gekommen, er könne Liliane helfen?“
„Nein. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt schon mal gesehen hat. Gabriel war derjenige, der Liliane in die Familie geholt hat.“
„Also hat Eric nichts mit ihr zu tun? Du hast dir die Sache mit ihm nur aus dem Ärmel gezogen, um mich von der Tür fern zu halten? Warum ist er dann zu Gabriel gekommen?“
„Ja, ja und ich weiß es nicht.“
„Wie kannst du das nicht wissen? Ist es nicht dein Job, Gabriel auszuspionieren?“
„Eric ist …“, William suchte nach dem richtigen Wort, „… besonders. Er hat gewisse Beziehungen und Wissen, die kaum ein anderer unserer Art besitzt. Eric wollte, dass der Grund seines Aufenthaltes zwischen Gabriel und ihm bleibt. Ich habe ihm diesen Wunsch gewährt, das heißt, er steht nun in meiner Schuld.“
Mit anderen Worten: Er hatte sich bestechen lassen.
„Warum hast du damals in der Halle nichts von deiner Herkunft gesagt?“, erinnerte ich mich an unser Kennenlernen. „Es hätte sich bestimmt niemand gegen dich gestellt, wenn sie gewusst hätten, wer da vor ihnen steht“, wunderte ich mich laut.
William zuckte nachlässig die Schultern.
„Es sollte keine großen Runden machen, dass man Gabriel noch immer beschatten lässt“, begann er, zu erklären. „Das würde das Königshaus schwach aussehen lassen. Ein Humanoid, der eine Gefahr für den Thron darstellt – das wäre ein gefundenes Fressen für die dynastiefeindlichen Adelsclans. Ich habe mich also bedeckt gehalten, so gut es eben ging.“
„Verstehe ...“
Wir waren inzwischen vor unserem Block angelangt und William parkte gekonnt in eine Lücke zwischen zwei Autos, in die ich mich nicht einmal mit einem Smart rein getraut hätte.
„Wann kommst du wieder?“, wollte ich wissen.
„Der König befindet sich zurzeit in den Staaten, das heißt wenn ich Glück habe, bin ich nur ein paar Tage weg. Während ich verreist bin, werden Gabriel und Helen auf dich aufpassen und an meiner statt vor eurem Haus patroulieren.“
Er kramte aus dem Handschuhfach ein Notizblock und einen Stift heraus und kritzelte in Schönschrift etwas auf einen der Zettel, den er mir anschließend in die Hand drückte.
„Die Handynummer der Beiden und meine, für Notfälle. Verlier sie nicht.“
Ich ließ den Zettel zwischen meinen Fingern verschwinden.
„Werde ich nicht.“
„Ich bin immer noch derselbe, Emma“, flüsterte William rau, während er mir flehend in die Augen sah.
In gewisser Weise hatte er sogar Recht. Ich kannte ihn jetzt genauso wenig wie zuvor. Ich hatte ihn nur nicht für diese Art Person gehalten. Eine Person, die mit jemandem wie Javier zusammenarbeitete, dem Arschloch quasi auf die Stirn geschrieben stand. Ich hatte immer etwas Gutes an ihm wahrgenommen, eine Wärme, die tief aus seinem Inneren zu strömen schien. Aber offensichtlich hatte ich mich geirrt.
„Ich weiß“, entgegnete ich wenig überzeugend.
Ich stieg aus und schlug die Tür zu. Ohne mich noch einmal zu ihm umzudrehen, lief ich zum Hauseingang. Als ich wenige Minuten später aus meinem Fenster schaute, hörte ich nur noch von fern das Geräusch des Motors.
Am darauffolgenden Abend schloss ich mich früher als gewöhnlich in meinem Zimmer ein, in der Hoffnung, William würde sich vor seiner Abreise noch einmal bei mir verabschieden. Ich wartete an meinem Fenster, wie üblich, aber er kam nicht. Es war ein merkwürdiges Gefühl hinaus in die Nacht zu starren und zu wissen, dass er nicht da war, nicht in meiner Nähe. Schon komisch, wie sehr man sich an einen Vampir vor seinem Fenster gewöhnen konnte. Wo war er jetzt? Wie reiste man eigentlich als Vampir? Was würde er schließlich dem König sagen, wenn er ihn traf? Und wie war er wohl, der Vampirkönig?
Es war schwer, sich von meinem kleinen Zimmer aus vorzustellen, wie groß und durchgedreht die Welt jenseits dieser vier Wände war, besonders, wenn William nicht gerade als lebender Beweis an meinem Fensterbrett lehnte. So verlor ich mich für einige Zeit in dem Gedanken, dass alles, was ich in den letzten Monaten erlebt hatte, nur ein abgefahrener Traum gewesen war. William, Taylor, mein Großvater. Aber ich gab mich nicht lange der Illusion hin, dieser Gedanke könnte wahr sein. Schockierender Weise stellte ich fest, dass mir das gar nicht mehr so viel ausmachte. Bald grübelte ich darüber nach, was ich zu dem weißhaarigen Mädchen sagen sollte, falls ich sie wieder sah, oder wie der König auf Williams Nachricht reagieren würde, wobei ich mich bemühte, Negatives kategorisch nicht in Erwägung zu ziehen, was leider nur mäßig klappte. Nach einigen besonders apokalyptischen Hypothesen beschloss ich, es für den Tag besser gut sein zu lassen und ausnahmsweise zu einer humanen Zeit ins Bett zu gehen.
Als ich das Fenster zumachen wollte, nahm ich eine bekannte Aura war. Ich ließ meinen Blick die leere Straße entlang schweifen und sah Gabriel vor unserem Nachbarhaus stehen. William hatte also Ersatz für sich organisiert, wie er es gesagt hatte. Ob er eben erst gekommen war? Ich hatte vorher gar nichts gespürt.
Er winkte mir freundlich zu und ich winkte verlegen zurück, dann verschwand er wieder in die Dunkelheit. Vermutlich wollte er mir nur gute Nacht sagen. Ich schloss das Fenster wie gehabt, machte mich bettfertig und schlüpfte unter die warmen Decken.
Es wurde eine unruhige Nacht. Einmal bildete ich mir sogar kurz ein, Williams Aura zu spüren, doch das Gefühl war rasch wieder verflogen, und ich verschwendete nicht allzu viele Gedanken daran. Nur ein Traum von vielen.
Normalerweise benutzte ich mein Handy so gut wie nie, weder als Konsole, noch als MP3-Player oder zum Surfen im Internet, geschweige denn zum SMS-Schreiben oder Telefonieren. Ich besaß es auch eigentlich nur, weil Naomi und mein Dad darauf bestanden hatten, für Notfälle, wie sie meinten, die bis jetzt jedoch nur daraus bestanden hatten, mir die Fahrt in einem Taxi zu ersparen und stattdessen Naomi und Logan zu meinen Chauffeuren zu machen. Sie hatten das Ganze ja immerhin provoziert, warum also nicht auch seinen Nutzen daraus ziehen?
Umso überraschter war ich, als ich montags mitten in einer Vorlesung, lautstark angekündigt durch Mr. Postmann von den Beatles, eine SMS bekam, was mir allgemeines Gelächter und einen angesäuerten Blick von meinem Professor einbrachte.
„Miss Hanson, ich denke sie sind mit dem Verbot von Mobiltelefonen während einer Vorlesung vertraut. Wenn sie private Angelegenheiten zu klären haben, tun sie das bitte außerhalb des Hörsaals, haben wir uns verstanden?“
„J-ja, Professor. Verzeihung“, gab ich peinlich berührt zurück. Wer zum Geier war das gewesen?
„Schön, dann bitte ich jetzt wieder um ihre Aufmerksamkeit, Ladies und Gentleman. Wie bereits gesagt …“
Später stellte sich heraus, dass die Nachricht von Gabriel stammte. Offensichtlich hatte er von William meine Nummer bekommen, so wie ich seine.
Ich muss mit dir reden, es ist wichtig. Ruf mich bitte an, sobald du diese Nachricht gelesen hast.
Gabriel
Da sowieso gerade Pause war, suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen und tat, worum er mich gebeten hatte. Schon nach dem ersten Klingeln nahm er ab.
„Hallo Emma. Du hast meine Nachricht erhalten, das ist gut.“
„Hey Gabriel. Worüber wolltest du mit mir sprechen?“
„Hast du heute Nachmittag Zeit?“, wollte er wissen.
„Meine letzte Vorlesung endet um halb vier. Wieso?“
„William hat mich gebeten, dich zu trainieren.“
„Mich zu trainieren? Worin?“
„Magie. Du bist eine Jägerin und noch dazu eine aus einer alten Familie. Ich könnte dir helfen, deine Fähigkeiten gezielt einzusetzen.“
„Warum so plötzlich? Können wir das nicht noch regeln, wenn William wieder da ist?“, wunderte ich mich.
Er schwieg einen Moment, dann wurde seine Stimme ernster.
„William will versuchen, beim König eine Audienz für dich zu erwirken.“
„Er will was? Davon hat er mir nichts gesagt!“, brauste ich entsetzt auf. Ich zum König der Vampire? Aber sicher!
„Ich fürchte, es führt leider kein Weg daran vorbei“, erwiderte er und klang so besorgt, dass man die Falten auf seiner Stirn praktisch hören konnte. „Der König wird sich selbst von deinen Absichten überzeugen wollen.“
Sich von meinen Absichten überzeugen – so, wie sich die Jäger damals von Williams Absichten überzeugen wollten. Ich schluckte schwer, als ich verstand. Als mich William Anfang des Jahres der Familie seines Onkels vorgestellt hatte, war das nicht der Ausgleich für den Vortag gewesen, an dem er meiner „Familie“ hatte gegenüber treten müssen. Nein, dieser Ausgleich hatte nie stattgefunden. Bis jetzt.
Alles, wovor ich mich an jenem Tag gefürchtet hatte, die Zurückweisungen, die Beleidigungen, die Drohungen, unfreiwilliges Blutspenden – all das würde bald Realität werden. Und wenn ich den König nicht von mir überzeugen konnte, würden es vermutlich eine ganze Menge Vampire auf mich abgesehen haben. Ein bisschen Magie wäre dann sicher kein Nachteil.
Bei dem Gedanken daran, gegen eine Horde wütender Vampire kämpfen zu müssen, drehte sich mir der Magen um. Schnell wechselte ich das Thema.
„Aber ich bin eine Jägerin. Besitze ich nicht eine andere Art von … Magie als du?“
Seltsam, das Wort laut auszusprechen und es so ernst zu meinen.
„Das Prinzip ist dasselbe“, erklärte er. „Kann ich dich dann um halb vier abholen, sagen wir bei den Parkplätzen vor den Wohnblocks?“
„Okay, halb vier“, seufzte ich ergeben. Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, dachte ich grimmig.
„Ach, und Emma?“, schob Gabriel nach.
„Ja?“
„William würde nie zulassen, dass dir etwas geschieht, und wir auch nicht. Ich hoffe, das weißt du.“
Dann legte er auf.
Ich ließ mich erschöpft auf den Boden sinken. Warum musste mein Leben immer ausgerechnet dann so aus dem Ruder laufen, wenn alles gerade einigermaßen in geregelten Bahnen zu verlaufen schien?
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, an einem halbwegs plausiblen Alibi zu basteln, was meinen Verbleib für diesen Nachmittag betraf. Es fiel mir schwer, mich nebenbei auf den Lernstoff zu konzentrieren, da ich immer wieder komplett abschweifte, aber irgendwie schaffte ich es doch, mir am Ende jeder Vorlesung wenigstens ein paar Notizen gemacht zu haben. Was das Alibi anbelangte, so hatte ich nach über drei Stunden noch immer nichts wirklich Glaubhaftes zu Tage fördern können. Ohne viel Hoffnung pickte ich eine meiner Ideen heraus und hoffte, wenn ich sie nur so souverän wie möglich rüberbringen würde, dass ich – Gott weiß wie – damit durchkam.
Feige wie ich war, schob ich das Gespräch mit meinen Mitbewohnern bis zur letzten Sekunde auf. Als dann schließlich halb vier war, schnellte mein Puls ungesund in die Höhe, und ich räusperte mich verlegen, um endlich mit meiner Münchhausengeschichte herauszurücken. Doch überraschender weise kam mir Naomi zuvor.
„Ach Emma, wolltest du nicht eigentlich noch wo hin?“
Mein aufgeregter Herzschlag dröhnte laut in meinen Ohren, und so glaubte ich zunächst, mich verhört zu haben.
„Ähm … Wie bitte?“, fragte ich verwirrt.
„Na du weißt schon, heute läuft doch bei dir diese Sache. Hast du nicht gesagt, du müsstest direkt nach deinem letzten Kurs los? Du kommst noch zu spät!“, drängte sie.
Ich schaute meine Freundin verwirrt an, bis mein Blick auf ihren Augen haften blieb, die glasig zurückstarrten. Mein Herzschlag schaltete noch einen Gang zu, aber diesmal nicht aus Nervosität, sondern aus Wut. Ich hatte mir Williams Aura am Abend zuvor doch nicht bloß eingebildet – er war tatsächlich kurz da gewesen!
„Naomi hat recht. Diese Sache ist zu wichtig, beeil dich besser“, schaltete sich Logan ein.
Dieser unmögliche Kerl, schoss es mir angesäuert durch den Kopf. Der kann was erleben, wenn er wiederkommt!
Ich seufzte.
Na wenigstens muss ich sie jetzt nicht anlügen. Sie hätten es bestimmt durchschaut, ganz sicher.
Als sich Erleichterung in mir breitzumachen begann, wurde ich noch wütender. Nein, das war falsch! Es mochte mir die Dinge noch so erleichtern – Gedankenkontrolle war falsch! Falsch, falsch, falsch!
Während ich weiter darüber sinnierte, wie unmoralisch und unmenschlich die Praxis der Gedankenkontrolle war, zuckte ich plötzlich erschrocken zusammen, als sich mir Naomi an den Hals warf und mich umarmte, wie sie es oft tat, wenn wir uns voneinander verabschiedeten.
„Vielleicht sehen wir uns ja noch heute Abend, wenn sich diese Sache nicht so in die Länge zieht.“
„Ja, vielleicht“, erwiderte ich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. Wenn sie nur wüsste, von was für einer Sache sie da sprach …
Nachdem ich mich auf diese ungewöhnliche Weise von den anderen verabschiedet hatte, schleppte ich mich zu den Wohnblocks am anderen Ende des Campus, wo Gabriel, an seinen schwarzen BMW gelehnt, bereits auf mich wartete und mir fröhlich zuwinkte.
„Schön dich zu sehen, Emma“, begrüßte er mich.
Ich hätte das Kompliment ja gerne zurückgegeben, entschied mich unter den gegebenen Umständen aber lieber für das klassische „Hallo Gabriel“, was besser zu meiner derzeitigen Stimmung passte.
Wir schauten uns einen Moment peinlich berührt an, dann räusperte sich Gabriel vernehmlich, führte mich um den Wagen herum und öffnete mir galant die Beifahrertür.
„Junge Dame“, sagte er und half mir hinein.
„Oh … danke“, stieß ich verlegen hervor.
Wir fuhren ein Weilchen stumm nebeneinander her.
„Ich hab euch noch nie bei Tag besucht“, sprach ich meine Gedanken laut aus und durchbrach schließlich die befangene Atmosphäre, die zwischen uns herrschte.
„Oh, wir fahren nicht zu unserem Haus.“
Als ich ihn daraufhin fragend ansah, ergänzte er: „Mit den Kräften, mit denen wir uns befassen werden, ist nicht zu spaßen. Wenn du die Kontrolle verlierst, könnte leicht jemand zu Schaden kommen.“
„Du meinst Helen, Christine und Josef?“
Gabriel nickte.
„Und Liliane“, ergänzte er.
„Was ist mit dir?“
„Sagen wir einfach, ich habe Erfahrung auf dem Gebiet.“
Er bog in einen verwilderten Waldweg ein, den ich zuvor noch nie gesehen hatte – wir mussten also schon die Straße zum Haus hinter uns gelassen haben und tiefer ins Herz des Waldes vorgedrungen sein.
„Und was ist … ich meine, könnte ich mich nicht selbst verletzen?“ Die Frage war durchaus berechtigt. Gabriel schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich nicht. Unsere Kräfte entspringen unserer Seele, unserem tiefsten … Selbst“, versuchte er, die richtigen Worte zu finden. „Sie würden sich nie gegen ihren Ursprung wenden.“
Wir parkten schließlich vor einer vermoderten Holzfällerhütte, dem ganzen Equipment drum herum zu urteilen: Mehrere Traktoren mit diversen, globigen Anhängern standen um das stattliche Holzgemäuer herum, und Spaltautomaten und ähnliche Maschinen tummelten sich unter einem Vordach des Holzbaus.
„Das ist Josefs Außenposten“, erklärte Gabriel. „Es gehört noch zu unserem Grundstück, ist aber trotzdem relativ abgelegen vom Haus. Hier sind wir ungestört.“
Gab es überhaupt ein Stück dieses Waldes, das dieser Familie nicht gehörte?
„Verstehe“, sagte ich stattdessen und verkniff mir ein Kommentar zum Thema Geld. „Ach Gabriel, ich wollte mich noch bei dir für die letzten beiden Abende bedanken, du weißt schon, dafür, dass du den Platz für William eingenommen hast. Ich hoffe, es hat dir nicht allzu viele Umstände gemacht.“
Ich gab ihm jedoch keine Chance, etwas darauf zu erwidern, denn da fiel mir noch etwas ein. „Wieso hast du mich eigentlich nicht schon gestern auf diese Trainingssache angesprochen?“
Er war nämlich wie am Abend zuvor kurz auf der Straße aufgetaucht, bevor ich mich schlafen gelegt hatte. Gabriel kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, ehe er zu einer Antwort ansetzte.
„Unsere Art ist sehr besitzergreifend, besonders wir Männer“, begann er schließlich mit ungewohnt scharfer Stimme. „Es liegt in unserer Natur. Wir Vampire sind wie Raubtiere, wir verteidigen, was uns gehört. Wenn es zu einem Kompetenzgerangel kommt ist das meistens … eine ziemlich unschöne Sache.“
„Du meinst wie bei Hunden, die ihr Revier markieren?“
Seine Mundwinkel hoben sich leicht, für ein Lächeln reichte es jedoch nicht ganz aus. „So in etwa, ja.“
„Und was hat das mit mir und meinem Fenster zu tun?“
Ich verstand nicht so recht, worauf er hinaus wollte.
„Du und dein Fenster ihr … gehört sozusagen William. Das ist euer persönliches Ding, wie es die Jungend von heute ausdrücken würde. Es wäre einfach nicht richtig von mir gewesen, auf dieselbe Weise mit dir dort zu sprechen wie William.“
Auf meinen immer noch ratlosen Gesichtsausdruck hin fügte er hinzu: „Du wirst verstehen was ich meine, wenn du erst ein Mal lange genug in unserer Welt gelebt hast.“
Widerwillig gab ich mich mit dieser seltsamen Antwort zufrieden, die ich nicht zum ersten – und vermutlich auch nicht zum letzten – Mal bekommen hatte. Es brachte ja doch nichts, darauf herumzureiten.
Ich stellte mir William vor, der an mein Fenster pinkelte und dabei bellte. Ich schüttelte den Kopf. Das war einfach zu merkwürdig. Und ekelhaft.
Wir stiegen aus und ich folgte Gabriel zu einem freien Platz in Mitten all der großen Fahrzeuge, die beliebig um die Hütte herum geparkt worden waren. Langsam wurde ich nervös. „Du musst keine Angst haben, versprochen.“
Ich nickte so selbstbewusst wie ich konnte, obwohl es mir peinlich war, dass er mich so leicht durchschaut hatte.
„Gut. Zuerst will ich mir einen groben Überblick über deine momentane Stärke verschaffen. Ich werde meine wahre Gestalt annehmen und von da vorne …“, er deutete auf ein Stück Wald in seinem Rücken, „… langsam auf dich zukommen. Ich möchte wissen, auf welche Entfernung deine Kräfte wirken. Soweit alles klar?“
Ich dachte daran, wie ich Christine bei ihrem Klavierspiel überrascht hatte und sie wütend geworden war, an Chester in seinem Gefängnis und an den Vampir, der mich entführt hatte. Das musste sie gewesen sein, die wahre Gestalt eines Vampires.
Nur die Nacht würde es ihnen fortan gestatten das Monster, das sie waren, zu verbergen, und ein menschliches Äußeres aufrecht zu erhalten, erinnerte ich mich an die Geschichtsstunde bei William. Er selbst hatte sich mir noch nie in dieser Form offenbart. Da fiel mir auf, dass er sich mir immer erst dann gezeigt hatte, wenn es schon dunkel gewesen war. Wie ich ihn kannte, war das gewiss kein Zufall. Aber Gabriel sah jetzt genauso aus, wie immer…
„Warum bist du überhaupt … naja, noch du?“, fragte ich.
Oh man, ich sollte langsam wirklich mal lernen meine Sätze erst einmal gedanklich zu formulieren, bevor ich sie auf jemanden losließ!
„Es erfordert von einem Vampir zwar viel Übung, bis er auch am Tag eine menschliche Gestalt aufrecht erhalten kann, und es ist äußerst schmerzvoll, aber es ist nicht unmöglich. Aufgrund unserer außergewöhnlichen Lebensweise fällt es uns Hominiden außerdem leichter, tagsüber ein unauffälliges Äußeres zu wahren“, erklärte er.
„Denk einfach daran, dass – egal wie ich gleich aussehen werde – immer noch ich in diesem Körper stecke.“
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und gab den Startschuss, ehe ich es mir anders überlegen konnte.
„In Ordnung. Leg los.“
Wusch. Schon war er im Dickicht des Waldes verschwunden, kaum dass ich das letzte Wort ausgesprochen hatte.
Unsicher tänzelte ich von einem Fuß auf den anderen, bis Gabriel langsam wieder zwischen den Bäumen auftauchte. Obwohl ich ungefähr wusste, was ich zu erwarten hatte, entrang sich meiner Kehle dennoch ein entsetztes Keuchen, noch ehe ich es zurückhalten konnte. Hätte ich ihn eben nicht mit eigenen Augen da rein laufen sehen, hätte ich ernsthaft daran gezweifelt, dass das, was da gerade aus dem Wald auf mich zukam, wirklich Gabriel war. Vermutlich lag es einfach daran, dass ich vorher noch nie so einen krassen davor-und- danach-Vergleich hatte.
Die Veränderungen an seinem Körper waren so gravierend, dass ich sie trotz des großen Abstandes, der zwischen uns lag, einwandfrei erkennen konnte. Die Gestalt … Verzeihung, Gabriel … Also Vampir-Gabriel hatte fast weiße, reine Haut, welche im krassen Gegensatz seinen erschreckend rot leuchtenden Augen standen, die ich bereits nur zu gut kannte. Auch die grauen Venen drum herum waren da. Seine Gesichtszüge waren markanter geworden, sein Körper größer und kräftiger, und die Eckzähne schauten nun deutlich unter seinen Lippen hervor. Die größte Veränderung aber lag in seiner Aura. Wenige Sekunden nachdem er wieder in mein Blickfeld getreten war, war sie wie eine Druckwelle über mich hinweg geschwappt und hätte mich beinahe von den Füßen gerissen. Eine Aura in diesem Ausmaß hatte ich noch nie zuvor wahrgenommen. Sie legte sich über die Luft wie das Gefühl von erdrückender Schwüle an einem heißen Sommertag.
Für einen kurzen, panischen Moment hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben und meinen beschleunigten Puls zu senken, in dem ich beruhigend eine Hand auf mein Herz legte.
Alles ist gut, wiederholte ich wie ein Mantra in meinen Gedanken. Es ist immer noch Gabriel. Immer noch Gabriel.
Doch während ich seinen blutroten Blick erwiderte, bahnten sich wie von selbst Bilder von den Mördern meiner Mutter wieder ihren Weg in meine Gedanken, von dem Angriff vor Taylors Haus, von der Frauenleiche in der Seitengasse, von Gewalt und Tod.
„Emma, alles ist in Ordnung. Hab keine Angst, alles ist gut“, drang Gabriels Stimme an mich heran. Obwohl er noch so weit von mir entfernt war, konnte ich die Worte so deutlich hören, als stünde er direkt neben mir. Er klang rauer als sonst, aber die Sanftheit seines Wesens schwang in jeder Silbe mit und holte mich wieder zurück in die Realität. Immer noch Gabriel, genau!
Er war stehen geblieben, um mir Zeit zu geben, meinen Schock zu überwinden.
Reiß dich gefälligst zusammen, Emma. Das hier ist einer von den Guten, weißt du noch?, ermahnte ich mich.
„Du musst ruhig atmen. Atme einmal tief ein und aus“, befahl er sacht, als befürchte er, ich könnte zerbrechen, wenn er lauter sprach.
Ich tat, was er sagte, schloss kurz meine Augen und krächzte dann, im Widerspruch zu dem, was ich von mir gab, zittrig zurück: „Es geht wieder. Hab mich nur erschrocken.“
Ich glaubte zu sehen, wie Gabriel mir kurz zunickte, ehe er sich wieder in Bewegung setzte und langsam näher kam.
Als er bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, hatte sich noch immer nichts verändert. Vampir-Gabriel kam näher und näher, und mein Puls verlor all seine guten Vorsätze und begann, wieder in die Höhe zu schnellen. Erst, als er fast in meiner Reichweite war, tat sich endlich etwas.
Abrupt blieb er stehen.
Die Veränderung war anfangs so subtil, dass ich mich konzentrieren musste, um überhaupt eine Veränderung auszumachen. Es sah aus, als lege sich eine hauchdünne Staubschicht über seine Haut, mit bloßem Auge fast nicht zu erkennen, die wie eine Maske verdeckte, was wirklich darunter verborgen lag. Mit gebanntem Blick beobachtete ich, wie seine fast weißliche Haut nach und nach eine gesündere Farbe annahm, wie sich das tödliche Rot der Regenbogenhaut langsam in ein leuchtendes Grün verwandelte und die gruseligen, grauen Venen gewöhnlicher Haut wichen, wie markante Gesichtszüge weicher, verformter und menschlicher wurden, wie die Muskeln kleiner wurden, wie sein Körper ein wenig an Größe verlor und wie sich die spitzen, großen Eckzähne zusehends zurückbildeten. Ich konnte fühlen, wie sich mit jedem Schritt dieser Transformation die mörderische Aura ein kleines Stückchen weiter in Gabriel zurückzog, bis schließlich nur noch das übliche, leichte Prickeln zu spüren war.
Dann war es vorbei. Vampir-Gabriel war verschwunden und Gabriel zurückgekehrt.
„Knapp zwei Meter also“, hielt er leise für sich fest. Er schien gedanklich weit weg zu sein, den Blick in eine unbestimmte Ferne hinter mir gerichtet, als habe er völlig vergessen, dass er nicht allein war. Ich wollte seine Überlegungen nicht stören, also verharrte ich weiterhin stumm in meiner Position, obwohl mein Adrenalinpegel immer noch bedächtig hoch war und es mich wunderte, dass ich nicht schon längst in nervöse Zuckungen ausgebrochen war, so aufgekratzt, wie ich mich fühlte.
Ungefähr eine Minute ging das so, bis Gabriel schließlich blinzelte und mich dann direkt mit seinem Blick fixierte, anstatt durch mich hindurchzusehen.
„Bitte verzeih. Deine Kraft das erste Mal in diesem Ausmaß zu spüren, hat mich etwas überwältigt“, entschuldigte er sich, trat ein paar Schritte näher an mich heran und warf mir ein schiefes, versöhnliches Lächeln zu, das zu einer Erwiderung einlud. Ich lächelte unsicher zurück und senkte verlegen den Kopf. Meine Kraft. Es war immer noch ein eigenartiges Gefühl, das aus dem Mund eines anderen zu hören. Immerhin ist es ja nicht so, als könnte ich Dinge explodieren lassen oder Feuer speien oder sonst was Abgefahrenes. Ich bin kein Harry Potter und auch kein Supermen. Wäre ich nie wieder einem Vampir begegnet, wären meine Kräfte womöglich nie entdeckt worden. Ich meine ich konnte diese eigenartige Macht in mir nicht einmal steuern, geschweige denn fühlte ich etwas davon. Was genau hatte es mit dieser seltsamen Kraft, die mir inne wohnte, wohl auf sich? Wie funktionierte sie? Würde ich wirklich in der Lage sein, sie irgendwann gezielt einzusetzen – sie gar zu verstärken? Würde ich mit der Zeit vielleicht sogar noch mehr Fähigkeiten entwickeln? Das alles galt es, nun herauszufinden.
Gabriel musterte mich nachdenklich.
„Hast du etwas gefühlt, als deine Kraft eingesetzt hat?“, fragte er schließlich. Ich schüttelte den Kopf.
„Nichts. Ich konnte spüren, dass sich deine Aura verändert, aber das ist alles“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Gabriel nickte, als bestätigte ich damit eine Vermutung von ihm.
„Ist das schlimm?“, schob ich unsicher hinterher. Er schüttelte den Kopf.
„Ich denke, das ist ganz natürlich“, beruhigte er mich.
„Klingt, als hättest du da eine Theorie“, bemerkte ich.
„Die habe ich in der Tat“, gab er zu und begann, einige Schritte auf und ab zu wandern. „Für gewöhnlich werden wir – egal ob Vampir oder Jäger – vom Tag unserer Geburt oder Verwandlung an streng unterrichtet. Wir lernen die Regeln unserer Welt, bekommen die Grenzen aufgezeigt, die wir nicht überschreiten dürfen, werden in den alten Mythen und Legenden unterrichtet, die unseren Völkern zu Grunde liegen, aber was das Wichtigste ist: Uns wird beigebracht, wie wir mit unseren Kräften umgehen müssen, wie wir sie bewusste steuern und verstärken können. Das Training dauert viele Jahre, und selbst im Erwachsenenalter lernt man immer noch dazu. Du hast diese Unterweisung nie erhalten, also haben deine Kräfte, um nicht zu verkümmern, eine Art Automatismus entwickelt. Sie werden von deinem Unterbewusstsein gelenkt, anstatt bewusst von dir fokussiert zu werden.“
Er deutete mit dem Kopf in Richtung einiger pyramidenförmig aufeinandergestapelter Baumstämme rechts von uns. Ich verstand den Wink und folgte ihm. Das würde eine längere Unterhaltung werden.
Die Rinde war bereits abgeschält worden, also war das Holz relativ sauber – vermutlich lag es noch nicht lange dort. Wir setzten uns, dann fuhr er fort.
„Wenn ich damit richtig liege, würde das bedeuten, dass du nur einen Bruchteil der Magie nutzt, die dir zur Verfügung steht, kleine Spielereien, wie ein Kind. Aber ich bin mir ziemlich sicher, mit konsequentem Training wärst du bald in der Lage, deine Kräfte auch gezielt und über weitere Entfernungen einzusetzen. Wenn man bedenkt, dass du unbewusst bereits ein solches Potential an den Tag legst …“
Er ließ den Gedanken in der Luft hängen. Sorge und Begeisterung zeichneten sich gleichermaßen auf seinen ebenen Zügen ab, als könne er sich nicht so recht entscheiden, welchem von beiden Extremen er sich nun hingeben sollte.
„Du bist überaus mächtig, Emma. Du könntest überaus mächtig sein, wenn du es willst. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Sollte das bekannt werden …“
Gabriel schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sorge also, dachte ich. Wieso überraschte mich das nicht?
„Das könnte unsere Welt ganz schön aufmischen“, stellte er fest. Der Bartansatz, der seiner reifen, gelassenen, männlichen Ausstrahlung normalerweise immer eine liebenswürdige Keckheit verlieh, ließ ihn nun in Kombination mit den Sorgenfalten auf seiner Stirn um einiges älter aussehen, als ihm gut tat.
„Ein paar Jäger wissen bereits davon“, gestand ich, und bekam es auf einmal wieder mit der Angst zu tun.
„Kleine, in dir steckt Potential!“, hatte Connor damals gesagt – oh ja, und wie sie davon wussten! Was, wenn einer der Jungs nun doch geplaudert hatte und der Rat inzwischen von meinen Kräften wusste? Würden sie mich mit Gewalt zurückholen? Aber dann hätten sie das bestimmt schon längst getan, oder?
„Wer genau?“, hakte Gabriel eindringlich nach.
„Hat William dir von Taylor erzählt?“
„Deine Jägerfreundin?“, schlussfolgerte er und beantwortete somit indirekt meine Frage. Ich nickte.
„Sie weiß Bescheid und drei Cousins von ihr. Glaubst du, sie haben geredet?“
Er schüttelte den Kopf.
„Sie müssen es aus irgendwelchen Gründen für sich behalten haben“, war er sich sicher. Ich hatte mir ihr Schweigen mit gutem Willen erklärt, doch steckte vielleicht mehr dahinter? Gabriel schien es jedenfalls zu vermuten.
„Hätte der Rat davon erfahren, hätte er dich längst wieder in seinen Klauen.“ Auch da schien er sich seiner Sache sicher.
„Die Jungs hatten mir versprochen, sie würden mich gehen lassen, falls der Rat keine Einwände wegen William erheben würde ...“, sagte ich, verletzt, sie könnten dieses Versprechen nie ernst gemeint haben.
Auf Gabriels Gesicht erschien ein jugendhaftes Grinsen, das den Bartansatz wieder ins rechte Licht rückte. Lediglich die Furchen in seiner Stirn schienen nicht so recht von diesem Höhenfluh überzeugt und hielten hartnäckig die Stellung.
„Dann konnten sie es dem Rat nicht sagen!“, stieß er aus, kaum verhohlene Erleichterung in der Stimme. „Jäger leben nach einem strengen Ehrenkodex. Ein Versprechen ist bei ihnen etwas Heiliges. Die Jungs wussten sollte der Rat Wind von deinen Fähigkeiten bekommen, würden sie ihren Schwur nicht einhalten können. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher, und später haben sie sich nicht mehr getraut, noch etwas zu sagen“, erklärte er.
Aber ich konnte mich nicht darüber freuen, denn automatisch drängte sich mir die nächste Frage auf.
„Was, wenn die Vampire davon erfahren? Wie werden sie reagieren?“
Gabriel wandte den Blick von mir ab und gen Himmel, als stünde dort zwischen all den Wolken die Antwort, die er suchte. Ich schaute angespannt auf seine nachdenklichen Züge.
„Für dich spricht auf jeden Fall, dass du dich offiziell auf unsere Seite geschlagen hast. Außerdem hat William … Einfluss. Niemand wird sich leichtfertig an dir vergreifen, wenn er erst einmal weiß, dass William hinter dir steht und du ihm etwas bedeutest“, führte er seine Überlegungen aus.
„Hat das was mit dieser Hundesache zu tun?“, erinnerte ich mich an unser Gespräch von diesem Morgen. Gabriel lachte.
„Ja, es hat etwas damit zu tun.“
Dann wurde er wieder ernst.
„Solange du dich weiterhin im Hintergrund hältst und sie das Gefühl haben, von dir gehe keine Bedrohung aus, werden sie hoffentlich keinen Grund sehen, dich … nicht zu akzeptieren“, drückte er vorsichtig aus. Sollte heißen: Wenn du Glück hast, werden sie hoffentlich davon absehen, dich über den Jordan zu schicken. Juhu.
„Dein großer Minuspunkt – so banal es auch klingen mag – ist deine Menschlichkeit. In diesem Punkt müssen wir darauf vertrauen, dass William seine Worte weise wählt.“
„Wie geht es jetzt weiter?“, kam ich auf den eigentlichen Grund unseres Ausflugs zu diesem lauschigen Plätzchen zurück.
„Damit ich dir helfen kann, deine Fähigkeiten bewusst zu steuern, muss ich erst herausfinden, wie genau sie wirken und was genau du tust. William erwähnte, du seist zum Teil empathisch veranlagt, stimmt das?“, wollte Gabriel wissen.
„Manchmal kann ich fühlen, was ein Vampir gerade fühlt, oder es zumindest erahnen. Früher hat das eine Zeit lang auch bei Menschen funktioniert, aber das verschwand dann irgendwann wieder“, räumte ich ein.
„Mhm … Verstehe. Spürst du bei mir gerade etwas?“, erkundigte er sich neugierig.
„Nur das Offensichtliche: Sorge. Aber um dir das anzusehen, muss man keine magischen Fähigkeiten besitzen.“
Er lächelte schwach.
„Ist das so offensichtlich?“
Als Nächstes sah er mich abschätzend an.
„Ich würde gerne etwas ausprobieren“, sagte er schließlich. „Ich möchte unser Experiment von eben noch einmal wiederholen; dieses Mal werde ich aber versuchen, mich deinen Kräften entgegenzusetzen und so lange wie möglich meine Gestalt aufrecht zu halten.“
Ich schluckte schwer, nickte aber.
„Wenn du es mir gestattest, würde ich dabei gerne in deinen Geist eindringen, um einen Hinweis darauf zu finden, wie du deine Kräfte wirkst. Mir ist bewusst, dass dies ein sehr radikaler Schritt ist, aber wir haben nicht besonders viel Zeit und eine bessere Lösung fällt mir im Moment nicht ein. Ich verspreche dir, ich werde mit äußerster Vorsicht vorgehen, und sobald es dir zu viel wird, werde ich sofort aufhören. Bist du damit einverstanden?“
Bitter erinnerte ich mich an die Anhörung bei Taylor einige Monate zuvor, an dieses schmerzhafte, ekelerregende Gefühl, als die Jäger in meinem Geist nach einer Manipulation von William gesucht hatten. Sie hatten regelrecht in meinem Hinterstübchen gewütet.
Jetzt war es an mir, Gabriel abschätzend zu mustern.
Wenn er diese Maßnahme wirklich für nötig hielt, würde ich ihn gewähren lassen, auch wenn es mir nicht wirklich behagte.
„Ich vertraue dir.“
Gabriel nickte anerkennend.
„Ich werde dein Vertrauen nicht missbrauchen.“
Er erhob sich und bot mir eine helfende Hand an. Ich ergriff sie, und er zog mich neben sich auf die Beine. Gemeinsam wanderten wir zurück zu der Stelle von zuvor.
„Denk dran, wir können das Ganze sofort abbrechen, sobald es dir zu viel wird“, erinnerte er mich.
Ich straffte meine Schultern.
„Okay, fangen wir an“, sagte ich.
Dieses Mal machte sich Gabriel gar nicht erst die Mühe, in den Wald hineinzugehen. Stattdessen bezog er direkt ein paar Schritte von mir entfernt Stellung.
„Bereit?“
„Bereit.“
Fast unerträglich langsam ließ er die Staubschicht erneut von sich abfallen, die seine wahre Gestalt unter einer zivilisierten Maske verbarg. Dieses Mal konzentrierte ich mich darauf, auf die Gemeinsamkeiten zwischen Vampir-Gabriel und Gabriel zu achten, anstatt auf die Unterschiede: der mitfühlende Ausdruck seiner Augen, seine vorsichtige Körperhaltung mir gegenüber oder seine väterliche Ausstrahlung. Und es funktionierte. Mein Atem blieb ruhig, mein Puls stieg nur leicht. Etwas anders verhielt es sich da mit seiner Aura, die mit der Stärke eines elektrischen Schlages über mich kam, der sich gewaschen hatte. Aber ich riss mich zusammen, bewahrte Haltung und zuckte nur leicht zusammen, worauf ich verdammt stolz war.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich gepresst, nachdem die Verwandlung vollendet war. Man konnte sehen, dass es ihn einiges an Anstrengung kostete, dieses Aussehen beizubehalten.
„Alles gut.“
In der nächsten Sekunde spürte ich, wie etwas zaghaft an meinem Geist rührte. Ich sträubte mich nicht dagegen und öffnete bereitwillig die Mauer zu meinem innersten Ich, die ebenso bereitwillig meiner Forderung nachkam. Es war nicht so wie beim letzten Mal, als würde sich ein schwabbeliger, aggressiver Wurm in mein Hirn bohren – es war viel mehr, als habe jemand höflich angeklopft, ein bereits erwarteter Gast, den man gerne hereinließ. Er wühlte nicht herum, forschte nicht in Erinnerungen, die ihn nichts angingen – er hatte lediglich eine schwache Verbindung zu mir hergestellt und beobachtete, ohne dabei selbst aktiv zu werden.
Ich warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu, und er trat einen großen Schritt näher an mich heran. Die Furchen in seiner Stirn vertieften sich augenblicklich und seine Augenbrauen waren erschöpft zusammengezogen. Er tat nichts weiter, als einfach nur vor mir zu stehen und mich anzusehen.
Irgendwann begann ich, die Sekunden zu zählen. Nach circa vier Minuten verwandelte sich Vampir-Gabriel plötzlich so schnell zurück, dass es aussah, als würde man zwischen zwei Fotos im Computer hin und her wechseln. Gleichzeitig zog er sich aus meinem Geist zurück.
„Faszinierend“, war das Erste, was er von sich gab. Er sah völlig erschöpft aus, und es wunderte mich fast, dass keine Schweißperlen auf seiner Stirn standen, doch er wirkte zufrieden mit dem, was er herausgefunden hatte.
„Es hängt beides miteinander zusammen“, begann er, seine Beobachtungen auszuführen. „Die Empathie hilft dir dabei, den Verlust der Vampireigenschaften herbeizuführen, sie ist sozusagen die Basis für deine eigentlichen Kräfte. Zwei zum Preis von einem. Ich habe noch nie von so etwas gehört, nicht bei einem Jäger und schon gar nicht in solch einem jungen Alter. Wirklich faszinierend.“
„Ich verstehe nicht ganz … Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, konnte ich seinen Ausführungen nicht ganz folgen. „Empathie und … naja, Entvampisieren – das sind doch eigentlich zwei völlig verschiedene paar Schuhe, oder nicht?“
„Auf den ersten Blick schon, aber bei genauerem Hinsehen ist es vollkommen einleuchtend. Sobald ich die zwei Meter – deinen momentanen Wirkungsradius – überschritten hatte, bist du automatisch in meinen Geist vorgedrungen. Du hast … Nun es ist schwer zu beschreiben … Es war, als hättest du mich … gescannt.“
Er hielt kurz inne, überlegte und sagte dann: „Ja, scannen beschreibt es ziemlich gut. Als hättest du mit Hilfe deiner Empathie den Kern meines Wesens herausgefunden und so praktisch den Schlüssel dazu gefunden, wie du mich kontrollieren kannst, wie du mir meine Kräfte rauben kannst. Ich habe selten etwas so Beängstigendes erlebt. Es erforderte eine unheimliche Konzentration, diesen Vorgang so zu verlangsamen, dass ich ihn in seiner Gänze erfassen konnte. Beim ersten Mal ging es so schnell, dass ich dein eindringen in meinen Geist noch nicht einmal bemerkt hatte – und das ist schon eine beachtliche Leistung.“
Ich war also die ganze Zeit in die Köpfe der Vampire um mich herum eingedrungen, ohne es überhaupt zu bemerken – eine gruselige Vorstellung, auf mehr als nur eine Weise. Und das mit dem Schlüssel und dem Kontrollieren …
„Mit kontrollieren meinst du ich … ich könnte Vampire zwingen, etwas zu tun? Wie … Marionetten?“, fragte ich fassungslos. Die Kräfte waren eine Sache, einem Lebewesen seinen freien Willen zu nehmen dagegen war ein völlig anderes Kaliber. Wenn ich dazu in der Lage sein sollte … Mir drehte sich der Magen um. Niemand sollt diese Art Macht besitzen – und ganz sicher nicht ich.
„Mit ein wenig Übung ganz bestimmt, vorausgesetzt, du wolltest es. Unsere Fähigkeiten sind sehr auf unsere Persönlichkeit zugeschnitten, wenn dir also die Vorstellung daran, diese Fähigkeit einzusetzen, Unbehagen bereiten sollte, wirst du es nie schaffen, sie einzusetzen, selbst wenn du es theoretisch könntest“, interpretierte er meine Mimik richtig. „Am Ende ist es immer unsere Entscheidung, was wir mit dem anfangen wollen, das uns an die Hand gegeben wurde, in welche Richtung wir uns weiterentwickeln wollen.“
Das klang fast so, als stünde ich vor der Entscheidung: Superheld oder Superschurke? Schlimm genug, dass ich schon als Freak geboren werden musste – jetzt war es auch noch ein Super-Freak!
Gabriel legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter.
„Du bist eine kluge, liebenswerte junge Frau. Ich bin davon überzeugt, du wirst den richtigen Weg für dich finden, wie auch immer er aussehen mag.“
Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er recht behielt.
Nachdem wir nun die Vorarbeit geleistete und Gabriel eine ungefähre Vorstellung davon bekommen hatten, mit was wir es zu tun hatte, machten wir uns an mein eigentliches Training – und so viel sei vorab verraten: der erfolgreiche Teil des Abends war somit gelaufen.
Wir wiederholten die Prozedur von zuvor erneut; Vampir-Gabriel, der auf mich zukam. Mit ruhiger, besänftigender Stimme gab er mir Anweisungen, während er langsam die zwei-Meter-Marke überschritt.
„Konzentriere dich auf deine Atmung. Ein … Aus … Ein … Aus …“
Ich schloss meine Augen und tat, was er sagte.
„Du hast alle Zeit der Welt“, fuhr er fort.
Eigentlich hatte ich die ja nicht, aber ich bemühte mich, so schnell wie möglich von diesem negativen Gedanken abzukommen. Positiv, ermahnte ich mich. Ich musste positiv denken.
„Entspanne dich. Nimm den frischen, durchdringenden Geruch des Waldes wahr. Höre das Rascheln der Blätter und die Geräusche der Tiere.“
Damit konnte ich schon eher etwas anfangen. Es roch wirklich gut – nach Kiefern und frischem Gras – und ich entspannte mich tatsächlich ein wenig.
„Versetze dich in deinen Körper hinein. Spüre das regelmäßige Schlagen deines Herzens. Fühle, wie du mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehst, ...“
Ich hatte keine Angst, obwohl ich wusste, dass mir Gabriel in seiner wahren Gestalt gegenüberstand. Das war jetzt okay. Mein Herzschlag war stetig und meine Beine hatten einen kräftigen Stand.
„… wie sich dein Bauch bei jedem deiner Atemzüge hebt und senkt, wie deine Hände lässig und leicht neben deinem Körper hängen, …“
So weit so gut.
„Fühle die Energie, die in warmen Strömen durch dich hindurchfließt, wie das Blut in deinen Adern. Sie steckt in allem, was du tust, was du bist. Sie ist deine Intuition, pumpt sich mit jedem Herzschlag durch deinen Körper, ist dein drittes Standbein, das Kribbeln in deinem Bauch, das meine Aura in dir auslöst. Sie ist die verborgene Macht, die dich von anderen unterscheidet, die dein Wesen zusammenhält.“
Tja, und verborgen blieb sie leider auch. Irgendwie hatte ich mir schon fast gedacht, dass es nicht so einfach bleiben würde, wie bisher.
Außer dem Kribbeln, dass die Anwesenheit eines Vampires für gewöhnlich in mir auslöste, fühlte ich rein gar nichts. Mir war nicht sonderlich warm – im Gegenteil, ich fand, es war für diese Jahreszeit relativ kühl – und meine Intuition sagte mir im Moment lediglich, dass ich diese Energie heute und auch in nächster Zeit nicht würde wahrnehmen können.
Ich hörte, wie Gabriel einen Schritt nach vorne trat. Ich atmete noch einmal tief ein und aus und versuchte mit aller Kraft, meine Zweifel zu ignorieren und die warmen Energieströme in mir wahrzunehmen, von denen er gesprochen hatte.
„Fühle, wie sie nach mir greift, sich aus dir herauswindet. Wie sie auf mich Einfluss nimmt, sich in dir aufbäumt, verstärkt, dich beschützt. Versuche, sie einzufangen, sie zu lenken, eine Verbindung zu ihr herzustellen.“
Dann wartete er ein paar Minuten, blieb still und bewegte sich nicht. Ich tat es ihm gleich, während ich gedanklich auf Hochtouren arbeitete. Meine Augen waren noch immer geschlossen und ich versuchte, mich auf das Kribbeln zu konzentrieren, meinen einzigen Bezug zu meiner ominösen magischen Kraft. Aber genauso gut hätte ich mich darauf konzentrieren können, meine Zunge blau werden zu lassen – das Ergebnis wäre dasselbe gewesen: Nichts.
Ich biss die Zähne aufeinander, ballte die Hände zu Fäusten und kniff die Augen fester zusammen.
Komm schon, flehte ich. Los, komm schon. Du willst mich doch beschützen, oder? Bitte, komm mir ein Stückchen entgegen. Ich hab dich nie mit Absicht ignorieren wollen, ich wusste nur nichts von dir. Bitte!
Zugegeben, dass mit dem ignorieren stimmte nicht ganz, aber der zweite Teil war zumindest die Wahrheit.
Na toll, jetzt redete ich schon mit meiner Kraft, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Eine Antwort erhielt ich aber trotzdem nicht.
Ich spürte, wie Gabriel zum zweiten Mal an diesem Tag die Hand auf meine Schulter legte. Ich öffnete die Augen, sah in seine menschenähnlichen Züge und schüttelte betrübt den Kopf.
„Nichts. Überhaupt nichts. In mir ist total tote Hose“, gab ich verzweifelt zu.
„Mach dir keine Vorwürfe, das war zu erwarten. Es war immerhin das erste Mal, dass du etwas Derartiges überhaupt versucht hast. Es hätte mich mehr als überrascht, wenn es gleich auf Anhieb geklappt hätte. Verliere nur nicht den Mut. Du musst Geduld mit dir haben. Solche Dinge dauern nun einmal ihre Zeit.“
Aber die habe ich nicht, dachte ich ärgerlich. Geduld mochte ja schön und gut sein, aber sie brachte die Dinge auch nicht schneller voran.
„Lass es uns einfach noch einmal versuchen, okay?“
Er warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu.
„Okay“, willigte ich ein und ließ mental den Gong zur zweiten Runde erklingen.
Die nächsten zwei Stunden wurden zur Dauerschleife. Wir wiederholten das Szenario wieder und wieder, Gabriel gab mir wieder und wieder dieselben Anweisungen, und wieder und wieder spürte ich rein gar nichts, bis er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit meinte, es sei genug für heute. Und morgen würde der ganze Spaß wieder von vorne losgehen. Ich konnte es kaum erwarten.
Erschöpft ließ ich mich in den Beifahrersitz des BMWs sinken. Mein Kopf tat weh. Ich fühlte mich nutzlos und schuldig, weil Gabriel seine Zeit für mich geopfert hatte und wir nicht einmal annähernd etwas erreicht hatten. Ich war die mieseste Jägerin aller Zeiten, so viel stand fest.
„Ich weiß es ist anfangs frustrierend, aber es wird besser, glaub mir“, wollte mich Gabriel aufmuntern.
„Das sagst du jetzt nur, weil du nett sein willst“, entgegnete ich und blickte zu ihm auf. „Aber trotzdem danke.“
„Es wird besser“, beharrte er.
„Liegt dir etwas auf dem Herzen?“, wollte Gabriel plötzlich unvermittelt wissen. Wir hatten inzwischen die Stadt erreicht. Auf meinen erstaunten Gesichtsausdruck hin zuckte er nur die Achseln.
„Arbeit mit Teenagern.“
Peinlich berührt, dass er mich durchschaut hatte, lief ich rot an. Mir lag tatsächlich etwas auf dem Herzen.
„Es ist nur … Naja, also ich hab mich gefragt, ob … ob du mich morgen nach dem Training vielleicht mit zu euch nehmen könntest.“ Unsicher gestikulierte ich mit den Händen.
„Ich meine unser letzter Abschied war nicht gerade … Ich weiß auch nicht … Es ist einfach merkwürdig. Und ich will nicht, dass es zwischen uns so merkwürdig ist“, fasste ich mein Anliegen eloquent zusammen. „Außerdem …“, begann ich, wusste jedoch nicht so recht, wie ich meinen Gedanken Ausdruck verleihen sollte.
„Liliane“, vermutete Gabriel richtig.
„Als ich die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet habe, das … das war nicht bloße Neugier. Ich habe sie gespürt, ihren Geist, und ich … Es mag überheblich und naiv klingen, aber ich glaube, ich kann ihr helfen. Ich weiß nicht, wie, ich weiß nur, dass ich es kann. Glaube ich“, versuchte ich, mich zu erklären.
Meine Hand ballte sich unwillkürlich zur Faust, als ich mich daran erinnerte, was ich in jenem Moment vor der Tür gefühlt hatte.
„Diese Verzweiflung …“ Ich schauderte. Wie hart musste sie mit dem Schicksal zu kämpfen haben, das ihr auferlegt worden war. „Vielleicht könnte ich mit ihr sprechen und … naja, wer weiß.“ Entschlossen schaute ich zu ihm auf. „Ich will es wenigstens versuchen. Ich muss es versuchen.“
Gabriels Brauen zogen sich betrübt zusammen.
„Du hast ein gutes Herz, Emma, und es ehrt dich, dass du den Mut hast, Lilly helfen zu wollen, aber manchmal …“, er zögerte kurz, was ungewöhnlich für ihn war, „… manchmal ist das einfach nicht genug. Leider. Glaube mir, ich liebe das Mädchen wie meine eigene Tochter, und wenn nur die geringste Chance bestünde, dass du etwas für sie tun könntest, wäre ich sicher der Letzte, der dich davon abhalten würde, aber so, wie die Dinge stehen, würde ich dich eher in den Selbstmord schicken – und damit wäre sicher keinem geholfen“, befand er.
„William will nicht, dass ich zu ihr gehe, stimmt’s?“, mutmaßte ich. Gabriel lächelte schwach, was ich als Ja deutete. Ich seufzte frustriert. Selbst, wenn William nicht da war, kommandierte er mich herum, kaum zu fassen.
„Wäre ich an seiner Stelle, würde ich auch nicht wollen, dass du gehst. Es ist zu gefährlich, selbst für dich“, verteidigte Gabriel seinen Neffen.
„Dann bleibst du eben die ganze Zeit über bei mir", schlug ich vor. "William hat gesagt, du bist stark und einer der ältesten unter den Vampiren. Wenn die Sache außer Kontrolle gerät, schreitest du ein, rettest mich, und wir vergessen das Ganze.“
Gabriel stieß einen frustrierten Laut aus.
„Ich kann nicht, Emma. William …“
„… ist nicht hier“, unterbrach ich ihn, was wiederum ungewöhnlich für mich war. Aber wenn es um William ging, schien ich mich des Öfteren selbst zu vergessen. „Glaubst du wirklich, dass es aussichtslos wäre? Vollkommen, total, absolut aussichtslos?“
Gabriel sah mich mit undefinierbarer Miene an.
„Ich glaube, dass ich dich auf jeden Fall schnell genug in Sicherheit bringen könnte“, sagte er schließlich vorsichtig. „Trotzdem sollten wir lieber warten, bis William zurück ist.“
Ich schüttelte bestimmt den Kopf.
„Er hätte mir sicher nie erlaubt, zu Christine zu gehen, wenn ich nicht selbst zu ihr gegangen wäre. Manchmal braucht er eben einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, dieser sture Bock“, entgegnete ich.
Ein träges Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus, und ich wusste, dass ich gewonnen hatte.
„Wahrscheinlich hast du Recht“, gab er zu. Er seufzte erschöpft. „Das wird William gar nicht gefallen.“
„Das muss William auch gar nicht gefallen. Er hat nicht zu entscheiden, wen ich sehen darf und wen nicht!“, gab ich entschieden zurück. „Bei euch mag er vielleicht ein Prinz sein und daran gewöhnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzen, aber das kann er sich bei mir abschminken!“
Ein sorgenvoller Glanz stahl sich in Gabriels Augen, dessen Intensität erschreckend war. Er versuchte, es zu verbergen, doch selbst als das Glitzern kurz darauf wieder verschwunden war, blieb ein mulmiges Gefühl zurück. Hatte er solche Angst vor William?
„Wenn es dir Recht ist, kann ich dich auch gleich mitnehmen", bot er an, den Blick wieder auf die Straße geheftet. "Helen, Christine und Josef würden sich sicher freuen. Was Liliane angeht … nun, wir werden sehen.“
„Jetzt gleich?“, stieß ich überrascht aus. „O-okay. Wenn es dir keine Umstände macht …“
Eine halbe Stunde später stiegen wir gemeinsam die Treppen zum Haus der Reynolds hinauf. Helen, Christine und Josef warteten im Wohnzimmer, wie sie es schon vorgestern getan hatten. Vermutlich hatte Gabriel dieses Telepathie-ding abgezogen, von dem William mir einmal in der Bibliothek erzählt hatte. Als ich eintrat, standen sie geschlossen auf. Bevor mich der Mut verließ, räusperte ich mich verlegen und erhob das Wort, ehe es jemand anderes tun konnte.
„Ich möchte mich bei euch allen entschuldigen“, begann ich, während mein Blick zwischen Gabriel, der neben mir stand, und der Couch vor mir hin und her glitt. Die vier sahen mich gespannt an, also machte ich weiter. „Ich wusste nicht, warum William bei euch war, aber ich hätte etwas … merken müssen. Naja, um ehrlich zu sein habe ich das sogar, aber ich … ich denke, ich wollte die Wahrheit gar nicht wissen. Ich habe euch wirklich gerne und ich wollte nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert.“
Ein schwaches, bitteres Lächeln umspielte meine Lippen.
„Das hat nicht sonderlich gut funktioniert, was?“, fragte ich rhetorisch, doch die Mienen der Vampire blieben ungerührt. Das Lächeln verschwand von meinen Lippen, und ich fuhr ernst fort. „Jedenfalls tut es mir leid, dass ich so selbstsüchtig war. Falls ich euch Unannehmlichkeiten bereitet haben sollte, tut es mir ebenfalls leid. Also daher … bitte nehmt meine aufrichtige Entschuldigung an.“
Nachdem ich geendet hatte, atmete ich erleichtert aus und war froh, es hinter mich gebracht zu haben.
Helen war die Erste, die zu einer Reaktion fähig schien. Ein mütterliches Lächeln trat auf ihre Züge, während sie gemäßigten Schrittes auf mich zutrat. Sanft legte sie mir eine Hand an die Wange und sah mir liebevoll in die Augen.
„Emma, Schatz, es gibt rein gar nichts, wofür du dich bei uns entschuldigen müsstest.“
Sie legte mir fürsorglich einen Arm um die Schultern und funkelte ihren Mann finster an.
„Wie kannst du sie mit so einem schlechten Gewissen hierher kommen lassen?“, schimpfte sie. Gabriel langte sich verlegen an den Hinterkopf.
„Ich wusste nicht, dass sie sich solche Vorwürfe macht. Ich dachte, sie wollte nur mit uns über letzten Samstag sprechen.“ Dann, an mich gewandt: „Emma, wie kannst du nur denken, wir wären dir böse?“
Helen war es, die an meiner statt darauf reagierte.
„William hat dir alles erzählt, nicht wahr?“
Ich nickte. Sie lächelte verständnisvoll.
„Es mag stimmen, dass unsere Beziehung zu ihm ein wenig frostig ist, aber dafür kann er nichts. William tut nur seine Pflicht, aber er hat ein gutes Herz. Er hat unsere Familie immer unterstützt, so gut es ihm möglich war, obwohl er uns mit Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten bereiten könnte, wenn er es wollte“, meinte sie.
„Er hat sich dafür eingesetzt, dass Liliane bei uns bleiben darf“, schaltete sich jetzt auch Christine ein. „Ich sage das nicht gerne, aber im Grunde genommen ist er … ganz in Ordnung.“
Die letzten drei Worte brachte sie nur widerwillig über die Lippen, doch umso mehr war ich überzeugt, dass sie ernst meinte, was sie sagte.
„Um die Sache abzukürzen: Niemand war je sauer auf dich oder William. Das am Samstag war einfach nur eine merkwürdige Situation weil wir wussten, dass er nun gezwungen sein würde dir zu erzählen, wie er wirklich zu uns steht“, fasste Josef zusammen.
William spionierte die Reynolds aus, machte sich in ihrem Haus breit – schlimmer noch, benahm sich wie der Herr des Hauses – und jetzt verteidigten sie ihn auch noch?
„Vampire sind kompliziert“, war das Einzige, was mir dazu einfiel.
„Willkommen in unserer Welt!“, erwiderte Josef grinsend.
„Wie ist euer Training gelaufen?“, fragte Helen neugierig.
Wir setzten uns, und Gabriel brachte seine Familie auf den neusten Stand.
„… Emma wurde nicht nur von Lilianes Aura, sondern noch viel stärker von ihren Gefühlen angelockt, deshalb ist sie zur Tür gelaufen und hat sie geöffnet“, beendete Gabriel schließlich seine Erzählung. Wieder erschauerte ich bei dem Gedanken an die Verzweiflung, die mich damals so magisch angezogen hatte.
„Ich musste einfach zu ihr“, bestätigte ich mit belegter Stimme und warf einen vielsagenden Blick zu Gabriel, der das musste in diesem Satz zu einem muss umfunktionierte.
„Emma, das ist viel zu gefährlich!“, stieß Christine entsetzte aus. Sie packte mich beschwörend bei der Hand und sah mich eindringlich an. Überrascht schaute ich in das besorgte Gesicht der dunkelhaarigen Schönheit neben mir. Woher … ?
„Du hast wieder dieses mitleidige Glitzern in den Augen. Das hattest du auch an dem Tag, als du in mein Zimmer gekommen bist“, erklärte sie auf meine offensichtliche Verwirrtheit hin und ließ langsam von meiner Hand ab. „Du willst zu ihr, nicht wahr? Aber das mit Liliane ist etwas anderes. Sag es ihr, Gabriel!“
Doch er schwieg.
„Ich bin vorsichtig, versprochen! Gabriel bleibt bei mir, und wenn es Probleme gibt, bringt er mich aus der Gefahrenzone und ich werde es nicht noch einmal versuchen“, wollte ich sie beruhigen, doch Christine verschränkte bockig die Arme vor der Brust.
„Es ist also schon beschlossene Sache? Vergesst es! Emma geht da nur über meine Asche rein!“
„Niemand von uns möchte, dass Emma zu Schaden kommt“, sprach nun auch Gabriel sanft auf sie ein. „Sie wird sich an meine Anweisungen halten und hinter mir bleiben, solange wir uns im Zimmer befinden, nicht wahr, Emma?“
Ich nickte. Hilfesuchend blickte Christine zu Josef, der ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legte.
„Wenn Gabriel es für das Richtige hält, sollten wir ihm vertrauen, meinst du nicht? Lily hätte es verdient, oder?“ fragte er zaghaft.
Sorge. Angst. Verzweiflung.
„Aber …“, setzte sie an, doch ich unterbrach sie, indem ich ihre kühle Hand in meine nahm.
„Ich kann das, ich weiß es! Mach dir keine Sorgen, alles wird gut gehen, du wirst sehen!“, erwiderte ich voller Zuversicht. Im Notfall hatte es bisher doch immer geklappt, oder?
Christine schnaubte abfällig, entspannte sich jedoch ein wenig und musterte mich prüfend. Anscheinend war sie zufrieden mit dem, was sie sah. An Gabriel gewandt meinte sie schließlich: „Ich komme mit!“
Zu fünft marschierten wir schließlich in den zweiten Stock, vor die Tür mit dem ungewöhnlichen Holzrahmen. In die Energie, die wie immer von dem Raum ausging, mischten sich starke Gefühle. Aufregung. Anspannung. Furcht.
Mir ging es nicht anders, doch was Vampire anging hatte ich gelernt, meinem Instinkt zu vertrauen, und das tat ich. Alles wird gut!, sagte ich mir immer wieder und hoffte inständig, dass es der Wahrheit entsprach.
Helen, Christine und Josef traten zuerst ein, um sich wie eine schützende Wand zwischen Liliane und mich zu stellen, ich folgte hinter Gabriel. Es dauerte einige Sekunden, bis ich das Mädchen hinter all den Körpern ausmachen konnte. Sie stand regungslos vor dem Fenster am anderen Ende des Zimmers. Ihre Gesichtszüge waren normal – sofern man weiße Augen, weiße Haare und blasse Haut als normal bezeichnen konnte. Jedenfalls starrte ich nicht in den unheimlichen Monsterschädel, der mir noch von unserer ersten Begegnung in besserer Erinnerung war, als es mir lieb gewesen wäre. Sie trug ein braunes Kleid, dass ihr etwas über die Knie reichte, mit langen Puffärmeln, einem Rüschenkragen und einem braunen Band um die Mitte, das in ihrem Rücken zu einer großen Schleife zusammengefasst war. Es war schlichter gehalten als das Kleid, das sie beim letzten Mal getragen hatte. Von ihrem gelockten, weißen Schopf hatte sie links und rechts eine Strähne nach hinten gezogen und mit einer braunen Schleife befestigt, die zur Farbe ihres Kleides passte. Schwarze Strumpfhosen und dunkelbraune Schnürstiefeletten rundeten das Ensemble ab. Die Aura, die von ihr ausging, war zwar immer noch intensiver, als die der anderen Reynolds, dieses Mal jedoch konnte ich nur unterschwellig die schwarze, verdorbene Macht spüren, die unter der Oberfläche brodelte und den Dämon verriet, der dort verborgen lag. Im Augenblick war sie keine Gefahr für mich.
„Alles okay, sie wird mir nichts tun“, ließ ich die anderen wissen. Keiner schien jedoch sonderlich überzeugt von meiner Einschätzung der Situation, da sie weiterhin stur auf ihren Positionen verharrten, ohne sich auch nur im Geringsten zu entspannen. „Wirklich, sie ist im Moment keine Gefahr für mich, vertraut mir“, schob ich hinterher. Gabriel trat einen kleinen Schritt zur Seite, war aber immer noch bis aufs Äußerste angespannt.
„Bist du dir sicher?“, wollte er ernst von mir wissen.
„Todsicher.“
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Gabriel nickte mir zu, und so trat ich unsicher erst neben ihn, dann an ihm vorbei, jeder einzelne Schritt klein und mit dem größten Bedacht gesetzt. Ich kam mir dämlich vor, mich so langsam vorzuarbeiten, rief mir aber ins Gedächtnis, das es nur zu meiner eigenen Sicherheit war, so übertrieben es mir auch vorkommen mochte. Unwillkürlich musste ich an die Zeit zurück denken, in der ich William kennen gelernt hatte. Das mit dem Abstand hatten wir mittlerweile immerhin in den Griff bekommen, das Berühren dagegen war immer noch so eine Sache für sich …
Gabriel blieb an meiner Seite, während ich weiter und weiter in Richtung Fenster voranschritt. Christine ließ mich nur widerwillig passieren, nachdem Gabriel ihr einen mahnenden Blick zugeworfen hatte, hielt sich jedoch weiterhin dicht hinter mir. Liliane stand immer noch an ihrem Platz vor dem Fenster, ohne sich einmal bewegt oder etwas gesagt zu haben. Sie schaute mich aus ihren unergründlichen, blassen Augen an, das Gesicht ausdruckslos, die Hände galant vor sich zusammengefaltet. Einzig die Fingernägel, die krampfhaft in ihre Haut schnitten und so auf die Festigkeit des Griffes hindeuteten, verrieten ihre Nervosität.
Als uns nur noch knapp ein Meter voneinander trennte, blieb ich stehen. Die Spannung im Raum war fast greifbar.
„Ähm … Wir wurden uns ja noch nicht offiziell vorgestellt, also: Ich bin Emma“, machte ich den Anfang, wobei ich mir zur Veranschaulichung eine Hand auf die Brust legte, als würde ich mit einem Kind oder einem Ausländer reden. In Gedanken ohrfeigte ich mich sofort dafür, da sie wie alle Vampire vermutlich viel älter war, als ihr Äußeres vermuten ließ. Gut gemacht, Emma, jetzt denkt sie, du hältst sie für dumm.
„Mein Name ist Liliane. Ich habe mich sehr darüber gefreut, als ich erfahren habe, dass du mich besuchen möchtest“, erwiderte sie freundlich, dennoch bekam ich beim Klang ihrer Stimme eine Gänsehaut. Sie war so klar, rein und sanft wie die Stimme eines Engels. Melodisch und wunderschön. In den Bann dieses vollkommenen Klangs gezogen dauerte es einige Sekunden, bis ich auch die Bedeutung ihrer Worte erfasst hatte und dementsprechend antworten konnte.
„Ähm ... F-freut mich, dass es dich freut“, entgegnete ich äußerst geistreich, um einer peinlichen Stille vorzubeugen. Meine Stimme kam mir mit einem Mal vor, wie ein Reibeisen.
Liliane löste ihre Hände voneinander und ließ die Arme lose neben dem Körper baumeln, womit sie die erste der Reynolds war, die sich etwas entspannte. Sie schloss für einige Sekunden etwas skeptisch die Augen, feine Linien gruben sich in ihre sonst so glatte Stirn, doch als sie die Lider wieder hob, waren die Sorgenfältchen verschwunden und ein zaghaftes Lächeln machte sich auf ihren vollen Lippen breit.
Erleichterung.
Jetzt war auch Liliane sich sicher, dass sich der Dämon in ihr vorerst nicht zu Wort melden würde. Dadurch bestätigt trat ich wieder vorsichtig einige Schritte nach vorne, bis schließlich nur noch eine Armlänge zwischen uns lag. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Christine unruhig wurde und mich vermutlich zurückgehalten hätte, hätte Josef sie nicht daran gehindert. Ich spürte, wie auch Gabriel und Helen etwas unsicher näher an mich herantraten, doch ich beachtete sie kaum. Wir waren jetzt schon so weit gekommen, ich musste einfach aufs Ganze gehen.
Behutsam bot ich Liliane meine Hand dar und wartete. Erst zuckten ihre Finger voller Tatendrang, dann schwebten sie, Zentimeter für Zentimeter, meiner offenen Handfläche entgegen. Die Zeit schien still zu stehen, während sie sich unaufhaltsam meiner Hand näherten. Dann, als ihre Hand über meiner schwebte, senkte sie leicht den Mittelfinger, bis ich spürte, wie etwas Kühles, leicht und sanft wie eine Feder, meine Haut streifte. So verfuhr sie auch mit dem Ringfinger, dem kleinen Finger, dem Zeigefinger und dem Daumen, bis eine zerbrechliche Brücke zwischen uns entstanden war. Triumphierend strahlte sie mich aus ihren ungewöhnlichen, großen Kinderaugen an, und auch ich musste Grinsen.
Zu meiner Rechten hörte ich Christine unterdrückt keuchen. Ich stöhnte innerlich. Kaum war ein Kampf gewonnen …
Langsam, um Liliane nicht zu erschrecken und unsere Verbindung aufrecht zu erhalten, wandte ich mich Christine zu, um ihr erneut zu versichern, dass alles in Ordnung war – doch wie sich herausstellte, war das gar nicht nötig. Sie hatte nicht gekeucht – sie hatte geschluchzt.
Eine einsame Träne ran über ihre Wange, die sie auf halbem Weg mit ihrem Handrücken auffing. Sie erwiderte meinen Blick und lächelte, so gut es ihr eben möglich war, und da verstand ich.
Freude.
Josef, der sonst immer ein spitzbübisches Grinsen auf den Lippen hatte, lächelte verdächtig zahm, und als ich mich umblickte sah ich, dass auch Helen mit den Tränen kämpfte. Gabriels Augen glitzerten auffällig, während er mir anerkennend zunickte. Damit war es dann wohl amtlich: Emma Hanson kann es nicht nur mit Vampiren, sondern ebenso gut mit Dämonen aufnehmen!
Vom allgemeinen Übermut gepackt, vergaß Liliane all die Was wenn …? und Aber …!, schlang ihre Arme übermutig um meine Mitte, noch ehe jemand auch nur den Versuch hätte unternehmen können, sie daran zu hindern, und begann an meiner Schulter ebenfalls herzerweichend zu Schluchzen. Sie war etwas mehr als einen Kopf kleiner als ich, also war es ein leichtes, ihre Schultern zu umfassen und sie tröstend an mich zu ziehen. Sachte streichelte ich ihr über die weichen, weißen Locken. Ein Gefühl tiefen Friedens überkam mich, während wir so ineinander verschlungen dastanden. Ich hatte etwas Gutes bewirkt. Ich konnte Gutes bewirken. Vielleicht war ich ja doch nicht die mieseste Jägerin aller Zeiten.
Man musste Lily einfach gerne haben. Hätte ich eine kleine Schwester gehabt, hätte ich sie mir genauso gewünscht. Sie hing förmlich an meinen Lippen, was ein ungewohntes Gefühl war in Anbetracht der Tatsache, dass ich für gewöhnlich nicht gerade die Gesprächigste war, aber ihren leuchtenden Augen konnte man einfach keine Bitte abschlagen. Lily wollte alles Mögliche wissen: Wie mein Alltag aussah, wie ich William kennen gelernt hatte, was für Kurse ich auf der Uni belegte, was meine Lieblingsfarbe war – die Liste ließe sich noch unendlich weiterführen. Hätte Gabriel nicht darauf bestanden ich bräuchte meinen Schlaf, wäre ich vermutlich die ganze Nacht geblieben. Er war es auch, der – entgegen vehementem Protest meinerseits – ein erneutes Treffen am nächsten Tag als zu anstrengend für mich erachtete.
„Emma muss sich auch um ihr Studium und ihre menschlichen Freunde kümmern. Außerdem haben wir morgen wieder Training. Sie wird dir nicht weglaufen. Gönn ihr ein paar Abende Verschnaufpause“, hatte er zu Lily gesagt, die natürlich schlecht etwas dagegen einwenden konnte. Nach einer weiteren Diskussionsrunde hatte er sich zumindest für ein Treffen am übernächsten Tag breitschlagen lassen.
Trotz Gabriels Anstrengungen wurde es weit nach Mitternacht, bis ich endlich unter meine Bettdecke schlüpfte. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich seine Aura vor meinem Fenster spüren. Wie am Abend zuvor spielte er Williams Ersatzmann.
William. Es nagte an mir, dass wir im Schlechten auseinander gegangen waren, und obwohl er erst einen Tag fort war, musste ich ständig an seine Rückkehr denken. Dieser blöde Kerl! Er verdiente es gar nicht, dass ich ihn vermisste!
Ich hasste dieses dämliche Gefühl nicht zu wissen, wo er war. Zu wissen, dass er nicht bei mir war. Wann war ich nur so abhängig von ihm geworden?
Nein, es lag sicher nur an der Art, wie wir uns verabschiedet hatten. Ja, das musste es sein! Es lag bestimmt nicht an William! Ich wollte einfach nur wissen, mit was für Neuigkeiten er zurückkommen würde. Genau, ich war nur neugierig, das war alles! Nur neugierig!
Er würde sich sicher schrecklich aufregen, sobald er davon erfuhr, dass ich Lily besucht hatte. Ich konnte ihn schon förmlich vor mir sehen, wie er mit verschränkten Armen und seinem böser-Cop-Blick dastand, die Augenbrauen wütend zusammengezogen. Er würde eine seiner berüchtigten pass-gefälligst-besser-auf-dich-auf-Reden halten, und dann würde er seufzen und mir meinen frühen Tod prophezeien, wenn ich so weitermachte. Er würde eine Zeit lang schmollen, und schließlich würde er sich wieder abreagieren, wie er es immer tat … Das würde er doch, oder?
Leise erhob sich in mir die Stimme des Zweifels. Erinnerungen von dem Tag, an dem er mir den Waldfriedhof gezeigt hatte, streiften mein Bewusstsein. Daran, wie er mich außer sich vor Wut durch den Wald gezerrt hatte. An seinen eiskalten Blick, der jenseits von Gut und Böse gewesen war, als er mich mit meiner Tat konfrontiert hatte. Hatte ich dieses Mal vielleicht doch eine Grenze überschritten?
Dann erinnerte ich mich daran, wie Lily`s Hände meine berührt hatten, wie sie mich umarmt hatte und alle geweint hatten. Wie sich das kleine Mädchen bei mir bedankt und sich ganz aufgeregt mit mir unterhalten hatte. Wie sie mich angelächelt hatte, als hätte ich ihr die Welt geschenkt.
Ja, womöglich hatte ich tatsächlich eine Grenze überschritten – aber ich bereute es nicht.
Erschrocken blieb ich einige Schritte von der hölzernen Flügeltür entfernt stehen, die das Eingangsportal zum großzügigen Wohnsitz der Reynolds darstellte. Eine bekannte Aura ließ meine Haut prickeln.
Wie versprochen hatte mich Gabriel zwei Tage später wieder mit nach Hause genommen. Bereits im Türrahmen, drehte er sich zu mir, ein entschuldigender Ausdruck auf seinen Zügen.
„Du wusstest es schon länger, oder?“, fragte ich vorwurfsvoll. „Seit heute Morgen“, gestand er. Als ich nichts erwiderte trat er ein, hielt mir die Tür auf und wartete.
Warum war ich plötzlich so nervös? Es war schließlich nur William, der da drin auf mich wartete.
Ich straffte meine Schultern und folgte Gabriel ins Wohnzimmer. William saß entspannt auf einem der Sessel gegenüber der Couch, die Beine übereinandergeschlagen und die Arme lässig auf die Lehnen gestützt. Sein dunkler Blick begrüßte mich, als ich den Raum betrat. Er erhob sich galant, wie es sich gehörte, während er beiläufig den obersten Knopf seiner dunkelblauen Bluse öffnete, die ihm mit einem Mal etwas zu eng zu sein schien. Seine Züge verrieten keinerlei Emotionen. Die dunklen Haare schwirrten nicht ganz so sorglos um seinen Kopf, wie sie es für gewöhnlich immer taten – vermutlich hatte er versucht, sie zu bändigen, was aber nur mäßig erfolgreich gewesen war.
Ohne den Blick von mir zu nehmen befahl er Helen: „Das wäre dann alles. Falls es Probleme geben sollte, wendest du dich zu aller erst an mich, verstanden?“
„Natürlich“, gab sie steif zurück.
Ich blinzelte entgeistert. Ich war so auf William fixiert gewesen, dass mir Helen, Josef und Christine, die ihm gegenüberstanden, bis eben gar nicht aufgefallen waren.
Im nächsten Augenblick stand William vor mir. Ich zuckte vor Schreck zusammen und verwünschte im Stillen meine blöden menschlichen Reflexe. Um mir nicht noch mehr die Blöße zu geben bemühte ich mich, es ihm gleich zu tun und meine Miene unbeeindruckt wirken zu lassen.
„Hallo Emma“, begrüßte er mich, wobei seine Stimme ebenfalls nichts über seinen derzeitige Gemütszustand preisgab.
„Hallo William“, erwiderte ich leise, aber bestimmt.
„Gabriel“, sagte William knapp, während er seinem Onkel kurz zunickte. Als der Höflichkeit genüge getan war, sah er mich ernst an. „Wir müssen reden.“
„Gut, reden wir.“
Ich folgte ihm schweigend in die Bibliothek im zweiten Stock, die anderen ließen wir im Wohnzimmer zurück. Sobald wir den Raum betreten und William die Tür hinter mir geschlossen hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und reckte stolz das Kinn vor.
„Also rede“, befahl ich und hoffte insgeheim, dass mein Tonfall selbstsicherer klang, als mir innerlich zu Mute war. Warum musste William mich auch mit seinen dunklen Augen verschlingen?
„Du bist immer noch wütend“, stellte er fest.
„Dazu hab ich auch jeden Grund, oder?“
Frustriert legte sich William Daumen und Zeigefinger an die Nase.
„Ich verstehe, dass du Zeit brauchst, um dich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich ein Prinz bin, aber ich kann nur wiederholen, was ich dir bereits gesagt habe: Ich bin immer noch derselbe.“
Zu meiner eigenen Überraschung entschlüpfte mir ein hysterisches Lachen. Er verstand es einfach nicht.
„Glaubst du etwa, dass ich nur deshalb wütend bin? Weil du ein Prinz bist?“, fragte ich fassungslos.
Williams Augenbrauen zogen sich zusammen und er sah mich entgeistert an.
„Warum sonst?“, wollte er vollkommen ahnungslos wissen.
„Warum sonst? Wo soll ich da bloß anfangen …“, begann ich und warf empört die Arme in die Luft. Wie konnte jemand nur so ignorant sein?
„Zunächst einmal meine ich mich dunkel daran erinnern zu können, dass wir uns darauf geeinigt hatten, dass du mir nichts mehr verschweigst – und ich rede nicht nur von deinem Adelstitel, der war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich meine das mit Liliane und diese Ausspionierungsnummer. Oh, und dann wäre da ja noch diese winzige Sache mit der Audienz beim Vampirkönig, die du einfach mal so hinter meinem Rücken geplant hast.“
Ich machte eine kurze Pause um Luft zu holen und etwas runterzukommen. William wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, doch ich kam ihm zuvor.
„Ich bin noch nicht fertig!“
Ich war so richtig in Fahrt. Jetzt, wo der Knoten geplatzt war, brach sich all meine Frustration ungehindert Bahn und schrie danach, endlich freigelassen zu werden.
„Du hast einmal zu mir gesagt, dass du mir vertraust. Vertrauen bedeutet, dass man einer anderen Person gegenüber auch einmal Schwäche zeigen kann, Teile von sich offenbaren, die sehr persönlich sind, aber du erzählst nie etwas von dir. Wie sieht dein Tag aus? Was tust du, wenn wir nicht zusammen sind? Was ist dein Lieblingsfilm oder deine Lieblingsfarbe? Wann hast du Geburtstag? Immer wenn es um dich geht, lenkst du das Gespräch auf etwas anderes, auf das Wetter, die Nachrichten oder wie spät es schon ist. Im Grunde genommen … Im Grunde genommen kenne ich dich gar nicht …“
Die letzten Worte waren nur noch ein heißeres Flüstern. Ich konnte förmlich spüren, wie meine Tränendrüsen ihre Arbeit aufnehmen wollten. Schnell biss ich die Zähne zusammen und zwang das Salzwasser dort zu bleiben, wo es war. Nur gut, dass ich in dieser Disziplin jahrelanges Training vorweisen konnte.
Beschämt wandte ich meinen Blick ab und lief zu einem der großen Fenster. Ich wollte Williams Gesicht nicht mehr sehen. Traurig schaute ich hinaus in die Nacht. Ich war wütend darüber, ihm so viel von mir preisgegeben zu haben, während er offenbar nicht im Geringsten daran interessiert war, mir dasselbe Vertrauen entgegenzubringen. Ein bitteres Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Schon komisch, dass ausgerechnet ich mich bei jemandem beschwerte, er sei zu verschlossen. Bei William jedoch schien mir dieser Einwand aus irgendwelchen Gründen gerechtfertigt, besonders in Bezug auf mich, obwohl ich sehr wohl wusste, wie idiotisch das war. Ja, ich war eine Idiotin gewesen, weil ich zu viel in Dinge hineininterpretiert hatte, in die es eigentlich nichts hineinzuinterpretieren gab.
Emma, ich vertraue dir mehr als jedem anderen, aber genau aus diesem Grund möchte ich dich beschützen!
Seine Worte von damals erschienen mir plötzlich in einem völlig anderen Licht. Er vertraute mir, weil er nicht anders konnte. Weil er das Band fürchtete, das zwischen uns bestand. Mit aufrichtiger Zuneigung hatte das nichts zu tun.
Ich drehte mich wieder zu William um und bemühte mich gefasst zu wirken, nun, da ich die verstand. Schnell wischte ich mir den Hauch einer Träne aus meinem Augenwinkel, der sich doch irgendwie an die Oberfläche gekämpft hatte, bevor ich ruhiger fortfuhr.
„Nein, weißt du was? Vergiss einfach, was ich eben gesagt habe, okay? Du hast mir dieses Angebot, dass du mich beschützen würdest, damals nur gemacht, weil wir diese Verbindung hatten. Das habe ich jetzt verstanden. Du kannst nichts dafür, dass ich deine Höflichkeit mit Zuneigung verwechselt habe. Es …“
Plötzlich wurde ich blitzschnell mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, meine Hände von Williams kräftigen Armen zu beiden Seiten meines Kopfes gedrückt. Ich keuchte auf und wagte nicht, mich zu rühren.
„SAG. DAS. NIE. WIEDER“, stieß er knurrend vor Zorn aus. „Sag nie wieder, dass du mir nichts bedeutest.“
Sein Kopf schwelte bedrohlich über mir, so nah, als stünden wir kurz vor einem Kuss. Das sonst so natürlich strahlende Blau seiner Augen hatte sich merklich verfinstert. Wütend sah er auf mich herab. Ich schluckte schwer. Mein Herz raste wie wild, meine Handgelenke brannten unter seinem unbarmherzigen Griff. Unfähig, auch nur einen Finger zu rühren um mich aus dieser Lage zu befreien, konnte ich nicht mehr tun, als ihn voller Schock anzustarren.
Unterdrückt fluchend ließ er abrupt wieder von mir ab, brachte einige Schritte beruhigenden Abstand zwischen uns und fuhr sich mit den Fingern durch die dunklen Haare.
„Bitte verzeih mir, Emma. Ich … Ich habe mich vergessen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist“, entschuldigte er sich.
Er atmete erschöpft aus und fixierte mich mit seinen Pupillen wie mit Nägeln an Ort und Stelle, als habe er Angst, ich könnte fliehen, da er mich nicht mehr festhielt. Langsam nahmen seine Augen wieder ihre übliche Farbe an.
„Wie kannst du nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, so von mir denken?“, fragte er schließlich. Ein flehender Ausdruck lag auf seinen Zügen.
„Es tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe, und es tut mir Leid, dass ich mich dir gegenüber nicht offener zeigen kann. Aber du darfst niemals daran zweifeln, dass du mir wichtig bist, Emma. Nicht wegen irgendeinem Band, nicht weil du eine Jägerin bist – sondern weil du du bist. Niemals, hörst du?“
Seinen Worten wohnte eine Dringlichkeit inne, die es mir für einige Augenblicke schwer machte zu Atem zu kommen, und mein Herz setzte einen Schlag aus als etwas tief in mir erkannte, dass er die Wahrheit sprach.
Wieder stand William vor mir ehe ich blinzeln konnte. Behutsam legte er mir eine Hand an die Wange und strich mit dem Daumen zärtlich über meine Haut. Wie aus einem Reflex heraus legte ich meine Finger auf seine, bis sich ein schwaches Lächeln auf seine sonst so strengen Lippen legte und er seine Hand zurückzog.
„Ich weiß ich mache es dir nicht gerade leicht, aber kannst du unserer Freundschaft noch eine Chance geben, wenn ich Besserung gelobe?“, wollte er mit Dackelblick von mir wissen. Das brachte mich gegen meinem Willen zum Lachen, und ein siegessicherer Ausdruck legte sich auf Williams Züge. Die angespannte Atmosphäre zwischen uns lichtete sich, und Erleichterung strömte wie eine wärmende Brise über meinen Körper hinweg.
„Du spielst nicht fair“, schimpfte ich, doch William lächelte zufrieden und gab sich mit diesem subtilen Ja zufrieden.
Er ließ sich neben mich gegen die Fensterbank sinken und wir beide schauten betreten zu Boden. Einige Minuten sagte keiner von uns etwas, als warteten wir beide darauf, dass sich das Echo unseres Streites endlich aus der Luft gewaschen hatte.
„Ich konnte den König davon überzeugen, dir eine Audienz zu gewähren. Wir werden uns in zwei Wochen mit ihm Treffen“, stellte William dann nach einer angemessenen Pause in den Raum und wartete auf meine Reaktion.
Ich würde tatsächlich bald dem König der Vampire gegenüberstehen. Mir wurde schlecht.
„Kommt er hierher?“, fragte ich und hatte alle Mühe, meine Stimme ebenmäßig klingen zu lassen.
„Nein, das wäre seiner Stellung nicht angemessen. Einer meiner Brüder hat ein Haus in der näheren Umgebung, das geeigneter für diesen Anlass ist. Er ist bereit, es uns zur Verfügung zu stellen“, erklärte er.
Brüder … William hatte also Geschwister.
„Gabriel wird bis dahin jeden Tag mit dir trainieren, und anschließend werde ich dir Unterricht in höfischem Protokoll erteilen. Mir ist bewusst, dass du auch noch andere Verpflichtungen hast, aber im Moment ist nichts wichtiger als dieses Treffen. Du wirst also in den sauren Apfel beißen müssen.“
… wenn dir dein Leben lieb ist, fügte ich in Gedanken hinzu. Um mich von diesen düsteren Aussichten abzulenken, fragte ich: „Höfisches Protokoll? Du meinst Knicksen und so was?“
„Ich meine Knicksen und so was“, stimmte er mir zu. „Es ist wichtig, dass du einen guten Eindruck machst. Wenn du die entsprechenden Umgangsformen beherrschst, wird ihnen das weniger Angriffsfläche bieten.“
Halb Mensch, halb Jäger, entvampisierende Kräfte, lässt sich vom Sohn des Königs vor seinen Artgenossen beschützen – oh ja, ich bot bereits mehr als genug Angriffsfläche. Wäre ich ein Vampir, könnte ich mich vermutlich auch nicht besonders gut leiden.
„Klingt vernünftig“, gab ich ihm innerlich resignierend Recht. Ich würde die Freistunden zwischen den Seminaren und Vorlesungen in nächster Zeit wohl intensiver nutzen müssen. Die freien Nachmittage waren jedenfalls gezählt.
Apropos Freizeit. Mein Blick wanderte gedankenverloren in die Richtung von Lilianes Zimmer, meinem ursprünglichen Ziel für diesen Abend. Da fiel mir ein, dass ich noch etwas zu beichten hatte.
„Ich weiß, dass du bei ihr warst“, schien William meine Gedanken gelesen zu haben. Ich errötete und schaute verlegen auf meine Füße. „Gabriel hat es mir gesagt.“
„Ich hätte es dir auch noch gesagt“, gab ich kleinlaut zurück und erwiderte schuldbewusst den unnachgiebigen Blick seiner strahlend blauen Augen. Insgeheim war ich froh, dass wir das Thema gleich angeschnitten hatten. Früher oder später hätten wir ja doch darüber sprechen müssen.
„Bist du sauer?“, wollte ich von ihm wissen, da er still blieb.
„Du lebst noch, das ist die Hauptsache“, entgegnete er augenscheinlich gelassen, doch ich wusste, dass es unter der Oberfläche brodelte. „Sich über etwas aufzuregen, was hätte sein können, ist müßig und führt zu nichts.“
Er sah mich eindringlich an, bevor er nachlegte: „Ich weiß, dass du es nur gut gemeint hast, Emma, und dass du immer nur das Beste in den anderen siehst – und ich will diesen Zug an dir gewiss nicht kritisieren! – aber bevor du dich das nächste Mal in die Nähe eines Dämons wagst, sag mir bitte vorher Bescheid, damit ich wenigstens rechtzeitig einen Plan B entwerfen kann, falls dein Plan A mal nach hinten losgehen sollte. Versprichst du mir das?“
„Du wärst damit einverstanden, dass ich wieder zu Lily gehe – unter der Voraussetzung, dass ich dich als Rückendeckung mitnehme?“, fragte ich ungläubig.
William nickte gezwungen.
„Wenigstens führst du deine Kamikaze-Aktionen dann nicht mehr hinter meinem Rücken durch, und ich habe eine Chance, dich vor deiner eigenen Unbedachtheit zu beschützen. Also versprochen?“
„Versprochen“, stimmte ich immer noch vollkommen perplex seiner Bedingung zu.
„Gut.“
Leise Klavierklänge drangen von der anderen Seite des Hauses an uns heran. Christine hatte zu spielen begonnen. William richtete sich auf.
„Da das jetzt geklärt wäre, fangen wir am besten gleich mit deinem Unterricht an“, schlug er vor, trat auf mich zu und streckte mir seine offene Handfläche entgegen, die ich nur fragend musterte. Es dauerte einige Sekunden, bis ich seine Geste mit der Musik in Verbindung brachte. Oh Gott, alles, aber nicht das!
„Tanzen?“, stöhnte ich.
„Nun, wenn eine Gesellschaft zusammenkommt, gehört es zum guten Ton, einen Ball auszurichten“, entgegnete er, als hätte ich mir das auch selbst denken können.
„Gesellschaft?“, wiederholte ich entsetzt. William hob überrascht eine Augenbraue.
„Hast du etwa geglaubt, der König würde sich mit uns unter vier Augen treffen?“, fragte er rhetorisch. „Hat sich der Ältestenrat etwa unter vier Augen mit uns getroffen?“
Daran hatte ich überhaupt noch nicht gedacht. Allein die Vorstellung, den König zu treffen, war schon beängstigend genug gewesen, aber auch noch seinen ganzen Hofstaat?
Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich bei dem Gedanken an einen riesigen Saal voller Vampire, die mich mit denselben mordlüsternen Blicken bedenken würden, wie es die Jäger damals mit William getan hatten. Und als sei das noch nicht schlimm genug, sollte ich auch noch vor ihren Augen tanzen!
William räusperte sich vernehmlich und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf seine Hand, die er mir immer noch auffordernd entgegenstreckte.
„Ich … ich kann nicht tanzen“, gestand ich und erinnerte mich finster an das Debakel an Logan’s Geburtstag. William ließ seine Hand sinken und runzelte irritiert die Stirn.
„Hat man es dir etwa nie beigebracht? Ist Gesellschaftstanz unter Sterblichen heutzutage nicht mehr üblich?“, wollte er ungläubig wissen, wobei sich eine leise Abfälligkeit in seine Worte stahl.
„Doch, schon. Auf der High-School wurden einige Tanzabende veranstaltet, aber ich bin nie hingegangen“, erwiderte ich.
„Warum nicht?“
„Es hat mir keinen Spaß gemacht“, antwortete ich ehrlich.
„Dann hattest du einfach nie den richtigen Partner. Tanzen kann ungemein erhebend sein, wenn man ein fähiges Gegenüber hat“, stellte er leichthin fest und bot mir erneut seine Hand dar. Dieses Mal ergriff ich sie zögerlich. William lächelte ermutigend.
„Vertrau mir. Es ist gar nicht so schwer.“
Sanft ergriff er auch meine andere Hand, die er sich auf den rechten Oberarm legte, und zog mich ein Stück näher an sich heran. Anschließend streckte er leicht den linken Arm aus und zog meinen mit sich. Der natürliche Duft des Waldes stieg mir in die Nase, nach Hölzern und Kräutern und saftigem Gras – sein Duft – und ich wurde mir eindringlich seiner Nähe bewusst. Seiner starken Hand. Seinen kräftigen Schultern.
Wir wiegten uns seicht zum Takt der Musik. Hin. Her. Rechts. Links.
Nach einiger Zeit wurde ich etwas entspannter. Ohne dass ich mir dessen richtig bewusst war, begann William einige vorsichtige Schritte zu machen, und ich folgte seinen Bewegungen wie in Trance. Ich war fast enttäuscht als das Stück ausklang, William die Arme wieder sinken ließ und wir zum Stehen kamen.
„Für den Anfang war das doch gar nicht schlecht“, lobte er mich.
„Ich hatte eben einen guten Partner“, gab ich noch etwas neben mir stehend zurück.
Unsere Hände waren nach wie vor leicht ineinander verschlungen, und ich stellte überrascht fest, dass mir das kein bisschen unangenehm war – im Gegenteil.
William hob meine Hand an seine Lippen, hauchte einen zarten Kuss darauf und verbeugte sich mit der Grazie eines Adonis vor mir.
„Es war mir eine Ehre.“
„Und du bist dir auch wirklich ganz sicher, dass du die kommenden zwei Nächte gut aufgehoben bist? Nicht, dass sie dich einfach in den Warteraum verfrachten oder …“
Gut aufgehoben. Was sollte ich dazu sagen? Ein Sprengstoffexperte hatte vermutlich bessere Chancen dieses Wochenende zu überleben als ich. Und ein unbequemer Stuhl in einem Warteraum würde ich alle Mal dem vorziehen, was mir blühte.
„Es ist alles geregelt. Der Wagen fährt mich hin und wieder nach Hause, heute und morgen schlafe ich bei Verwandten von Taylor und tagsüber bin ich mit ihnen im Krankenhaus“, wiederholte ich zum hundertsten Mal. Fast glaubte ich schon selbst daran.
Auch wenn ich mich nicht ganz wohl dabei fühlte, ausgerechnet Taylor für mein Vorhaben, zum Vampirkönig zu gehen, als Alibi zu missbrauchen, war es doch das einzig plausible, mit dem ich hatte aufwarten können. Die offizielle Erklärung, warum Taylor nicht mehr zur Uni kam, lautete Chemotherapie. Ich hatte die Sache für meine Zwecke munter weitergesponnen, und laut mir würde sie sich nun morgen einer schwierigen OP unterziehen, bei der ich quasi Händchen halten sollte – ein Totschlagargument für meine Mitbewohner und meine Freikarte für die nächsten Tage.
„Na gut“, gab Naomi wenig überzeugend zurück, während sie mich zum Abschied umarmte. „Pass auf dich auf, ja?"
„Ich werde es versuchen“, entgegnete ich mit einem schwachen Lächeln. Logan half mir, mein Gepäck im Kofferraum zu verstauen, dann sagte ich den beiden Jungs noch auf Wiedersehen.
„Bis Sonntag“, verabschiedete ich mich und winkte meinen Freunden noch ein letztes Mal zu, ehe ich in Williams Auto stieg und hinter den getönten Scheiben verschwand.
„Siehst du, sie haben nicht nachgesehen, wie ich es vorausgesagt hatte“, begrüßte er mich, nachdem er losgefahren war. Ich wollte eigentlich etwas Schlagfertiges entgegnen, war aber noch zu aufgewühlt von der Tatsache, dass ich gerade nur wenige Meter neben meinen nichtsahnenden menschlichen Mitbewohnern zu einem Vampir ins Auto gestiegen war.
„Ist dir kalt? Soll ich die Heizung anstellen?“, deutete er meine Schockstarre. Ich schaute ihn entgeistert an.
„Wie kann dich das alles so kalt lassen? Wenn sie doch nachgesehen hätten, hättest du auf offener Straße ihre Erinnerungen löschen müssen!“, gab ich schließlich zurück.
Es war früher Nachmittag und das hieß, solange ich nicht in Williams unmittelbarer Nähe war, leuchteten seine Augen rot wie eine Winkerkelle.
„Du bist selbst schuld. Du musstest ja unbedingt auf diese dämliche Ausrede bestehen. Ich hatte deine Freunde die ganzen letzten zwei Wochen unter meiner Kontrolle, drei Tage mehr oder weniger hätten den Kohl sicher auch nicht fett gemacht“, erwiderte er, ohne sich jeglicher Schuld bewusst zu sein. Da ich keine Lust hatte, schon wieder mit ihm über dieses leidige Thema zu diskutieren, sagte ich einfach nichts mehr dazu. Er würde es sowieso nie verstehen. Außerdem gab es Dringenderes zu besprechen.
„Du hast mir bis jetzt noch gar nicht verraten, wo genau wir eigentlich hinfahren“, stellte ich fest. Kalifornien war der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte. Es sei schwer zu beschreiben, hatte William nur gemeint. Ich müsse es mit eigenen Augen sehen.
„Wir fahren nach Newport.“
Newport. Das klang so … gewöhnlich. Total unvampirisch. Nicht so was wie Gotham City oder Volterra.
Ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken, seufzte und stellte mich auf eine lange Fahrt ein.
„Newport in Oregon?!“, fragte ich verwirrt, als wir nur wenige Stunden später in die kleine Stadt einbogen. Inzwischen hatte es bereits zu dämmern begonnen. „Ich dachte wir wollten nach Kalifornien …“
„Unser Ziel ist nicht mit dem Auto zu erreichen. Hier in Newport befindet sich ein privater Flughafen, von dem aus wir in einen Helikopter umsteigen“, erklärte er gelassen.
„Ein Helikopter?“
Was war so gelegen, dass man es nicht auch mit dem Auto erreichen konnte? Eine Anhöhe auf einem Berg? Ein fliegendes Haus? Eine Insel? Und überhaupt – wir würden mit einem Helikopter weiterreisen?!
Noch während ich fieberhaft überlegte, wer uns fliegen würde und wo wir überhaupt hinfliegen würden, hielten wir vor einem Wachhaus. Ein erschreckend normaler, menschlicher Sicherheitsbeamter lächelte uns freundlich entgegen.
„Ah, hab sie schon erwartet!“, meinte er und lehnte sich aus dem Fenster zu uns heran. William hielt ihm ohne viele Worte zu verlieren eine Art Ausweis entgegen. Der Mann nickte, öffnete die Schranke und ließ uns passieren.
Das Gelände umfasste mehrere Landebahnen und drei Hallen, zwei kleinere und eine größere. Vor einer der kleineren stand ein schwarzer Helikopter mit offenen Türen und einer äußerst attraktiven Brünette zu seiner linken, die einen engen, marineblauen Hosenanzug trug und vielsagend in unsere Richtung schaute. Die zierliche Frau wurde von zwei eher durchschnittlich aussehenden Typen flankiert, die komplett in schwarz gekleidet waren und uns ebenfalls taxierten.
William parkte in gebührendem Abstand zu unserem zukünftigen Fortbewegungsmittel und half mir aus dem Wagen. Sofort spürte ich ein leichtes, ungewöhnliches Prickeln auf meiner Haut. Die drei waren Vampire.
Innerhalb eines Augenaufschlags standen sie vor uns und verbeugten sich. William gebot mir mit einem mahnenden Blick, mich hinter ihm zu halten.
„Es ist alles für euch vorbereitet, Herr, wie gewünscht“, ließ die Frau unterwürfig verlauten. Sie schaute mich für einen kurzen Moment abschätzend an, ließ sich aber nicht anmerken, was sie von mir hielt. Ihre Züge blieben neutral. Dann wandte sie sich wieder William zu.
„Mein Name ist Monique. Ich werde für heute eure Pilotin sein“, stellte sie sich vor.
„Das wird nicht nötig sein, ich werde selbst fliegen“, erwiderte William knapp, in unmissverständlichem Befehlston.
„Sehr wohl. Wie es euch beliebt.“
Mit einem Wink des Kopfes wies sie ihre beiden Begleiter an, unser Gepäck aus dem Wagen in den Helikopter zu laden. Die gehorchten aufs Wort und marschierten zum Kofferraum.
„Ist die Maschine startklar?“, wollte William wissen.
„Ihr könnt sofort abheben“, bestätigte Monique stolz.
William blieb unbeeindruckt. Er schien nichts anderes erwartete zu haben. Er warf der adrett gekleideten Pilotin lässig die Autoschlüssel hin, die sie wie selbstverständlich auffing.
„Der Wagen bleibt bis zu meiner Rückkehr hier“, ordnete William an.
„Selbstverständlich.“
Unsere Taschen waren inzwischen sicher verstaut worden.
„Ihre Dienste werden nicht länger benötigt. Ich erwarte sie Sonntag wieder hier“, entließ er die drei Vampire, die sich abermals verbeugten. Die beiden Männer waren sofort verschwunden, die Frau nickte William noch ein letztes Mal zu, stieg in den Wagen und verschwand in der Halle. Fassungslos starrte ich ihr nach.
„Stimmt etwas nicht?“
Ich schüttelte nur den Kopf und winkte ab. „Nein, es ist nichts.“
An diesen gebieterischen Zug von ihm würde ich mich wohl nie gewöhnen können.
William half mir in den Flieger und reichte mir einen Helm.
„Und du bist dir sicher, dass du das Ding auch steuern kannst?“, erkundigte ich mich, eher aus Nervosität als aus ehrlicher Angst. Anstelle einer Antwort startete er den Motor.
„Glaubst du ich habe eine reelle Chance, aus der Sache heil wieder rauszukommen?“, fragte ich, nachdem ich eine Weile den fantastischen Ausblick genossen hatte. „Sei bitte ehrlich.“
Ich fürchtete den Tod nicht, aber ich mochte mein Leben. Ich hatte in den letzten vierzehn Tagen viel darüber nachgedacht, über Leben und Tod, und war selbst ein wenig überrascht über diese Erkenntnis. Ja, ich fühlte mich eigentlich ziemlich wohl in meiner Haut. Der Teil von mir, der früher nicht so recht in diese Welt zu passen schien, hatte durch William und die Reynolds endlich ein zu Hause gefunden. Ich war … glücklich. Es war ein trauriger Gedanke, dass dieses Glück vielleicht bald ein Ende haben sollte.
„Ich glaube fest daran“, erwiderte er ernst.
„Warum?“
„Weil es keine andere Option gibt.“
Seine Stimme hatte wieder diesen gebieterischen Zug angenommen.
„Und weil ich nicht zulassen werde, das dir etwas geschieht.“ William sah mir fest in die Augen. Flüchtig umfasste er meine Hand mit seinen kühlen Fingern.
„Ich werde es nicht zulassen.“
Den Rest des Fluges verbrachten wir schweigend.
Trotz der vielen Übungsstunden, die ich die vergangen Tage über mit ihm zugebracht hatte, wusste ich immer noch beängstigend wenig über das, was mich bei dem Treffen erwarten würde. Ich wusste, dass es einen Empfang mit Abendessen und anschließend einen Ball geben würde. Ich wusste, dass viele Vampire dort sein würden und dass ich so wenig wie möglich mit ihnen in Kontakt treten sollte – was ich ohnehin nicht freiwillig getan hätte – und ich wusste, wie ich einen Hummer zerlegen oder mit meinem Besteck umgehen sollte. Ich kannte die Verhaltensnormen, die von mir erwartete wurde, in und auswendig, aber wie würden sich die Vampire verhalten? Wie lebten und – ich traute mich kaum daran zu denken – aßen sie?
Dieses Mal lag es ausnahmsweise nicht an William, dass ich die Antworten auf diese Fragen nicht kannte. Er hatte es mir erzählen wollen, auch wenn ihm eindeutig nicht wohl dabei war, aber ich hatte abgelehnt. Jetzt ging es nicht mehr um Grundlegendes – es ging tiefer. Ich wusste, dass ich dafür noch nicht bereit war. Ich wusste, dass es schlimm werden würde, auch ohne jede Einzelheit bereits im Voraus zu kennen. Ich würde dieses Wochenende also über mich ergehen lassen wie ein Horrorfilm in Überlänge, aber dann – vorausgesetzt, ich würde diesen Spaß überleben – würde ich wieder in meine Welt zurück kehren. Ich würde den Horrorfilm hinter mir lassen, in meine Fantasie verbannen. Wenn die Monster aus den Horrorfilmen plötzlich anfingen, den Regeln der Realität zu folgen, wenn sie lebendig würden, dann wäre es kein Film mehr – es gäbe kein zurück, kein verbannen. Nein, dafür war ich definitiv noch nicht bereit.
Ich konzentrierte mich auf das, was William mir beigebracht hatte, ging all die Regeln noch einmal in meinem Kopf durch. Ich wandte die beruhigenden Atemübungen an, die ich von Gabriel gelernt hatte und versuchte, positiv zu denken. Ja, ich würde überleben. Es gab keine andere Option.
Anfangs dachte ich mir nicht viel dabei, als die blühenden Landschaften und Städte unter uns der dürren Mojavewüste wichen. Ich vermutete, dass William sich wohler dabei fühlte, zumindest einen kleinen Teil des Weges lieber fernab von der menschlichen Zivilisation zurück zu legen, wenn sich schon die Gelegenheit dazu ergab. Tja, falsch vermutet. Ich würde die Wüste für die nächsten zwei Tage nicht mehr verlassen, denn hier lag unser Ziel – im Death Valley. Am Nachmittag hatte ich mich noch über Newport beschwert, nun hatte ich mein Klischee. Man sollte wirklich vorsichtiger mit seinen Wünschen sein.
„Wir sind fast da. Ich gehe jetzt ein Stück runter“, warnte William mich, bevor wir zum Sinkflug ansetzten.
„Das ist unser Ziel, das Death Valley?“
Wäre die Angelegenheit nicht so verdammt ernst gewesen, hätte ich vielleicht sogar gelacht.
„Hast du mir deshalb nicht vorher gesagt, wo genau es hingeht?“
„Auch“, gestand er.
Wie soll einer in der Gegend …? – aber ich kam nicht mehr dazu, meinen Gedanken auszuführen, denn plötzlich erstreckte sich unter uns ein gigantischer Wald, umringt von einer nicht weniger imposanten Bergkette, die direkt an den öden Sandboden anschloss. Nach dem zu urteilen, was die Scheinwerfer des Helikopters erkennen ließen, musste das Gebiet ziemlich weitläufig sein.
„Bäume!?“, rief ich überrascht, wie ein Kleinkind, das gerade ein neues Wort gelernt hatte und sich seiner Aussprache noch nicht sicher war. Ich war so verwirrt, dass ich im ersten Moment keinen richtigen Satz formulieren konnte.
„Es ist ein ähnlicher Zauber wie der vor Gabriels Haus“, erklärte William, als hätte ich ihm eine ernst zu nehmende Frage gestellt.
„Wie zum Geier haben die all das bloß hierher geschafft – mitten in die Wüste?“, wunderte ich mich laut, nachdem ich meine Sprache wieder gefunden hatte. William zuckte nur nachlässig die Schultern, als fände er das Thema gar nicht so schrecklich interessant.
Fünf Minuten später hielten wir auf das Dach eines alten Herrenhauses zu, das die perfekte Besetzung für ein Gruselschloss aus einem Horrorfilm gewesen wäre. Als hätte der Baustil á la Dracula noch nicht für sich gesprochen, waren alle Baume und Sträucher, die sich in einem Radius von etwas weniger als einem halben Kilometer um das Anwesen befanden, komplett ausgetrocknet. Lediglich Unkraut und ungesund aussehendes, mattes Gras spannten sich über die weitläufige Lichtung, auf der sich das Gemäuer befand, gepaart mit dutzenden von Maulwurfhügeln. Was zog die Tiere wohl in solchen Scharen an diesen finsteren Ort?
Wir landeten auf einem Seitenturm des Gebäudes, das von oben bis unten dezent beleuchtet war und so trotz der späten Stunde einwandfrei zu erkennen. Als William mir aus dem Helikopter half spürte ich sofort, dass wir nicht alleine waren. Aber etwas war anders als sonst. Das Prickeln war … anders.
Ich keuchte entsetzt auf, als ein gigantischer Wolf über das Dach gesprungen kam und ohne Vorwarnung fast direkt vor unseren Füßen landete. Er war mindestens doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Hund, wenn nicht sogar noch größer.
„Hab keine Angst, er wird uns nichts tun“, beruhigte mich William. Seine Stimme klang vollkommen gelassen und überzeugt. Unwillkürlich entspannte ich mich wieder ein wenig. „Er ist gekommen, um uns abzuholen. Er wird uns zu meinem Bruder führen.“
Der Wolf musterte uns mit intelligenten Augen, dann nickte er William und mir zur Begrüßung zu, drehte sich um und machte einen großen Satz zurück auf das Dach. Ob er so eine Art Haustier war?
„Bereit?“, fragte William und reichte mir seine Hand.
Natürlich war man hier nicht auf menschlichen Besuch eingestellt, warum also einen Ausgang einbauen, wenn man auch über das Dach in das Haus gelangen konnte?
„Bereit.“
Im nächsten Augenblick lag ich in seinen Armen und wir jagten dem Wolf hinterher, bis wir über einen Balkon in das Innere des Schlosses gelangten. William entließ mich aus seinem Griff, behielt aber meine Hand in seiner. Das Tier lief uns voran ins Haus, wir folgten.
Die Einrichtung war ziemlich genau so gehalten, wie man sie auf Grund des Äußeren erwarten würde – düster und antik. Kaum hatten wir den Raum betreten, spürte ich zwei Auren, die so gewaltig waren, dass es mir fast den Atem nahm. Reine Macht. Nicht einmal bei Lily hatte es sich auch nur annähernd so intensiv angefühlt – als gäbe es nichts, das diese Macht bezwingen könnte. Ich fühlte mich augenblicklich einen halben Meter kleiner.
Wir wurden in ein Nebenzimmer geführt, wo uns Williams Bruder bereits erwartete. Die beiden sahen sich tatsächlich ein wenig ähnlich; dunkelbraune Haare, gut einen Kopf größer als ich, markante Züge und einen Blick, der töten konnte. Nur trug er im Gegensatz zu William seine Haare ziemlich kurz, war ein wenig hagerer und seine Augen strahlten eine unbarmherzige Kälte aus, als würde Freundlichkeit in seinem Wortschatz nicht existieren. Weit außergewöhnlicher war jedoch die junge Frau neben ihm, eine kleine, zierliche Person mit langen, grauen Haaren und leuchtend blauen Augen, die einem direkt in die Seele zu schauen schienen. Ihre Züge strahlten dieselbe Kälte aus, wie die ihres Mannes, was aber von ihrem weiblichen Äußeren ein wenig gemildert wurde. An ihrer Seite stand ein weiterer Wolf, noch größer und imposanter als der erste, dessen Fell die gleichen Farbschattierungen besaß wie ihre Haare. Das Tier, das uns empfangen hatte, lief direkt auf sie zu und ließ sich von ihr kurz über den Kopf streichen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die Augen der jungen Frau glasig, dann nahm sie ihre Hand wieder zu sich und der Wolf trottete gemächlich in eine Ecke des Zimmers und rollte sich auf dem Boden zusammen.
„Sei gegrüßt, Nicolai. Yvaine. Es ist lange her.“
„Das ist es“, entgegnete sein Bruder tonlos.
„Ich möchte euch gerne jemanden vorstellen. Das ist Emma, das Menschenmädchen. Emma, das ist mein Bruder Nicolai und seine Gefährtin Yvaine.“
Yvaine kam auf uns zu, den Wolf dicht auf den Fersen, und blieb schließlich vor mir stehen. Falls sie etwas von meiner Macht spürte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Hallo Mensch“, begrüßte mich Yvaine mit eigenartig monotoner Stimme, während sie mir ihre Hand entgegenstreckte. Ich schaute hilfesuchend zu William. Er schien relativ gelassen, also war es wohl in Ordnung für mich, die Geste zu erwidern.
„Hallo“, erwiderte ich leise. Ich ergriff ihre zarten, kühlen Finger und schüttelte sie leicht, aber als ich meine Hand zurückziehen wollte, ließ Yvaine nicht los. Obwohl ihr Griff sanft war, war er zugleich unnachgiebig wie eine Eisenfessel. Ihre Züge waren nach wie vor ausdruckslos und kalt.
Ich fing schon an, mir ernstlich Sorgen zu machen, als sie mich unvermittelt wieder frei gab. Ein kleines, triumphiere, unheimliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
„Eure Zimmer befinden sich hier ganz in der Nähe. Folgt mir.“
Weg war sie, und mit ihr Nicolai und die beiden Wölfe. William fragte dieses Mal nicht erst, sondern hob mich sofort hoch und rannte seiner Schwägerin hinterher. Langsam kam ich mir vor wie eine Behinderte, ständig so herumgetragen zu werden.
Ich rollte mit den Augen, als wir nur eine Ecke weiter stehen blieben. Man konnte es auch wirklich übertreiben.
„Wir haben eure Zimmer nebeneinander gelegt, das ist hoffentlich in eurem Sinne“, sagte Yvaine und deutete auf die beiden Türen vor uns.
„Selbstverständlich. Ich danke euch für eure großzügige Gastfreundschaft“, erwiderte William aufrichtig.
„Wir stehen in deiner Schuld, Bruder. Das war das mindeste, was wir für dich tun konnten.“
„Die anderen Gäste werden bald eintreffen, William. Du solltest dich lieber gleich umziehen. Wir werden deinem Menschenmädchen Gesellschaft leisten, bis das Bankett beginnt.“
Ich hätte schwören können, für einen kurzen Augenblick so etwas wie Misstrauen über Williams Gesicht huschen zu sehen, bis er sich rasch wieder unter Kontrolle brachte. Mir gelang das allerdings nicht so gut. Ich konnte nicht anders, als entsetzt dreinzuschauen.
„Das ist wirklich mehr als freundlich von euch, aber ich möchte eure Hilfsbereitschaft nicht ausreizen“, gab William bestimmt zurück, wobei sich unterschwellig ein Hauch dieses herrischen Befehlstons wieder in seine Stimme mischte.
„Das tust du nicht“, winkte Yvaine tonlos ab, die verborgene Drohung offensichtlich unbeeindruckt ignorierend. Dann fixierte sie mich allein. Sie lächelte weiter dieses zaghafte, durchtriebene Lächeln, das mir einen Schauer über den Rücken jagte, als habe es sich auf ihre Lippen gemeißelt.
„Sei unbesorgt, Mensch, wir begehren nicht das Blut Sterblicher“, kommentierte sie meine angstvolle Mine. Ich blinzelte überrascht. Hieß das, die beiden waren auch Hominiden, wie Gabriel und Helen?
Mein Herzschlag setzte fast aus, als ihr Lächeln immer breiter
wurde, bis es schließlich aussah, wie aus einer Zahnpastawerbung – gezwungen und viel zu übertrieben für ihr zartes Gesicht. Sie sah aus wie ein Hai, der gerade Frischfleisch gerochen hatte. Bei William hingegen hatte dieses gruselige Grinsen offenbar eine ganz andere Wirkung. Die harten Linien um seinen Mund erweichten sich und er lächelte zurück. Hatte ich da etwa gerade etwas nicht mitbekommen?
„Dann nehme ich euer Angebot wohlwollend an“, willigte er schließlich doch ein.
Er warf mir einen mach-dir-keine-Sorgen-Blick zu, lief in sein Zimmer und ließ mich mit der gruseligen Vampirfrau und ihrem Anhang alleine auf dem Gang stehen. Hilflos starrte ich ihm hinterher, als könnte ich ihn so zurück an meine Seite locken. Wenn ich das hier überlebte, konnte sich der Kerl auf etwas gefasst machen!
„Nach dir.“
Yvaine hielt mir erwartungsvoll die Tür auf.
Wenn du es nicht einmal mit zwei Vampiren aushältst, die aller Wahrscheinlichkeit nach sogar irgendwie auf deiner Seite sind, wie willst du später mit einer ganzen Horde zurechtkommen?, ermahnte ich mich, schraubte meine Mundwinkel ebenfalls nach oben und huschte mit einem genuschelten „Danke“ und gesenktem Kopf an ihr vorbei.
Das Zimmer war deutlich freundlicher eingerichtet als das, was ich bis dato von dem Schloss gesehen hatte. Wärmere Farben dominierten Wände, Möbel und Stoffe. Es war, als habe man den Raum aus einer anderen Dimension hier in das vampirische Gruselkabinett teleportiert. Vielleicht, weil es ein Gästezimmer ist, überlegte ich.
Mein Gepäck war bereits hergebracht worden. Es lag auf dem großen Bett, das in der Mitte der Fensterfront an der Wand lehnte. Ich lief hin und strich über die große Reisetasche und den Rucksack. Es tat gut, etwas Vertrautes hier zu haben, in all dem Wahnsinn.
Nicolai machte es sich auf einem Sessel in der Nähe des Bücherregeales bequem und beachtete mich nicht weiter. Er war bereits in eines der Werke vertieft. Ob wohl alle Vampire diese Leidenschaft für Bücher teilen?, fragte ich mich und musste an Williams Bibliothek denken.
Yvaine dagegen setzte sich neben meine Habseligkeiten aufs Bett und starrte mich unverwandt an. Ihr Haifisch-Lächeln war verblasst, ihre Züge kalt wie zuvor. Abwesend streichelte sie wieder den Kopf einer ihrer Wölfe, der sich zu ihren Füßen zusammengerollt hatte. Das Tier musterte mich mit demselben emotionslosen Ausdruck, wie sein Frauchen. Sein Artgenosse hatte sich wieder in eine Ecke verzogen.
„Du hast recht, sie ist wirklich ein ungewöhnlicher Mensch“, bemerkte Yvaine leise. Automatisch huschte mein Blick zu Nicolai, aber der nahm genau so wenig Notiz von mir, wie zuvor. Ich runzelte die Stirn und setzte mich auf die andere Hälfte des Bettes neben mein Gepäck, das ein wenig Sicherheitsabstand zwischen das Wolfsmädchen und mich brachte. Moment mal, hatte sie mit „du“ etwa den Wolf gemeint? Konnte sie etwa mit ihnen …
„Hast du vor, William zu schaden?“, fragte Yvaine unverblümt, kaum dass ich das Bett berührt hatte, und riss mich aus meinen Überlegungen.
„Ähhh …“
War das eine Art Fangfrage?
„ ... N-nein“, antwortet ich zögerlich. Was erwartete sie auch von mir?
„Gut“, war alles, was die Vampirin erwiderte.
Ich blinzelte verwirrt. Wie sollte man auf diese Frage auch anders antworten?
Um mich von dieser eigenartigen Szene abzulenken und da Yvaine offenbar nichts weiter zu sagen hatte – obwohl sie mich immer noch unentwegt ansah, was gelinde gesagt etwas unangenehm war – öffnete ich die große Reisetasche um nachzusehen, ob alles noch so war, wie ich es hineingetan hatte. Auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen. Gut. Ich atmete erleichtert aus.
Eine ganze Weile sagte niemand mehr etwas. Peinliche Stille. Das kaum hörbare Rascheln der Seiten, wenn Nicolai umblätterte, war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, vermischt mit dem Hecheln der Wölfe. Ich spielte abwesend mit dem Zipfel der Bettdecke und hing meinen Gedanken nach, bis mich ein Gefühl schlagartig zusammenzucken ließ.
Furcht.
Erschrocken fuhr ich zu Yvaine herum. Ihre Augen waren seltsam milchig geworden. Sie starrte durch mich hindurch in eine unbekannte Ferne. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, aber ich war mir sicher, dass das Gefühl von ihr ausging. Die beiden Wölfe waren aufgesprungen und fletschten angriffslustig die Zähne.
Plötzlich mischte sich noch etwas anderes in die Anspannung, die in der Luft lag. Nicolais Aura verstärkte sich. Er hatte seelenruhig sein Buch geschlossen und verharrte nun reglos auf seinem Platz.
Für Sekunden schien die Zeit still zu stehen. Ich hielt die Luft an. Was passierte hier gerade?
Mit einem Mal verschwand das Gefühl von Furcht so schnell wieder, wie es gekommen war, und die Aura schwächte sich langsam ab. Nicolai las weiter und Yvaine begann von neuem, mich anzustarren.
„Du wirkst verwirrt“, stellte sie nach einigen Minuten fest, als könne sie sich nicht so recht einen Reim auf diese Reaktion machen. Dann verstand sie.
„William muss es versäumt haben, dich über unsere Fähigkeiten aufzuklären“, riet sie.
Versäumt – na sicher. Mutwillig verschwiegen traf es wohl eher. Aber welche Fähigkeit konnte so schlimm sein, dass William sie mir lieber vorenthalten wollte, nach allem, was ich mit ihm schon erlebt hatte?
„Nicolai nährt sich von dem Blut der Toten. Außerdem kann er ihre Körper kontrollieren, die ihr Sterblichen heutzutage Zombies nennt“, erklärte sie nüchtern.
Ein hysterisches Auflachen blieb mir in der Kehle stecken. Death Valley. Deshalb also. Die beiden hatten echt einen kranken Sinn für Humor.
Ein eiskalter Schauer ließ mir den Rücken hinunter, als ich an die zahlreichen Maulwurfshügel zurückdachte. Zombies. Das erklärte vermutlich auch das Absterben der Pflanzen.
„Ich nähre mich von meinen Wölfen. Durch unser Blutsband kann ich jederzeit mit ihnen in Verbindung treten. So erfuhr ich, dass es ein Problem mit einer Gruppe Neuankömmlingen gab. Wir haben uns darum gekümmert.“
„Yvaine, es ist Zeit“, brach Nicolai sein Schweigen, schloss das Buch und stellte es zurück ins Regal.
„Verstehe.“
Yvaine und die Wölfe erhoben sich.
„Du solltest dich für das Bankett fertig machen, Mensch. William wird in Kürze zu dir stoßen“, sagte sie, bevor sie den Blick von mir abwandte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließen die beiden Vampire das Zimmer.
Du musst selbstsicher auftreten. Zeige niemals, dass du Angst vor ihnen hast! war eine von Williams obersten Regeln gewesen, die er mir in den vergangenen Wochen immer wieder vorgepredigt hatte. Unsicher schaute ich an mir herunter und zupfte mein weinrotes, knielanges Cocktailkleid zu Recht. Wie gut, dass Selbstsicherheit zu meinen Stärken zählt, dachte ich sarkastisch.
Früher hatte ich nie besonders viel auf mein Aussehen geachtet. Ich hatte mich ordentlich und unauffällig gekleidet und mir die Haare gemacht – das Übliche eben. Nicht mehr und nicht weniger. Ich war Mittelmaß und vollauf damit zufrieden. Ich hatte die Make-up Sessions, zu denen Naomi mich regelmäßig zwang, immer gehasst. Ich konnte noch nie verstehen, warum sich Frauen freiwillig dieses künstliche Zeug ins Gesicht klatschen. Ich vertrete das Ideal der natürlichen Schönheit. Jetzt jedoch war ich für jede einzelne dieser Stunden unendlich dankbar. Natürliche Schönheit hin oder her – gefallene Engel würden sich davon garantiert nicht beeindrucken lassen.
Sie würden mich nach ihren Maßstäben messen, und wenn es mir half, dieses Wochenende zu überleben, würde ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müssen und mich diesen Maßstäben anpassen.
Ich betrachtete mich kritisch in dem überdimensionalen, Gold umrahmten Spiegel über dem Waschbecken. Sicher nicht perfekt, aber besser als vorher, befand ich schließlich, nachdem ich meinem Gesicht ein Upgrade à la Naomi verpasst hatte. Anschließend bearbeitete ich meine Haare mit einem Lockenstab und steckte auf beiden Seiten eine Strähne zurück. Ich seufzte und beäugte mich ein letztes Mal im Spiegel. So müsste es gehen.
Als ich aus dem Bad kam, saß William bereits auf dem Bett, dort, wo vorher Yvaines Platz gewesen war. Er trug einen schwarzen Smoking mit Fliege und sah wie immer umwerfend aus.
„Das Kleid steht dir ausgezeichnet.“
„Du … du brauchst dich gar nicht erst bei mir einzuschleimen, Mister! Warum hast du mich mit den beiden alleine gelassen?“, fragte ich verletzt.
„Ich wusste, dass du bei ihnen in guten Händen sein würdest. Ich hätte dich ohnehin nur ungern alleine gelassen, während ich Gastgeber spielen musste“, erwiderte er ruhig, sich wie immer keiner Schuld bewusst.
„Diese Yvaine hat mich angegrinst, als wolle sie mich zum Frühstück verspeisen!“, konterte ich.
„Das Lächeln war ein Friedensangebot. Sie wollte dich nur beruhigen.“
„Hat sie mir deshalb erzählt, dass ihr Mann der Herr der Zombies ist? Das ist nämlich so was von beruhigend!“
„Mein Bruder und seine Frau mögen eine sehr eigenwillige, direkte Art haben, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Die Hauptsache ist, dass sie auf unserer Seite sind“, wand er sich geschickt um meine unterschwellige Anklage herum, dass er mir die Fähigkeiten der beiden verschwiegen hatte.
„Trotzdem. Du hättest mich ruhig vorwarnen können!“
„Glaubst du wirklich, eine Erzählung würde den zwei auch nur ansatzweise gerecht?“
Ich zuckte mit den Achseln und setzte mich neben ihn.
„Es wäre auf jeden Fall besser gewesen als nichts“, sagte ich leichthin, obwohl ich wusste, dass er im Grunde genommen Recht hatte. Ich lehnte mich gegen Williams breite Schulter. Er zuckte nicht einmal.
„Ich hab Angst“, gestand ich.
„Ich weiß“, erwiderte er leise und streichelte mir sanft übers Haar.
„Erzähl mir irgendetwas“, forderte ich.
„Was soll ich dir denn erzählen?“
„Ich weiß auch nicht. Irgendetwas, das mich ablenkt.“
Schweigen. Er schien zu überlegen.
„Ich bin nicht der leibliche Sohn des Königs. Ich war einst ein Mensch, wie du“, gestand William schließlich leise.
Ich schreckte hoch, als hätte ich mich verbrannt. Ich konnte ihn nur mit großen Augen anstarren, unfähig, irgendeine Regung zu zeigen. Es lag nicht einmal so sehr an der Tatsache, dass er nicht immer ein Vampir gewesen war – obwohl das auch ein ziemlicher Knaller war. William hatte freiwillig etwas von sich preisgegeben. Verdammt, die Lage musste echt ernst für mich sein!
„Durch ein Missverständnis geriet meine Familie in das Visier der Vampire, und sie griffen unseren Wohnsitz an. Ich war der Einzige, der verschont blieb. Der König hatte ein halbes Jahrhundert zuvor seinen ältesten Sohn verloren und offensichtlich sah ich im sehr ähnlich. Deshalb hat er beschlossen, mich zu verwandeln.“
William richtete den Blick von mir ab in eine unbekannte Ferne, während er die Erinnerungen jener Zeit erneut durchlebte.
„Normalerweise verwandelt der König keine Menschen. Das ist eine Art ungeschriebenes Gesetzt. Ich habe zumindest noch nie von einem anderen Fall gehört. Jedenfalls ist es nicht dasselbe, wie von einem gewöhnlichen Adelsvampir gebissen zu werden, sofern man den Adel als gewöhnlich bezeichnen kann. Das Königspaar spielt noch einmal in einer ganz anderen Liga. Ich wurde nicht nur einfach zu einem Vampir. Ich wurde zu einem gefallenen Engel.“
„Aber wie ist das möglich?“, wunderte ich mich, als ich meine Stimme wieder gefunden hatte.
„Ich kann auch nur Vermutungen darüber anstellen. Die wahrscheinlichste ist, dass den Menschen generell das Potential zu einem Engel innewohnt. Soweit ich weiß, können Sterbliche nach ihrem Tod durch Gottes Hilfe zum Engel aufsteigen. Viele verehren unseren König wie ein Gott, und vielleicht haben sie damit gar nicht einmal so Unrecht. Vielleicht hat er eine ähnliche Macht.“
Er lächelte traurig.
„Als Mensch war ich immer stolz auf mein gutes Aussehen. Ich war eitel. Hinter vorgehaltener Hand nannten mich die Frauen einen Halbgott.“
Er stieß ein bitteres Lachen aus.
„Auf eine verdrehte Art und Weise ist letztendlich genau das aus mir geworden. Schon komisch, wie das Schicksal manchmal so spielt.“
„Bist du unglücklich?“, wollte ich von ihm wissen.
„Nein“, erwiderte William ehrlich. „Aber ich bin auch nicht besonders glücklich. Obwohl ich zugeben muss, dass es mir im Moment besser gehen könnte.“
„Mir auch“, gab ich mit einem schwachen Lächeln zurück.
„Dir wird nichts geschehen, Emma. Das verspreche ich dir.“
Er nahm behutsam meine Hand in seine und schaute mir eindringlich in die Augen.
„Bald wirst du mein wahres Gesicht sehen. Du wirst sehen was es wirklich bedeutet, in unserer Welt zu leben. Das kann ich dir nicht ersparen, so gerne ich es auch würde. Aber ich habe mein Versprechen nicht vergessen. Wenn es dein Wunsch ist, werde ich dich gehen lassen. Ich werde dafür Sogen, dass du dieses Schloss unbeschadet wieder verlassen kannst, egal, was heute Nacht noch passieren mag. Und dann werde ich mich für immer von dir fern halten, wenn du es so möchtest.“
Seine Stimme hatte etwas Endgültiges. Es klang, als wolle er sich von mir verabschieden. Wehmütig dachte ich an den Tag der Anhörung bei Taylor zurück. Würde er das Versprechen, das er an diesem Tag geleistet hatte, wirklich bald einlösen müssen? Würde ich nach den Geschehnissen der heutigen Nacht meine Meinung ändern?
„Wir werden sehen“, entgegnete ich.
Williams Blick wurde für einen kurzen Moment glasig, dann holte er tief Luft.
„Wir werden erwartet.“
Auf in den Kampf.
Sobald wir die Treppe zum Erdgeschoss hinuntergestiegen waren, begegneten uns die ersten Vampire. Mein Puls schoss augenblicklich von Null auf Hundert, als habe jemand einen verborgenen Knopf bedient.
William trat ein Stück näher, bis sich unsere Arme beim Gehen fast berührten – eine beschützerische Geste. Er strahlte Ruhe und Stärke aus. Ich konzentrierte mich auf das warme, strahlende Blau seiner Regenbogenhaut, in dessen Tiefen ich mich jedes Mal wieder aufs Neue verlor, und bildete mir ein, so würde etwas von dieser Ruhe und Stärke auf mich übergehen.
Es half. Ich wurde ein wenig ruhiger.
Stress. Neugier. Belustigung. Mitleid. Vorfreude.
Immer mehr Vampire eilten geschäftig die Flure entlang. Sie trugen allesamt Kleidung, die sie als Dienstpersonal auswies, und transportierten die unterschiedlichsten Dinge mit ihren behandschuhten Händen: Koffer, Blumenvasen, Decken, ein Chihuahua, …
Wenn sie an uns vorbei mussten, hielten sie kurz inne, verbeugten sich ehrerbietig vor William und warfen mir sonderbare Blicke zu. Wir achteten darauf, dass sie nicht zu nah an mich herankamen, damit Sie nicht auf die Idee kommen konnten, ich würde meine Kräfte mit Absicht einsetzten und das als Angriff interpretieren. Auch darüber hatten wir gesprochen. Aber zum Glück schienen die meisten so viel Respekt vor meinem Begleiter zu haben, dass uns ohnehin nur wenige gefährlich nahe kamen.
„Da vorne ist es“, sagte William schließlich und deutete auf eine große Doppeltür am Ende des Ganges. Mein Herz klopfte inzwischen so heftig, dass ich Angst bekam, es könnte platzen. William nahm ein letztes Mal meine Hand und drückte sie kurz.
„Alles wird gut.“
„Alles … wird gut“, schaffte ich, leise zu wiederholen.
Dann öffnete er die Tür und wir traten ein.
Der Raum war länglich geschnitten. In der Mitte stand ein langer, vornehm dekorierter Tisch, um den knapp fünfzig Vampire versammelt waren. Alle Blicke waren auf uns gerichtete. Ich hatte noch nie so viele Auren auf einem Haufen gespürt. Meine Haut prickelte und juckte wie verrückt.
Hass. Abscheu. Schadenfreude.
Wir liefen ans andere Ende der Tafel, an der noch genau zwei Plätze frei waren, einer davon der einzige, an dem gedeckt worden war – mein Platz vermutlich. Ansonsten zierte die Oberfläche lediglich eine cremefarbene Tischdecke, Kerzenständer und Blumengedecke. Ich hielt nach Yvaine und Nicolai Ausschau, aber die beiden schienen nicht hier zu sein. Eigenartig …
Bevor wir uns setzten, stand der Vampir, der zu Williams Rechten saß, auf, verbeugte sich und warf ihm dann einen vielsagenden Blick zu. William nickte und wandte sich den Anwesenden zu.
„Es freut mich, dass ihr so zahlreich den Weg hierher gefunden habt, verehrte Wächter. Wie mir eben zugetragen wurde, hat es der König leider nicht mehr rechtzeitig geschafft und wird uns erst später auf dem Ball mit seiner Anwesenheit beehren. Aber das soll unser Bankett nicht trüben.“
Wut.
William war stocksauer, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Was hatte ihn so verärgert? Und was meinte er mit Wächter?
„Sie alle wissen sicher, warum wir heute hier sind. Aber um alle Gerüchte zu beseitigen, soll an dieser Stelle noch einmal Klarheit geschaffen werden. Ich habe einen Mischling mit mir gebracht, keinen Menschen. Ihre Mutter war eine Jägerin.“
Überraschung. Misstrauen.
„Sie hat sich aus freien Stücken auf unsere Seite geschlagen und jeglichen Kontakt zu den Jägern abgebrochen. Dafür garantiere ich mit meiner Ehre. Sie hat mehr riskiert als gewonnen, das sollte wohl Zeugnis genug für ihre Integrität sein. Ich bin mir sicher, der König wird das auch so sehen.“
William machte eine kurze Pause, um seinen Blick eindringlich über die Runde gleiten zu lassen, als wolle er die Versammelten auffordern, zu widersprechen.
„Aber bis dahin: Lasst uns anstoßen! Auf unsere Zusammenkunft! Auf den König! Auf uns!“
„Auf unsere Zusammenkunft! Auf den König! Auf uns!“, erschallte es im Chor, während die Türen aufgingen und wir uns endlich setzen konnten. Die Dienstboten kamen mit großen Tabletts auf ihren Schultern herein marschiert, die sie jeweils zu viert trugen. Meine Hände krampften sich schmerzhaft um die Stuhllehne, als ich erkannte, was auf den silbernen Platten transportiert wurde. Menschen. Auf jedem der knapp zwei Meter langen Silbertabletts lag ein Mensch. Die meisten waren junge Frauen, zwei waren Männer, ebenfalls nicht älter als Mitte zwanzig. Nur spärlich bekleidet in weise Tücher, die mehr schlecht als recht die Intimbereiche bedeckten, und mit einem kleinen Apfel im Mund lagen sie da, wie gelähmt. Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank.
Die Platten wurden entlang des Tisches in die Mitte gestellt. Zum Schluss brachte mir ein Diener einen Teller mit einem Steak und Gemüsereis. Spätestens jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran, was das Ganze zu bedeuten hatte. Fassungslos starrte ich in das Gesicht des Mädchens, das uns am nächsten stand. Ihre Augen, in denen sich blankes Entsetzten widerspiegelte, waren vor Angst weit aufgerissen. Sie wusste, dass sie gleich sterben würde – und ich würde ihr dabei zusehen müssen.
William langte nach dem Arm des Mädchens und zog ihn zu sich heran.
„Das Büffet ist eröffnet!“
Im nächsten Moment schlug er seine Zähne erbarmungslos in das Fleisch seines Opfers. Blut quoll aus der Wunde hervor, wie aus einem Wasserhahn, und spritze in alle Richtungen. Nun verstand ich, warum Helen für das Bankett auf dieses rote Kleid beharrt hatte – damit ich das Blut, das unweigerlich darauf gelangen würde, nicht sehen musste!
Kaum hatte William begonnen, folgte ihm der Rest der Tischgesellschaft nach. Arme und Beine wurden gepackt, und diejenigen, die keinen mehr zu fassen bekamen, beugten sich einfach über den Tisch und bissen dort zu, wo eine freie Stelle war, egal ob Hals, Bauch, Oberschenkel oder Brust. In ihrer Raserei nahmen einige der Vampire ihre wahre Gestalt an, während sie immer gieriger saugten. Hier und da hörte man Knochen krachen, wo die Vampire sich die Glieder so zu Recht drehten, wie es ihnen am besten passte. Ich wollte schreien, weinen, in Ohnmacht fallen, irgendetwas – aber mein Körper war wie paralysiert. Ich konnte nur dasitzen und hilflos mit ansehen, wie der letzte Funken leben aus den Augen der jungen Menschen wich. Ich konnte nichts tun.
William ließ für einen kurzen Augenblick von seinem Mädchen ab und schaute mich an. Blut tropfte aus seinen Mundwinkeln. Kein Funken Wärme lag mehr in seinen Augen. Siehst du jetzt, was ich wirklich bin? Glaubst du immer noch, dass du damit umgehen kannst?, schien er sagen zu wollen.
Dann wandte er sich wieder seinem Essen zu.
Ich wusste, dass er mir in diesem Moment nicht beistehen konnte. Ich wusste, dass seine menschenhassenden Vampiruntertanen dieses Verhalten von ihm verlangten. Trotzdem fühlte ich mich hintergangen. In mir keimten das erste Mal Zweifel auf. Hatte ich mich damals wirklich richtig entschieden?
„Greif lieber zu, ehe es kalt wird, Mischling“, meinte der Vampir zu meiner linken und lächelte gehässig.
Sie werden alles tun, was in ihrer Macht steht, um dich einzuschüchtern. Du darfst auf keinen Fall darauf einsteigen. Du darfst ihnen niemals zeigen, dass sie dir überlegen sind, hatte William mir eingeschärft. Einige der Anwesenden warfen bereits missbilligende Blicke in meine Richtung. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie um alles in der Welt ich jetzt etwas herunter bekommen sollte. Sie würden niemals einen schwachen Menschen in ihrer Mitte akzeptieren. Wenn ich diesen Abend überleben wollte, musste ich ihnen Paroli bieten.
Irgendwie schaffte ich es, meine Hände einigermaßen still zu halten, während ich mechanisch das Fleisch schnitt, selbst als ich entdeckte, dass es nicht einmal Medium gebraten war.
Mein Magen blieb allerdings nicht so ruhig. Mit aller Kraft kämpfte ich gegen den Drang an, meinen Mageninhalt in aller Öffentlichkeit von mir zu geben. Widerwillig steckte ich mir ein Stück in den Mund und schob eine Gabel Reis nach. Ich kaute und schluckte so schnell ich konnte und spülte mit einem Schluck Wasser nach. Ich versuchte, das Geschlürfe um mich herum abzustellen und mich nur auf meinen Teller zu konzentrieren. Schneiden, kauen, runterschlucken, nachspülen. Schneiden, kauen, …
Als ich geendet hatte, fühlte sich mein Bauch an, als hätte ich Backsteine darin gelagert. Nur widerwillig blickte ich auf. Die Vampire waren inzwischen ebenfalls fertig, ihre Kleidung über und über mit roten Spritzern bedeckt, fast als hätten sie es darauf angelegt. Der Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld – und zwar wortwörtlich! Auch die Tischdecke war mit Blutspritzern überseht und einige Gliedmaßen lagen inzwischen komplett abgetrennt zwischen den leblosen Körpern herum. Keiner der Menschen war mehr am Leben.
William erhob sich. Schweigen legte sich über die inzwischen mehr als belebte Runde.
„Leider muss ich euch schon wieder verlassen. Der Ball erfordert noch einiges an Vorbereitung. Für einen zweiten Gang ist aber bereits gesorgt.“
Tosendes Gejubel brach aus.
„Ich empfehle mich.“
Die Vampire neigten die Köpfe, dann erhob ich mich ebenfalls und folgte William zurück zu unseren Zimmern, überrascht, dass meine Beine tatsächlich mitspielten. Vor meiner Tür blieb William stehen und drehte sich zu mir um. Noch immer lag dieser eisige, erbarmungslose Zug um seine Augen. Es war das erst Mal seit dem Bankett, dass er wieder mit mir sprach.
„Ich gebe dir die Chance, deine Wahl noch ein letztes Mal zu überdenken. Du hast nun gesehen, was es bedeutet, in unserer Welt zu leben, wirklich gesehen. Der Ball beginnt in drei Stunden. Kommst du, bleibst du bei deiner Wahl. Verlässt du vorher das Schloss, werden wir uns nie wieder sehen. Nicolai und Yvaine werden dich nach Hause bringen, wenn du es wünschst. Egal, wie du dich entscheidest: Ich werde dafür sorgen, dass du sicher wieder nach Hause kommst.“
Wie aus dem Nichts tauchten Yvaine und ihre beiden Wölfe neben William auf.
„Ich übernehme ab hier.“
William warf mir einen traurigen, letzten Blick zu, ehe er sich in Luft auflöste.
Ich stürmte ohne groß zu überlegen durch das Zimmer ins Bad und schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, ehe ich mich übergab.
Ich zwang mich mühevoll in eine stehende Position, obwohl meine Beine nicht so begeistert davon schienen. Zitternd hielt ich mich aufrecht. Ich hatte mehrere Heulkrämpfe hinter mir, und der Reis und das Steak hatten wieder komplett ihren Weg an die Oberfläche gefunden. Vermutlich hatten sie sich gleich mit dem Mittagessen verbündet.
„Nimm erst einmal eine heiße Dusche, dann sehen wir weiter“, befahl Yvaine, die die ganze Zeit lässig neben mir an der Wand gelehnt hatte, während sie einen ihrer Wölfe abwesend hinter dem Ohr kraulte.
Unwillkürlich beugte ich meinen Kopf und roch an mir. Vielleicht war eine Dusche wirklich keine so schlechte Idee in Anbetracht der Tatsache, dass ich beim Essen vor Angst praktisch meine gesamte Körperflüssigkeit ausgeschwitzt hatte. Außerdem war es meiner Duftnote sicherlich nicht zuträglich gewesen, eine halbe Ewigkeit über der Toilette zu hängen. Selbst ich konnte mich kaum riechen, wie sollte es da erst den feinen Vampirnäschen ergehen?
„Kümmere dich nicht um deinen Menschengestank, den wirst du ohnehin nicht los. Ihr Menschen stinkt immer, das liegt in eurer Natur“, kommentierte sie nüchtern meine Gestik.
„Wirst du auf den Ball gehen?“, fragte sie ohne Umschweife.
Ich nickte ohne zu zögern.
Ginge ich nicht, würde das bedeuten, ich gab auf, und das konnte ich nicht. Egal was geschehen war: William war immer noch mein Freund – mein bester Freund. Er war einer von ihnen, ein Vampir. Das war schrecklich. Doch allein der Gedanke daran, William und die Reynolds nicht mehr sehen zu dürfen, war unerträglich. So sehr mein gesunder Menschenverstand auch protestierte – sie waren zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden. Ich hatte diese verrückte, kleine Vampirfamilie in mein Herz geschlossen. Da mussten sich diese Blutsauger schon mehr einfallen lassen, um mich loszuwerden.
„Ich warte im Zimmer. Versuch, dich zu beeilen. Es wird seine Zeit dauern, dich einigermaßen vorzeigbar zu machen“, quittierte Yvaine meine Entscheidung in ihrem üblichen, monotonen Tonfall und untermalte ihre Worte, indem sie abfällig an mir hinuntersah. Dann verließ sie das Bad.
Ich wackelte zum Waschbecken, klatschte mir einen Schwall Wasser ins Gesicht und blickte in den großen, goldumrahmten Spiegel, den ich bereits vorher bewundert hatte. Zu sagen, ich sähe furchtbar aus, wäre maßlos untertrieben gewesen. Mein Mascara verlief in schwarzen Rinnsalen quer über mein ganzes Gesicht, tropfte wie schwarze Tränen zusammen mit dem Wasser auf den vollkommenen Marmorboden und mein ohnehin ruiniertes Kleid. Meine Haut war erschreckend blass und ausgemergelt. Meine Haare glichen eher einem braunen Vogelnest als einer Frisur. Vielleicht mochte mich Yvaine ja doch, wenigstens ein kleines bisschen. Es wird seine Zeit dauern, dich vorzeigbar zu machen – verglichen mit dem, was ich vor mir sah, eine relativ gnädige Aussage.
Als ich mich ausgezogen und meine Abendgarderobe achtlos in die Ecke gepfeffert hatte, schlüpfte ich unter die große Dusche. Das heiße Wasser, das kurz darauf meinen Körper hinunterlief, war wie eine Erlösung. Ich stellte mir vor, wie es all die schrecklichen Ereignisse des Abends einfach mit sich nahm, sie weit weg schwemmte, so weit, dass sie nie mehr zurückkommen würden. Ohne das Wasser abzustellen, schäumte ich mich ein, so dass immer ein Teil von mir mit dem angenehmen warmen Wasser in Berührung blieb. Als jedes Schaumbläschen abgewaschen war, machte ich mir fast schmerzlich bewusst, dass ich mich nicht ewig unter der Dusche verkriechen konnte.
Der Ball.
William.
Ich stellte den Wasserstrahl ab, der die wohlige Wärme sofort mit sich nahm. Jetzt stand ich hier, nackt und fröstelnd zwischen all diesen kalten Marmorfliesen - bildhafter hätte man meine momentane Lage wohl kaum beschreiben können. Ich wickelte mich schnell in eines der großen Handtücher, die neben der Dusche bereit gelegt worden waren, und tapste erneut zum Spiegel. Die schwarzen Striemen waren verschwunden und meine Haut sah nicht mehr ganz so durchscheinend aus, wenn auch noch nicht vollkommen gesund. Meine Gesichtszüge hatten sich ein wenig entspannt – zumindest redete ich mir das ein. Wenigstens sah ich nicht mehr ganz so selbstmordgefährdet aus, wie noch vor wenigen Minuten. Mein Blick fiel auf das verdreckte, weinrote Knäul in der Ecke. Stimmt, ich brauchte etwas Neues zum anziehen.
Nach kurzem Zögern öffnete ich die Badezimmertür einen Spalt breit. Yvaine saß vollkommen starr auf einem der gemütlichen, antiken Sessel; einen Unterarm hatte sie auf eine Lehne gebettet, der andere ruhte auf dem Kopf des großen, grauen Wolfes, den sie immer bei sich hatte. Er saß wachsam neben ihr und schaute seine Herrin mit glasigem Blick an. Auch Yvaines Blick war glasig. Ich hatte diesen Ausdruck schon einmal bei ihr gesehen, als sie mit einem ihrer Wölfe kommuniziert hatte.
„Ähm …Yvaine?“ fragte ich vorsichtig flüsternd.
Ihr Blick klarte sich auf, bis ich wusste, dass sie wieder bei mir war. Sie blinzelte zweimal kurz, dann sagte sie: „So kann ich schon eher etwas mit dir anfangen.“
In einer einzigen, flüssigen Bewegung stand sie auf, nahm die Kleiderhülle aus der großen Reisetasche, stand innerhalb der nächsten Millisekunde vor mir und bedeutete mir, ins Zimmer zu kommen. Anschließend öffnete sie die milchige Hülle und ein pfirsichfarbenes Monster kam zum Vorschein. Außer vor wenigen Tagen in dem Laden hatte ich noch nie so etwas getragen. Das Kleid reichte bis zum Boden, ein Ballkleid eben. Es hatte nur links einen Träger mit einem kurzen Stück Stoff dran, dass die Schulter bedeckte, war Figur betont, und lief links in der Taille zu einer Art Knäul zusammen, nur um sich kurz darauf wie ein Wasserfall über die Seite zu ergießen. Helen war hin und weg gewesen, als ich es anprobiert hatte. Ich selbst hätte es mir nie gekauft, über die Kosten gar nicht erst zu sprechen, die sie großzügig übernommen hatte. Kurz gesagt: Das Teil gehörte auf den roten Teppich oder zu einer Prinzessin, nicht zu jemandem wie mir.
Yvaine half mir beim Anziehen – und wie ich ihre Hilfe nötig hatte! – und verpflanzte mich anschließend auf einen Stuhl im Bad, um sich um mein Makeup und meine Haare zu kümmern. Ich war zu aufgewühlt um mir Sorgen darüber zu machen ob sie wusste, was sie da tat, also hinderte ich sie nicht an ihrem Vorhaben.
Ein Weilchen schwiegen wir beide, während sie geschäftig an mir rumwuselte, bis mir eine Frage keine Ruhe mehr lies.
„Yvaine?“
„Ja?“
„Was sind Wächter?“
„So werden diejenigen unserer Art bezeichnet, die unter den Vampiren der Adelsschicht stehen.“
Sie hielt nicht in der Arbeit inne, als sie sprach. Ihre kühlen, filigranen Finger streiften unablässig durch meine Haare.
„Warum hast du gefragt, Mensch?“, schob sie einige Minuten später leise nach.
Ich blinzelte überrascht. Ich hatte Yvaine nicht für jemanden gehalten, der ein Gespräch freiwillig in die Länge zog.
„William war wütend. A-also beim Bankett.“
Na toll Emma, genauer hättest du es wohl nicht auf den Punkt bringen können, oder?, schalt ich mich in Gedanken. Yvaine hielt mich vermutlich sowieso schon für ein weinerliches Kleinkind. Jetzt redete ich auch noch wie eins.
„Der König hat sich verspätet, daher waren nur Wächter da. Jedenfalls … Also ich habe mich gefragt, warum er wohl so empfunden hat.“
Für einen kurzen Moment begegneten sich unsere Blicke im Spiegel, ehe ich mich rasch wieder abwandte. Yvaines Züge waren ausdruckslos und gelassen, wie immer.
„Die Hierarchie spielt in unserer Welt eine große Rolle. Für William als Prinz war es ein Schlag ins Gesicht, dass man ihn mit diesen niederen Vampiren an einen Tisch gesetzt hat.“
„Aber der König …“, begann ich, doch dann verstand ich, worauf sie hinauswollte.
Eigentlich hatte ich sagen wollen: „Aber der König kann doch nichts dafür, dass er sich verspätet hat!“ – aber was, wenn es Absicht gewesen war? Dieses Essen hatte lediglich dazu dienen sollen, mich zu verscheuchen!, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dem König war diese Aufgabe natürlich zu lästig. In seinen Augen war ich es nicht Wert, dass er sich persönlich mit mir abgab. Ein kleiner, schwacher Mensch, der beim ersten Anzeichen von Gefahr das Weite suchte. Das war das Bild, das er von mir hatte.
Für William, der alles daran gesetzt hatte dieses Treffen für mich zu arrangieren, war es als Strafe gedacht gewesen, als Blamage. Sein hochgepriesenes Jäger-Menschenmädchen lässt ihn im Regen stehen, noch ehe es ans Eingemachte geht. Kein Wunder, dass er so sauer gewesen war. Der König hatte mich abgestempelt, bevor er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, mich kennen zu lernen.
So etwas wie Kampfgeist regte sich in mir, und ich tankte ein wenig Zuversicht. Ich mochte vieles sein, aber ich war gewiss kein Feigling, und selbst wenn ich in diesem bescheuerten Gruselschloss draufgehen sollte wollte ich verflucht sein, wenn ich das nicht vor meinem Tod klarstellte!
Eine gefühlte halbe Stunde später stieß Yvaine ein zufriedenes Seufzen aus.
„Nicht perfekt, aber es wird gehen.“
Neugierig stand ich auf und musterte mein neues Ich im Spiegel. War das wirklich ich? Meine Haare waren in einer aufwendigen Frisur nach oben gesteckt worden, in die sie Perlen passend zu meinem Kleid eingeflochten hatte. Mein Gesicht wirkte wie aus Marmor, nicht die kleinste Unreinheit zu sehen. Die Augen perfekt betont, auf meinen Wangen und Nase genau die richtigen Highlights gesetzt. Yvaine hatte sich selbst übertroffen. Dagegen wirkte mein Versuch von zuvor mehr als erbärmlich.
„Den Rest musst du alleine schaffen“, sagte Yvaine, drückte mir meine Maske in die Hand und war schon im Begriff, zu gehen.
„Ähm, warte kurz …“, warf ich ein. Augenblicklich verharrte sie, wo sie stand. „Danke. Für alles.“
Sie wandte ihren Kopf in meine Richtung.
„Das war keine Gefälligkeit. Ich hatte meine Gründe, dir zu helfen. Aber wenn du dich trotzdem bedanken möchtest, steh die Nacht durch.“ Mit dieser Aussage ließ sie mich allein zurück und verschwand. Ich wusste immer noch nicht so recht, was ich von ihr halten sollte, aber darüber würde ich mir ein anderes Mal Gedanken machen.
Erneut betrachtete ich mich im Spiegel. Ich lauschte meinem aufgedrehten Herzschlag und betrachtete die Pulsader meiner rechten Hand, die Stelle, an der William von der jungen Frau getrunken hatte. Würde ich die Nächste sein, die dort auf dem Tisch lag? Wie um alles in der Welt sollte ich es bloß schaffen, unter all diese Mörder zu gehen?
Egal, wie du dich entscheidest: ich werde dafür sorgen, dass du sicher wieder nach Hause kommst.
Ja, William würde mich beschützen. Ich vertraute ihm.
Abrupt verließ ich das Bad und eilte durch mein Zimmer. Nachdem ich auf den Gang hinausgetreten war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, hielt ich kurz inne. Unbändige Angst brodelte in mir und drohte, den Tränenstrom von zuvor erneut zu Tage zu fördern. Nur mit Mühe schaffte ich es, meine Panik unter Kontrolle zu bekommen und einen Dammbruch zu verhindern. Irgendwann musste ich es schließlich hinter mich bringen, auch wenn mein Salsa tanzendes Herz da anderer Meinung war. Noch ein letztes Mal tief durchatmen und los.
Die Vampire, die an mir vorbeiliefen, versuchte ich, so gut wie möglich zu ignorieren, was in Anbetracht der Tatsache, dass ich mich gleich einer ganzen Horde von ihnen ausliefern würde, nicht besonders schwierig war. Einer oder zwei alleine schienen dagegen fast lächerlich. Der ganze verfluchte Saal würde voll sein, und nicht einmal die Hälfte davon hatte sich zuvor so satt gefressen, wie meine Tischgesellschaft von eben. Ich hoffte inständig, meine zweifelhaften Kräfte würden mich in dieser Nacht nicht im Stich lassen.
Als ich die große Flügeltür erreichte, die William mir zuvor beschrieben hatte, war ich längst über das Gefühl der Angst hinaus. Nackte Panik schoss durch meinen Körper, gepaart mit einer ordentlichen Dosis Adrenalin. Unbeirrt lief ich auf die zwei Wächter zu, die vor den Türen Wache hielten. Schweigend öffneten sie das Portal und ich trat ein.
Die Welle der Auren überrollte mich wie ein Güterzug. Oh Scheiße. Dagegen waren die fünfzig Gesellen von vorher gerade zu lachhaft gewesen. Keiner, abgesehen von den Dienern, die umher wuselten und Wein auf silbernen Tabletten anboten (ich versuchte mir bewusst einzureden, dass es bloß Wein war), und dem Orchester, das den Saal mit Klängen klassischer Stücke erfüllte, war niedriger gestellt als ein Vampir der Adelsschicht. Mit anderen Worten: Jeder hier war mächtiger als die Vampire, mit denen ich zuvor in Kontakt gekommen war – und deren Macht war schon unermesslich gewesen. Der Dresscode war gnadenlos eingehalten worden: Die Männer trugen allesamt vornehme, schwarze Tuxedos und die Frauen Abendkleider, auf die jedes Starlett auf dem roten Teppich eifersüchtig geworden wäre. Jedes ihrer zweifelsohne gottgleichen Gesichter war durch eine Maske verhüllt.
Auch wenn sich die Atmosphäre im Saal nicht verändert hatte, wusste ich, dass ich nun im Mittelpunkt der Veranstaltung stand. Wenn Vampire in etwas gut waren, dann darin, sich nichts anmerken zu lassen. Doch ich konnte ihre Blicke förmlich auf meiner Haut brennen spüren.
Überraschung. Wut. Enttäuschung. Neugier.
Die Gefühle übermannten mich, malträtierten mein Hirn wie das nerviges Surren einer Biene – mit der Ausnahme, dass es in diesem Fall ein ganzer Bienenhaufen war. Nur mit Mühe widerstand ich dem Reflex, meine Hände gegen meine Schläfen du pressen. Aber mein Kopf konnte nicht anders, als panische Blicke durch den Raum zu feuern. Offensichtlicher hätte ich meine Angst wohl kaum zur Schau tragen können.
Freude. William.
Er stand in einer der hintersten Ecken des Saales, verborgen von den tanzenden Paaren, und redete mit einem älter aussehenden Vampir mit gräulichen Haaren. Seine Augen wurden von der blausilbernen Maske verborgen, die ihm Helen passend zu meiner gekauft hatte. Unsere Blicke trafen sich, bevor er wieder von Körpern verdeckt wurde. Als das Paar sich erneut drehte, war er verschwunden.
Ich fuhr herum – und lächelte. Wie erwartet stand er direkt vor mir. Erleichterung durchströmte mich und spülte das Surren mit sich fort.
„Entschuldige, ich bin spät dran“, begrüßte ich ihn.
Einen endlos wirkenden Augenblick lang starrten wir uns ein-fach nur an, dann bot er mir schließlich seine Hand dar.
„Darf ich um diesen Tanz bitten?“, fragte er feierlich.
Ich betrachtete seine Hand und hasste mich für die Angst, die ich plötzlich ihm gegenüber empfand. Warum zögerte ich? Wieder tauchte die Frau auf dem Tablett vor meinem geistigen Auge auf, William, mit seinem blutverschmierten Mund und den ausgefahrenen Reißzähnen.
Paradoxerweise, als könnte ich die Szenerie so wegwischen, griff ich reflexartig zu. Es funktionierte. Ich drückte so fest ich konnte. Er verstand. Zur Bestätigung drückte er leicht zurück, eine tröstende Geste. Er wandte sich um und führte mich auf die Tanzfläche. Wir nahmen die übliche Tanzhaltung ein, die wir so oft bei ihm durchgeprobt hatten, und schon begann mein Körper, den Befehlen seiner Arme zu gehorchen. Keiner von uns sagte ein Wort. Unsere Körper sprachen ihre eigene Sprache. Ich vergaß völlig die lange Schleppe meines Kleides, die geradezu darum bettelte, dass man darüber stolperte, und nach und nach verschwanden auch die Körper, die um uns herumwirrbelten. Die Erinnerungen an Blut. An Mord. An Angst. Es gab nur noch ihn und mich. Hier und jetzt.
Als eine langsamere Melodie angestimmt wurde, tanzten wir automatisch enger beieinander, bis sein Mund fast mein Ohr berührte.
„Du bist hier“, flüsterte er sehnsuchtsvoll, mehr zu sich als zu mir, als müsse er sich selbst von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugen.
Verwunderung. Dankbarkeit. Unbändige Freude.
In diesem Moment wusste ich, dass – egal wie dieser Abend enden würde – ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Abrupt verstummte die Musik. Wie auf ein unsichtbares Signal hin bildeten die tanzenden Paare schweigend einen Durchgang durch die Mitte des Saales, und noch ehe ich zu begreifen begann, was überhaupt vor sich ging, drängte mich William, ihnen zu folgen. Als sich das Durcheinander gelegt hatte, wurde das große Eingangsportal geöffnet. Die Energiewelle, die mich als nächstes überrollte, übertraf alles, was ich je gefühlt hatte. Es waren zwei Auren, so mächtig, dass es mir den Atem zu rauben schien. Das Königspaar war eingetroffen.
Bevor ich einen Blick auf sie erhaschen konnte, verbeugten sich alle Anwesenden. Ich tat es ihnen unsicher gleich. Ein kühler Windhauch strich über mein Gesicht und im nächsten Moment war die Maske, die meine Augen verborgen hatte, verschwunden. Erschrocken keuchte ich auf und blickte zu William. Auch seine Maske war verschwunden, wie die meines anderen Nachbarn. Alle Blicke waren nun offenbart und zur Flügeltür gerichtete. Ich folgte ihnen – und schaute direkt in die blutroten Augen des Königs.
Obwohl er am anderen Ende des Raumes war, machte es ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, mit mir in Kontakt zu treten. Sein Blick war so intensiv, dass ich zuerst gar nicht sein Äußeres wahrnahm. Er hatte lange, schwarze Haare, die er hinten zu einem Zopf zusammengebunden hatte, und trug einen vornehmen, zeitlosen Anzug. Seine Haut war erschreckend blass, fast weiß – typisch Vampir eben. Unter seinen Lippen zeichneten sich nur zu deutlich seine großen, spitzen Eckzähne ab, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. Wie viele Menschen hatte er damit wohl schon auf dem Gewissen? Seine Züge wirkten streng, unnachgiebig und gerissen. Er strahlte pure Macht aus; gut gebaut, kräftig, aufrechte, stolze Haltung, gut eins neunzig groß. In Menschenjahren hätte ich ihn um die Fünfzig geschätzt, was ihm jedoch ausgesprochen gut stand und seine ungeheure Ausstrahlung nur noch verstärkte. Für jemanden von seinem Kaliber waren Skrupel sicherlich ein Fremdwort.
Die Frau an seiner Seite war eine kaum weniger präsente Persönlichkeit. Ihre Augen ruhten ebenfalls auf mir mit derselben, unheimlichen Intensität wie die ihres Mannes. Auch sie hatte tiefschwarzes Haar, das ihr in seidigen Kaskaden über die Schultern fiel. Einige Strähnen waren hinter ihrem Kopf zusammengefasst, sodass nur wenige Locken ihr filigranes Gesicht umspielten. Sie war ein wenig kleiner als ihr Mann und trug ein dunkelblaues, enganliegendes Abendkleid mit eingearbeiteten Diamanten, die vor dem dunklen Stoff und unter den Lichtern des Saales wie Sterne funkelten. Sanft glitt der edel wirkende Stoff ihre schlanke Gestalt hinab, berührte leicht die goldenen Fliesen und lief hinter ihr in eine elegante, kleine Schleppe aus. Ihre feinen Züge stachen in ihrer Vollkommenheit selbst unter dem elfenhaften Äußeren ihrer Artgenossen hervor, was ich eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Die von langen, schwarzen Wimpern umrahmten Augen, der feine Mund mit den vollen, rosigen Lippen, die leicht geröteten Wangen, die schmale, zierliche Nase, das zarte, feminine Kinn, die hohen Wangenknochen – so hatte ich mir immer die Königinnen aus den Märchen vorgestellt, abgesehen von dieser Vampiraugensache natürlich. Die Frau verlieh dem Wort Minderwertigkeitskomplex einen völlig neuen Maßstab.
Aber ich war nicht die Einzige, die von der Ausstrahlung der beiden gottgleichen Gestalten vor den Flügeltüren dermaßen geblendet war. Der ganze Saal hatte die Luft angehalten und stand im Bann dieser zwei roten Augenpaare, die alles um sich herum zu beherrschen schienen, wie eine Spinne, die jeden einzelnen Faden ihres verwobenen Netzes unter ihrer Kontrolle hat.
Ich vermutete dass es kein Zufall war, dass nur die zwei ihre wahre Gestalt angenommen hatten. Es war eine zur Schau Stellung ihrer Macht, wie diese ganze bildet-einen-Gang-für-uns-Arie zuvor. Sie wollten zeigen, wer hier die Hosen anhatte – was ihnen meiner Ansicht nach auch ganz schön eindrucksvoll gelang.
Langsam, als würden sie jeden ihrer Schritte voll auskosten, glitt das Paar den Gang entlang, der für sie bereitet worden war, während jeder Vampir, an dem sie vorbeikamen, sich verbeugte, wie es die höfische Etikette vorsah. Als sie nur noch wenige Schritte von unserem Platz entfernt waren, verbeugte sich schließlich auch William. Es kostete mich alle Mühe, meinen Blick ebenfalls abzuwenden, aber irgendwie gelang es mir, und ich beäugte nervös den unteren Teil meines aufwendigen, pfirsichfarbenen Ensembles. Ich wollte, dass dieser Albtraum endlich ein Ende hatte. Was hatte man ihnen wohl über das Essen von zuvor berichtet? Fast hätte ich ein hysterisches Lachen ausgestoßen, als mir der Ausdruck letztes Abendmahl durch den Kopf schoss. War es das tatsächlich gewesen, meine Henkersmahlzeit?
Leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings legten sich eiskalte Finger auf meine linke Wange und bedeuteten mir, meinen Blick zu heben. Sie gehörten der Königin, die jetzt direkt vor mir stand, Kleid an Kleid. Von Nahem sah sie fast noch hübscher aus, unwirklich, und ich fühlte mich, als befände ich mich in einem wundersamen Traum. Ihre Augen fingen die meinen auf und hielten sie in ihren unendlichen Tiefen gefangen. Aber es war nicht wie bei meinem Entführer, bei William oder Liliane oder einem der anderen Vampire, denen ich bis jetzt begegnet war. Es war nicht bloße Faszination, Unglaube und nackte Angst, die es mir unmöglich machten, mich abzuwenden – es war pure Macht. Dort, wo ihre Finger meine Haut berührten, schoss eine so gewaltige Energie meine Nervenenden entlang, dass ich glaubte, mein Gesicht würde mit Säure übergossen. Mein Herz hörte auf zu schlagen, und ich war unfähig, noch irgendetwas zu denken – und das meine ich wörtlich. Mein Kopf war mit einem Mal wie leergefegt und lediglich noch dazu im Stande, sich an Ort und Stelle zu halten. Ich wusste nur, dass die nächsten Sekunden über Leben und Tod entscheiden würden, und dass ich nichts mehr tun konnte, um diese Entscheidung zu beeinflussen. Dieser einzige, elementare Gedanke und der bloße Wille zu Überleben waren geblieben. Es war einer dieser Momente, die in Echtzeit nicht einmal eine Sekunde dauerten, sich aber wie eine Ewigkeit anfühlten, die nie zu Enden wollen schien.
Ich spürte, wie etwas mein Innerstes streifte, den Kern meines Wesens berührte, sich mit ihm verband, ihn umschlang wie eine Kobra ihre Beute und dann … dann war alles vorbei. Die Königin hatte ihre Hand zurückgenommen und mit ihr die Lähmung meines Körpers und Geistes. Mein Herz begann wieder im Rekordtempo zu arbeiten, und meine Gedanken überschlugen sich mit Hypothesen, was nun als Nächstes passieren würde.
Die Augen der Königin beäugten mich, ohne jegliche Emotion Preis zu geben, und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich schwören können, ein goldenes Leuchten darin erkennen zu können, aber vermutlich hatte mir nur das Licht einen Streich gespielt. Ohne sich von mir abzuwenden, flüsterte sie in monotoner, glasklarer Stimme: „Es hat begonnen.“
Sie warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu, den ich nicht zu deuten wusste, dann trat der König an mich heran. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Königin soeben den Eindruck, den sie über mich gewonnen hatte, mit ihrem Mann geteilt hatte – und dass ihre Meinung von größter Wichtigkeit war. Die Art, wie der König sie ansah, fast … respektvoll. Und wenn so ein Kerl vor etwas Respekt hat, tat man gewiss gut daran, diesen Respekt zu teilen. Was hatte sie ihm wohl gesagt? Und was hatte dieses kryptische Es hat begonnen zu bedeuten?
Die Züge des Königs ließen ebenfalls keinen Schluss auf seine Gedanken zu. Während ich noch darüber sinnierte, ob er mich gleich hier mit seinen Zähnen umbringen oder erst in den Kerker werfen oder sonst irgendetwas mit mir anstellen würde, das ich mir gar nicht erst vorstellen wollte, bot er mir lediglich seine Hand dar, wie zuvor William – eine stumme Aufforderung zum Tanz. Es dauerte seine Zeit, bis ich erfasst hatte, was er da gerade getan hatte, und nochmal eine peinliche Minute, bis ich fähig war, die Aufforderung anzunehmen und meine Hand auf seine zu legen.
Sobald unsere Haut sich berührte, durchfuhr ein unheimliches Kribbeln meinen ganzen Körper, als würde ich permanent unter leichtem Strom stehen. Das gruselige aber war, dass ich spürte, dass er seine Kraft noch willentlich zurückhielt. Die Aura, die unter der von ihm errichteten Schutzschicht brodelte, hätte mich vermutlich ohne große Anstrengung den Boden küssen lassen, hätte er sie ungehindert fließen lassen. Meine Fähigkeiten schienen bei ihm nicht die geringste Wirkung zu zeigen. Ob er sie überhaupt spürte? Seine roten Augen wichen keinen Moment von mir, als wollte er mir damit verdeutlichen, dass ich nicht die geringste Chance gegen ihn hatte. Mein Schicksal lag nun in seinen Händen.
Ich ließ mich von ihm in die Mitte der Tanzfläche führen, während mein Herz zur Höchstleistung auflief. Der König befahl dem Orchester mit einem Nicken, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, meine Hände an die richtigen Positionen seines Körpers zu verfrachten, ehe die Musik einsetzte. Es war ein Reflex, den ich mir in den Übungsstunden der letzten Wochen angeeignet hatte, denn hätte ich erst darüber nachgedacht, hätte ich mich nie getraut, meine Finger auch nur in die Nähe des Königs wandern zu lassen.
Wir waren die Einzigen auf der runden Tanzfläche, die die Umstehenden in den letzten Sekunden zügig und ohne Gedränge fließend gebildet hatten – so langsam hatte ich die Vermutung, hier war irgendwo ein unsichtbarer Choreograph am Werk. Mein Magen war in Versuchung geführt, auch den letzten Rest Galle, dem ich mich zuvor noch nicht entledigt hatte, loszuwerden, doch ich ignorierte ihn, so gut ich konnte, und konzentrieren mich auf meine Füße und die Schritte, die der Takt von mir forderte. Es gelang mir tatsächlich, die Übelkeit ein wenig zurück zu drängen, und ich tanzte verbissen weiter.
Scheiße, ich tanzte gerade wirklich mit dem König der Vampire! Warum zur Hölle wollte er mit mir tanzen? Wollte er mich demütigen, bevor ich mir die Radieschen von unten ansehen durfte? Wollte er …
„Du fragst dich, ob wir dich umbringen werden“, stellte der König fest. Ein unheimliches, überlegenes, kleines Lächeln spielte um seine Lippen. Ich schluckte schwer und lief knallrot an. Konnte er etwa …
„Wir brauchen nicht in deinen Gedanken zu lesen, um zu wissen, was in dir vorgeht. Ein Blick in deine Züge genügt völlig.“
Es lag keine Verachtung oder Belustigung in seinen Worten, er wies mich einfach sachlich darauf hin. Einerseits nervte mich das, denn ich wollte endlich wissen, woran ich bei ihm war, andererseits wünschte ich mir, er würde diese Neutralität beibehalten, die mein letztes Fünkchen Hoffnung am Leben erhielt.
Ich nahm einen tiefen Atemzug – meinen hundertsten in dieser Nacht, straffte meine Schultern und schaute direkt in seine leuchtend roten, gebieterischen Augen. Ermutigt durch das Fünkchen suchte ich nach einem Anhaltspunkt, einem verräterischen, sanftmütigen Glitzern, das mir verraten würde, dass alles gut werden würde. Nichts.
„Wir geben zu, dies in Erwägung gezogen zu haben, aber wir können dich beruhigen. Wir werden dir dein Leben lassen, Sterbliche – vorerst“, kam er auf meinen potentiellen Tod zurück. Wäre ich nicht so auf Adrenalin gewesen, wäre ich vermutlich vor Erleichterung in Ohnmacht gefallen.
„Warum?“, entgegnete ich leise, wobei es mich einiges an Anstrengung kostete, dieses simple, mickrige Wort zu formen und anschließend zu verbalisieren.
Der König lachte laut auf, ein herzhafter, dunkler, rauer Laut.
„Du bist direkt meine Liebe, aber das gefällt uns. Trotzdem werden wir dir auf diese Frage keine Antwort geben.“
Wir tanzten einige Minuten schweigend weiter, und ich sah, dass William und die Königin uns inzwischen auf der Tanzfläche Gesellschaft leisteten. Auch einige andere Paare hatten sich zu uns gesellt. Gut. Wollte er mich doch umbringen, würden alle einen guten Blick darauf haben wollen und nicht um uns herumtanzen, während er mir genüsslich das Leben aussaugte. Vorerst schien die Gefahr tatsächlich gebannt.
„Hast du Angst?“, wollte der König von mir wissen.
„Ja“, entgegnete ich kaum hörbar und unternahm erst gar nicht den Versuch, es zu leugnen. Er hätte mich ohnehin durchschaut.
„Warum hast du dich für diese Angst entschieden, anstatt für die Sicherheit, die dir Deinesgleichen hätten bieten können?“
Wieder war aus seiner Stimme nichts heraus zu hören, weder Neugier noch Unglaube oder Misstrauen.
„Weil …“, ich überlegte sorgfältig, bevor ich antwortete, räusperte mich und fuhr ein wenig kräftiger fort „… weil ich nicht zwischen Angst und Sicherheit gewählt habe, sondern … sondern zwischen Verpflichtung und Freiheit. Ich will mit dem Krieg nichts zu tun haben und ich … ich will auch nicht kämpfen. Außerdem …“
Ich wandte meinen Blick wieder ab und suchte nach William. Er schaute besorgt in meine Richtung, und ich lächelte schwach um ihm zu signalisieren, dass es mir gut ging – so gut es eben im Moment möglich war. Er nickte ermutigend, und ich schenkte dem König wieder meine volle Aufmerksamkeit.
„… außerdem ist mir euer Sohn … Er ist ein guter Freund. Das war mir mehr wert als das, womit die Jäger auffahren konnten“, beendete ich meine Ausführung schließlich.
„Bist du noch immer der Auffassung, dich damals richtig entschieden zu haben?“, fragte er.
„Ja, das bin ich“, erwiderte ich ohne zu zögern. Es war die Wahrheit, so abstrus es nach dem heutigen Abend auch klingen mochte. Der König schien etwas Ähnliches gedacht zu haben, denn nachdem er mich zwei Pirouetten nacheinander hatte drehen lassen, fragte er: „Wie hat dir dein Essen an diesem Abend gemundet?“
„Das Steak war mir etwas zu blutig“, gestand ich anklagend, doch die Worte waren mir so schnell entschlüpft, dass ich erst nach einigen Sekunden das Ausmaß dessen erfasste, was ich da gerade losgelassen hatte. Oh, oh. Ich hatte gerade das Oberhaupt der Vampire kritisiert.
Der König stieß erneut dieses herzhafte, dunkle, raue Lachen aus, dieses Mal aber aus voller Kehle. Er lachte und lachte und wollte gar nicht mehr aufhören, während uns die Vampire im Saal verwunderte Blicke zuwarfen. Mein Herz sackte vor Erleichterung in meinen Unterrock. Er hatte es mir nicht übel genommen.
„Du bist eine zähe, kleine Sterbliche, das müssen wir dir lassen. Wir können verstehen, was unser Sohn an dir findet“, war alles, was er zu meinem Fauxpas zu sagen hatte.
Wieder tanzten wir ein Weilchen, ohne zu sprechen.
„Dir ist sicher bewusst, dass uns deine … Talente ein gewisses Unbehagen bereiten“, schnitt er schließlich das brenzlige Thema Entvampisierungskräfte an. Ich schluckte schwer. Jetzt ging es ans Eingemachte. „Wie gedenkst du, diesbezüglich unsere Sorgen zu zerstreuen?“
Gute Frage. Nächste bitte, schoss es mir durch den Kopf.
Da fiel mir etwas ein. Es war bei weitem nicht perfekt und vermutlich das Armseligste, das mir im Moment hätte einfallen können, aber es war zumindest etwas.
„Ich sehe mich zwar nicht als Jägerin, aber dennoch achte ich die Versprechen, die ich gebe“, begann ich vorsichtig. Meine Mutter hatte ihre Versprechen stets hoch geachtet, deshalb hat-
te auch ich nach Möglichkeit mein Wort immer gehalten. Matthew hatte sein Wort so ernst genommen, dass er William geschützt hatte, einen verhassten Vampir.
„Ich gebe euch mein Wort darauf, dass ich meine Fähigkeiten nur zur Notwehr mutwillig einsetzen werde, oder mit der Erlaubnis des jeweiligen Vampirs. Ich werde nie selbst … ähm … zu den Waffen greifen. Quasi.“
Auch wenn der letzte Teil nicht ganz so feierlich und seriös geklungen hatte, wie es ursprünglich beabsichtigt war, bemühte ich mich, selbstsicher zu wirken, um mein Versprechen zu untermauern. Ernst erwiderte ich den bohrenden Blick des Königs und wartete auf seine Reaktion.
„Wir sind bereit, deinen Worten Glauben zu schenken, da unser Sohn für dich gebürgt hat, doch sei dir dieser Tatsache wohl bewusst. Er wird ein Auge auf dich haben und uns Bericht erstatten. Wir halten dich für klug genug um zu wissen, dass es besser für dich wäre, auf ihn zu hören.“
Plötzlich zog der König verschwörerisch einen Mundwinkel nach oben, als habe er gerade einen guten Einfall gehabt. Automatisch stellten sich mir die Haare zu Berge. Oh man, was kam jetzt noch?
„Sag mir, Sterbliche, empfindest du es nicht als Verrat an deiner eigenen Rasse, mit meinem Volk zu verkehren? Schmerzt es dich nicht mit anzusehen, wie Deinesgleichen ihr Leben lassen und du …“, er hielt kurz inne, um sich näher an mein Ohr zu beugen, „… nichts dagegen tun kannst?“
Ich kämpfte die aufkommenden Tränen nieder, die in meinen Augenwinkeln schon seit ich diesen verdammten Saal betreten hatte darauf warteten, hervorzubrechen, und setzte zu einer geflüsterten Antwort an.
„Es schmerzt, sehr sogar …“, gestand ich und senkte mein Haupt, damit er das Glitzern in meinen Augen nicht sehen konnte, das nur zu deutlich zeigte, wie sehr es schmerzte. „Aber ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie schwer es erst für euer Volk sein muss, mit dieser … Bürde leben zu müssen. Für so viele Tode verantwortlich zu sein, ...“
Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals bei der bloßen Vorstellung daran, und ich schluckte mehrfach, um wieder deutlich sprechen zu können. „… ohne sich daran hindern zu können, hilflos den Bedürfnissen seines eigenen Körpers ausgesetzt …“
Ich blinzelte meine Tränen weg, so gut ich konnte, und sah voller Überzeugung zu ihm auf.
„Kein Mensch hat das Recht, über euch zu urteilen, daher … daher ist es kein Verrat.“
Der Mundwinkel zog sich noch weiter nach oben.
„Was, wenn wir es genießen? Es ist ein berauschendes Gefühl, Macht über ein anderes Wesen zu besitzen …“
Um seinen Punkt zu verdeutlichen, ließ er mich erneut eine Pirouette drehen.
„… Angstschweiß zu riechen …“
Er fuhr mit seiner Nase kurz über meine Schultern, um demonstrativ auf die Achselhöhlen hinzuweisen.
„… jemanden um Gnade winseln zu lassen …“
Sein Kopf war weiter nach oben gewandert und seine Lippen berührten nun beinahe meine Ohrläppchen, was mich unwillkürlich erzittern lies.
„Was, wenn wir einfach gerne kaltblütige Mörder sind?“
Sein Blick bohrte sich herausfordernd in meinen. Das schiefe Grinsen war verschwunden.
„Niemand wäre gerne ein kaltblütiger Mörder“, sagte ich voller Überzeugung. Der König legte den Kopf schräg und musterte mich traurig.
„So jung und naiv …“, gab er nachdenklich von sich. „Aber vielleicht ist gerade das deine Stärke.“
Dann, direkt an mich gewandt: „Bewahre sie in deinem Herzen, solange es dir möglich ist. Dein Glaube wird früher auf die Probe gestellt werden, als dir lieb sein wird.“
Das Stück des Orchesters endete und mit ihm unser Tanz. Wir blieben stehen. Alle Augen waren auf uns gerichtet, während ich mich – halbwegs ansehnlich, wie ich hoffte – verbeugte und wir zu William und der Königin liefen, die am Rande der improvisierten Tanzfläche auf uns warteten.
„Wir haben uns lange nicht mehr so amüsiert, wie am heutigen Abend. Du bist eine außergewöhnliche Sterbliche, in der Tat …“
Wieder blieben wir stehen. Endlich ließ er meine Hand los. So schnell, dass ich mir nicht wirklich sicher war, ob er es tatsächlich getan hatte, fuhr er mit den Fingern über meine Hauptschlagader, wie es Christine schon einmal getan hatte.
„… Faszinierend.“
Er konnte meine Fähigkeiten also doch spüren.
„Wir werden dich im Auge behalten“, warnte mich der König, ehe er an der Seite seiner Gemahlin ohne viel weiteres Aufheben den Saal verließ. Wieder wurde eine Gasse für die beiden gebildet, und Köpfe senkten sich ehrerbietig.
Kaum, dass sich die Flügeltüren hinter ihnen geschlossen hatten, setzte das Orchester zu seinem nächsten Stück an, die Menge verteilte sich und man begann, sich angeregt über den Kurzauftritt des Herrscherpaares zu unterhalten.
William warf mir einen erleichterten Blick zu. Ich hatte es geschafft. Ich war dem König der Vampire entgegengetreten und hatte es überlebt.
„Wir haben unsere Pflicht hier erfüllt und du bist sicher müde. Außerdem ist es ist schon fast morgen. Komm, ich bringe dich zurück auf dein Zimmer.“
Ich nickte nur erschöpft, zu mehr war ich nicht fähig. Die Anspannung der letzten Stunden hatte sich in meinen Gliedern angestaut wie zentnerschwerer Beton, und es kam mir wie ein Wunder vor, dass ich es überhaupt noch schaffte, mich zu bewegen.
Oben in meinem Zimmer angekommen, half William mir aus dem Kleid. Ich war so müde, dass ich nicht einmal mehr die Kraft dazu aufbringen konnte, peinlich berührt zu sein, als seine Finger meinen nackten Rücken entlangfuhren, um den Reisverschluss zu öffnen. Anschließend wünschte er mir eine Gute Nacht und verschwand nebenan.
Ich machte mich bettfertig, zog mein Lieblingsschlabbershirt über und schlüpfte sehnsüchtig unter die Decke. Prompt fielen mir die Augen zu. Wenigstens im Schlaf konnte ich diesem schrecklichen Ort bereits den Rücken kehren. Am liebsten wäre ich natürlich sofort abgereist, aber der Anstand gebot, dass William als Gastgeber der Letzte war, der das Schloss verließ. Wir würden also noch mindestens bis zum nächsten Abend hier festsitzen.
Aber an Schlafen war nicht zu denken. Die Bilder des bestialischen Abendessens und die monströsen Fratzen der Vampire, die über ihre Opfer gebeugt waren, ließen mich nicht los, schlichen sich in meine Träume und rissen mich immer wieder zurück in die Realität. Ich warf mich unruhig im Bett hin und her, während ich die grausigen Szenen wieder und wieder durchlebte. Die schreckgeweiteten Augen der jungen Frau, die schmatzenden Geräusche, die blutdurchtränkte Tischdecke – würde ich all das je hinter mir lassen können?
Ich stöhnte laut auf, als ich erneut aus dem Schlaf hochfuhr. Dieses Mal hatte ich mich selbst auf einer der silbernen Platten gesehen. Ich seufzte. So würde das nie etwas.
Mir fiel die Seitentür ins Auge, die das Zimmer von William mit meinem verband. Was er wohl gerade machte? Kurz entschlossen kroch ich aus dem Bett und klopfte.
„Komm rein.“
William saß auf einem Sessel vor dem Fenster, die Vorhänge zugezogen. Nur eine altmodische Öllampe auf seinem Nachttisch spendete ein wenig Licht. Als ich den Raum betrat, musterte er mich besorgt. Er legte das Buch beiseite, in das er bis eben vertieft gewesen war, und stand in der nächsten Sekunde vor mir.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte er.
„Ich kann nicht einschlafen“, gestand ich.
„Verstehe“, entgegnete er. Ihm war anzusehen, dass er sich schuldig fühlte.
Ich spürte, wie sich der Tränenstrom von zuvor zurückmeldete. Kurz darauf verschwamm William vor meinen Augen und ich begann, wie wild drauf los zu heulen.
„I-ich … I-ich kann e-e-einfach nicht m-m-mehr“, schluchzte ich.
All die Angst und die Schrecken der letzten Stunden brachen sich erneut Bahn, aber ich hatte nicht mehr länger die Kraft, dagegen anzukämpfen. Ich wollte es auch gar nicht. Ich wollte nur noch weinen, bis keine Träne mehr übrig war. Ich wollte nicht mehr stark sein.
Plötzlich legten sich zwei kräftige Arme um mich.
„Sch, sch. Alles ist gut. Es ist vorbei.“
William strich mir fürsorglich übers Haar, legte sein Kinn auf meinen Kopf und wiegte mich leicht hin und her, während ich von einem Heulkrampf nach dem nächsten geschüttelt wurde.
„E-es ist alles s-so f-f-furchtbar“, stammelte ich in sein Hemd.
„Ich weiß.“
Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, umrahmte William mein Gesicht mit seinen Händen, so dass ich ihn ansehen musste, und wischte mit den Daumen die Tränen beiseite, die noch in meinen Augenwinkeln saßen.
„Soll ich bei dir bleiben, bis du eigenschlafen bist?“
Er konnte die Antwort in meinem verängstigten Blick sehen, hob mich vorsichtig hoch und trug mich zu meinem Bett zurück. Er legte sich neben mich, deckte mich zu und nahm mich in die Arme.
„Danke“, sagte ich leise und kuschelte mich enger an ihn. William verstärkte seinen Griff.
Als die letzte Träne meine Wange hinab lief, war ich bereits eingeschlafen.
Verträumt schaute ich aus dem Fenster. Der Himmel war überseht von dunklen, unheilvollen Wolkenmassen. Regen donnerte auf das kleine Auto herab, in dem ich zusammen mit meiner Mutter saß, und verschluckte die Häuser um uns herum. Noch waren wir sicher im inneren des Wagens, auch wenn ich wusste, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. Bald mussten wir hinaus und uns dem Sturm stellen.
In der nächsten Sekunde standen wir vor einem alten, verlassenen Fabrikgebäude. Das Unwetter gönnte sich gerade eine Pause und ließ nur hier und da vereinzelte Tropfen zur Erde fallen. Eine Warnung, dass es noch nicht vorbei war. Mom hielt meine kleine, zittrige Hand und führte mich in die dunklen Hallen. Ich wollte ziehen und zerren, wollte mich gegen sie stemmen und mich weigern, weiter zu gehen, doch mein Körper schenkte meinen Befehlen nicht das geringste Gehör. Er schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, und ich war vollkommen machtlos gegen diese unsichtbare Macht. Mom schien meine Bemühungen nicht einmal zu bemerken, und so blieb mir nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
„Mommy, warte! Geh da nicht rein! Ich will nicht, dass du stirbst! Die Vampire kommen gleich! Bitte Mommy, ich will nicht hier sein!“, schrie ich aus voller Kehle, doch die Worte waren in meinem Kopf gefangen und konnten nicht nach außen dringen.
Wir blieben stehen und sie beugte sich zu mir hinunter.
„Ich weiß, dass du schreckliche Angst hast, aber du musst jetzt ganz tapfer sein, ja?“, sagte sie. In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie richtete sich wieder auf und führte mich in eine Art Nebenkammer, die durch eine eiserne Schiebewand von der Haupthalle abgetrennt war.
Erneut blieben wir stehen und sie beugte sich zu mir herunter.
„Solange du hier bleibst, wird dir nichts geschehen, okay?“
Ich spürte, wie ich nickte und etwas erwiderte, während ich immer noch versuchte, meinen Körper wieder unter meine Kontrolle zu bringen.
„Ich hab dich auch lieb, Emma. Sehr, sehr lieb“, entgegnete sie mit bebender Stimme, bevor sie endgültig von mir ab ließ. Wie angewurzelt blieb ich in der stickigen Kammer stehen. Beim Hinausgehen drehte sie sich noch ein letztes Mal zu mir um, dann verschloss sie sorgfältig die eiserne Schiebetür. Mein Körper ließ sich zitternd auf den staubigen Boden fallen und schob sich in eine nahe liegende Ecke zwischen zwei alte Regale. Dort verharrte er reglos, bis Mom anfing, mit jemandem zu sprechen. Ich musste nicht erst durch den Spalt neben der Tür schauen, von dem ich zweifelsohne wusste, dass er dort war – warum ich mir da so sicher war, wusste ich selbst nicht so recht – um zu wissen, was gerade vor sich ging: Die Vampire waren gekommen, wie ich es vorausgesagt hatte.
Mein Herz begann, wie wild zu rasen, doch mein dämlicher Körper wollte immer noch nicht auf mich hören.
Mit einem Mal wurde es unerträglich heiß in der Kammer. Schreie hallten an den großen Wänden vor der Schiebetür wider, deren klägliche, schmerzerfüllte Echos bis zu mir vordrangen. Ein eiskaltes, emotionsloses Lachen, dass mir Schauer über den Rücken jagte, mischte sich darunter, aber im Gegensatz zu den Schreien schien es immer lauter zu werden und näher zu kommen.
Plötzlich spürte ich, dass ich nicht mehr alleine hinter den schützenden Mauern der Kammer war. Einige der Schattengestalten – Vampire, wie ich ja jetzt wusste, wobei mir erneut nicht einfallen wollte, woher eigentlich – hatten es geschafft, sich einen Weg durch die Flammen hindurch zu mir zu bahnen. Ihre Augen waren milchig rot, und sie machten nicht die geringsten Anstalten, ihre wahre Gestalt zu verbergen. Die Regale und Wände um mich herum verschwanden in der Finsternis, die die Schatten mit sich gebracht hatten, und einen Moment später saß ich schutzlos zusammengekauert in ihrer Mitte. Die Vampire hatten einen Kreis um mich gezogen und kamen immer näher und näher, während ich ihnen hilflos ausgeliefert war. Ich kniff die Augen zusammen – na wenigstens tat mein Körper in den letzten Sekunden meines Lebens, was ich von ihm verlangte – und wartete darauf, zu sterben.
Was für ein trauriger, einsamer Tod, dachte ich bitter. Ich war allein, so schrecklich allein.
Ein angenehm kühler Arm legte sich um meine Schultern und zog mich an die Brust einer muskulösen Gestalt. Ein Kopf legte sich mitfühlend auf meinen, eine Hand streichelte mir beruhigend übers Haar, und ich wurde leicht hin und her gewiegelt.
„Es ist nur ein böser Traum. Sieh mich an, Emma. Sieh mich an“, bat die Gestalt mit ruhiger, männlicher Stimme und legte mir Daumen und Zeigefinder unters Kinn, so dass ich nicht anders konnte, als zu tun, was sie von mir verlangte. Ich hob meinen Blick und starrte in die blauen, sanften Augen von William. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich gewachsen war – ich war kein Kind mehr, ich war eine junge Frau.
Schluchzend schlang ich die Arme um ihn. Ich klammerte mich an William, so fest ich konnte, und auch er festigte seinen Griff um mich. Die Schatten um uns herum fluchten und begannen, sich in Luft aufzulösen.
„Du bist nicht mehr allein, Emma. Ich bin bei dir. Ich würde nie zulassen, dass dir etwas geschieht, das weißt du doch, oder?“
Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände, seine Züge ernst.
„Du bist nicht mehr allein“, sagte er, eindringlicher als zuvor.
„Ich bin … nicht mehr allein“, wiederholte ich leise.
William nickte. Ich ließ mich wieder in seine schützende Umarmung sinken. Ja, ich war nicht mehr allein.
In dieser Nacht träumte ich zum letzten Mal vom Tod meiner Mutter.
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2014
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