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Nächster Halt: Leben

 

 

 Der Tag hatte bescheiden angefangen und ging einfach beschissen weiter.

Jens hatte es satt!

Die Fahrten mit dem Schulbus waren eine Strafe. Jens wartete bereits sehnsüchtig auf die ersten warmen Sonnenstrahlen, damit er endlich wieder mit dem Fahrrad den Weg zur Schule antreten konnte.

Der „Lumpensammler“, wie der Bus hier umgangssprachlich genannt wurde, benötigte für die Tour doppelt so lange, wie Jens für die direkte Route vom Hof seiner Eltern bis in die Kreisstadt brauchen würde. Selbst mit dem Fahrrad war er wesentlich schneller, eben weil der Bus gefühlte hundert kleine Haltestellen in den Dörfern ringsum anfuhr und die Schüler unterschiedlichsten Alters einsammelte.

Heute hatte Jens den Bus nur ganz knapp erwischt, dann war nur noch ein Sitzplatz neben dem Nerd aus dem Nachbardorf frei gewesen und der Lärm der Grundschüler überschritt bei jeder weiteren Haltestelle den Level von „schrecklich“ zu „in den Ohren schmerzend“. Das Gedrängel wurde immer schlimmer und in jeder schärferen Kurve saß einer, der in dem Mittelgang Stehenden, beinahe auf seinem Schoß.

Jens bewunderte die Gelassenheit des Fahrers, entweder hatte der Mann Nerven wie Drahtseile oder sein Gehör war schon soweit geschädigt, dass er den Geräuschpegel nicht mehr wahrnahm.

Gefrustet zupfte Jens die in ear Kopfhörer aus seiner Schultasche, verband sie mit seinem Handy und hoffte, dass die Lautstärke des kleinen Geräts reichen würde, um alles andere auszublenden.

Auch die Gedanken die seit Wochen und Monaten in seinem Kopf kreisten. Er wollte nicht darüber nachdenken, wollte nicht die Wahrheit seiner Wahrnehmung überprüfen, wollte einer unter vielen sein … STOP!

„Falsche Richtung, Jens Hartung!“, ermahnte er sich selbst.

Wenn er gekonnt hätte, würde er sich am liebsten in sich selbst verkriechen, oder mit einem der Grundschüler tauschen. Noch einmal unwissend sein – unbefleckt von jeglichen Gedanken über das Leben, über die eigene Zukunft.

Wieder versuchte er sich gewaltsam aus seinem Gedankenkreisel zu befreien und wieder gelang es ihm nur kurz.

Innerlich verfluchte er sich. Immer überfielen ihn diese Gedanken hinterrücks, forderten seine Aufmerksamkeit ein, verhinderten effektiv seinen Schlaf, weil sie in diesem müden Halbtraumland zwischen Schlafen und Wachen sämtliche Barrieren einfach überrannten. Wirrer und Angst machender waren, als sie es sein könnten, wenn er wach und gegen sie gewappnet war, sich direkt ablenken konnte.

Tief in sich ahnte Jens, seine Hinhaltetaktik würde nicht mehr lange funktionieren. Früher oder später musste er sich der Wahrheit – seiner ureigenen Wahrheit - über sich selbst stellen.

Plötzlich spürte er etwas, wie eine Bewegung in seinem Nacken. Fahrig wischte seine Hand nach oben und rieb über die Stelle, mit nicht ganz zu Ende gedachte Visionen von Spinnen und anderen Krabbeltieren in seinem Kopf, die auf dem elterlichen Bauernhof nicht gerade selten waren.

Er konzentrierte sich wieder auf die Musik, da spürte er es erneut.

Gerade als er die Hand heben wollte, spürte er wie er festgehalten wurde. Überrascht drehte er den Kopf und sah an den Mundbewegungen, wie der Nerd auf dem Platz neben ihm, mit ihm sprach.

Jens verstand natürlich kein Wort.

Er zog die Stecker aus den Ohren.

„Was?“, fuhr er den Jungen an.

Der ließ sich jedoch von seinem ungehaltenen Ton nicht beeindrucken.

„Ich habe gesagt, es hat keinen Zweck, solange du neben mir sitzt!“

„Was hat keinen Zweck?“ Jens verstand nur Bahnhof, wovon sprach der Spinner neben ihm nur?

Jens zuckte zusammen, als er erneut etwas an seinem Rücken spürte.

Der Nerd bewegte sich, griff nach etwas auf Jens Rücken und zeigte ihm schließlich ein durchgeweichtes Papierkügelchen.

„Das hier! Solange du neben mir sitzt, wirst du es aushalten müssen. Dieses Blasrohrding scheint ein Hobby von den Jungs in der letzten Reihe zu sein. Die Fahrt ist ihnen wohl so langweilig, dass sie ein wenig Ablenkung brauchen und was liegt näher als den Nerd im Bus zu ärgern!“

„Und warum lässt du dir das gefallen?“

Jens Tonfall war noch immer unhöflich, er hörte es selbst, war aber heute einfach nicht in der Lage entsprechend seiner eigentlich guten Erziehung zu handeln.

Der Junge neben ihm zuckte nur mit den Schultern.

„Weil es am nächsten Tag schlimmer wird, dann machen auch die mit, die sich sonst zurückhalten. Keine Ahnung wieso, scheint so eine „Wir – sind – besser – als – der - Sache“ zu sein!“

Als Jens wieder spürte wie ein Papierkügelchen seinen Nacken traf, fuhr er auf. Ihn ekelte der Gedanke daran, was dieses Kügelchen dazu brachte, in seinem Nacken kleben zu bleiben.

Erbost nahm er die feixenden Jungen ein paar Reihen hinter ihm ins Visier.

„Tschuldige, wir wollten nicht dich treffen. Besser du gehst da weg!“, rief einer der Jungen, den Jens aus einem seiner Kurse kannte.

„Ich denke nicht dran, wenn ich noch eines eurer Drecksdinger abkriege, geht’s rund! Dann ramme ich euch eure, zum Blasrohr umfunktionierten Strohhalme persönlich in den Hals. Verstanden?“

Er machte sich keine Gedanken darüber, ob und wie seine Drohung ankam, er wusste, dass die meisten Gleichaltrigen Respekt vor ihm hatten. Wie die Jungen hinter ihm, brauchte er nur noch ein halbes Jahr durchhalten, dann war das Thema Schule für ihn beendet. Er würde nach dem Gymnasium nicht wie viele andere studieren, sondern direkt auf dem elterlichen Hof arbeiten.

So wie er es bereits täglich nach Schulschluss oft genug tat, obwohl seine Eltern ihm genug Zeit für Schule und Freizeit einräumten.

Jens war groß für sein Alter, die Arbeit auf dem Hof hatten ihm breite Schultern und kräftige Oberarme beschert. Sein raspelkurz geschnittenes dunkles Haar war seinem Hobby geschuldet, er spielte Wasserball und sein Verein war dieses Jahr tatsächlich in die Kreisliga aufgestiegen.

Ob Jens diesem Hobby treu bleiben konnte, wenn er erst einmal voll in die Hofarbeit einstieg, wusste er noch nicht. Es kam einfach darauf an, wie er es schaffte sein Hobby in den, dann neuen, Alltag zu integrieren .

Lange Rede kurzer Sinn, seine Schulkameraden wussten, dass die Muskeln seiner Oberarme nicht nur Zierde waren, sondern durchaus hart arbeiten konnten. Wie hart, wollte niemand ausprobieren!

Und tatsächlich hörte der Beschuss umgehend auf.

Nicht nur Jens seufzte erleichtert auf.

Die dunkelbraunen Augen des Jungen neben ihm musterten ihn prüfend, dann hörte Jens: „Danke, aber leider wirst du dich dann ab morgen jeden Tag zu mir setzen müssen, damit es nicht noch schlimmer wird als bisher!“

„Was ist schlimmer als bisher?“, erkundigte Jens sich.

„Oh, lass mich überlegen, ausgekippte Schultasche, ganz aus Versehen über mich verschüttete Trinkpäckchen, oder noch besser, mir mein Schulbusticket aus der Hand reißen und an der nächsten Haltestelle aus dem Bus werfen. So, oder so ähnlich und das Tag für Tag.“ Es klang verbittert, aber auch traurig und hilflos.

Jens errötete, er selbst hatte zwar noch nie bei diesem Mobbing mitgemacht, geschweige denn, dass er sich jemals Gedanken darüber gemacht hatte, warum die anderen Schüler diesen Hass auf seinen Sitznachbarn hegten, doch eingeschritten war auch er noch nie. Oft genug hatte er dem Tohuwabohu gar keine Beachtung mehr geschenkt. Dinge geschahen eben, warum sich einmischen, wenn es einen nicht selbst betraf?

Jens Antwort kam spontan, ohne darüber nachzudenken.

„Okay!“, sagte er.

Verwirrt musterte der Junge ihn.

„Okay? Was ist okay?“

„Na, ich werde mich ab jetzt jeden Tag zu dir setzen!“

Jens Sitznachbar schnaubte ein wenig ungläubig durch die Nase.

„Nett von dir, aber das solltest du dir lieber noch mal überlegen.“

„Ich habe vor diesen Pappnasen keine Angst. Die werden sich zweimal überlegen, ob sie mich genauso ärgern wie dich! Wie heißt du eigentlich?“, erkundigte sich Jens.

Der Junge zögerte: „Nils, ich heiße Nils Brinkmann, und es ist nicht das Mobbing hier im Bus, dass dir Sorgen machen sollte.“

„Was meinst du damit?“, erkundigte sich Jens erstaunt.

Nils druckste herum, schien zu überlegen, ob er überhaupt antworten sollte, schließlich seufzte er leise.

„Du wirst es so oder so erfahren. Also gut, auch wenn du dich dann direkt wieder weg setzt. Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, warum ausgerechnet ich, bei all den Schülern im Bus immer das Opfer bin?“

Stumm schüttelte Jens den Kopf. Das hatte er in der Tat noch nie getan, er hatte es einfach als gegeben hingenommen.

„Als ich mit meinen Eltern letzten Sommer ins Nachbardorf gezogen bin, hat mein Freund mich dort besucht.“

„Ja und? Ist doch egal, ich krieg ständig Besuch von Freunden, wenn ich deswegen jedes mal gemobbt würde ...!“, antwortete Jens verständnislos und dachte an die vielen Besuche seiner Teamkameraden, weil sie so manchen Sieg bei ihm auf dem Hof gefeiert hatten. Es bot sich einfach an: Außerhalb, niemanden den man stören könnte, Lagerfeuer, grillen, Trinkgelage mit anschließender Übernachtung in der Scheune …

Nils sah ihm intensiv in die Augen: „Auch wenn du Hand in Hand mit ihm über die Dorfstraße schlenderst?“

Jens zuckte wie unter einem Schlag zusammen, starrte den anderen Jungen wie hypnotisiert an, ehe er aufsprang und tatsächlich flüchtete.

Der Einschlag dieses besonderen Meteoriten war zu nahe.

 

 

Am nächsten Tag wartete Jens bereits ungeduldig auf den Bus. Sein Herz klopfte so heftig, als wäre er den Kilometer vom Hof bis zur Haltestelle gerannt. Als der Bus in Sicht kam, wischte er in einer fahrigen Bewegung seine schwitzigen Hände an seiner Jeans ab und zog dann sein Busticket aus dem Seitenfach seiner Schultasche.

Er wusste genau, was er tun wollte, aber würde er auch den Mut haben seinen Plan durchzuziehen?

Endlich hielt der Bus mit quietschenden Bremsen und die Türen öffneten sich mit dem pneumatischen Röcheln alter Druckluftventile. Kurz hob Jens sein Ticket, damit der Fahrer es sehen konnte, dann huschten seine Augen schon durch den Bus, auf der Suche nach Nils.

Der saß auf der linken Seite der beiden parallelen Sitzreihen, dem gleichen Platz wie am Tag zuvor, doch er beachtete den einsteigenden Jens nicht.

Sein Blick ruhte angestrengt auf dem flachen, noch winterlich leblose Feld, gegenüber der Bushaltestelle, als gäbe es in der ganzen, weiten Welt nichts Interessanteres zu sehen, als das dunkle Braun der nassen Erde und die kahlen Bäume am anderen Ende des Feldes. Jens bemerkte die verkrampfte Haltung des anderen Jungen, bemerkte die bebenden Hände, die sich auf die Oberschenkeln pressten bei dem Versuch Gelassenheit zu demonstrieren und er registrierte sehr wohl den nassen Fleck auf Nils beiger Daunenjacke.

In Jens fing etwas an zu brodeln. Seine Augen suchten automatisch die letzte Sitzreihe. Natürlich ... die üblichen Verdächtigen.

Kichernd und sich gegenseitig mit den Ellenbogen anstoßend flachsten die Jugendlichen während ihre derben Sprüche bis zu Jens zu vernehmen waren.

Er wandte sich ab, setzte sich still zu dem Jungen, der noch immer nicht zu ihm hinüber sah.

„Es tut mir leid!“, sagte er leise.

Erst schien es, als wollte Nils nicht auf ihn reagieren, dann endlich drehte er seinen Kopf und sah Jens an. Der sah sich einem Jungen gegenüber der sich anstrengte, den Tränen in seinen Augen, der Trauer und Scham die in seiner Stimme mitschwangen keinen Raum zu geben.

„Was? Dass du gestern getürmt bist, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, oder das die Idioten aus der letzten Reihe wieder ihren Spaß mit mir hatten?“

„Beides … vermutlich!“ Mehr Worte brachte Jens gerade nicht über die Lippen, denn auch seine Stimme war plötzlich rau und belegt, während Mitleid seinen Hals eng machte.

Er ahnte … nein, er wusste, dass Mitleid, das Letzte war, was Nils wollte. Er wollte einfach nur Mensch sein, einfach nur wahrgenommen werden, als das was er war und nicht nur dumpf auf das reduziert werden, was er mit wem im Bett trieb. Es sollte egal sein. Andere Paare gingen auch Hand in Hand spazieren und mussten sich nicht rechtfertigen oder Repressalien fürchten. Es war nicht gerecht!

Und obwohl Jens sich dessen bewusst war, tobte gleichzeitig eine fürchterliche Angst in ihm. Er setzte sich hier neben einem Jungen, der offiziell als schwul geoutet war. Jens kannte die Gerüchteküche, wusste, wie schnell die Buschtrommeln in den Dörfern Nachrichten verbreiteten. Würde auch er dermaßen im Fadenkreuz stehen, wie Nils? Oder würde er es einfacher haben, weil er selbst hier aufgewachsen war, ihn jeder kannte, während Nils nur ein Zugereister war? Würde die pure Präsenz des Jungen neben ihm reichen um ihn, Jens selbst, in die gleiche Schublade zu stecken in die Nils bereits abgeschoben worden war?

Er schauderte, als sich die Konsequenzen seines Tuns in sein Bewusstsein schoben. Die unausgegorene Gedanken der letzten Wochen rasteten, wie ein Zahnrad plötzlich hörbar ein. Jens Fluchtinstinkt wollte ihn aus dieser Bank führen, fort von Nils, wollte notfalls lieber zwischen den Grundschülern stehen, als hier sitzen zu bleiben und der Dinge zu harren, die da unweigerlich auf ihn zukommen würden.

Er atmete tief durch.

Nein!

Seine Eltern hatten ihn nicht zum Feigling erzogen.

Plötzlich wurde er sich der Aufmerksamkeit Nils bewusst. Ein Erkennen, ein Wissen lag in den dunklen Augen.

Ein Wispern, kaum zu verstehen in dem Lärm, der sie umgab.

„Bist du sicher? Noch kannst du zurück. Du kannst lügen, oder verschweigen. Ich weiß nicht, ob ich mich noch einmal outen würde … hier!“ Nils Kinn wies auf die Sitzreihe vor ihm, doch die Intention war deutlich.

Hier, auf dem Lande! Hier, bei kleingeistigen Mitschülern und Nachbarn. Waren denn wirklich alle so?

Wenn ein Herz jemals in der Lage war das enge Gefängnis eines Brustkorbs zu sprengen, dann würde das Herz von Jens dies jeden Augenblick tun. Es trommelte und schlug wie verrückt, sein Puls dröhnte als hörbarer Schlag gegen sein Trommelfell. Es machte ihn schwindelig und einen Moment befürchtete er keine Luft mehr zu bekommen.

Die Versuchung war groß, es wäre definitiv leichter! Doch …

… wäre es das wirklich? Nie der zu sein, der man war? Theater spielen, dem imaginären, möglichen Traummann nur verstohlen hinterher sehen können. Womöglich eine Alibifreundin haben, weil es einfacher schien ein Schauspiel zu bieten, statt durch das zu erwartende Tal der Tränen zu waten? War es das wert?

Jens Gedanken muteten an, wie ein Knäuel Wolle mit dem eine Katze gespielt hatte. Durcheinander, verfilzt und egal an welchem Ende er zog, es ließ sich nicht entwirren. Es gab keine gerade vorgegebene Schnur, an der er sich entlang hangeln konnte.

Nils beobachtet ihn genau, diesmal war das Mitgefühl auf seiner Seite. Jens konnte sehen, dass auch Nils diese Angst kannte, das Wirrwarr der Gedanken. Das Gefühl in eine Falle geraten zu sein. Aber Nils kannte auch die Erleichterung, wenn man in der unmittelbaren Umgebung nicht mehr vorgeben musste jemand zu sein, der man einfach nicht war.

Einen kurzen Moment legte Nils teilnahmsvoll seine Hand auf Jens Arm. Zu sich zu stehen, vor aller Welt, vor den Augen von Familie, Freunden und Nachbarn – das war eine Entscheidung, die Jens niemand abnehmen konnte, die er ganz alleine treffen musste.

 

 

Jens Atem ging schwer, war zu laut und zu hektisch für diese Umgebung.

Alle in der letzten Zeit verdrängten Gedanken brachen nun mit aller Gewalt über ihn herein.

Das Für und Wider seiner Gedanken brachte ihn beinahe um den Verstand.

Warum war es überhaupt nötig so etwas zu thematisieren? Er hatte noch keinen seiner Mitschüler oder Teamkameraden sagen hören „Du, ich muss dir mal was sagen … ich bin hetero!“

Sollte er wirklich?

Ja! Nein! Oder doch? Vielleicht besser nicht?

Verdammt!

„Was … wie haben deine Eltern reagiert?“, flüsterte er fragend, einer seiner Ängste nachgebend.

„Wir kommen aus der Großstadt. Klar waren sie am Anfang nicht glücklich, aber irgendwann war es ihnen wichtiger, dass ich glücklich bin. Und sie mögen Karsten, meinen Freund! Ich bin in einem halben Jahr eh hier weg. Was meinst du wohl, warum sie mich Streber und Nerd nennen? Ich pauke wie verrückt, ich will Medizin studieren. Karsten und ich suchen schon nach einer gemeinsamen Wohnung! Aber was ist mit dir? Haust du auch ab?“

Stumm schüttelte Jens den Kopf.

Zischend zog Nils Luft zwischen den Zähnen.

„Du übernimmst den Hof deiner Eltern? Das macht es schwieriger!“

Sie schwiegen eine Weile, während der Bus im nächsten Dorf hielt und wieder eine Handvoll Schüler den Bus enterten. Das Gedränge und Geschubse nahm zu, beinahe war Jens erleichtert, dass sie als Nächstes die Haltestelle seiner Schule erreichen würden. Seine Freunde und Jahrgangskollegen würden ihn ablenken und vielleicht seine Grübeleien verhindern. Seine Gedanken mussten offen abzulesen sein, denn Nils sagte leise: „Du weißt, dass es nicht wirklich hilft zu verdrängen, oder?“

Natürlich wusste Jens es, aber eine Lösung seines Problems war nicht zu erkennen. Im Endeffekt gab es kein dazwischen, keine Grautöne, sondern tatsächlich nur schwarz oder weiß. Ins kalte Wasser springen und schwimmen lernen oder auf dem Trockenen bleiben. Entweder hatte er den Mut sich zu outen, oder er würde eine Lüge leben, zumindest noch eine Zeit lang bis …

Tja, bis? Wie lange? Wann würde er sich jemals stark genug fühlen den Kommentaren gewappnet zu sein? Vielleicht würde auch gar nichts geschehen? Vielleicht würden es ja alle einfach akzeptieren? Aber wenn er sich den großen nassen Fleck auf Nils Jacke ansah, wusste er, so einfach würde es nicht sein.

Aufstöhnend vergrub er den Kopf in den Händen.

In seiner Fantasie spielten sich Horrorszenarien. Warum neigten die Menschen eigentlich dazu immer nur das Schlimmste anzunehmen? Hatte er nicht selbst in seinen jungen Jahren schon gelernt, dass es nie so arg kam, wie man es befürchtet hatte? Jens wusste, er würde niemals sein Elternhaus verlieren! Seine Eltern liebten ihn, da gab es keine Zweifel und daran war nichts zu rütteln. Sicher, ein paar Spacken, wie die Idioten hinter ihm, würde es immer geben, aber sollte er von diesem pubertären Verhalten tatsächlich seine Zukunft abhängig machen? Wie sagte seine Mutter immer? „Es wird nie etwas so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“

Aber was war mit seinen Teamkameraden, dem gemeinsamen Duschen nach den Spielen, den Abenden in der Scheune, dem Balgen und Ringen, das einfach dazu gehörte. Würden sie plötzlich alle auf Abstand gehen? Würden sie seinen Berührungen, die bisher normal waren plötzlich eine Bedeutung zumessen, die sie nie hatten?

Jäh spürte er, wie Nils ihn leicht am Arm schüttelte. „Jens, wir sind da!“

Jens seufzte erleichtert.

Eine Gnadenfrist, ein Aufschub - oder eine Verneinung?

 

Wegen einer Lehrerkonferenz fielen die Nachmittagsstunden aus.

Der Bus war angenehm leer, da die Grundschüler schon lange zu Hause waren.

Wie selbstverständlich setzte Jens sich wieder zu Nils, als er sah, dass dieser ebenfalls mit dem gleichen Bus heimfuhr.

Von hinten war Getuschel zu vernehmen. Dann Gekicher und Jens meinte den Ausdruck Schwanzlutscher zu hören. Es kostete ihn Mühe nicht zusammenzuzucken.

Leise flüsterte Nils: „Lass es nicht an dich ran, du musst dir ein dickeres Fell zu legen. Manchmal denke ich, da spielt der pure Neid eine unausgegorene Rolle. Gerade der mit der dunkelblauen Jacke, der, der immer am Lautesten ist. Bei dem habe ich schon öfters das Gefühl gehabt, er würde es zu gerne mal selbst ausprobieren.“

Jens warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter und erwischte den eben Beschriebenen bei einem intensiven Starren. Täuschte er sich oder spiegelten diese Augen die gleiche Verwirrung wieder, die auch er fühlte? Abrupt wandte der Junge in der blauen Jacke sich um, sprach mit hämischem Gesichtsausdruck mit dem Jungen, der neben ihm saß und machte dann eine obszöne Geste in dem er mit seiner Zunge rhythmisch gegen das Innere seiner Wange stieß und seine Hand vor seinem Mund hin und her bewegte.

„Und? Bist du zu einem Entschluss gekommen?“, hörte er Nils fragen.

„Vielleicht wartest du einfach noch ein bisschen. Ich meine, es ist doch gerade nicht zwingend nötig. Du hast keinen Freund, den du verheimlichen müsstest, oder?“

Jens schüttelte den Kopf. Nein, hatte er nicht, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ihm selbst nicht nur darum ging zu einem Partner zu stehen, sondern mehr noch zu sich selbst.

Wieder breitete sich das Gefühl des Zerrissenseins in ihm aus und er fühlte sich unendlich müde.

Seine Gedanken sprangen ununterbrochen zwischen zwei entgegengesetzten Polen hin und her.

Wie das Pendel einer Uhr, doch statt Tick-Tack hörte Jens immer nur Ja - Nein.

„Hör zu!“, sagte Nils eindringlich. „Mach es dir nicht so schwer, wenn du soweit bist, wirst du es wissen. Quäl dich nicht so rum! Wegen mir musst du das nicht tun. Ich bin bisher alleine klar gekommen und werde es auch weiterhin tun!“

Mit einem Mal fiel die Spannung von Jens ab. Nein, für Nils würde er es nicht tun müssen.

Plötzlich hallte eine Stimme von hinten laut durch den Bus.

„Hey, Jens! Du weißt, dass du neben einem Schwanzlutscher sitzt? Vielleicht setzt du dich besser zu uns, damit du dich nicht ansteckst mit dem Schwulsein!“

Abrupt stand Jens auf, sah noch einen Augenblick in die traurigen Augen Nils, der ihm leise zuflüsterte: „Es ist okay!“

Gelassen schlenderte Jens zur hinteren Sitzbank, musterte die Jungen die ihm neugierig entgegensahen, streckte dann eine Hand aus und zog den Jungen in der blauen Jacke am Kragen zu sich hoch und sagte laut und deutlich.

„Pass auf Junge, vielleicht ist es wirklich ansteckend, denn ich bin schon infiziert. Aber es ist interessant zu wissen, dass du meinen Namen kennst, während ich bis eben noch nicht einmal wusste, dass du existierst. Und sprich mich nie wieder so dämlich von der Seite an, du solltest dir eine besser Anmache einfallen lassen“

Mit einem fiesen Grinsen zog er den Jungen noch näher an sich heran, küsste ihn vor aller Augen kurz auf dem Mund und sagte: „Ich bin echt schon auf die Inkubationszeit gespannt!“

Dann ging Jens zurück zu seinem Platz. Dort erwartete ihn bereits der lächelnde Nils. Jens grinste zurück, setzte sich, schloss die Augen und ließ die Zukunft einfach auf sich zu kommen.

 

Ende

Impressum

Texte: Barbara Corsten
Bildmaterialien: pixabay Bru-nO
Lektorat: Steffie Rick
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2018

Alle Rechte vorbehalten

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