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Dancing on my own

 

 

 

 

Das Wohnzimmer versank bereits in Finsternis, als mein Handy klingelte. Irgendwann in den Mittagsstunden hatte ich mich mit einer Flasche Whisky auf mein Sofa verzogen und der Zeit beim Verstreichen zugesehen. Dass es dunkel geworden war, hatte ich dabei noch nicht einmal bemerkt.

Für einige Sekunden drehte ich das halbleere Glas noch zwischen meinen Händen, unsicher, ob ich das Gespräch annehmen sollte.

Mir war nicht nach Unterhaltung, oder einem ernsthaften Gespräch. Schon lange nicht mehr.

Genau genommen seit drei Monaten, vier Tagen, elf Stunden und vierunddreißig Minuten. Mit einem Blick auf meine Uhr korrigierte ich mich. Es waren jetzt drei Monate, vier Tage, elf Stunden und fünfunddreißig Minuten.

Zu dieser Zeit hatte er die Tür zu unserer Wohnung zum letzten Mal hinter sich zugezogen und entgegen meiner Prophezeiung, die ich ihm hinterherrief, war er nicht zu mir zurückgekommen.

Ich wusste es damals schon, aber Arschloch bleibt Arschloch und ich konnte nicht aus meiner Haut. Anstatt ihm hinterherzulaufen und ihn anzuflehen, mir zu vergeben, es noch einmal mit mir zu versuchen, ließ ich ihn gehen.

Das ständige Läuten des Telefons nervte. Mit einem tiefen Atemzug nahm ich das Gespräch entgegen, immerhin bestand ein winziger Funken Hoffnung, dass er es sein könnte. Ich verwehrte mir den Blick auf das Display, um der Hoffnung wenigstens noch für kostbare Augenblicke Nahrung zu geben.

Natürlich war er es nicht. Warum sollte er auch? Der Abschied damals war endgültig. Das hatte er mehr als deutlich gemacht. Ich dummer Idiot, was sollte dieses dämliche Herzklopfen?

Achim begrüßte mich am anderen Ende der Leitung.

„Ben? Bist du dran?“ Im Hintergrund war laute Musik, das Hämmern von Bässen zu hören und das Gewirr vieler Stimmen.

Eine dumme Frage, wer sollte sonst an mein Telefon gehen? Doch ich musste Achim zugutehalten, dass ich mich nicht meldete, sondern nur das kleine grüne Symbol berührt hatte, welches das Gespräch annahm, um dann beinahe atemlos der Stimme zu lauschen. Ich mochte Achim, mochte ihn wirklich. Er war einer meiner ältesten Freunde, einer, der wusste warum ich so war, wie ich war. Aber es tat weh, seine Stimme zu hören, wenn das ganzes Sein nach einer anderen lechzte. Mutter hatte immer missbilligend die Stirn gerunzelt, wenn Achim bei mir war und von einem Schmuddelkind gesprochen. Er durfte nie ins Haus, wir hatten den riesigen Garten und das reichte uns.

Ich räusperte den Kloß aus meiner Kehle, versuchte, die Enttäuschung aus meiner Stimme herauszuhalten. Doch im Grunde war es egal, so egal, wie viele andere Dinge mir neuerdings waren.

„Ja, bin dran!“, antwortete ich nicht gerade eloquent und war erstaunt, wie sehr die Zigaretten und der Whiskykonsum der letzten Zeit meine Stimme angeraut hatten.

Wann hatte ich das letzte Mal mit jemandem gesprochen?

Ich überlegte. Vor vier Wochen hatte ich meiner Haushälterin Frau Heinrich gekündigt, als sie in einem von mir nicht erbetenem Anfall von Helfersyndrom versucht hatte, meine Alkoholvorräte zu beseitigen, die Fenster weit aufriss und anfing mir – wie sie es nannte – die Leviten zu lesen.

Ich brauchte keine ungebetene Einmischung, ich brauchte niemanden, der mich an die Hand nahm und mich führte. Brauchte es noch nie. Dafür hatte meine Mutter mit ihrer strengen Erziehung gesorgt.

Also sorgte ich dafür, dass es so blieb.

„Ben, hör zu!“, hörte ich Achim zögerlich sagen. „Ich bin im Babylon und ...!“

„Hab keine Lust zum ausgehen“, unterbrach ich ihn rüde.

„Das ... das ist gerade heute eventuell ganz gut“, antwortete er, ohne auf meine Unhöflichkeit einzugehen. „Laurie ist hier und ... er ist nicht allein. Wie es aussieht hat er einen Neuen. Es tut mir leid, Ben.“

Seine Stimme wurde so leise, dass ich ihn zum Schluss gegen den Lärm im Hintergrund kaum mehr verstehen konnte.

Für einen Moment ließ ich das Handy sinken und starrte ziellos vor mich hin.

Laurenz, genannt Laurie.

Mein Laurie.

Nein, jetzt nicht mehr.

Es tat weh, mehr als erwartet.

Dann legte sich ein Schalter in mir um und ich hörte plötzlich die Stimme meiner Mutter im Kopf: „Ich habe es dir gesagt, Ben. Mache dich niemals von irgendjemandem abhängig. Nur allein ist man stark. Lass dir niemals Gefühle anmerken, hörst du? Du lieferst den Menschen nur die Waffe, die sie dann auf dich richten können.“

Die alte Prägung half. Ich richtete mich auf, nahm den kleinen Apparat wieder an mein Ohr.

„Und warum erzählst du mir das, Achim? Er ist gegangen, damit hat sich das Thema für mich erledigt.“

Meine Stimme war kalt, so kalt. Ich fror bei meinem eigenen Ton und, oh, ich log gut.

Das mochte mir bei Laurie gelungen sein, doch Achim kannte mich zu gut.

„Hör auf mit dem Scheiß, Ben! Deshalb vergräbst du dich seit Monaten in deinen vier Wänden? Du hast Glück, dass deine Firma momentan auch ohne dich gut läuft. Du solltest jedoch nicht davon ausgehen, dass es so bleibt. Mensch, Ben, regel deine Angelegenheit! Komm mal wieder klar!“

Ohne ein Wort des Abschieds legte ich auf.

Ich schnaubte leise.

Wieder klarkommen? Oh ja – nach außen bestimmt, irgendwie. Aber nach innen? Wie sollte das funktionieren, ohne Laurie? Die kleine Stimme in meinem Inneren, die mir sagte: ‚Du hättest es ihm vielleicht mal sagen sollen‘, machte es nicht leichter.

Doch ich konnte es nicht, konnte es nie. Egal, wie sehr es mich dazu drängte die berühmten drei Worte auszusprechen.

Ich glaubte immer, dass Worte nicht wichtig waren, dass Taten zählten und überhäufte ihn mit Geschenken. Warum fiel mir nie auf, dass seine Augen aufhörten zu strahlen, sein Dank sich gezwungen anhörte? Der Tag als er ging … seine letzten Worte an mich und dieser traurige, verzweifelte Blick.

Nein, nicht darüber nachdenken.

Ich stand auf, lief durch mein Wohnzimmer immer ein paar Meter vor und wieder zurück. Seit Tagen, seit Wochen. Waren da schon Trittspuren auf dem Parkett zu sehen?

Mir kam ein Auszug aus einem Gedicht von Rilke in den Sinn.

„Der Panther, im Jardin des Plantes, Paris“

 

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

 

Ja, das verdeutlichte mein Inneres perfekt.

Meine Mutter hatte für die Gitterstäbe gesorgt. Eigentlich sollten sie mich schützen – doch in Wahrheit ...

Müßig über vergossene Milch zu grübeln – vergebens.

Laurie, mein Laurie mit jemand anders an seiner Seite.

Mir wollte das Bild nicht in den Kopf.

Das konnte nicht sein.

Das durfte nicht sein. Laurie gehörte zu mir und ...

Ich zu ihm.

Warum konnte ich es erst jetzt zugeben? Warum hatte ich es ihm nie gesagt? Oh, meine Eifersucht war legendär, aber sie war besitzergreifend. Sie machte jedem klar, er ist mein. Nie habe ich ihm gesagt, dass ich ihm genauso gehörte.

Mea culpa.

Ob der Andere es besser machte? Konnte er Laurie so lieben, wie ich ihn liebte? Ich wollte es wissen.

Kurzentschlossen ging ich ins Badezimmer, unter die Dusche, zog mich anschließend um und machte mich auf den Weg ins Babylon. Ein dunkler Himmel begleitete mich. Es gab keine Sterne über meiner Stadt, keinen strahlenden Mond. Das Wetter war seit Tagen beschissen. Wie passend.

Ich konnte getrost an der Warteschlange vorbeigehen. Einer der Vorteile ein VIP zu sein. Ihn hat das nie beeindruckt. Der Türsteher begrüßte mich mit Handschlag. Wir kannten uns.

Sein Boss war einer meiner Auftraggeber und der Eintritt für mich frei.

Man wusste, ich ließ mich nie lumpen. Meist hielt ich die Gruppe, mit der ich da war frei.

Ich bewegte mich durch das schummrige Licht des Eingangsbereiches, drängte mich durch die Menge, Richtung Theke und orderte einen Whisky, damit ich nicht aus der Gewohnheit kam.

Dann fing ich systematisch an zu suchen und wurde erschreckend schnell fündig. Es war ja nicht so, dass Laurie sich vor mir versteckte.

Da war er.

Schön und strahlend wie immer. „He is so fucking adorable!“, dachte ich und sehnte mich mehr denn je.

Laurie lachte, bewegte sich im Takt und zog die Aufmerksamkeit aller Kerle um sich herum auf sich. Wie immer bemerkte er es noch nicht einmal. Als ich ihn beobachtete, lächelte ich automatisch mit. Diese Wirkung hatte er schon immer auf mich gehabt. Er lockerte die Stäbe um mich herum und zeigte mir seine Welt.

Spontan trat ich einen Schritt auf ihn zu. Es tat so gut ihn zu sehen. Die Welt hellte sich auf. Doch dann sah ich den Arm, der sich plötzlich um seine Hüfte legte, sah den Fremden, der ihn an sich heranzog und mit ihm lachte, ihn herumwirbelte – ihn küsste.

Verwirrt sah ich mich um, suchte denjenigen, der mich mit Eiswasser übergossen hatte. Oder hatte mir da gerade jemand einen Schlag in den Magen verpasst?

Doch da war niemand. Nur ich und mein Schmerz.

Egal, das Ergebnis war das Gleiche. Mir blieb die Luft weg.

Mit Mühe hielt ich mich davon ab, mich zusammenzukrümmen. Wieder war es die imaginäre Stimme meiner Mutter, die mich dazu aufrief Haltung zu bewahren.

Wie selbstvergessen, die beiden waren, sie schienen die Welt um sich herum auszublenden.

‚Tut mir leid, Mutter! Ich kann nicht‘, stöhnte ich im Gedanken. Da gab es keine Kraft mehr in mir, die mich dazu bringen konnte, meine Maske aufzubehalten. Plötzlich war ich kein 28-jähriger, eiskalter Geschäftsmann mehr, sondern ein kleiner Junge, der nach Liebe bettelte.

Und weggestoßen wurde. Genauso wie meine Mutter es immer mit mir getan hatte. „Was soll das? Du bringst mir meine Haare durcheinander. Meinst du nicht du bist schon zu groß zum Schmusen?“ Ja – ihre Kommentare hatte ich noch gut im Ohr.

Ihr „Mach dich nicht lächerlich!“, als ich es einmal wagte mich zu beschweren. Ich glaube ich war sechs und gerade in die Schule gekommen.

Oh, aber es wäre zu einfach ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich hätte mich ändern können – vielleicht. Die Programmierung umschreiben, die Kodierung hacken.

Ich kam nicht gegen den Schmerz in mir an. Versteckt in einem Winkel hinter einer Säule schlang ich die Arme um mich, wiegte mich, hielt mich. Kann man tatsächlich physisch auseinanderfallen? Ich wiegte mich schneller, versuchte dem Gefühl zu entkommen.

Ein Bodybuildertyp kam in absoluter Verkennung der Lage zu mir und baggerte mich an.

„Na, Süßer? Musst du schon mit dir selbst tanzen? Komm mit mir, wir legen erst ne heiße Sohle aufs Parkett und dann zeig ich dir den Vertikaltango!“ Er grinste selbstgefällig und ich kotzte ihm meinen teuren Whisky vor die Füße.

Bei allem Elend musste ich über sein Gesicht lachen. Ein Lachen, das weh tat, das mehr an ein Aufheulen erinnerte. Wo war meine Nonchalance, wenn ich sie brauchte?

Vorsichtig entfernte ich mich ein paar Schritte vom Zeugnis meines Niedergangs.

Ständig darauf bedacht, dass Laurie mich nicht sehen konnte, dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, er müsste mich doch hören. Mein Klagen und Jammern. Der Aufschrei, der in meiner Kehle steckte, war so voller Schmerz, dass eigentlich ein Krankenwagen vorfahren müsste. Oder ein Sonderkommando der Polizei den Laden stürmen, wegen des Verdachts von Menschenquälerei.

Den letzten Satz, als er damals ging, vor drei Monaten, mittlerweile fünf Tagen, zwei Stunden und sechzehn Minuten – wollte mir nicht aus dem Sinn. Er war die Schuld, die ich auf mich geladen hatte. Bist du stolz auf mich, Mutter?

„Bitte, Ben! Bitte, sage mir nur einmal, dass ich dir wichtig bin, dass ich dir etwas bedeute!“ Er flehte, bat mich verzweifelt um nur ein paar Worte. „Ich erfriere an deiner Seite.“

Ich konnte nicht, weil ich wusste, es würde mich zerbrechen, wenn ich es sagte und er trotzdem ging. Für mich war immer klar, dass er mich früher oder später verlassen würde. Ich war nie der liebenswerte Typ, ich hatte ihn von Anfang an gewarnt. Aber er meinte, er würde es riskieren, weil er spürte, dass da mehr an mir war. Hätte er mir doch nur geglaubt. Ich wusste es doch besser.

Das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung.

Ich wusste, es würde irgendwann passieren, also legte ich die Grundlagen.

Ein vorsichtiger Blick um die Säule zeigte mir ein Paar, das sich inniglich küsste. Noch immer? Schon wieder? Ein Anblick an den ich mich nie gewöhnen würde. Es war als blicke ich in eine Parallelwelt, in der einige Dinge zwar gleich waren und doch grundsätzlich verschieden.

Einfach falsch.

Der Andere nahm den Kopf zurück, blickte Laurie tief in die Augen und ich las es von seinen Lippen. „Ich liebe dich!“

Ich flüsterte es mit, wiederholte es, wie ein Mantra.

„Ich liebe dich, Laurie, habe dich immer geliebt und ich wünsche dir viel Glück.“

Allein in meiner dunklen Ecke schlang ich wieder die Arme um mich, gab mich einen Augenblick dem Traum hin ... vielleicht ... irgendwann, doch was nicht war, kommt nie zurück. Laurie würde nicht mich mit nach Hause nehmen, sondern ihn, den Anderen. Ich wünschte, ich könnte ihn hassen. Doch mein Unglück hatte ich ganz alleine heraufbeschworen.

Die beiden gingen Hand in Hand von der Tanzfläche Richtung Theke und kamen dabei sehr dicht an mir vorbei. Ich blieb reglos im Schatten der Säule stehen. Doch Laurie sah mich nicht, sein Blick lagen lächelnd im Gesicht seines Begleiters. Die Welt um ihn herum war nicht wichtig, was andere Leute dachten war nicht wichtig. Und wieder wunderte ich mich, dass er mich nicht hörte, oder klang mein Liebesgeständnis in diesem Augenblick nur in meinem Kopf auf? War mein Herz nicht laut genug? Eine wunderbare, schreckliche Sekunde war ich in Versuchung ihn anzusprechen. Wollte einen Schritt auf ihn zu gehen und die Hand des Fremden aus seiner lösen. Und dann? Was konnte ich ihm bieten? Laurie wollte nicht mein Geld, er wollte keine teuren Geschenke. Er wollte nur ein paar Worte. Würde ich je in der Lage sein sie unbefangen auszusprechen?

Der Moment verging. Er sollte nicht mehr frieren müssen. Nie wieder!

Mein Laurie war mir nah, so nah, doch niemals ferner. „Bitte werde glücklich und du“, richtete ich meine Gedanken an den Mann an seiner Seite „tu das, was ich nicht konnte – halte ihn mit beiden Händen, denn das Glück kommt nicht wieder, wenn man es leichtsinnig verspielt.“

Und ich? Ich würde wieder Kreise ziehen, die Welt durch Gitterstäbe betrachten und mich nach Liebe sehnen - nach ihm sehnen. Würde es mir gelingen jemals frei zu sein?

 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf - .Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein.

(Rainer Maria Rilke)

 

 

 

 

Ende

 

 

Impressum

Texte: Babsi Corsten
Lektorat: Melanie Brosowski
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

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