Antes zittrige Finger berührten trockenes Laub und Piniennadeln. Unter seiner ausgestreckten Hand, die zögerlich und beinahe suchend über den Boden glitt, raschelten die toten Blätter des vergangenen Jahres. Als Ante langsam aber sicher wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht auf dem Boden und atmete gezwungenermaßen den erdigen Duft des kleinen, nicht sonderlich dicht bewachsenen Waldstücks ein. In seinen dunklen Locken hatten sich einzelne Nadeln und Blätter verfangen. Bevor er sich auf sich selbst konzentrierte, scannten seine Sinne die Umgebung, doch von seinen Angreifern war nichts mehr zu hören. Jetzt erst erlaubte Ante es sich, den Schmerzen in seinem Körper nachzuspüren. Er horchte in sich hinein.
Nein, diesmal hatte er keine Brüche davongetragen, doch er schmeckte Blut im Mund und fuhr nun prüfend mit der Zunge über seine Zähne. Auch hier schien soweit alles in Ordnung, aber seine Unterlippe war dick aufgeworfen und sein linkes Auge begann bereits zuzuschwellen. Er vermutete, dass er morgen wahrscheinlich aussehen würde, als wäre er durch einen Fleischwolf gedreht worden.
Aus seiner Bauchlage heraus drehte er sich auf die Seite und rollte sich zusammen, die Knie schützend vor die Brust gezogen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper, doch keine Tränen rollten an den verschmutzen Wangen hinab. Tränen zu vergießen hatte er schon lange aufgegeben, sie nutzen nichts, ließen ihn sich nur noch schäbiger fühlen.
Er wünschte sich sehnlichst, diesem Leben zu entkommen, das nur aus Spott und Häme zu bestehen schien. Hier in dem kleinen Fischerdorf war er ein Nichts ... ein Niemand. Die kernigen Männer des Dorfes, gestählt durch Wind, Wetter und harte Arbeit auf den Booten, konnten mit dem zierlichen Jungen und seinen seelenvollen großen, braunen Augen nichts anfangen.
Niemand traute Ante zu, der schweren Arbeit auf einem der Fischkutter gewachsen zu sein. Die Ablehnung der Erwachsenen schlug sich im Spott der Kinder nieder. Zu klein, zu zart, fast wie ein Mädchen! Bereits in der Schule war Ante die Zielscheibe für grausame Späße gewesen. Das besserte sich auch nicht, als die Schulzeit vorüber war. Ganz im Gegenteil, die Attacken wurden brutaler und heimlicher. Man lauerte ihm auf, bevor man ihn auf den Boden schubste, beschimpfte oder verprügelte. Das Wort Schwuchtel war nur wegen seines Aussehens schnell in aller Munde. Ante graute vor dem Tag, an dem der Mob herausfinden würde, wie viel Wahrheit dieses Schimpfwort enthielt.
Ab und an durfte er in einem der vielen Hotels an der Küste arbeiten. Er liebte es, war es für ihn doch eine Flucht aus dem Käfig seines alltäglichen Seins. Er war flink und höflich, die Gäste mochten ihn und steckten ihm oft die eine oder andere Extramünze zu. Außerhalb der Saison war es schwer für Ante den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter zu verdienen.
Sein Vater war auf See geblieben und seine Mutter hatte ihn alleine großgezogen. Sie schuftete schwer, denn das Leben an der Küste war kein Spaziergang, wenn man kein reicher Tourist war. Alles, was man zum Dasein brauchte, musste hart erarbeitet werden. Die kargen Böden gaben nicht viel her und dieses Leben hatte seine Spuren im Gesicht der Mutter hinterlassen sowie ihren Körper gezeichnet.
Sie liebte ihren Sohn sehr, doch ihre pure Existenznot hatte sie hart werden lassen. Es hatte ihr die Märchen aus dem Kopf vertrieben, die sie früher an den Abenden ihrem kleinen Sohn zugeflüstert hatte. Es machte aus ihrem „Ich liebe dich, mein kleiner Ante!“ ein „Hol Feuerholz!“ oder ein „'Geh das Feld umgraben!“
Ante erzählte ihr nie, woher seine häufigen Verletzungen kamen, warum sein einstmals strahlendes Lächeln die Augen nicht mehr erreichte. Jung an Jahren sprachen seine Gestik und seine Mimik eher von einem Menschen, der bereits zu viel erlebt hatte, als dass er den Märchen der Kindheit mit den glücklichen Endungen noch Glauben schenken könnte.
Endlich raffte er sich auf. Leise stöhnend kam er erst auf die Knie, bevor er sich an einem Baum abstützen und hinaufziehen konnte.
Mist, wie es aussah, hatten seine Rippen mal wieder einiges abbekommen. Es würde morgen schwer sein, die Arbeit auf dem kleinen Feld hinter dem Haus zu tun.
Die Begrüßung seiner Mutter war entsprechend.
„Oh, Ante! Hast du dich schon wieder geprügelt? Wo soll das noch mit dir hinführen, Junge?“
Wieder verkniff er sich die Erklärung, dass nicht er es war, der sich geprügelt hatte, er jedoch sehr wohl derjenige war, der Schläge hatte einstecken müssen.
Was sollte es ändern?
Es würde seiner Mutter nur Sorgen bereiten und mit seinen neunzehn Jahren erkannte er sehr richtig, dass es im Leben nicht immer fair zuging und es keinen Zweck hatte, seine Mutter noch mehr aufzureiben, als es ihr Alltag bereits tat.
Er verkroch sich in sein Zimmer, goss etwas Wasser aus einer großen Kanne in die Waschschüssel und säuberte sein Gesicht. Schmerzhaft zuckte er zusammen, als das feuchte Tuch die wunden Stellen berührte.
Warum? Warum musste ausgerechnet sein Leben so furchtbar sein?
Er stützte sich mit beiden Händen auf seinem Waschtisch ab. Sein Kopf sank auf die Brust. Dieser Schmerz in ihm war zu groß, zu intensiv, suchte einen Ausgang und fand ihn nicht.
Seine Zukunft lag grau und trostlos vor ihm. Ein steiniger Weg, ohne überraschende Wendungen und keine Blume, die den eintönigen Weg schmücken könnte. Er sah sich selbst auf diesem Pfad, in dem die Vergangenheit genau die gleiche, leblose Einöde war, wie der Weg, der vor ihm lag.
Sollte das sein ganzes Leben sein?
Unter der Last seiner Gedanken brach er in die Knie.
Hatte nicht jeder Mensch wenigstens ein bisschen Hoffnung verdient? Ein bisschen Licht, das den Weg erhellte?
Wo war sein Licht, seine Hoffnung?
Gab es denn keine Abzweigung, keinen Stopp auf diesen so vorhersehbaren Weg?
Plötzlich bekam Ante keine Luft mehr.
Er musste hier hinaus, raus ans Meer, musste die Wellen hören, den Wind spüren, damit er das Leben in sich fühlen konnte.
Er rannte hinaus, die Gasse herunter, am Hafen vorbei und den Hang hinauf, bis er mit stechender Lunge sowie heftigen Herzklopfen endlich oben am Kliff stand.
Seine Augen erfassten das unendliche Blau, suchten die dünne Linie, an der sich Wasser und Himmel vereinten. Während der Wind an seinen Locken zerrte, sog Ante immer und immer wieder die salzige Luft ein und langsam, ganz langsam kam er zur Ruhe. Obwohl seine Rippen dabei schmerzten als wollten sie ihn zerreißen, beruhigten die Ruhe und die Abgeschiedenheit sein aufgewühltes Gemüt.
Und endlich flossen die Tränen, denen er sich seit langer Zeit erwehrte.
Sie trösteten nicht, löschten nicht den Kummer, doch schufen sie immerhin ein Ventil.
Als Ante plötzlich Stimmen vernahm, von Personen, die den steilen Hang hinaufkamen, versteckte er sich in einem dichten Ginsterbusch. Dass seine Kleidung dabei immer wieder an den Dornen hängen blieb und er seine Arme und Hände zerkratze war nebensächlich, denn er kannte die Stimmen.
Die relativ tiefe Stimme gehörte Dario. Die Antwort auf das gerade Gesagte kam ohne jeden Zweifel von Joso. Der spöttische Tonfall war unverkennbar. Über Antes Arme zog sich eine Gänsehaut. Zu oft war er das Opfer nicht nur dessen Spotts geworden. Josos Fäuste waren hart und schwielig von der Arbeit auf dem Boot seines Vaters und er wusste sie einzusetzen.
Die dritte Stimme konnte Ante nicht direkt einordnen. Leise und ruhig fielen Worte in die Gruppe, die die beiden anderen zum Verstummen brachten.
Ante wagte einen vorsichtigen Blick.
Behutsam schob er einige Äste zur Seite und sah direkt in die beinahe schwarzen Augen von Kristijan.
Ante erstarrte.
Entdeckt!
Er war entdeckt, dabei hatte er doch heute schon genug Prügel von Joso und Dario eingesteckt. Noch eine Runde würde er nicht durchstehen. Zu Hilfe würde ihm sowieso niemand kommen. Das passierte nie! Bestenfalls sahen die Menschen zur Seite, sahen weg, als würden sie die gewaltsamen Übergriffe nichts angehen. Als würde es sie nicht interessieren, dass einer ihrer Mitmenschen blutig geschlagen wurde.
Ja! Das Leben ist hart, Kleiner! Schluck es oder stirb! Ante sah die Gedanken in den Augen der Leute, las es als leuchtende Schrift auf ihrer Stirn.
Und er schluckte es, schluckte solange bis sein Hals schmerzte, sich sein Herz zusammenzog und sein Magen verkrampfte.
Noch immer sahen ihn die schwarzen Augen an, bemerkten seinen wunden Blick, registrierten die Blessuren. Und beinahe unmerklich schüttelte Kristijan den Kopf, machte ein vages Zeichen der Beruhigung.
Unendlich vorsichtig ließ Ante die Zweige wieder los, wartete auf den Schrei und auf die Hände, die ihn aus seinem Versteck zerren würden. Aber alles was er wahrnahm war die ruhige Stimme Kristijans, der Dario und Joso zum Strand locken wollte.
Sofort protestierten die beiden.
„Du hast uns versprochen, du springst heute für uns“, keifte Joso.
Kristijans Blick streifte die Büsche, ging zurück zu seinen Freunden, bevor er schließlich nachgab.
„Okay, aber nur ein Sprung und danach treffen wie uns am Strand. Ich hab Lust auf ein Lagerfeuer, ein paar hübsche Touristinnen und ein Bier.“
Die beiden anderen Jungen johlten, stimmten zu und sahen ehrfürchtig zu, wie der große, kräftige Junge sich sprungbereit machte.
Kristijan war eine lokale Berühmtheit. Er arbeitete nicht als Fischer. Seinem Vater gehörte die kleine Fabrik am Rande des Dorfes, die den gefangenen Fisch weiter verarbeitete. Kristijan, hatte eine höhere Schule besucht und er, als Einziger sprang die höchste Klippe hinab. Wunderschön, jeden Muskel gestreckt, schwerelos wie ein Vogel, während des Fluges. Elegant und geschmeidig, wie ein Delfin im Wasser.
Wenn Kristijan von der hohen Klippe sprang, wurde es überall angekündigt. Das Dorf machte Werbung mit ihm, damit aus der Umgebung zahlende Gäste herkamen und ihre Devisen daließen.
Dass er heute nur zum eigenen Vergnügen und dem der anderen Jungen sprang, war selten. Meist nutzten sie dafür die flacheren Klippen, die nicht so gefährlich waren. Ein falscher Schritt und ein Absprung, der nicht weit genug vom Rande wegführte, konnte tödlich sein.
Sorgfältig bereitete Kristijan sich vor, wärmte seine Muskulatur, streckte und reckte seine Sehnen und Gelenke, dann trat er näher an den Rand.
Über die Schulter rief er: „Bringt mir meine Sachen mit! Hab keine Lust heute Abend ohne Schuhe nach Hause zu kommen.“
Unisono nickten Dario und Joso, traten nun ebenfalls näher an den Abgrund, um den Flug und das Abtauchen beobachten zu können.
Noch einmal holte Kristijan tief Luft und sprang dann mit einem gewaltigen Satz ab. Die kräftigen Muskeln unter seiner Haut spielten im Licht, sein Körper schien einen Moment zu schweben, bis er der Schwerkraft nachgab und nach unten verschwand. Elegant veränderte er die Flugbahn, brachte seinen Kopf zuerst nach unten und nahm die Hände nach vorn, um das Eintauchen abzufedern.
Die beiden anderen Jungen riefen und klatschten, so dass Ante ahnte, dass Kristijan gut angekommen war. Schon stoben Dario und Joso davon, nicht ohne die abgelegten Kleidungstücke aufzusammeln.
Einen Augenblick blieb Ante noch in seinem Gebüsch, kämpfte sich dann hinaus und trat an den Rand der Klippe. Sein Blick fiel nach unten, dorthin, wo Krisitjan sich gerade kletternd an den Klippen vorbei, Richtung Strand kämpfte.
Täuschte Ante sich oder sah Kristijan gerade zu ihm herauf? Die Entfernung machte nichts sicher, möglich war alles. Aber warum sollte der andere Junge das tun? Er war niemand, ein ängstlicher Niemand, für den sich auch niemand interessierte.
Endlich war er wieder alleine hier oben, doch Ruhe wollte sich nicht mehr in Antes Herz einschleichen. Er blieb dennoch. Wo sollte er auch sonst hin?
Drei Stunden später, die Sonne war gerade untergegangen, schrak Ante auf, als eine Stimme ihn ansprach.
„Du bist noch immer hier? Ich hatte es gehofft, weil ich mit dir reden wollte.“
Kristijan!
Sofort hob er beschwichtigend die Hände, als Antes Körper seinen Fluchtinstinkt verriet.
„Hab keine Angst! Ich habe dir noch nie etwas getan und ich werde dir niemals etwas tun.“
Ante ließ sich wieder zurücksinken, lag mit dem Rücken im Gras und beobachtete den dunkler werdenden Himmel.
Es stimmte, Kristijan hatte ihm wirklich noch niemals wehgetan, und zudem war er eh größer und wahrscheinlich wesentlich schneller als Ante. Was sollte eine Flucht also für einen Zweck haben? Aber was wollte er nun von ihm? Seine Frage wurde umgehend beantwortet. „Warum lässt du dir so viel von den anderen gefallen? Weise sie in ihre Schranken, dann lassen sie dich in Ruhe!“
Ante schnaubte leise. Sich wehren? Lächerlich!
Kristijan deutete seine nonverbale Antwort richtig. „Weißt du, körperliche Kraft ist nicht alles. Zeig ihnen, was in dir steckt. Mach sie mundtot mit deinen Antworten und mit deinen Handlungen. Sei du selbst und versteck dich nicht ... so wie heute!“
„So wie heute? Hast du mich mal genau angesehen? Josos Fäuste hätte ich heute kein zweites Mal ertragen. Irgendwann schlägt er mich tot.“
„Weil du ein leichtes Opfer bist. Mach ihm klar, dass du ein fühlender, schmerzempfindender Mensch bist ... Mit allen Hoffnungen und Träumen, die auch er hat.“
Träume, welche Träume? Ante antwortete nicht, sondern floh. Floh vor der winzigen Hoffnung, die diese Worte geweckt hatten. Floh vor der Gegenwart Kristijans, die bei ihm Herzklopfen verursachte und floh vor der vagen Chance seinem Leben eine andere Richtung geben zu können. Seine Angst saß zu tief!
Die Worte blieben jedoch in seinem Herzen, setzten eine Saat, die bereit war aufzublühen, wenn man sie denn ließe.
Einige Wochen später war es wieder so weit. Große Plakate verkündeten den nächsten sensationellen Sprung, des bekannten Klippenspringers, Kristijan Vucovics. Einige Charterboote brachten die Touristen hinaus zur Klippe, wo sie das Spektakel vom Wasser aus beobachten konnten. Andere Touristen und Einheimische wiederum sammelten sich oben auf der Klippe, beobachteten den athletischen jungen Mann, der konzentriert seine Vorbereitungen traf. Auch Ante war vor Ort, wollte sehen, wie der Junge, der seit Tagen sein Herz beschäftigte, sprang. Sein Lächeln verblasste abrupt, als eine nur zu bekannte Stimme hinter ihm sagte: „Na, Ante? Jetzt sag nicht, du wolltest auch mal springen? Aber was sag ich da? Kleine Schwuchteln wie du, finden niemals den Mut dazu.“ Schon krallte sich eine Hand in sein Haar, wirbelte ihn herum und ein Schwinger landete in seinem Bauch. „Starr Kristijan nicht so gierig an, sonst steche ich dir die Augen aus, verstanden?“, zischte Joso ihn an.
Der nächste Schlag traf sein Kinn, weil Ante sich vor Schmerz zusammengekrümmt hatte. Fest schlugen seine Zähne aufeinander. Ein Zahn brach beinahe, Ante konnte es spüren.
Was hatte Kristijan hier oben gesagt? Joso sei ein Mensch mit Träumen? Dann wollte Ante keine Träume haben, denn so ein Mensch wollte er nicht sein und träumen tat er selbst schon lange nicht mehr. Zugegeben ... die letzten Tage und Nächte geisterte öfters ein bestimmtes Gesicht durch seinen Verstand, doch waren das schon Träume? Und nein, ganz bestimmt keine Hoffnung!
Er riss sich los, spuckte Joso mit Blut vermengten Speichel ins Gesicht und rannte dann auf die Klippe zu, an einen erstaunt blickenden Kristijan vorbei.
Schnell entledigte er sich seines Shirts, streifte die Sandalen von den Füßen und warf einen Blick zurück. Joso war knapp hinter ihm und seine Miene kündigte einen Mord an. Als er allerdings sah, wie dicht Ante vor der Kante der Klippe stand, glitt ein höhnisches Lächeln über sein Gesicht.„Das traust du Ratte dich sowieso nicht!“
Ante nahm ihn nicht mehr wahr. Sein Blick war gefangen von Kristijans Augen.
„Tu es nicht, Ante! Es wird dich dein Leben kosten! Bitte, Ante, spring nicht!“
Ein süßes Lächeln, voller tiefster Traurigkeit, glitt über das hübsche Gesicht des Jungen, den man einmal zu oft grausam gequält hatte.
„Du hast selbst gesagt, überzeuge sie mit deinen Taten. Weißt du, viel zu lange lag mein Weg in grau gezeichnet vor mir. Ich habe eine Abzweigung gefunden. Ich weiß nur noch nicht, wohin sie führt.“
Joso skandierte: „Spring, spring, spring …“, während Kristijan einen verzweifelten Satz nach vorne machte.
Noch einmal schenkte Ante ihm ein herzerweichendes Lächeln. Bevor ihn Kristijan jedoch erreichen konnte, streckte er seinen Körper, hob die Arme - so wie er es bei Kristijan gesehen hatte - in die Luft und sprang …
Für Ante fühlte es sich einen winzigen Augenblick tatsächlich wie fliegen an. Er war schwerelos … endlich frei!
Dann zerrte ihn die Schwerkraft mit aller Macht nach unten. Das Wasser kam, einer Betonwand gleich, in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu. Dennoch fühlte Ante keine Angst.
Eher eine gewisse Neugierde, wie dieses Wagnis enden würde.
Immerhin schaffte er es sich zu drehen und mit den Füßen voran einzutauchen. Da sein Körper ein wenig Übergewicht nach hinten bekam, schlug er dennoch heftig mit dem Rücken auf der Wasseroberfläche auf, so dass es ihm auch noch die letzte Luft aus den Lungen presste und er wie betäubt den Luftblasen nachsah, die seine Atemluft unter Wasser zauberte.
Interessiert beobachtete er das Licht der Sonne über sich, sah, wie es Speerspitzen gleich ins Wasser stach. Helle Strahlen, die sich mit jedem Meter weiter verloren, während er tiefer sank.
Seltsam, er war schon oft getaucht, war alleine große Stücke ins Meer hinausgeschwommen, doch nie hatte er bewusst darauf geachtet, wie anders die Wellen aussahen, wenn man sie von unten betrachtete. Eine außergewöhnliche, eine ganz eigene, faszinierende Schönheit, die Ante mit Staunen erfüllte.
Noch immer machte er keine einzige Bewegung, die ihn nach oben und an die Oberfläche bringen würde.
Selbst als seine Atemnot zu groß, der Drang einfach einzuatmen unwiderstehlich wurde, bewegte er weder Arme noch Beine.
Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, verdichteten sich zu einer Woge aus Dunkelheit, die alles Licht verschluckte.
Ante gab sich ihr hin, ja, er lächelte sogar. Warum sollte er sich gegen das Unvermeidliche wehren? Es war einfacher, es nicht zu tun!
Das Nächste, das er spürte, war ein unglaublicher Druck auf seinem Brustkorb, der sich verstärkte, nachließ, wieder verstärkte, immer und immer wieder. Ein lautes Summen klang in seinen Ohren und erst nach und nach erkannte er, es waren Stimmen, die durcheinanderriefen, miteinander redeten, auf ihn einredeten - der Konsens menschlicher Sprache in einem beinahe babylonischen Gewirr.
Da war eine Stimme direkt an seinem Ohr, die er kannte, die er mochte. Die einzige Stimme, die ihm keine Angst machte. Warum konnte diese Stimme ihn nicht in Ruhe lassen? Warum forderte sie ihn wieder und wieder auf, etwas zu tun, dass er nicht wollte? Ante war müde und, nein, er wollte die Augen ganz bestimmt nicht öffnen. Ganz sicher wollte er sich nicht erneut dieser Welt stellen, die ihn ihrerseits doch auch nicht beachten wollte.
Doch die Stimme blieb hartnäckig, sie flehte, ja bettelte ihn an: „Bitte, Ante! Bitte mache endlich deine Augen auf und ATME!“
Das letzte Wort wurde mit Nachdruck gesprochen und wieder spürte Ante, wie etwas, zur Verstärkung dieser Aufforderung, seinen Brustkorb zusammenpresste.
Ob er wollte oder nicht, sein Körper versuchte der Forderung nachzukommen, doch keine Luft füllte seine Lunge. Da war kein Platz mehr für auch nur ein Quäntchen Sauerstoff, doch endlich krampfte Antes Körper und in einem Schwall erbrach er das salzige Meerwasser. Sofort halfen starke Hände ihm, sich zur Seite zu drehen, so dass nichts zurück in seine Lungen fließen konnte.
Immer wieder kam neues Wasser, machten Antes mühsame Atemzüge zur Qual. Tränen liefen an seinen Wangen herab, doch er bemerkte sie nicht.
Er spürte nur die Hände, die ihn hielten, hörte die Stimme, die, wie in einem Mantra die Worte wiederholten: „Gott sei Dank, oh Gott sei Dank, du lebst!“
Jetzt erst nahm Ante die Menschen wahr, die um ihn herumstanden. Ganz offensichtlich war er auf einem der Touristenboote, die eigentlich hierhergekommen waren, um Zuschauer zu Kristijans Show zu bringen.
Ein Mann in weißer Kapitänsuniform drängte sich durch die Menge der Gaffenden.
„Junge, geht es dir gut?“
Eingeschüchtert nickte Ante, doch das hätte er auch dann getan, wenn er jetzt seinen Kopf unter dem Arm trüge.
„Er muss trotzdem in ein Krankenhaus!“, unterbrach Kristijan den Blickkontakt der beiden ungleichen Menschen. „Er hat zu viel Wasser geschluckt, und man muss aufpassen, dass daraus keine Lungenentzündung entsteht!“
Erschreckt wollte Ante auffahren, zuckte dann schmerzhaft zusammen, als sein Rücken ihn an den heftigen Aufprall auf die Wasseroberfläche erinnerte.
„Nein! Nein, bitte nicht in ein Krankenhaus!“, keuchte er mit Panik im Blick. Seine Mutter und er konnten sich so einen Aufenthalt unmöglich erlauben!
Behutsam drückte Kristijan ihn an sich, versuchte den aufgewühlten Jungen zu beruhigen.
Auch ihm saß der Schrecken noch in den Knochen. Beinahe unmittelbar nach Ante war auch er die steile Klippe herab ins Meer gesprungen ...
Einen schrecklichen Augenblick lang konnte er Ante im Wasser nicht finden, verlor kostbare Zeit bei der Suche. Endlich sah er ihn unter sich, sah, wie Ante immer tiefer versank, in die Zone des Ozeans, wo das fehlende Licht das Wasser in eine immerwährende graue Dämmerung hüllte.
Ohne noch einmal erneut Luft zu holen war Kristijan dem sinkenden Körper gefolgt.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er Ante eingeholt und sie beide nach oben gebracht hatte. Ab einem gewissen Zeitpunkt versuchte Kristijan die Angst zu verdrängen, dass sie beide nie wieder nach oben kommen würden und damit ihrer Rettung entgegen. Doch endlich, endlich durchbrachen sie die bewegte Wasseroberfläche und gierig sog Kristijan den dringend benötigten Sauerstoff in seine malträtierten Lungen. Doch Ante hing bleich und regungslos in seinen Armen. Kein Atemzug hob den Brustkorb, keine Augenbewegung hinter den geschlossenen Lidern ließ erkennen, ob Ante noch lebte.
Zu Tode erschöpft war Kristijan nicht mehr in der Lage gewesen alleine an Bord des Schiffes zu klettern, dass sie beide aufnahm.
An Deck hatte er die hilflosen Versuche beobachtet, mit denen man versucht hatte Ante wiederzubeleben.
Schließlich ließ es ihm keine Ruhe mehr. Beinahe rabiat stieß er alle anderen beiseite und kniete sich neben den zierlichen Körper des anderen Jungen. In einer heißen Welle überrollte ihn ein dermaßen starker Beschützerinstinkt, dass er nach Luft schnappen musste.
Seine Hände drückten immer wieder auf den zerbrechlich erscheinen Oberkörper Antes, während Kristijan ihn unbewusst anflehte endlich wieder zu atmen. Die Augen zu öffnen – zu leben!
Er sah die blauen Flecken, sah die neuen Wunden und alte Narben, die Ante im Laufe der Jahre davongetragen hatte und verstand nicht, wie dieser Junge etwas anderes in einer Person wecken konnte, als das Verlangen ihn zu halten, ihn zu schützen und alles Übel dieser Welt von ihm fernzuhalten. Woher kam die Aggression, die Ante scheinbar in anderen Menschen weckte? Woher kam diese nicht nachvollziehbare Härte?
Sah denn wirklich niemand außer ihm, wie sehr dieser Junge litt?
Wie sehr er einfach nur Schutz suchte und eine Hand, die ihn stützte?
So wie gerade jetzt, als Ante sich an ihn schmiegte. Zitternd und voller Angst, eingeschüchtert von den vielen Menschen um ihn herum.
„Bitte!“ flüsterte Ante flehend, während er sein Gesicht an Kristijans Brust vergrub, um den neugierigen und sensationslüsternen Blicken zu entkommen. „Bitte, Kristijan, kein Krankenhaus! Ich will nach Hause!“
„Wenn du dir sicher bist, dass es dir gut geht, bringt dein Freund dich nach Hause!“, bestimmte der Kapitän. Wie froh er war, dass ihm weitere Scherereien und Auseinandersetzungen mit Polizei, Krankenhaus und Behörden erspart blieben, war eindeutig an seiner Miene abzulesen.
Seufzend und wider besseren Wissens gab Kristijan nach. Verdammt, er war auch erst einundzwanzig Jahre alt und mit dieser Situation eindeutig überfordert.
Überfordert von dem zitternden Körper in seinen Armen, überfordert mit den seltsam forschenden Blicken, die er unangenehm auf seiner Haut spüren konnte und ganz bestimmt von den unbekannten, fremden Gefühlen, die in seinem Inneren tobten.
Endlich erreichten sie den Hafen des kleinen Fischerdorfs und mühsam quälte Ante sich auf die Beine, als das kleine Ausflugsschiff endlich angelegt hatte.
Er wünschte sich, er wäre schon von diesem Schiff herunter, könnte dieser Meute entkommen, könnte den Fragen entkommen, die auf ihn einprasselten. Solange Kristijan ihn gehalten hatte, waren die Leute zurückhaltend gewesen. Kristijans Blick hatte gereicht, um die Menge fernzuhalten, doch nun wollte jeder seine Neugierde stillen.
Für einen Jungen, wie Ante, der aus Gründen des Selbstschutzes am liebsten unsichtbar war, am liebsten ignoriert und nicht wahrgenommen werden wollte, war die Situation beinahe unerträglich.
Am Anleger des Schiffes warteten bereits die Dorfbewohner, die das Unglück mitverfolgt hatten. In Windeseile war das Geschehen durch das Dorf getragen worden. Mochte das kleine Fischerdörfchen auch rückständig sein … der inoffizielle Nachrichtendienst funktionierte ausgezeichnet.
Noch mehr Fragen wurden gestellt, auf die Ante weder eine Antwort geben wollte noch geben konnte.
Heftig zuckte er zusammen, als er Joso gewahr wurde und dessen bezeichnende Geste, die ihm riet den Mund zu halten, sollte ihm sein Leben etwas wert sein. Die Hand, die angedeutet über die Kehle des Jungen strich, war ein eindeutiges Anzeichen was ihn erwarten würde, sollte er zu viel von den Ereignissen auf der Klippe erzählen.
Während er versuchte sich durch die Menge zu drängen hörte Ante, wie sich die Theorien von einem Unfall langsam zu einem Anfall von absoluter Selbstüberschätzung seinerseits änderten. Immerhin hatten die meisten gesehen, wie er Shirt und Schuhe ausgezogen hatte und freiwillig gesprungen war, obwohl Kristijan ihn aufhalten wollte.
Kaum jemand hatte die vorherige Situation mitbekommen, und die, die sie gesehen hatten, hielten den Mund. Aus Gewohnheit, aus Angst in etwas hineingezogen zu werden, das ihren Alltag durcheinanderbringen konnte. Aus Angst, eine Verantwortung und daraus resultierende Konsequenzen zu tragen, aus einem Unwohlsein für das eigene Wegsehen heraus, aus schlechtem Gewissen oder einfachem Desinteresse.
Egal wie das Urteil des Einzelnen ausfiel, für Ante war es verheerend. Man drückte ihn noch weiter an den Rand der Dorfgesellschaft, machte aus dem eigentlichen Opfer einen Täter.
Wieder einmal wollte die Gemeinschaft nicht genauer nachfragen, die eigene Verantwortung verleugnen und sich hinter dem Herdentrieb verstecken. Wenn niemand eine Verantwortung übernahm, warum sollte man es selbst tun? Gab es nicht staatliche Stellen? Die Polizei oder die Jugendfürsorge? Bisher war doch niemand eingeschritten, beruhigten sie ihr soziales Gewissen, also konnte nichts so schlimm sein, dass Arges daraus erwuchs … oder?
So oder ähnlich bekam es Ante zu hören, während er sich durch die Menschenmenge quetschte.
Er wollte nach Hause, oh bitte, er wollte so sehr nach Hause, in sein Bett, die Decke über den Kopf ziehen und am liebsten ein Jahrhundert verschlafen.
Würde es ihm gehen wie der Prinzessin aus dem Märchen? Würde er nach all den Jahren wach werden und sein Traum würde vor ihm sitzen? Ihn küssen und versichern, dass nun alles wieder gut sei? Und warum trug diese Imagination die Züge Kristijans?
Und mit einem Mal sehnte er sich nach nichts mehr, als den alles vergessen machenden Schlaf.
Kaum schaffte er es auf den Beinen zu bleiben, während er in das Gewirr der Altstadtgässchen eintauchte. Die Gasse hinauf zur kleinen, alten Hütte seiner Mutter schien ein Kraftakt zu sein, den er nicht meistern konnte. Er taumelte, stützte sich haltsuchend an einer Mauer ab
Plötzlich fühlte er sich hochgehoben, vor Schreck schrie er leise auf, sein Körper zuckte dermaßen heftig zusammen, dass er beinahe den haltenden Armen entglitten wäre.
Angst schnürte seinen Brustkorb zusammen und er erwartete das Schlimmste, wobei Schläge noch der harmloseren Version seiner Ängste entsprachen.
„Scht, keine Angst, Kleiner! Ich bin es nur … Kristijan!“
Die Erleichterung schlug über Ante zusammen, wie vorher der blaue Mantel der See.
„Du schaffst es ja noch nicht einmal mehr dich auf den Beinen zu halten. Ich bringe dich zu deiner Mutter!“
Ante schämte sich über das Ausmaß seiner Schwäche, schämte sich über die Erleichterung, die er empfand und darüber, wie sehr er es genoss einmal umsorgt zu werden, doch gleichzeitig strampelte er schwach mit den Beinen.
„Nicht, bitte! Die anderen … sie werden mich nie wieder in Ruhe lassen und dich auch nicht, wenn sie sehen, wie du dich um mich kümmerst!“
„Sie sind noch alle unten am Hafen und zerreißen sich ihre Mäuler. Hier kann uns niemand sehen. Lass mich dir ein wenig helfen, Ante, bitte!“
Ante war müde, er war schwach und gleichzeitig unendlich glücklich ausgerechnet von den Armen gehalten zu werden, die er so sehr ersehnte.
Er gab nach, lehnte den Kopf gegen die Schulter, die so freizügig Trost und Halt bot.
Auch wenn er es morgen bereuen sollte, jetzt gerade, hier, in diesem winzigen Augenblick war er trotz aller Ereignisse des Tages glücklich.
Seine Mutter erwartete ihn bereits an der Haustür.
Natürlich hatte man auch ihr Bescheid gegeben, doch nachdem sie wusste, Ante war außer Gefahr, hatte sie lieber alles für seine Ankunft vorbereitet. Die alte Zinkbadewanne war bereits mit heißem Wasser gefüllt und sein Bett aufgeschlagen. Heißer Tee mit viel Honig wartete auf ihn. Ihre Liebe äußerte sich nicht in großen Worten, sondern in Gesten und Taten.
Behutsam setzte Kristijan den erschöpften Jungen in der kleinen Küche auf einen Stuhl ab. Gerade wollte er sich verabschieden und Ante die Abgeschiedenheit und Privatsphäre eines ungestörten Bades gönnen, als Antes Mutter sagte: „Bitte, kannst du bleiben? Er sieht so schwach aus, und nach dem warmen Wasser wird er noch müder sein und er braucht bestimmt Hilfe. Ich glaube, es ist ihm angenehmer, wenn du das übernimmst, als wenn ich, seine Mutter, es tue.“
Kristijan zuckte ein wenig zusammen. Ging das Ganze hier nicht ein wenig zu weit? Sicher, er hatte seine Hilfe angeboten. Aber nach all seinen ungeordneten und unsortierten Gedanken, Ante nun nackt zu sehen, ihm in die Wanne und wieder hinaus zu helfen – was würde das mit seinen Gefühlen für Ante anstellen? Was bedeutete dieses Gefühlswirrwarr überhaupt? Es machte Kristijan auf eine unbestimmte Art mehr Angst als er es benennen konnte. Er war ein Mann! Durfte er so für einen anderen Mann empfinden? Auch wenn dieser Mann sehr jung und sehr zartgliedrig war und gerade mehr einem aus dem Nest gefallenen Küken glich, so war er dennoch unleugbar ein Mann.
Schließlich nickt er nur stumm und Antes Mutter ließ die beiden jungen Männer alleine.
Ante saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf seinem Stuhl, für einen Augenblick bezweifelte Kristijan sogar, ob er noch viel von seiner Umgebung wahrnahm, doch Ante belehrte ihn eines Besseren. Leise wisperte er: „Du musst mir nicht helfen. Ich schaffe das auch schon alleine! Irgendwie ...“
„Sei nicht dumm!“, antwortete Kristijan. „Natürlich werde ich dir helfen. Komm schon!“Er wollte Ante gerade an den Armen nach oben ziehen, als dieser ihn aus seinen großen, braunen Augen traurig ansah. Ein Blick, der Kristijan durch Mark und Bein ging. Niemand in diesem Alter sollte so aussehen. So abgeklärt … so wund.
„Ich habe dein Zögern bemerkt, deinen Widerwillen. Es ist schon okay, Kristijan, wirklich!“ Der dunkle Wuschelkopf wurde wieder gesenkt. Worte, die wie Tränen auf den rohen Holzboden tropften: „Ich kenne das schon - diese Abscheu. Geh nur, Kristijan, bevor du mich auch hasst!“
Jetzt war es Kristijan, der unter der Gewalt dieser leise geflüsterten Worte zusammenbrach.
Er sank vor Ante auf die Knie, sein Atem verließ rau die Kehle und er nahm das Gesicht des Jungen zwischen seine Hände. Tränen des Mitleids verschleierten seinen Blick. „Ich könnte dich nie hassen, Ante! Nie!“
Einen Moment verharrten sie in dieser Stellung. Beide auf ihre eigene Weise erschüttert.
Ante darüber, dass hier jemand so offenkundig seine Zuneigung bekundete und Kristijan darüber, wie sehr seine Worte der Wahrheit entsprachen.
Sie waren ihm entwischt, bevor er über sie hatte nachdenken können. Sie entsprachen seinen Gefühlen, seinen Emotionen, aber nicht seinem Verstand, der nach Flucht schrie, bevor er sich hier in etwas verstrickte, das er nicht mehr steuern konnte.
Dennoch blieb er.
Auf den Knien!
Vor Ante, und hatte das Gefühl ihn nie wieder loslassen zu können.
Das Bad brachten die beiden Jungen hochnotpeinlich berührt und schweigend hinter sich. Ante wäre am liebsten ganz alleine gewesen, aber seine Mutter hatte recht gehabt.
Im warmen Wasser entspannte sich sein Körper und alles Adrenalin, alle körpereigenen, aufputschenden und schmerzunterdrückenden Hormone hatten ihn verlassen. Die unsägliche Erschöpfung, die kurze Zeit von dem Erlebnis in der Küche verdrängt worden war, kehrte mit aller Macht zurück und mit ihr die Schmerzen.
Er wäre beim besten Wille nicht in der Lage gewesen alleine aus der Wanne heraus zu klettern.
Das Wasser wurde langsam kalt, doch er traute sich nicht Kristijan tatsächlich um Hilfe zu bitten. Kristijan hatte sich umgedreht, wartete auf einen Zuruf und wollte in dieser Weise wenigstens den Anschein von Privatsphäre herstellen. Doch als dieser Ruf nicht erfolgte, wandte er sich irgendwann herum. Er nahm das Zittern und Beben des auskühlenden Körpers wahr.
Kopfschüttelnd und leise über die Unvernunft schimpfend hob er Ante aus der Wanne heraus und wickelte ihn komplett in ein bereitgelegtes, großes, raues Handtuch ein.
Als Ante dabei beinahe zusammensackte, bückte er sich kurzerhand, schlang einen Arm unter Antes Kniekehlen und den andern um Antes Rücken und hob ihn einfach hoch.
Den darauffolgenden Schmerzenslaut konnte Ante nicht mehr unterdrücken.
Kristijan stieß einen leisen knurrenden Laut aus.
„Dein Zimmer?“, fragte er kurz angebunden.
„Die Treppe rauf, direkt unter dem Dach“, antwortete Ante leise und versuchte jede weitere Schmerzäußerung zu vermeiden.
Doch Kristijan bemerkte sehr wohl die gepresste Atmung und die Blässe unter Antes gebräunter Haut, die ihn fahl und grau aussehen ließ.
An Antes Mutter vorbei, die den beiden Jungen erstaunt nachsah, trug der mindestens zwei Köpfe größere Kristijan Ante so leicht in dessen Zimmer, als würde er eine Puppe tragen.
Dort setzte er Ante auf dem Bett ab, so behutsam, wie es ihm möglich war.
„Wo hast du die Schmerzen? An deinen Rippen oder deiner Wirbelsäule? Falls ja, müssen wir dich doch in ein Krankenhaus bringen!“
Erschrocken schüttelte Ante den Kopf. „Nein! Nicht! Da ...“ Er räusperte sich, setzte neu an: „Da ist nichts! Es … es geht schon! Ich muss mich nur ein wenig ausruhen!“
„Ante, man springt nicht als blutiger Laie so eine Klippe herunter und hat nichts, wenn man es überlebt! Du bist garantiert heftig aufgekommen. Lass mich nachsehen!“, sagte Kristijan und griff nach dem Handtuch.
Ehe Ante sich wehren konnte, flog das Handtuch bereits im hohen Bogen auf den Boden.
Nackt, mit hochrotem Kopf und Tränen der Scham in den Augen, saß Ante vor dem größeren Jungen, der erst jetzt wahrnahm, was er angerichtet hatte.
Sofort griff Kristijan wieder nach dem Handtuch, legte es Ante in den Schoß.
„Tut mir leid, Ante, wirklich! Aber ich muss wissen ob und wie stark du verletzt bist!“
„Warum?“
„Was, warum? Wie meinst du das? Ich könnte mich doch jetzt nicht einfach herumdrehen und dich hier sitzenlassen“, antwortete Kristijan auf die seltsame Frage.
„Warum nicht? Es hat bisher nie jemanden interessiert, ob man mich verletzt hat, ob ich mich verletzt habe. Warum dich, warum jetzt?“
Ja, warum er? Kristijan hätte die Frage nicht beantworten können, selbst wenn er es gewollt hätte.
Aber wie sollte er eine Antwort finden, auf eine Frage, die er sich selbst noch nicht gestellt hatte, von der er noch nicht einmal geahnt hätte, dass sie jemals von Relevanz sein könnte?
Er schüttelte den Kopf, wiegelte ab.
Verweigerte Ante eine Antwort auf eine berechtigte Frage und sich selbst auch.
„Was ist jetzt mit dir? Ich habe doch bemerkt, dass du Schmerzen hast!“, sagte Kristijan fordernd
Ergeben senkte Ante den Kopf, so wie er es immer tat, so wie er immer nachgab.
Doch diesmal blieb ihm ein Gefühl von Wärme. Diesmal hatte er nicht das Gefühl der, im wahrsten Sinne des Wortes, Geschlagene zu sein.
Kristijan weckte keine Angst in ihm. Im Gegenteil! Ante musste die ganze Zeit gegen das Bedürfnis ankämpfen sich einfach wieder in diese Arme fallen zu lassen. Sich geborgen zu fühlen, mehr als er es in seinem bisher kurzen Leben erfahren durfte.
Endlich wisperte er eine Antwort: „Mein Rücken! Ich bin mit meinem Rücken auf die Wasseroberfläche aufgeprallt! Es hat mir die Luft aus den Lungen getrieben.“
Dann wandte er den Oberkörper um und präsentierte seinen Rücken.
Kristijan sog scharf die Luft ein, bereits jetzt präsentierte sich Antes Rücken in tiefblauen Farbtönen. Die Prellungen zogen sich in veränderlicher Stärke bis zu den Seiten und ein wenig um die Rippen herum zur Vorderseite des schmalen Körpers.
Wahrscheinlich war auch die eine oder andere Rippe geprellt. Es kam einem Wunder gleich, dass Ante bisher ungehindert atmen konnte.
„Oh Gott, Ante! Das sieht furchtbar aus. Wie hältst du das nur aus?“
Vorsichtig zuckte der nur mit den Schultern.
Sollte er auch nur ein Wort darüber verlieren, wie sehr Schmerzen mittlerweile sein beinahe alltäglicher Wegbegleiter waren? Nein! Das lohnte nicht, außerdem konnte er selbst spüren, wie sehr die Schmerzen sich in der letzten Stunde gesteigert hatten und er vermutete, dass er in der Nacht nicht besonders viel Ruhe finden würde.
„Ante, damit müsstest du wirklich besser in ein Krankenhaus, schon alleine um Rippenbrüche auszuschließen.“
„Es geht nicht, das können wir uns nicht leisten. Wir haben gerade genug, um über die Runden zu kommen.“
„Ich frage deine Mutter nach einer Salbe. Wir müssen zumindest etwas gegen die Blutergüsse tun.“
Kristijan stand auf, wollte das winzige Zimmer verlassen, als Antes leise Stimme ihn zurückhielt.
„Nicht, Kristijan! Sie würde sich nur wieder Sorgen machen und eine Salbe haben wir nicht im Haus. Sie würde zu Doktor Babic gehen und ihn um Hilfe bitten. Das will ich nicht!“
„Aber wieso? Babic ist ein guter Arzt, er könnte dir sicher helfen!“
„Sicher könnte er das, aber …“, Ante stoppte, wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken.
„Aber was?“
„Sie hat nur noch ihren Ehering. Er ist alles, was ihr von Vater geblieben ist!“
Mehr erklärte er nicht, aber Kristijan verstand. Seine eigene Hilflosigkeit verdammend starrte er auf den Jungen, der so vollkommen anders aufgewachsen war und gelebt hatte als er selbst.
Momentan konnte auch Kristijan nicht helfen. Er saß hier in seiner Badehose, hatte keine Ahnung ob jemand seine Kleidung vom Kliff mit heruntergebracht hatte und musste zusehen, wie er auf nackten Füßen nach Hause kam.
Normaler Weise liefen seine Showsprünge anders ab, aber Antes unüberlegte Tat hatte alles durcheinandergewirbelt.
„Aber es muss doch irgendetwas geben, was ich für … was ich tun kann?“
Kristijan verzweifelte fast und gleichzeitig glomm in ihm eine Ahnung auf, wie Ante sich immer gefühlt haben musste. Hilflos, wehrlos den Schlägen des Schicksals und denen seiner Mitmenschen ausgeliefert.
Ante lächelte. Ihm waren die Untertöne des einfachen Satzes nicht entgangen. Er hatte schon früh gelernt auf Tonlagen, auf den Subkontext der Gespräche, auf Gestik und Mimik zu achten und sie richtig zu interpretieren. Weil es ganz einfach lebensnotwendig gewesen war. Und wahrscheinlich hatte ihn diese Fähigkeit schon mehr als einmal vor Schlägen bewahrt.
Ante zweifelte eigentlich keine Sekunde daran, dass er in diesem Dorf entweder früh sterben würde, weil irgendwer endgültig ihm gegenüber die Beherrschung verlor, oder er hier bald verschwinden musste, wollte er überleben. Doch so lange seine Mutter hier war, konnte er nicht abhauen. Er konnte sie nicht sich selbst überlassen, dem Wohl und Weh der Dorfbewohner ausgeliefert, die ihm so übel mitspielten. Er hatte kein Vertrauen in seine Nachbarn, seinen Mitmenschen, in niemanden … außer vielleicht … Es war müßig darüber nachzudenken.
Während diese Überlegungen in seinem Kopf träge ihre Kreise zogen, fielen Ante immer wieder die Augen zu.
Auch Kristijan bemerkte es und musste darauf vertrauen, dass Ante seinen eigenen Körper gut genug kannte um einzuschätzen ob er professionelle Hilfe benötigen würde, oder nicht. Doch der kleine Stachel seines Zweifels blieb. Schweren Herzen drückte er Ante nach hinten auf das Bett, half ihm sich auf die Seite zu drehen, zog die Decke unter dessen Körper hervor, deckte ihn zu und sagte: „Okay, schlaf dich aus! Ich komme morgen wieder, aber versprich mir Hilfe zu suchen, sollte es noch schlimmer werden.“
Bereits vom Schlaf umfangen nickte Ante folgsam, wusste jedoch genau, dass dies nie passieren würde. Er kannte die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten schon lange, hatte sie akzeptiert und haderte nicht mit ihnen. Sie lebten, hatten ein Dach über den Kopf und meist genug zu essen. Mehr war eben nicht möglich. Er würde mit den Gegebenheiten leben müssen, so, wie sie es immer taten. Es wäre nicht das erst Mal, dass entweder er oder seine Mutter einen Arzt bräuchten und sie ihn sich nicht leisten konnten. Sie hatten bisher immer überlebt und er glaubte nicht daran, dass ein paar blaue Flecken in daran hindern konnten.
Er bemerkte noch nicht einmal mehr, wie Kristijan sein Zimmer und, nach einem kurzen Abschied von Antes Mutter, das Haus verließ.
Und es kam, wie Ante es befürchtet hatte. Er wachte mitten in der Nacht mit einem furchtbaren Husten auf, der einen grausamen Schmerz durch seinen Körper schickte und ihn bei aller Erschöpfung aus dem Bett trieb. Weiter zu liegen schien unmöglich. Weder auf einer Seite, da seine Rippen protestierten noch auf dem Rücken. Die Bauchlage brachte die gleichen Schmerzen und verstärkte auch noch den Husten. Mühsam kämpfte Ante sich aus dem Bett, er stützte sich mit den Händen an dem kleinen Waschtisch ab. Aufrecht stehen konnte er gar nicht, genauso wenig wie tief einatmen.
Er hatte vorher gewusst, dass es schlimm werden würde, aber so?
Vorsichtig drehte er sich um, wollte in dem kleinen Spiegel über der Kommode seinen Rücken überprüfen.
Gab es überhaupt eine heile, eine helle Stelle an seinem Rücken? Großflächig prangte ihm eine durchgehend, fast schwarze Fläche entgegen.
Seine Muskeln waren derart verkrampft, dass es beinahe so wirkte als hätte er eine verwachsene Wirbelsäule.
Eines stand von vorne herein fest: so konnte er morgen unmöglich auf ihrem kleinen Feld arbeiten oder in einem der Hotels beim Kofferschleppen helfen.
Seine Mutter würde wissen wollen, warum und er würde die Enttäuschung in ihrem Blick kaum ertragen können. Nicht darüber, dass er krank war, nein, ihre Sorge wäre ein zusätzlicher Stich in seinem Herzen, aber darüber, dass er für einige Tage kein Geld heimbringen würde. Das hieße wiederum, sie musste mehr arbeiten, um den Verlust abzufedern.
Seine Mutter hatte ihn nicht gefragt, was passiert war, warum er gesprungen war.
Ante wusste auch nicht, wie er auf eine solche Frage reagieren sollte. Auf der einen Seite ahnte er tief in sich eine Wahrheit, der er sich zurzeit nicht stellen wollte. Und andererseits würde es heißen endlich mit der Wahrheit über das Verhalten ihrer Nachbarn, ihrer Dorfgemeinschaft herauszurücken. Doch das würde seine Mutter nur noch mehr erschüttern. Was sollte sie auch tun, um ihn zu schützen? Sie konnten hier nicht fort, das kleine Häuschen war alles was sie hatten. Er hatte keinen anständigen Beruf erlernt und seine Mutter war zu alt, um irgendwo erneut anzufangen. Er musste hier ausharren, ob es ihm gefiel oder nicht.
Wieder tat seine Zukunft sich wie ein dunkler Schacht vor ihm auf.
Gegen die Tränen, die nun aus seinen Augen stürzten war er machtlos, sie rollten einfach über seine Wangen und fragten nicht nach seinem Befinden. Er wollte nicht weinen, versuchte die Tränen zu unterdrücken, es verstärkte jedoch lediglich sein Schluchzen. Es war für seinen Körper eine Qual diese Erschütterung zu ertragen, kaum war er in der Lage zu atmen. Die Prellungen seiner Rippen, der riesige Bluterguss auf seinem Rücken, schnürten seinen Brustkorb ebenso effektiv ein, wie eine Fessel.
Zu den Schmerzen gesellte sich Panik, als die Sauerstoffzufuhr durch die schwache Atmung immer stärker eingeschränkt wurde. Als ihn auch noch ein weiterer Hustenfanfall schüttelte, verlor er den Kampf gegen die Schmerzen, gegen die Angst in seinem Inneren und gegen die Atemnot. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden wog ihm eine Schwärze entgegen, die selbst die Dunkelheit der Nacht auslöschte. Den Aufprall auf den Boden bemerkte er nicht mehr.
„Mamica, nicht weinen! Tata kommt wieder nach Hause. Er hat es mir versprochen!“
Egal wie sehr Ante versuchte seine Mutter zu erreichen, ihr schmerzerfülltes Weinen blieb in seinem Ohr.
„Ante, mein kleiner, süßer Ante!“
Warum nur konnte er seine Mamica nicht trösten? Sie sollte nicht so furchtbar weinen, nicht so traurig sein. Er würde ein braver Junge sein, und ihr keinen Grund für Tränen geben, wenn sie nur aufhören würde so schrecklich zu weinen.
„Ich liebe dich, Ante! Ich liebe dich so sehr, mein wunderschöner, lieber Junge!“
Wieso fiel es ihm so schwer zu sprechen? Er wollte seine Mati umarmen, ihr versprechen, dass er ab jetzt ganz lieb sein würde und sie nicht mehr um Tata trauern musste.
Es ging nicht! Warum nur konnte er seine Mamica nicht in den Arm nehmen, wo sie ihn doch so dringend brauchte?
Dann war nur schwärzeste Dunkelheit um ihn, keine Töne, keine Farben, kein Fühlen, kein Empfinden.
Nur Leere, eine furchtbare Leere.
„Mamica?“
Wo war seine Mami? Er wollte zu seiner Mami.
„ … besser wird ... Krankenhaus!“
Wer sprach da?
„ … Medikamente?“
Diese Stimme kannte Ante.
Er fror entsetzlich.
Stille
„Tata, ich wusste du kommst zurück. Mamica wollte es mir nicht glauben!“
Geborgenheit legte sich wie eine warme Decke um Ante, als sein Vater ihn liebevoll ansah und er sein kleines Gesicht in die große, schwielige Hand seines Vaters schmiegte. Glücklich sah er zu seinem Vater auf. Warum schüttelte sein Tata mit diesem nachsichtigen Lächeln den Kopf?
Fremde Geräusche, fremde Gerüche.
Ante hatte furchtbare Angst.
„Tata? Mamica?“
Ihm war so heiß.
Das Atmen tat weh.
„Wir … Nacht abwarten … besteht Hoffnung!“
Das war nicht sein Zuhause, aber da war eine Stimme, eine Hand in seiner.
Vertrauen!
„Kristijan?“
Husten tat noch mehr weh als atmen.
Wie lange hielt dieser Nebel in seinem Gehirn an? Er behinderte sein Denken, er konnte sich nicht konzentrieren. Da war Schmerz, der in seinem Körper pulsierte. Mal stärker, mal schwächer, doch in einem beständigen Pochen … Nie ganz verschwunden, bereit sich erneut in sein Fleisch zu graben, wenn er in seiner Obacht nachließe. Immer wieder war da ein Kommen und Gehen. Zeiten, in denen er Geräusche erkannte und sortierte wechselten mit Momenten, wo alles, was er wusste und alles was er war, drohte in einem schwarzen, dunklen Loch zu verschwinden Ein Loch, an dessen zerbröckelnden Rand er hilflos balancierte, das ihn einsaugen wollte in seine Finsternis.
Doch immer wenn Ante Angst hatte das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, hörte er seine Mutter rufen, spürte er Kristijan Hand, die ihn hielt, ihn erdete und einen Anker versprach in stürmischen Zeiten. Er umklammerte diesen Anker mit allem was er an Kraft in seinem schwachen Körper finden konnte. Es gab keine Alternative, denn diese alles verschlingende Dunkelheit würde ihn schlucken und nie wieder hergeben. Und dennoch rief sie ihm ein seltsam bekanntes Willkommen entgegen.
Ante driftete, trieb dahin. Spürte nichts, war nichts, außer ein Funken Lebensenergie in seinem leeren Universum.
Mühsam versuchte er ab und an diesem Nichts zu entkommen, es kostete ihm eine unendliche Kraft und nur selten war diese Anstrengung von Erfolg gekrönt.
Wenn, dann nahm er Satzfetzen wahr ohne ihren Sinn zu erkennen, ohne sie auf sich, als Individuum, zu beziehen.
„Warum ... nicht besser beschützt? Sie … seine Wunden … die blauen Flecke?“
Warum war Kristijan wütend? Und warum weinte seine Mamica schon wieder?
Alles wird gut, Mamma, nicht traurig sein ...
„Seine Werte … besser! Sauerstoffsättigung fast … Bereich. Bald wieder ohne Unterstützung …! … Nicht mehr nötig! Dennoch … abwarten!“
Eine Hand, die sich wieder um seine Wange legte.
„Tata?“
„Nein, Liebling! Nur ich, deine Mamica!“
Wohlig schmiegte er sich in die vertraute Wärme.
Ein ersticktes Flüstern an seinem Ohr.
„Warum hast du es mir nie gesagt, mein Junge? Mein armer, einsamer Junge!“
Tränen, die sein Gesicht benetzten und nicht seine eigenen waren.
Die Welt rückte wieder näher.
Wollte er das?
Eine andere Hand in seiner, ein anderer Duft.
Vertraut!
„Bitte werde wieder wach, Ante!“
Ja!
Er wollte!
Für Ante fühlte sich das Aufwachen an, als würde er aus einem Brunnenschacht emportauchen … aus tiefster Tiefe immer dem Licht entgegen.
Und, tatsächlich, als er die Augen öffnete, war heller Tag; die Sonne schien auf sein Gesicht.
Er sah einen fremden, ihm unvertrauten Anblick. Das Fenster war zu groß, das Zimmer zu hell und das Bett nicht seines.
Sein müder und verwirrter Geist versuchte mit den Eindrücken, die seine Augen, seine Sinne ihm vermittelten Schritt zu halten.
Er runzelte die Stirn, zog die Nase kraus, dann erst nahm er die Sauerstoffmaske in seinem Gesicht wahr.
Schwach hob er eine Hand, wollte sie beiseiteschieben, da wurde seine Hand auch schon abgefangen.
„Da bist du ja endlich wieder!“
„Mama!“
Antes Stimme klang rau, unbenutzt, seltsam fremd in seinen eigenen Ohren.
„Ach, Ante, ich hatte solche Angst um dich!“ Seine Mutter schniefte leise und strich durch seine wirren Locken.
„Nicht weinen, Mamica! Was ist passiert? Wo bin ich?“
Obwohl er die Antwort auf seine letzte Frage ahnte, suchte er eine Bestätigung, etwas, an dem er sich festhalten konnte.
„Du bist in der Klinik, Liebling. Beinahe hätte ich dich auch verloren!“
Jetzt weinte sie tatsächlich. Tränen stürzten aus ihren Augen, perlten an ihren Wangen hinab und wurden von der Bettwäsche aufgesogen, auf die sie tropften.
Marija Juric war eine starke Frau. Sie hatte ihren Mann beerdigt, ihren kleinen Sohn alleine aufgezogen und für ihren Unterhalt gesorgt.
Doch auch ihren Sohn zu verlieren, das war etwas, mit dem sie nicht klargekommen wäre. Die ganze Not der vergangenen Tage löste sich in einer Tränenflut, die sie nicht zurückhalten konnte.
Alleine die Gespräche mit Kristijan, der ihr von dem Martyrium ihres Sohnes in den vergangenen Jahren erzählte, hatten ihr Nervenkostüm aufgebraucht. Selbst nach dem Verlust ihres Mannes hatte sie nicht so bitterlich geweint.
Hilflosigkeit und eine von Erschöpfung hervorgerufene Hoffnungslosigkeit überdeckten und verklebten ihre eigentlich vorhandene innere Stärke.
Sie sah keinen Ausweg aus der momentanen Lage. Ganz von ihrer finanziellen Situation abgesehen, wie sollte sie Ante vor weiteren Angriffen schützen?
Sie wünschte sich ihren Mann an ihre Seite. Er hätte gewusst was zu tun war. Er hätte diese Übergriffe auf Ante rechtzeitig beendet.
Doch dieser Wunsch war nutzlos, sinnlos und bis zu einem gewissen Grad sogar egoistisch. Sie konnte die Verantwortung für ihren Jungen nicht auf andere Schultern abwälzen.
Ante war nun einmal nicht einer dieser harten rauen Männer, er war schwächer. Dabei übersah sie vollkommen Antes tatsächlich vorhandene Kraft.
Er hatte dieses Leben bisher gemeistert, ohne aus der Reihe zu tanzen. Er nahm keine Drogen, er trank nicht, arbeitete und trug zu ihrem Lebensunterhalt bei. Klaglos hatte er, seiner Mutter zuliebe, alles ertragen, ohne sich bei ihr auszuweinen, ohne zu jammern.
Ante hatte in den vergangenen Tagen mit dieser Kraft, mit dieser Stärke um sein Leben gekämpft und gewonnen.
Nein, mochte Ante sich körperlich von den gedrungenen Männern des Dorfes unterscheiden … schwach war er nicht!
Einmal mehr bewies er es, indem er jetzt zittrig doch zielstrebig nach der Hand seiner Mutter griff und versuchte sie zu trösten, egal, wie er selbst sich fühlte. Nämlich überfordert, unendlich müde und den Ereignissen hinterhinkend
„Mama, ich komme in Ordnung. Ich schaff das schon! Du wirst sehen, bald bin ich wieder auf den Beinen und kann dir helfen“
Energisch wischte Marija sich ihrem Sohn zuliebe die Tränen aus dem Gesicht:
„Natürlich, mein Junge! So wie immer – du und ich – gemeinsam!“
Ante ahnte nicht, wie knapp er dem Tod entronnen war.
Durch das viele Wasser in seinen Atemwegen hatte sich eine Lungenentzündung gebildet. Die fehlende Belüftung der Lunge durch die starke Rücken- und Rippenprellung, mit einhergehender Schonatmung des Körpers, hatte das Ganze auf furchtbare Weise beinahe in ein Perpetuum mobile verwandelt. Ein Selbstläufer aus Schmerz und Fehlatmung, der fast Antes Leben gekostet hatte.
Noch ahnte er nicht, wie lange seine Genesung tatsächlich dauern würde und wie wenig er tatsächlich zu ihrem Lebensunterhalt würde beisteuern können.
Jetzt galt für ihn erst einmal seiner Mutter die Anspannung zu nehmen und Hoffnung zu vermitteln.
Genauso, wie Marija versuchte, ihn zu beruhigen und ihm die Angst nehmen wollte.
Es gelang!
Scheinbar.
Weil beide sich bemühten den anderen mit seinen Sorgen und Nöten nicht zu belasten. Beide belogen sich gegenseitig in einer unglaublich liebevollen, einander zugeneigten Art und doch war es nichts anderes als eben das: eine Lüge, in der Hoffnung den anderen zu schonen.
Eine Lüge, deren schöne Fassade die ersten Risse bekam, als Ante nach einem längeren Mittagsschlaf seiner Mutter die Frage nach der Bezahlung der Klinik stellte.
Sie entzog ihm ihre Hand, wandte sich ab und trat ans Fenster.
„Lass das nur meine Sorge sein, Ante. Es ist alles geklärt!“
Ante runzelte die Stirn. Wie sollte sie das getan haben? Er kannte ihre finanziellen Verhältnisse zu genau.
„Hat du Tatas Ring versetzt?“, fragte er in einer sehr direkten, wenig diplomatischen Art. Wobei er vollkommen außer Acht ließ, dass ein kleiner, wenn auch heißgeliebter Ring niemals die tatsächlichen Kosten einer intensiven medizinischen Versorgung decken konnte.
„Nein! Nein, Ante, den Ring habe ich noch!“
Sie zog den Ring nur sehr selten an. Nur an hohen Festtagen, wenn sie zur Kirche ging und anschließend zum Friedhof. Ihre Hände hatten sich seit ihrer Hochzeit damals sehr verändert. Harte Arbeit und teilweise Hunger hatten ihre Hände und ihr Finger schmaler werden lassen und sie befürchtet ständig, diesen letzten Besitz, der sie mit ihrem toten Mann verband, zu verlieren.
Daher lag der Ring wohl verwahrt in einem seidenen Tuch, das sie einmal am Strand gefunden hatte, tief in einer Schublade verborgen.
„Aber … wie?“
„Bitte, lass es gut sein! Ich habe dir doch gesagt, ich habe das geregelt!“
„Mama!“, wollte Ante aufbegehren, bevor ein schmerzhafter Hustenanfall ihn stoppte und der nachfolgende Blick seiner Mutter jede weitere Diskussion verbat.
Ante beugte sich – vorerst.
Am Nachmittag klopfte es leise an der Tür, die dann vorsichtig geöffnet wurde. Kristijan steckte den Kopf in das Zimmer hinein.
„Wie geht es ihm?“, flüsterte er Marija zu.
„Frag ihn doch selbst!“ schlug diese vor.
„Er ist wach?“
„Frag mich doch selbst!“ sagte nun auch Ante und lächelte.
Obwohl er einen hochroten Kopf bekam und nicht wusste, wie er auf den, für ihn unerwarteten, Besuch reagieren sollte.
Antes letzte Erinnerung an Kristijan war sein Abschied an dem Abend, an dem er krank geworden war.
Ganz entfernt konnte er sich an eine Stimme erinnern, an einen Duft und eine Hand in seiner, aber war das die Wirklichkeit gewesen oder lediglich eine Fieberfantasie?
Unsicher lächelte Ante den anderen Jungen an und war erleichtert, als sein Lächeln erwidert wurde.
„Ich bin so froh, dass es dir wieder bessergeht! Eine Weile sah es danach aus, als ...!“
Eilig unterbrach Marija Kristijan: „Aber jetzt ist ja alles wieder gut. Ante wird jetzt ganz schnell wieder gesund. Zu Hause werde ich ihn erst einmal mit meinem guten Gemüseeintopf richtig aufpäppeln. Wie sieht es aus, kann ich euch beide eine Zeit lang alleine lassen? Dann kann ich für Ante frische Kleidung besorgen.“
Erst jetzt bemerkte Ante, dass er noch immer eines dieser luftigen Krankenhaushemdchen anhatte.
Zum Glück lag er in seinem Bett, alles andere wäre zu peinlich gewesen.
Unisono nickten beide jungen Männer, während ihre Blicke sich verlegen streiften, aneinander vorbeiglitten, zurückkehrten, um erneut haltlos durch das Zimmer zu streichen, während Ante sich vorsichtig aufsetzte.
Obwohl Ante sich wirklich freute Kristijan zu sehen, stritten mehrere Gedanken in seinem Kopf um Vorherrschaft.
Der erste spontane Gedanke war, wie schön es war, dass Kristijan tatsächlich genug Interesse an ihm hatte, um ihn hier zu besuchen.
Der darauffolgende, ebenso spontane Gedanke war die Frage, warum Kristijan dieses Interesse hatte und der letzte berührte Ante eher peinlich: Wie mochte er aussehen, nach den letzten Tagen und den zwei durchfieberten Nächten?
Verlegen sah er auf seine Bettdecke, griff sich an den Kopf, versuchte blind Haarsträhnen zurecht zu zupfen, oder wenigstens sein glühendes Gesicht dahinter zu verstecken.
„Nicht!“, bat Kristijan leise. „Sieh nicht nach unten, versteck dich nicht! Ich bin so froh, dass du wieder wach bist, dass ich deine Augen wieder sehen kann. Ich hatte wirklich Angst ...!“
Kristijan ließ den Satz ausklingen, zu nahe waren die Ängste der vergangenen Stunden. Sein Versuch stark zu sein für die Frau, die bitterlich weinte, als sie zusätzlich zu der Angst um ihren geliebten Sohn erfahren musste wie übel diesem mitgespielt worden war. Die Diskussion mit seinem eigenen Vater, warum er sich noch nicht zum nächsten Semester eingetragen hatte, während sein, Kristijans, Kopf noch gefangen war von einem überaus blassen Gesicht, von einer Stimme, die leise weinte, wenn der Schmerz in dem malträtierten Körper zu stark wurde … und die irgendwann einmal seinen Namen hauchte.
Nie würde er das Gefühl vergessen, das ihn in diesen Augenblick durchfahren hatte. Dieses Kribbeln in seinem Bauch, sein Herzschlag, der sich verdoppelte und den Blutdruck in die Höhe brachte. Und gleichzeitig das Gefühl geehrt worden zu sein, als der eigene Name die Ruhe brachte, die der kranke Mensch vor ihm so nötig brauchte.
Kristijan wusste nicht, was ihn dermaßen in Aufruhr versetzte, er ahnte nichts von den Hintergründen seiner Achterbahn fahrenden Gefühlen. Das Einzige was er wollte war, in diese braunen Augen zu blicken und dort ebenfalls zur Ruhe kommen. Konnte in einem Paar seelenvoller Augen die ganze Welt verborgen liegen und gleichzeitig das Gefühl zu Hause zu sein? Angekommen zu sein an einem Ort, den man nie gekannt hatte, von den man nicht ahnte, dass es ihn gab und den man nicht vermisst hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an den man ihn fand und ohne den die ganze Welt nie wieder so sein würde, wie sie einmal gewesen war? Wie sie gewesen war vor einem bestimmten Augenaufschlag. Vor dem Blick in eine Seele, die verwundet war und doch so wunderschön.
Kristijans Blick spiegelte seine innere Verwirrung wider und steckte mit seiner Verunsicherung nun auch Ante an.
Erneut sank Antes Kopf nach unten. Seine Hände fuhren in unruhig Bewegungen über die Bettdecke, zupften Ecken zurecht, strichen Falten glatt, kneteten die Decke, um anschließend ihre aufgeregte Reise von vorn zu beginnen. Nervös biss Ante auf seine Unterlippe. Er hatte keine Ahnung wie verführerisch gerade diese Geste auf Kristijan wirkte.
Dieser legte seine rechte Hand unter Antes Kinn, zwang den Kopf mit sanften Druck nach oben und beobachtete fasziniert den Abdruck, den Antes Zähne in der vollen Lippe hinterlassen hatte.
Langsam, ganz langsam näherte Kristijan sich Antes Mund.
In ihm eine tief verwurzelte Sehnsucht nach Berührung, dem nachspüren eines Geschmacks, der erahnten Süße dieser Lippen. Verträumt, kaum im Hier und Jetzt, eher als würde er einen Traum erleben als in der Realität verankert zu sein, näher … noch näher!
Und wie in einem Traum erlebte er die tatsächliche Berührung dieser Lippen.
Erst Antes tiefes Luftholen und das anschließende leise schmerzhafte Stöhnen holte ihn wieder in die Wirklichkeit.
Erschrocken fuhr er zurück, während Ante gleichzeitig eine Hand in seinen Nacken schob. Der plötzliche Ruck ihrer Trennung trieb Tränen in Antes Augen, doch kein Laut verließ seinen Mund. Ähnlich verträumt wie zuvor Kristijan starrte er nun sehnsüchtig auf den Mund, der ihm gerade eben noch so nahe gewesen war.
„Es … es tut mir leid. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist!“, stammelte Kristijan.
Er bemerkte nicht die Enttäuschung, schob den Schmerz in Antes Augen auf körperliche Befindlichkeiten und war heillos überfordert mit den Empfindungen in seinem eigenen Körper.
Hochrot im Gesicht wandte Ante den Kopf ab, wollte nicht riskieren, dass Kristijan einen Blick in seine Seele warf, die doch schon so lange die Wahrheit ahnte.
Ante wollte mehr!
Mehr als nur freundschaftliche Sorge, mehr als diese sanfte Berührung ihrer Lippen. Er wollte Gefühle, wollte mit ihnen leben, einschließlich aller Höhen und Tiefen, wollte mehr von Kristijan.
Er wollte Liebe … Kristijans Liebe!
„Nicht!“, flüsterte er. „Bitte nicht entschuldigen! Vielleicht ist es besser du gehst jetzt!“
Er wollte alleine sein mit seinen Tränen, wollte sich vor dem anderen Jungen nicht noch mehr entblößen als er es ohnehin schon getan hatte, mit der innigen Erwiderung des süßen Kusses.
Er erwartete die Bewegung des Bettes zu spüren, wenn Kristijan sich erhob. Er wartete auf das Geräusch der zuklappenden Tür, doch nichts davon geschah.
Stattdessen hörte er ein Wispern, leise, es klang beinahe genauso verstört, wie er selbst sich fühlte.
„Ich will aber nicht gehen! Was ist das, Ante? Was ist das da zwischen uns? Es macht mir Angst, aber trotzdem will ich nicht gehen!“
Überrascht fuhr Antes Kopf herum.
Hatte er diese Worte gerade wirklich gehört oder waren sie ein Wunschtraum? Ein wunderschöner, herbeigesehnter Traum, hervorgerufen durch die vorherige zarte Berührung, durch sein Verlangen nach mehr Nähe, nach Wärme und Zusammenhalt? Eine letzte Nebenwirkung irgendwelcher Medikamente, die er bekommen hatte?
Aber Kristijans Blick offenbarte das gleiche Durcheinander der Emotionen, die Ante auch gerade in sich selbst spürte.
Erneut flammte Hoffnung auf. Zaghaft tastete Ante nach Kristijans Hand.
„Ich weiß es nicht!“, flüsterte er. „Aber ich weiß, dass ich dich mag. Sehr sogar!“
Voller Erwartung hielt er die Luft an, wagte nicht zu hoffen und wusste gleichzeitig, er wäre am Boden zerstört, wenn Kristijan ihn nun von sich stieße.
Prompt strafte seine Lunge ihn für diese Misshandlung mit einem weiteren starken Hustenanfall.
Und obwohl es sich gerade so anfühlte als würde er seine Innereien gleich hier auf das Bett spucken war es gleichzeitig ein Flug in den Himmel, denn er spürte Kristijans Arme um sich, spürte einen Mund in seinem Haar. Tröstende Worte wurden in sein Ohr geflüstert.
Da war keine steife Zurückhaltung, keine Scham in der Berührung, die ihn einhüllte.
Tief atmete Ante Kristijans ureigenen Duft ein, als sein Husten sich endlich legte. Erschöpft barg er den Kopf an der breiten Schulter, genoss die haltenden Arme und die Wärme, die der andere Körper ausstrahlte.
„Ante!“, stammelte Kristijan. „Ich will … ich würde dich so gerne wieder küssen. Aber es ist falsch. So falsch! Ich habe noch nie einen anderen Mann so gesehen, wie ich dich sehe. Habe noch nie den Wunsch gehabt, ihn im Arm zuhalten, zu spüren!“
Ante hob den Kopf, gab keine Antwort. Es sei denn man nahm tief empfundene Gefühle als nonverbale Erwiderung auf nicht Gesagtes, auf nicht laut Ausgesprochenes.
Er legte einfach seine Lippen wieder auf Kristijans Mund, intensivierte den Druck nach und nach, bis er schließlich mit der Zunge um Einlass bat, in einen Mund, der sich erst anspannte und schließlich die zärtliche Liebkosung erwiderte.
Schließlich löste Ante für einige Sekunden den innigen Kontakt.
„Für mich fühlt sich da gar nichts falsch an!“, nuschelte er gegen Kristijans Lippen, bevor er es zuließ, dass diesmal Kristijan ihn wieder küsste.
Die beiden Jungen schafften es nicht mehr sich voneinander zu lösen.
Es blieb bei diesen unschuldigen Umarmungen, bei durchaus heißen Küssen, bei streichelnden Händen, die fahrig über den Rücken und durch die Haare des jeweils anderen glitten, doch keine Sekunde konnten sie ohne Berührung sein. Ohne die Vergewisserung der Nähe, ohne Rückversicherung, dass sie nicht alleine mit ihren Gefühlen waren.
Hochrot fuhren sie erst auseinander, als die Tür sich öffnete und Antes Mutter mit einer kleinen Tasche in der Hand das Zimmer betrat.
Misstrauisch musterte sie die beiden jungen Männer.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie nach.
„Ja, Mama! Alles bestens, mir geht es gut!“, antwortete Ante und hatte keine Ahnung, wie verräterisch seine aufgeworfenen und wunden Lippen waren. Welche Geschichten seine strahlenden Augen erzählten und beide Jungen bemerkten nicht ihre ineinander verschränkten Hände. Zu selbstverständlich, zu richtig war ihnen diese harmlose Berührung.
Antes Mutter seufzte leise.
Nein!
Die Zukunft ihres Jungen würde alles andere als leicht sein.
Am nächsten Tag wurde Ante früh von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer verlegt. Nun teilte er sich den Raum mit zwei anderen Männern, beide wesentlich älter als er. Sehr zu seinem Schrecken und Missfallen. Beide Männer schüchterten ihn durch ihre laute und teilweise dominante Art sehr ein. Er bettelte seine Mutter an, ihn mit nach Hause zu nehmen, doch den behandelnden Ärzten war die frühe Entlassung zu riskant, denn die alltäglichen Notwendigkeiten forderten ihren Tribut.
Nun, da Ante nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, konnte seine Mutter nicht mehr den ganzen Tag bei ihm bleiben. Marija musste unbedingt wieder arbeiten, da Antes Ausfall bereits ein riesiges Loch in ihr Budget reißen würde.
Sie konnte sich demzufolge also nicht richtig um Ante kümmern und ohne entsprechende Aufsicht und Fürsorge war den Ärzten die Gefahr eines Rückfalls zu groß.
Nachdem Marija sich verabschiedet hatte, langweilte Ante sich zu Tode, traute sich jedoch auch nicht an den Gesprächen der beiden Männer teilzunehmen. Ihr Tonfall war rau und ihre Gespräche behandelten Themen, bei denen er nicht mitreden konnte.
Es war Kristijan, der ihn zumindest teilweise vor seiner gefühlten Einsamkeit rettete.
Er kam gegen Mittag vorbei, dann half er Ante in einen Rollstuhl und sie fuhren hinaus in den krankenhauseigenen Park.
Ante schämte sich, doch die Schwestern und Pfleger bestanden auf diese Hilfe. Aus Versicherungsgründen hätte er die Klinik ansonsten nicht verlassen dürfen.
Gott sei Dank war in dem Park nicht viel los und bald schon hatten die beiden eine Ecke ausfindig gemacht, an der sie für sich sein konnten.
In der ersten Stunde ihres Ausflugs trauten sie sich noch nicht einmal, sich bei den Händen zu halten. Zu groß war die Angst vor fremden Blicken, zu groß die Angst entdeckt zu werden.
Nur ab und an berührten sie sich, als sei es Zufall, ihre Augen trafen sich in sehnsüchtigen Verlangen nach der Nähe des anderen.
Schließlich hielt Ante es nicht mehr aus.
Mühsam stemmte er sich aus dem Rollstuhl und war gelinde gesagt leicht entsetzt, als er bemerkte, wie wenig Kraft er zurzeit in den Beinen hatte.
Dementsprechend fiel er eher auf Kristijans Schoß, als dass er sich tatsächlich setzte.
„Tut mir leid!“, entschuldigte er sich, während seine Wangen sich auf zauberhafter Weise röteten. Er lehnte mit seiner rechten Seite gegen Kristijans Oberkörper, fühlte sich sicher und geborgen, als der einen Arm um Antes Schulter schlang und ihn hielt.
Kristijan antwortete nicht, starrte ihn nur fasziniert an und fand ihn einfach wunderschön!
In einem Impuls legte er seine freie Hand um die Wange des Jungen und strich sanft mit dem Daumen über die glatte Haut der Wange.
„Was?“ Kristijan reagierte zeitverzögert, als ihm klar wurde, dass Ante mit ihm gesprochen hatte. Irritiert wollte er seine Hand zurückziehen, als Ante nach ihr griff und sein Gesicht hineinschmiegte. Schräg von unten sah er Kristijan in die Augen und wiederholte seine Worte.
„Tut mir leid, ich wollte mich nicht so auf deine Beine plumpsen lassen. Ich hoffe, ich habe dir nicht weh getan.“
Leise lachte Kristijan auf: „Du Leichtgewicht?“ Dann wurde er umgehend ernst: „Wirklich, Ante, du warst noch nie dick oder übergewichtig. Im Gegenteil! Aber jetzt, nach deiner Lungenentzündung, bist du besorgniserregend dünn!“
Ante seufzte. „Ich weiß! Die Ärzte und meine Mutter haben auch schon geschimpft, aber ich bekomme einfach nichts runter. Da ist so ein Gefühl in meinem Bauch. Es kribbelt und füllt meinen ganzen Magen aus. Ich spüre noch nicht einmal meinen Hunger, da ist einfach kein Platz mehr in mir!“
Oh, ja! Dieses Kribbeln im Bauch hatte Kristijan in den letzten Tagen auch zu genüge kennen gelernt.
Nur, dass er ausreichend zum Zusetzten hatte, Ante jedoch nicht.
Antes Worte setzten Wärme in Kristijans Inneren frei. Es war wie ein sanftes Glühen, das ihn verzehrte, ihn verschlang, transformierte und zu etwas anderem zusammensetzte.
Es gab keine Wertung, kein Besser oder Schlechter. Nur eben anders, ohne es definieren zu können, ja sogar ohne es erklären zu wollen! Solange er in Antes Nähe sein konnte, solange er nicht darüber nachdenken musste was hier gerade geschah, war alles gut. Nur nicht grübeln, in seinen Gedanken versinken, so wie er es zu Hause getan hatte. Lieber diese Wärme spüren, die Antes Körper ausstrahlte, den berauschenden Duft inhalieren und sich ganz fühlen. Komplett sein, in seinem Empfinden, die Puzzleteile finden, die ihn erst zu dem Kristijan machten, der auf eine schwer zu bestimmende Weise richtig war.
Weil er echt war.
Zum ersten Mal in seinem Leben unverfälscht - pur.
Gleichzeitig machten diese Gedanken und Gefühle ihm eine Höllenangst.
Er wagte es in diesem Zusammenhang noch nicht einmal das Wort zu denken, das ihn mit Ante auf eine Stufe stellen würde.
Ante war schwul.
Das stand fest, aber er, Kristijan, doch nicht, oder? Er schlief mit Mädchen, hatte bisher nicht einen Gedanken an männliche Körper verschwendet, aber Ante veränderte alles ...
Bevor er wieder zu tief in diesen Gedankensog hineingezogen werden konnte, legte Kristijan eine Hand in Antes Nacken und zog den Mund, der ihn so verführerisch anlächelte, näher an seinen eigenen.
Und mit einem Schlag waren alle vorherige Überlegungen nichtig.
Etwas, das sich so gut anfühlte, so echt, konnte nicht falsch sein. Sie gehörten zusammen. Es war egal, wie dieses Vorher gewesen war, wie die Dinge früher abgelaufen waren. Kristijan spürte es tief in sich, spürte es an Antes Reaktion, an dessen sehnsüchtigen Seufzer und wie er sich anschmiegte.
Das war es! Nur so konnte es sein!
Nur so konnte es wahrhaftig sein!
In seiner schönsten und besten Bedeutung.
Dann waren alle Überlegungen für kostbare Augenblicke dahin, verloren, abhandengekommen. Nichts zählte, nichts anderes wurde wahrgenommen. Nun dieses süße Gefühl des Ineinanderverlieren, als sich erst ihre Münder, dann ihre Zungen begegneten.
Und das zuvor beschriebene Kribbeln im Bauch explodierte zu wilden Schmetterlingsschwärmen, die gegen die Grenzen setzende Enge ihrer Körper anstürmten. Es gab nicht genug Platz in ihnen für überbordende Gefühle, für dies Wirrwarr an Empfinden, Sehnen, Wollen und purer Bedürftigkeit nach noch mehr Nähe. Ohne dass einer von beiden in der Lage gewesen wäre diese Nähe weiter zu erklären. Kristijan erahnte eventuell durch seine Erfahrungen dieses Mehr, spürte und wusste was sein Körper verlangte, wenn er Ante in den Armen hielt, wie gerade. Sein geliebtes Gewicht auf seinem Schoß spürte und die Brandnester, die diese Nähe in seinem Körper entzündete.
Instinktiv stieß er mit der Hüfte nach oben, wollte mehr Druck, mehr Berührung.
Ante stöhnte leise in den Mund, der ihn so begehrlich küsste. Er spürte die größer werdende Härte von Kristijans Erektion an seinem Po. Wusste sehr wohl was es bedeutete und konnte doch nicht glauben, dass er es war, der diese Reaktion in Kristijan hervorrief.
Er schlang seine Arme um Kristijans Hals, hilflos klammerte er sich fest, drückte sich dem starken Körper weiter entgegen und spürte seine eigene Reaktion auf diese für ihn so fremde Intimität.
Seine Schlafanzughose konnte nicht verbergen, was sein Körper verriet.
Verwirrt und peinlich berührt wollte Ante sich zurückziehen, doch Kristijans Hände hielten ihn an Ort und Stelle.
„Nicht, Ante!“, bat er atemlos. „Bitte bleib! Ich … nur noch ein bisschen!“
Kristijan rieb sich immer eifriger, immer wieder stieß er nach oben, gegen den Widerstand, den Antes Körper bot. Sein Atem ging schneller, beinahe hechelnd. Jeder Gedanke, dass man sie eventuell sehen und erwischen könnte war aus seinem Kopf verschwunden.
Er musste … er brauchte mehr, nur noch ein kleines bisschen mehr. Nur noch ein wenig mehr Druck, mehr Reibung … mehr Ante.
Und Ante tat ihm den Gefallen, bewegte nun seinerseits seine Hüfte, presste sich auf die Erektion und hörte an Kristijans Stöhnen wie sehr ihm das gefiel. Für ein, zwei verlorenen Sekunden löste Ante ihre Körper voneinander und setzte sich so auf Kristijans Schoß, dass er nun kniete, seine Beine rechts und links neben Kristijan auf die Bank stützen und so sein Gewicht nun gezielt einsetzen konnte. In dieser Weise hatte nicht nur Kristijan etwas von der Berührung. Auch Antes Glied wurde nun zwischen ihren Körpern massiert, als Ante sich wieder fest an Kristijan drückte.
Doch bald schon zitterten Antes Knie vor Anstrengung, er hatte einfach nicht mehr genügend Kraft, um seinen Körper immer wieder ein wenig anzuheben.
Er überließ sich einfach vollkommen Kristijans Wollen, seinen Berührungen und Verlangen. Vertrauensvoll ließ er sich in die Berührungen fallen, in ihr gemeinsames Begehren. Ante ließ sich treiben, forcierte nichts, forderte nicht, war nichts als ein zitterndes Bündel Mensch, überwältigt von der unübersichtlichen Vielzahl der ungewohnten Empfindungen seines Körpers.
Wie ein Stromstoß fuhr jedwede Bewegung direkt in seine Mitte.
Ante warf den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken, er ahnte nicht, wie verboten aufreizend die Bewegung auf Kristijan wirkte.
Der stöhnte plötzlich laut auf, noch ein zwei Mal bockte sein Unterleib nach oben, stieß gegen Ante und schließlich entlud Kristijan sich zuckend in seiner Hose.
Heftig atmend drückte er Ante noch fester an sich, vergrub seinen Kopf an dessen Schulter, küsste zärtlich den schlanken Hals und alleine der leise Hauch von Kristijans Atem auf Antes bloßer Haut ließ auch ihn kommen.
Wie ein erstickter Schrei erreichte Antes Stimme das Ohr des anderen Mannes: „Kristijan!“
In diesem einen Wort offenbarte sich eine ganze Welt.
Sehnsucht, Hoffnung, Glaube und Vertrauen.
Beide waren überwältigt von den Gefühlen. Von ihren Empfindungen, die der andere auslöste.
Ante war einfach nur glücklich, er wollte in dieser Sekunde nirgends anders sein, wollte nichts weiter als dem Herzschlag des Mannes lauschen, dem er bereits mit Leib und Seele verfallen war.
So entging ihm die wechselnde Mimik in Kristijans Gesicht.
Das zärtliche Leuchten wurde abgelöst von Unsicherheit, dem Erkennen der Umgebung, dem Wissen, was passiert wäre, wenn man sie gesehen hätte … und Angst.
Für einen Moment schloss Kristijan die Augen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er schluckte hart, biss die Zähne aufeinander.
Wie konnten diese ganze Situation nur so verdammt zwiespältig sein?
Es war wunderbar Ante zu halten, sein Vertrauen, ja sogar Bewunderung zu spüren und gleichzeitig wusste Kristijan nicht, ob die Gefühle, die er für Ante hegte auch den spöttischen und bösen Kommentaren seiner Umwelt standhalten würde. Hatte er überhaupt den Mut zu Ante zu stehen, wenn sie jemand zusammen sehen würde?
Kristijan schauderte leicht, nach dem Hoch seines Körpers folgte nun ein plötzliches seelisches Tief und ihm war zum Weinen zumute.
Ungeschickt verbarg er seine Stimmung indem er sich erhob, Ante dabei weiter in den Armen hielt und ihn dann sanft aber bestimmt in den Rollstuhl setzte.
„Wir bringen dich wohl besser wieder hinein. Der Wind wird langsam kühl und wir wollen doch nicht riskieren, dass du erneut krank wirst.“
Ante war etwas verwirrt über den plötzlich veränderten Tonfall. Dieses unpersönliche „Wir-Gesäusel“, das er eigentlich nur von den Ärzten kannte, irritierte ihn. Aber er musste zugeben, dass ihm nun, ohne Körperkontakt, tatsächlich ein wenig kalt wurde. Und auch wenn er es nicht wirklich nachvollziehen konnte, mit einem Schlag war er tatsächlich unendlich müde. Er hatte keine Ahnung wie sehr Adrenalin und Hormone seinen Körper gepusht hatten, doch nun hatte er wirklich Schwierigkeiten die Augen aufzuhalten.
In Antes Zimmer wartete bereits eine Schwester auf ihn, da er zu einem Lungenfunktionstest sollte. Dementsprechend fiel ihr Abschied sehr kurz aus und Kristijan war geschockt über die Erleichterung, die er spürte. Er hätte nicht gewusst, wie er sich verabschieden sollte. Nie im Leben hätte er sich getraut Ante vor den Augen der anderen Leute zu umarmen, geschweige denn ihn zu küssen. Ganz zu schweigen davon, dass er hoffte durch den dicken, dunklen Stoff seiner Jeans würde niemand den verräterischen, nassen Fleck sehen. Ante war schnell in das winzige Badezimmer verschwunden, doch er , Kristijan selbst, musste ja auch noch nach hause kommen.
Die nächsten Stunden zu Hause und die folgende Nacht waren quälend in ihrer Unendlichkeit. Unruhig warf Kristijan sich von einer Seite auf die andere, seine Bettwäsche lag zerknüllt am Fußende seines Bettes und er fühlte sich, als hätte er zum Abendessen eine Kanne extrastarken Kaffees alleine ausgetrunken.
In seinen Gedanken wirbelte das Erlebnis mit Ante im Park und seine eigenen Ängste in einer Endlosschleife umher. Teils war er sich sicher, er würde Ante nicht mehr besuchen gehen, teils stockte ihm der Atem bei der Vorstellung Ante nicht mehr zu sehen.
Er war sich absolut sicher etwas für Ante zu empfinden, doch gleichzeitig fürchtete er die Reaktionen der anderen.
Im Endeffekt lief alles auf eine einzige Frage heraus.
War er stark genug?
Stark genug mit Ante dem Rest des Dorfes entgegenzutreten?
Stark genug die Reaktionen zu erdulden und die Konsequenzen zu ertragen?
Und … was würde sein Vater sagen?
Kristijans Mutter war bereits kurz nach seiner Geburt gestorben und sein Vater hatte all seine Energie in seine Firma gesteckt, statt seine Trauer zu bearbeiten und hatte damit gleichzeitig seinen Sohn im Stich gelassen.
Kristijan und sein Vater vertrugen sich, ja, sich mochten sich, doch war von gegenseitigen Vertrauen, von Liebe keine Rede. Dafür waren sie sich zu fremd. Immerhin sollte Kristijan einmal die Fabrik erben und sein Vater Josip hatte alles getan, um ihm die entsprechende schulische Ausbildung zu ermöglichen.
Doch würde diese „Mögen“ reichen, um Kristijans Abartigkeit zu tolerieren?
Denn so nannte Josip die Menschen, die so waren wie Ante.
War jetzt auch er selbst abartig?
Der Morgen rückte näher und Kristijan hatte noch immer keine Antwort gefunden.
Wenn Antes Gegenwart alleine reichte, um das Schlechteste in seinen Mitmenschen hervorzurufen, nur weil er scheinbar nicht in das Bild dieser gestandenen Männer passte, was würde dann erst geschehen, wenn die Dorfgemeinschaft von der tatsächlichen Andersartigkeit erfuhr? Was würden sie Ante antun … und was ihm selbst?
Nichts in seinem Leben hatte Kristijan auf diese Zerrissenheit, die er nun spürte, vorbereiten können. Nichts half ihm die Gefühle und Emotionen zu verstehen oder zu verarbeiten. Es gab niemanden, den er um Rat hätte fragen können.
Dennoch war er am nächsten Mittag wieder im Krankenhaus und erneut begegneten sie sich wieder voller Zuneigung, voller Hingabe. Wie könnte es anders sein, wenn Liebe die Handlungen diktierte und den Verstand außer Kraft setzte?
In der Nacht wünschte Kristijan sich, er könnte seinen Kopf ebenso abschalten wie er es am Nachmittag bei Ante getan hatte, doch die Dunkelheit lieferte die Leinwand, auf der er alle Ängste und Ungewissheit projizieren konnte und es raubte ihm erneut den Schlaf.
Drei Tage später wurde Ante unter strengen Auflagen aus dem Krankenhaus entlassen.
Anstrengung und körperliche Arbeit war erst einmal strikt untersagt, einfach Spaziergänge am Meer waren erlaubt, jedoch langsam und in Maßen.
Ante hielt das Ganze zunächst für übertrieben, doch er war niemals glücklicher über sein Bett, als in dem Moment, wo er sich mit einem erleichterten Seufzer darauf niederlassen konnte.
Großer Gott, wieso waren die paar Stufen hinauf in die erste Etage nur dermaßen anstrengend? Er keuchte leise, seine Lungen schmerzten, in seinem Kopf hämmerte es und sein Körper fühlte sich an, als wäre jeder einzelne Muskel abhandengekommen.
Besorgt brachte seine Mutter ihm ein Glas Wasser, damit er seine Medizin nehmen konnte, die der Arzt ihnen mitgegeben hatte.
Alarmiert legte sie eine Hand an seine Stirn.
„Hast du wieder Fieber? Ruh dich ein bisschen aus! Ich mache dir eben eine Kleinigkeit zu essen.“
Doch Ante schlief bereits tief und fest, als sie mit einem beladenen Tablett wieder in seinem Zimmer erschien.
Leise stellte sie das Tablett auf den kleinen Nachttisch ab und beobachtete Ante in seinem Schlaf.
Sie betrachtete sein ebenmäßiges Gesicht, die langen dunklen Wimpern, den sanft geschwungenen Mund. Er war in ihren Augen wunderschön und sie las die Ähnlichkeit zu seinem Vater in seinen Zügen. Obwohl ihr verstorbener Mann nichts von Antes Zartheit besessen hatte, war doch eine unglaubliche Ähnlichkeit vorhanden.
Ein liebevolles Lächeln zeichnete ihr Gesicht, bevor ihr Ausdruck nach und nach in tiefe Besorgnis umschlug.
„Ich habe keine Ahnung, wie dieses ganze Elend beendet werden kann, mein Liebling! Aber ich werde an deiner Seite stehen!“
Zwei Stunden später wachte Ante auf, weil er spürte, wie sich jemand auf die Kante seines schmalen Bettes setzte.
Kristijan!
Sofort erhellte ein Leuchten sein Gesicht. Die Liebe, die er empfand strahlte aus seinen Augen, ließ ihn glänzen wie eine Kerze, die zu Ehren einer Gottheit angezündet worden war. Und wie könnte Liebe etwas anderes als göttlich sein?
Einen Augenblick konnte Kristijan nichts anders tun als dieses Glück, dieses offene Lächeln zu erwidern.
Doch dann wandte er sich ab, sah auf seine Hände, die er nervös knetete.
Ante setzte sich langsam und vorsichtig auf, schmiegte sich gegen den breiten Rücken und schlang seine Arme um den Körper, der auf eine seltsame Weise zusammengesunken aussah.
Wie konnte ein so großer Mann, mit diesen breiten Schultern aussehen, wie ein Häufchen Elend?
Besorgt fragte Ante nach: „Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“
„Ich – du! Wir müssen reden, Ante!“, stotterte Kristijan. Er sah noch immer nicht auf und machte keine Anstalten die Umarmung zu erwidern.
Unwillkürlich spürte Ante eine Gänsehaut, die seinen Rücken hinunterlief.
Er verspannte sich, spürte dabei die Schmerzen in seinem Rücken und war sich sicher, er wollte nicht hören, was Kristijan ihm zu sagen hatte.
Ante ließ die Arme sinken, mit einem Schlag schienen sie schwer wie Blei zu sein.
Er spielte Vogel Strauß, wollte nichts hören, nichts sagen, sich verstecken, er wollte alles tun, nur nicht die Worte hören, die in Kristijans Haltung, in seiner Gestik und Mimik bereits vorhanden waren.
Ante ließ sich nach hinten fallen, drehte sich auf die Seite, mit dem Rücken zu Kristijan.
„Ich bin müde, muss schlafen! Vielleicht kommst du besser später wieder?“
Er hörte selbst die Verzweiflung in seinen Worten, hörte die Ahnung über die Nutzlosigkeit dieser Ausflucht und konnte doch nichts anderes tun, als das Wissen um die ungesagten Worte zu verneinen.
Es durfte nicht sein!
Es durfte einfach nicht sein! Denn, was würde es mit ihm machen? Was würden Kristijans Worte ihm antun, wenn sie, einmal ausgesprochen, zur Wirklichkeit wurden?
„Bitte, Ante!“ Kristijans Worte klangen genauso gequält wie Ante sich fühlte. „Du weißt es doch selbst. Das, was wir da machen ist nicht normal. Es darf nicht sein. Was, wenn es jemand erfährt, wenn uns jemand sieht?“, sagte Kristijan.
Plötzlich wurde es Ante eiskalt, obwohl er unter seiner Decke lag und die Temperatur draußen bestimmt 25 Grad betrug.
Diese innere Kälte übertrug sich auf seine Stimme als er antwortete: „Ist das alles, was du befürchtest? Dass dich jemand sieht? Dass dich jemand mit dem Dorfnarr zusammen sieht?“
Wütend fuhr Kristijan herum, sah auf Ante herunter: „Hör auf! Du weißt, dass es nicht so ist! Was die anderen in dir sehen interessiert mich nicht und du solltest ihren Worten auch keinen Glauben schenken!“
„Aber warum willst du dann beenden, was noch nicht einmal wirklich begonnen hat? Ich spüre es doch. Ich bedeute dir auch etwas, genauso wie du mir! Ich will - ich kann das nicht, Kristijan. Ich war immer alleine und ich kam damit klar. Aber du hast mir gezeigt, wie es ist jemanden zu haben … jemand zu sein! Wenn du jetzt gehst, tut es weh, Kristijan! Mehr als vorher! Bitte lass mich jemand sein! Lass mich wichtig sein!“
Ungehindert liefen heiße Tränen über Antes Wangen.
Er konnte und wollte sie nicht zurückhalten. Sie waren egal, nebensächlich! Wichtig war Kristijan! Nur Kristijan und der Schmerz, den er hinterlassen würde.
Auch Kristijans Stimme wackelte, war nicht fest, als er Ante antwortete.
„Ante, ich … ich mag dich doch auch sehr! Ja, es ist wahr. Du bedeutest mir etwas. Aber wie kann das sein? Du bist ein Mann und ich auch. Es ist nicht recht. Wenn mein Vater das mitkriegt ...! Ich … du weißt nicht was er von Leuten wie d… von Homosexuellen hält. Er hasst sie!“
Wieder einmal hörte und verstand Ante sehr genau den unterbrochenen Satz.
„Von Leuten wie mir? Kristijan, wenn du mich wirklich magst, bist du auch einer wie ich!“
„Das - ! Nein, ich bin nicht schwul! Ich hatte noch nie etwas mit einem Kerl und werde nie etwas mit einem Mann haben … Alleine die Vorstellung macht mir Angst. Mit Frauen habe ich schon öfters geschlafen. Die Touristinnen machen es einem Mann nicht schwer …! Das kann nicht, Ante … Es kann nicht sein!“
„Warum nicht? Weil es nicht sein darf? Das ist mir egal, weil es sich für mich richtig anfühlt. Etwas, was sich so gut und so echt anfühlt, kann nicht falsch sein! Glaubst du denn wirklich, ich hätte schon einmal so etwas erlebt? Es macht mir auch Angst und gleichzeitig war noch nie etwas so wunderschön wie deine Küsse, deine Arme und deine Nähe!“
Antes Stimme wurde immer wieder von seinem Schluchzen unterbrochen. Sein Rücken schmerzte vor Anspannung. Sein Weinen und seine Worte wurden immer wieder von Husten unterbrochen, nur mühsam füllten seine Lungen sich mit Sauerstoff, doch er kämpfte wie ein Löwe. Mit sich, mit seinen Emotionen, mit seinen Handicaps, er kämpfte um Kristijan und um das, was zwischen ihnen sein könnte, wenn es die Chance bekam zu wachsen. Ante, der stille, geschlagenen Junge hatte mehr Mut zu sich und seinen Gefühlen zu stehen, als der Junge, der im Leben stets auf der begünstigteren Seite gestanden hatte.
Vielleicht auch einfach nur, weil er die Verachtung und die Missachtung seiner Mitmenschen gewöhnt war! Etwas, das Kristijan noch nie erlebt hatte, was er noch nie hatte aushalten müssen und alleine die Vorstellung bereitete ihm eine Höllenangst!
In einer stummen Verneinung schüttelte Kristijan den Kopf. Er konnte nicht, er durfte nicht, auch wenn sein ganzes Sein geradezu danach schrie den weinenden Ante in die Arme zu ziehen und ihn zu trösten.
Ein paar Worte nur, ein kleines Nachgeben und Ante würde nicht mehr weinen. War es nicht leichter, als Antes Schmerz zu erleben? War Antes Lächeln, das Leuchten in seinen Augen nicht jeden Preis wert?
Dann sah Kristijan wieder die Gesichter der Dorfbewohner vor sich, sah ihre Verachtung, wenn sie über Ante sprachen. Über den Jungen der „anders“ war, kein richtiger Mann. Er hörte seinen Vater in die gleiche Kerbe schlagen. War er selbst so, wie die anderen Männer von Schwulen redeten?
„Nein! Ich kann nicht, Ante. Ich kann nicht so sein, wie du mich willst. Es tut mir leid. Wir können Freunde sein, ich komme zu dir und besuche dich, aber mehr kann nicht sein. Mehr kann ich dir nicht geben!“
Nun liefen auch Kristijan die Augen über, eine Träne nach der anderen tropfte auf Antes Bett, versickerte in dem dünnen Kopfkissen.
„Es tut mir leid, Ante! Es tut mir so leid!“
Beide wussten, das Versprechen auf Freundschaft war null und nichtig. Es würde nicht funktionieren!
Kristijan stand auf, er streckte bereits seine Hand zur Türklinke aus, als Antes verzweifelter Ruf ihn stoppte.
„Ich liebe dich, Kristijan!“
Antes Stimme stockte immer wieder, während seine Emotionen ihn überrollten.
Kristijan stand wie erstarrt, keine Muskel rührte sich, während sein Gehirn die vernommenen Worte immer wieder hin und her drehte. Worte, die wie ein Echo in seinem Kopf widerhallten, lauter wurden, auf eine Erwiderung drängten, die er nicht geben konnte.
Kristijan hörte hinter sich ein schmerzerfülltes Keuchen und das Rascheln von zur Seite geschobenen Leinen, dann das leise Tappen nackter Füße auf Holzdielen.
Ergeben schloss Kristijan die Augen, als er Antes zittrige Arme um sich spürte.
„Ich liebe dich, Kristijan! Hörst du?“
Mit einem leisen Aufschrei wandte Kristijan sich um, zog den wesentlich kleineren Jungen heftig in seine Arme und küsste Ante. Küsste ihn voller Verzweiflung und so heftig, als hinge sein Leben davon ab.
Immer und immer wieder.
Ante klammerte sich an Kristijans Hals, war nicht mehr in der Lage alleine zu stehen, da ließ Kristijan ihn unvermittelt zu Boden gleiten, ließ ihn los und beugte sich über ihn
„Es tut mir leid, ich kann nicht!“ Er wiederholte seine Worte von eben, flüsterte sie verzweifelt in Antes Ohr, wusste nicht, ob er Ante zu überzeugen suchte oder sich selbst. Dann flüchtete er aus der kleinen Kammer und der Schmerz in Antes Aufschrei quälte sein ohnehin zerrissenes Herz.
Marija stürmte alarmiert die Treppe hinauf, während ein verstörter Kristijan sich an ihr vorbeiquetschte.
Sie sah ihren Jungen auf dem Boden, hört sein untröstliches Weinen und verstand ohne Erklärung, ohne Worte.
Sie hatte es geahnt, hatte es befürchtet, als sie im Krankenhaus Kristijans Augen gesehen hatte. Als sie die Liebe gesehen hatte, die dieser reiche Junge ihrem Sohn entgegenbrachte, aber auch seinen gehetzten und überforderten Blick.
Ratlos und hilflos stand sie für einen Moment der Situation gegenüber, bis ein lauter Hustenanfall, mit akuter Atemnot sie aus ihrer Betrachtung riss.
Jetzt galt es erst einmal Ante zu trösten.
Sie beugte sich zu ihm herunter, zog ihn vorsichtig an den Armen.
„Komm, Ante! Du musst unbedingt wieder ins Bett. Ich helfe dir auf.“
Doch er rührte sich nicht, nur sein untröstliches Weinen wurde lauter.
Tränen des Mitleids ließen Marijas Blick verschwimmen.
„Komm schon, Liebling, bitte!“, flehte sie und wusste nicht worum sie bat. Sollte er endlich ihre Hilfe annehmen und aufstehen, sollte er nicht mehr weinen, oder galt ihre Bitte eher dem Umstand, dass er sie überhaupt wahrnehmen sollte?
Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, kniete sich vor Ante und zog ihn einfach in ihre Arme.
Sofort schlangen sich seine Arme um ihren Hals und er vergrub seinen Kopf in ihrer Halsbeuge.
„Warum, Mama? Warum so plötzlich?“
Er stellte es nicht in Frage, dass seine Mutter eventuell gar nicht wusste um was es ging. Seine Gram verbot jede logische Überlegung, ließ nur Platz für die Frage, die sein Herz am brennendsten interessierte.
Sie gab ihm keine Antwort, weil er das, was sie sagen würde, ganz bestimmt nicht hören wollte.
Nämlich, dass Kristijans Fortgang in ihren Augen die einzig richtige Lösung war.
Ihr Junge musste schon genug ertragen. Was würde geschehen wüssten die Dorfbewohner die Wahrheit über ihn? Dabei spielte es für Marija keine Rolle, warum Kristijan wirklich gegangen war. Sie wusste nur, dass ihr Leben ohne ihn vermutlich einfacher werden würde.
Sie gab Ante die Zeit sich auszuweinen, obschon ihr Rücken und ihre Knie schmerzten. Endlich hatte er sich soweit beruhigt, dass Marija ihn in sein Bett führen konnte. Sofort drehte er sich auf die Seite, zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit seinen Armen und schloss die Augen.
Er wollte nur noch schlafen. Was interessierte ihn eine Welt, die nun ohne Kristijan sein sollte? Ohne dieses Gefühl echt zu sein. Wahrgenommen zu werden und für das geschätzt zu werden, was man war.
War seine Welt vor Kristijan noch in grau gezeichnet, wurde sie ohne ihn nun schwarz.
Kapitel 8
Es dauerte Tage bis Ante sich von seinem Schock erholte. Tage, in denen er nichts aß, in seinem Bett lag und grübelnd vor sich hin starrte.
Erst als seine Mutter vor lauter Sorge um ihn in Tränen ausbrach, raffte er sich ein wenig auf. Nur mit Mühe schaffte er es die Treppe hinunter. Auf Drängen seiner Mutter setzte er sich draußen auf die kleine, blau gestrichene Bank vor ihrem Haus. Dort packte seine Mutter ihn in eine Decke und fütterte ihn nahezu mit einer Suppe. Denn nur mit Bitten und Betteln brachte sie ihn dazu wenigstens ein paar Schlucke zu sich zu nehmen.
Ante sah furchtbar aus. Schmal und blass mit dicken Ringen unter den Augen sah er schlimmer aus als unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus.
Nach und nach kamen einige Nachbarn an dem kleinen Häuschen vorbei und warfen teils neugierige, teils wertende Blicke auf den Jungen, der müde seinen Kopf gegen die Wand gelehnt hatte und mit geschlossenen Augen ein wenig der Sonne nachspürte, die in sein Gesicht schien.
Er bemerkte die Blicke nicht und wenn, es hätte ihn nicht gestört. Es war es gewohnt in dieser Weise gemustert zu werden.
Nicht jedoch Marija.
Ihr Nervenkostüm war mehr als strapaziert durch die vergangenen Wochen. Die dunklen Tage der Angst, die mit dem Verlust ihres Sohnes drohten, sein anschließender Zusammenbruch, die finanziellen Sorgen. Und nun diese Blicke, die sie wie Nadelstiche spürte, obgleich sie ihrem Jungen galten und nicht ihr.
Als wieder einige Leute vorbeikamen und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, reichte es Marija.
„Habt ihr genug geglotzt? Habt ihr eure Mäuler nun genug zerrissen? Ja! Seht ihn euch nur gut an! Das ist eure Schuld. Euer Hass und eure Ignoranz hätten beinahe meinen Sohn getötet. Seht ihn an und schämt euch!“, schrie sie die vorübergehenden Dorfbewohner an.
Geschockt öffnete Ante die Augen und versuchte schwach sich aus der Decke zu befreien.
„Mamma, nicht!“
Ante ahnte, nein wusste, dass jedes Wort wie ein Bumerang auf ihn zurückfallen würde. Niemand ließ sich gerne einen Spiegel vorhalten, besonders nicht, wenn das gespiegelte Bild das Gesicht der Schuld zurückwarf.
Endlich hatte er sich aus seiner Decke befreit, seine Beine zitterten vor Schwäche, als er zu seiner Mutter ging, die so aussah als würden ihre Nachbarn gleich noch ein paar ungeliebte Wahrheiten zu hören bekommen.
Als er endlich bei ihr war, musste er sich an ihrem Arm festhalten, weil sein dehydrierter und unterernährter Körper kaum mehr in der Lage war ihn aufrecht zu halten.
„Mama, bitte!“, bat er leise und versuchte sie in das Innere des Hauses zu ziehen.
Mit blitzenden Augen fuhr sie zu ihm um, fast war er erstaunt, dass keine Funken aus ihnen stoben.
„Und du! Was hast du vor? Willst du dich weiter vor ihnen ducken? Willst du weiter den Märtyrer spielen oder fängst du endlich an zu leben?“
Ante zuckte unter ihren harschen Worten zusammen.
Die Nachbarn nutzen die Gelegenheit Marijas Aufmerksamkeit zu entkommen und verdrückten sich leise. Nicht jedoch ohne ihre Köpfe über diese Familie zu schütteln, die in ihren Augen nicht ins Dorf passte.
Eine Witwe, die ihren Sohn alleine großzog, ohne sich neu zu verheiraten ...
Es war nie ausgesprochen worden, doch die Frauen des Dorfes fürchteten die Freiheit Marijas und die Konkurrenz, die diese ungebundene Frau bedeutete. Jede Geste, jedes Gespräch, das Marija mit einem der Männer des Dorfes führte, wurde misstrauisch beäugt und kommentiert.
Ein Sohn, der mehr einem Mädchen glich, statt der gewohnten Maskulinität der Küstenbewohner zu entsprechen.
Das kam eben dabei herum, wenn man einen Jungen verzärtelte und ihn ohne männliche Führung aufwachsen ließ.
Egal, wie dumm und rückständig diese Ansichten waren, stellten sie für die Dorfbewohner eine unbestrittene Tatsache dar, die schwer zu widerlegen war. Weil es hieße sich mit Marija und Ante zu beschäftigen, Empathie zu entwickeln und Aufmerksamkeit zu schenken. Dinge die in diesem kleinen Fischerdorf einfach nicht in das alltägliche Dasein passten. Die Menschen waren nicht wirklich schlecht oder böse. Man hatte nur genug zu tun mit dem eigenen Leben, mit dem eigenen Kampf um das tägliche Brot, den Ängsten und den Ungewissheiten, die das Meer in seiner natürlichen Willkür diktierte. Da blieb kein Platz für die Not und das Elend einer kleinen Familie. Man war nur froh und betete, dass dieses Elend an der eigenen Familie vorüberzog. Eine gehörige Portion nicht eingestandenen Aberglaubens ließ die Menschen Vogel Strauß spielen. Warum sich mit dem Unglück anderer beschäftigen? Besser nicht hinsehen und die Schicksalsgöttin des Meeres nicht auf sich aufmerksam machen.
Die schwere Arbeit auf See war zu gefährlich, der Ausgang einer jeden Fahrt zu ungewiss. Lieber kein Unglück berufen, indem man darüber nachdachte.
Endlich wich Marijas Wut und machte Platz für erneute Sorge als sie Antes Zustand gewahr wurde.
Kleine Perlen kalten Schweißes glitzerten auf Antes Stirn und Oberlippe. Sein Gesicht war nicht nur blass, sondern beinahe wächsern. Sofort griff sie stützend nach ihm, wollte ihn wieder zu der kleinen Bank vor dem weiß getünchten Haus führen, da sagte er leise: „Lieber wieder hinein, Mama!“
Sie sah seine Verletzung über ihre unbedachten Worte in seinem Blick, erkannte, wie nahe er am Ende seiner Selbstbeherrschung war und wusste er wollte hinein, um den Nachbarn kein erneutes Schauspiel zu bieten.
Also nickte sie stumm, stütze ihn, erschrocken über seine Schwäche und brachte ihn die steile Stiege hinauf in sein Zimmer.
Kaum lag er in seinem Bett, drehte er ihr den Rücken zu.
„Oh, Ante! Es tut mir leid, Liebling! Ich habe es nicht so gemeint, aber ich war so wütend über ihre Blicke, ihre mitleidlose Abschätzung. Das hast leider du abbekommen. Du weißt, dass ich dich liebe!“
„Schon okay, Mama! Ich bin nur müde!“, nuschelte Ante, seine Stimme klang gequält und tatsächlich müde, so unendlich müde.
Marija schluckte ihre erneuten Tränen herunter, erstickte beinahe an ihnen, weil sie hinauswollten, sich nicht erneut durch eine enge Kehle hinabquetschen, sondern der Welt mitteilen wollten, wie ungerecht sie war.
Doch diese Welt drehte sich desinteressiert einfach weiter, nahm nicht das Leid wahr und den Kummer, drehte sich den Abend und dem folgenden Morgen entgegen, so wie sie es schon immer tat. An ihrem Platz, am Rande der Galaxis, die so gewaltig war, so kraftvoll, doch teilnahmslos gegen die Kümmernisse dieser kleinen Staubkörner, die sich Menschen nannten.
Der nächste Morgen weckte Ante durch die leisen Fetzen einer Konversation die von unten aus der Küche zu ihm hinauf drang
Die Stimme eines Mannes.
Ante konnte sie nicht zuordnen, diese Stimme, die tief und ruhig war, befehlsgewohnt.
Endlich regte sich wieder so etwas wie Neugierde in ihm.
Er erhob sich, ging mühsam die Stufen hinunter, stützte sich mit beiden Händen am Treppenlauf ab. Das leise Tappen seiner nackten Füße war beinahe nicht zu vernehmen, ging unter im Wortwechsel der beiden Menschen in der Küche.
Endlich sah er, mit wem Marija redete.
Zu seinem absoluten Erstaunen sah er Josip Vucovic. Was machte Kristijans Vater hier? War Kristijan irgendetwas geschehen? Doch bevor Ante sich bemerkbar machen konnte, erstarrte er plötzlich, als er den Sinn des vor ihm geführten Gesprächs erfasste.
„Ich werde die Miete bezahlen, wirklich! Nur diesen Monat geht es nicht. Die Medikamente waren teuer und Ante kann noch nicht mitarbeiten!“
„Marija, ich dränge Sie nicht! Doch spätestens nächsten Monat muss alles seinen geregelten Weg nehmen. Ich kann Ihre Lage verstehen, aber ich bin nicht die Wohlfahrtshilfe. Sie müssen auch mich verstehen!“
Marija senkte den Kopf: „Natürlich gospodine Vucovic!“
Ante schaffte es gerade noch sich in die kleine Abstellkammer zurückzuziehen, bevor die schweren Schritte des Mannes an ihm vorüberzogen und er die Haustür zufallen hörte.
Umgehend stand er in der Küche und starrte seine Mutter an, die mit gesenkten Kopf dastand und seine Gegenwart noch gar nicht registriert hatte.
„Mama, was hast du getan?“
Marija zuckte unter seinen Worten zusammen.
„Was … ich weiß nicht wovon du redest“, antwortete sie.
„Tu nicht so, ich habe dich und gospodin Vucovic gehört. Wieso sollst du Miete zahlen für unser eigenes Haus?“
„Weil ich deine Krankenhausrechnung irgendwie bezahlen musste!“ Es brach laut aus Marija heraus. „Meinst du denn ich hätte dich sterben lassen, nur weil wir arm sind? Ich tat das, was ich tun musste!“
Dann brach sie in Tränen aus. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Geld zukünftig zusammenbringen sollte.
Sie war froh und dankbar gewesen, als Kristijans Vater auf sie zugekommen war und ihr das Geld für das Häuschen angeboten hatte. Ihr Haus war das Einzige gewesen, was auf dieser Straße noch in Privatbesitz war, alle andern Häuser ihrer Nachbarn gehörten schon Vucovic. Man munkelte, er hätte größere Pläne, um den Tourismus weiter anzukurbeln, aber genaueres über diese Gerüchte wusste niemand.
Auf jeden Fall war er schnell bereit gewesen, die Krankenhausrechnung zu übernehmen und bekam im Gegenzug die Besitzurkunde über das Haus.
„Mama!“, stieß Ante entsetzt hervor. „Wovon willst du Miete zahlen? Wir hatten so schon nie genug!“
„Dann muss ich eben noch mehr arbeiten und du musst schnell wieder gesund werden, Ante. Sonst haben wir bald kein Dach mehr über dem Kopf.“
Dennoch liefen ihre Tränen weiter. Die Unsicherheit der Zukunft zerrte an ihr, nichts war gewiss.
Nur eines wusste Marija genau. Sie hatte absolut richtig gehandelt. Antes Leben war mehr wert als ein paar Balken, Mauersteine und Dachziegel. Und wenn sie betteln gehen musste. Sie würde auch heute nicht anders handeln. Ohne diesen Krankenhausaufenthalt wäre Ante wahrscheinlich nicht mehr bei ihr. Und was sollte sie mit einem Haus, das nichts beherbergte außer den Gesichtern der Vergangenheit? Ein Haus, in dem nur die Gespenster ihres Mannes und ihres Sohnes umgegangen wären.
Nein!
Notfalls lieber unter einer Brücke, als ohne Ante.
„Oh, Mama!“, seufzte Ante und wusste doch genauso wenig wie seine Mutter, wie es nun weitergehen sollte. Immerhin rüttelte ihn dieses Wissen genug auf, um wieder einige wenige Lebensgeister in ihn zu wecken.
Dazu gehörte die Verantwortung für das Wohlergehen seiner Mutter zu sorgen. Er musste seinen persönlichen Kummer beiseiteschieben und endlich wieder funktionieren.
Ab diesem Tag fing er endlich wieder an vernünftig zu essen und blieb nicht mehr nur im Bett.
Dennoch dauerte es, bis sein malträtierter Körper wieder einigermaßen funktionierte.
Obwohl es Ante nicht gerne tat, ging er nun wieder regelmäßig hinunter in den Hafen, besorgte Lebensmittel und die Dinge des täglichen Bedarfs in den Geschäften und Läden, um seine Mutter zu entlasten.
Meist war er froh, wenn man ihn einfach nicht beachtete, doch ab und an kamen diese Einkäufe einem Spießrutenlauf gleich.
Schlimm wurde es, als er auf Joso traf.
Ante hatte im Stillen schon auf diese Begegnung gewartet, sie befürchtet, doch hatte er sie bisher umgehen können, denn meist ging Ante tagsüber hinunter zum Hafen, zu den Zeitpunkten, an denen die Männer des Dorfes mit ihren Booten auf dem Meer unterwegs waren.
Doch an diesem Tag hatte er Pech. Das Boot von Josos Vater hatte einen Motorschaden, dementsprechend mies war Josos Stimmung. Sein Vater hatte ihn bereits von Bord geworfen, während er mit einem Bekannten verzweifelt versuchte dem uralten Motor wieder Leben einzuhauchen und Joso war ihm nur im Weg gewesen. Keiner wagte daran zu denken, was geschehen würde, sollte die Reparatur nicht gelingen.
Ante trug gerade den Korb mit den teuer erkauften und teilweise eingetauschten Lebensmittel die enge Altstadtgasse hinauf, da trat Joso ihm mit einem bösen Funkeln in den Augen entgegen.
„Du bist ja noch hässlicher als gewöhnlich! Wieso traust du Vogel dich überhaupt noch unter normale Menschen?“
Ante tat ihm nicht den Gefallen in irgendeiner Weise auf diese Provokation zu reagieren, versuchte lediglich dem größeren und älteren Jungen auszuweichen.
Erneut vertrat Joso ihm den Weg.
„Was hast du da?“, fragte er neugierig und linste in den Korb. „Bohnen, Kartoffeln! Und was ist in dem Zeitungspapier? Lass mich raten, du hast unten beim alten Jerko ein paar Fische geschnorrt?“
Wieder versuchte Ante sich an Joso vorbeizuquetschen. Seine Beine zitterten, doch tapfer versuchte er sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Joso war damals auf der Klippe so furchtbar wütend gewesen und Ante hatte die unheilverkündende Geste nicht vergessen, mit der Joso ihn bedroht hatte.
Doch Antes Verhalten machte Joso auf seltsame Art noch aggressiver. Es war, als versuche er eine Grenze auszuloten, eine Grenze, die ihm endlich Einhalt gebieten würde, doch Ante war durch seine Erfahrungen nicht der Mensch, der ihm diese Grenze aufzeigen konnte.
„Du schnorrst Fisch, obwohl du zu dämlich bist auf einem Schiff dafür zu arbeiten, wie jeder anständige Mann?“
Ante verbiss sich den Kommentar, dass dies nicht seine Schuld war, sondern er nie die faire Chance erhalten hatte zu beweisen was er konnte.
Als Ante erneut versuchte an Joso vorbeizukommen, zog der mit einem heftigen Ruck Ante den Korb aus den vor Aufregung nassen Fingern und schüttete den Inhalt auf den staubigen Boden.
Ante keuchte erschrocken auf. Diese paar Lebensmittel waren alles, was sie sich für diese Woche noch leisten konnten. Sofort kniete er sich hin und wollte retten was noch zu retten war, da tickte Joso endgültig aus, als er Ante in dieser Geste vor sich sah.
Joso selbst hätte nicht erklären können was ihn zu dieser Gewaltbereitschaft trieb, er wusste nur, dass dieser seltsame Junge, der so anders war, als alles was er kannte, ihn durcheinanderbrachte. Seine pure Anwesenheit piekste Joso, verursachte ein unangenehmes Kribbeln unter der Haut. War wie ein Juckreiz, den man nicht mit einfachem Kratzen begegnen konnte. Schwelend, wie ein Feuer aus zu nassem Holz, bohrend, fragend, drängend … unheilverkündend. Wieso durfte dieser Ante es sich erlauben aus der Reihe zu tanzen, wieso durfte er Kristijan mit diesen großen Augen ansehen, wieso durfte er das tun, was er selbst gerne ...
Joso schlug zu.
Irgendwann war es vorbei.
Ante wusste nicht was Joso davon abhielt ihn endgültig fertig zu machen, er spürte nur, beinahe nebenbei, die Abwesenheit von sekündlich neu zugefügten Schmerzen.
Der Geruch von Fisch in zu viel Sommerhitze verbreitete sich in der schmalen Gasse. Da lag ihr letztes Essen, in den Schmutz getreten. Wie sollte er seine Mutter erklären, dass es in den nächsten Tagen nichts mehr zu essen geben würde, weil er es wieder einmal nicht geschafft hatte sich zu wehren?
Ante war in Versuchung, oh, in so starker Versuchung, einfach liegen zu bleiben.
Sein sehnlichster Wunsch war nicht das Böse ungeschehen zu machen, sondern die Augen zu schließen und die Kümmernisse dieser Welt außen vorzulassen.
Alle Sinneswahrnehmungen abschalten, versinken in einem Schlaf, der alles zudeckte, alles vergessen machte. Allen Schmerz negierte und die Welt zumindest für wenige Stunden zu einem besseren Ort machte. Das gleiche Empfinden wie damals im Meer. Tief unter der blauen Decke begraben, die von unten betrachtet so ruhig war, so friedlich und still.
Doch eine schrille Stimme an seinem Ohr riss ihn aus diesen trügerischen Betrachtungen. Als er mühsam die Augen öffnete sah er eine alte Nachbarin, die auf ihn zu kam, er verstand durch das Rauschen des Blutes in seinem Kopf keines ihrer Worte. Hörte nur den Altweibersopran, ohne den Sinn des Gesagten zu verstehen. Sah sie besorgt aus, war sie wütend?
Ante fühlte sich nicht in der Lage sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Er rappelte sich auf, erst aufgestützt auf Knien und Händen, dann schließlich wankend, auf zittrigen Beinen. Er stöhnte vor Schmerz, Blut lief von seinen zerschlagenen Lippen und der gehetzte Ausdruck eines in die Falle geratenen Tieres in seinen Augen ließ die Alte verstummen. Ante wandte sich um, er ging die Gasse nicht hinauf, in die Sicherheit seines Zuhauses, sondern er schlug schwankend, wie ein Betrunkener, wieder den Weg Richtung Hafen ein. Mühsam einen Fuß vor den anderen setzend. Ante bemerkte nicht die entsetzen Blicke, die ihm folgten, bemerkte kaum wohin seine Beine ihn trugen. Nur weg … er musste weg!
Des Öfteren war er gezwungen stehenzubleiben, weil er einfach nicht mehr konnte. Doch beständig raffte er sich wieder auf, flüchtete weiter vor seinen Gedanken, vor dem Schmerz, der in ihm wütete und keinen Unterschied machte, ob es der Körper war, der schmerzte oder die Seele. Erst als er minutenlang an einem Ort stand und seine Füße keinen Schritt mehr weiter gingen registrierte auch sein erschöpfter Geist, dass er hoch oben am Rande der Klippe stand.
Sein Blick fiel nach unten, fasziniert betrachtete er die Wellen, die sich heute stürmisch gegen die steilen Felsen warfen.
Ein Kampf von Titanen.
Das brüllende Meer gegen die Grundfesten der Erde.
Vor und zurück ...
Hypnotisch. In seinem steten uralten Rhythmus.
Mit dem Lied der Ewigkeit und dem Alter von Äonen.
Ante bemerkte seine Tränen nicht oder wie sein Körper diesen Rhythmus aufnahm, vor und zurück schaukelte, vor und zurück.
Den Blick noch immer in die Tiefe gerichtet, so beruhigend, so einschläfernd, einlullend in seiner Gleichmäßigkeit.
Verlässlich.
Es war mehr ein Déjà-vu, als er eine Stimme beschwörend rufen hörte: „Tu es nicht, Ante! Tu es nicht!“
Noch ehe er den Kopf wenden konnte, umfingen Kristijans Arme ihn und rissen ihn fort von der Kante.
In einem ungeordneten Knäuel aus Armen und Beinen stürzten sie zu Boden.
„Oh Gott, Ante! Was wolltest du da nur tun?“, schluchzte Kristijan.
Antes ferner Blick richtete sich wieder auf das Meer.
Was meinte Kristijan? Was wollte er damit sagen? Er wollte nur ein wenig Ruhe suchen, ein bisschen Frieden. Frieden, den er unten im Dorf nie finden würden.
„Ich – ich wollte gar nichts! Nur ausruhen!“, murmelte er. Worte, die der Wind von seinen Lippen riss, fast nicht zu verstehen, so leise, so still tropften sie zwischen ihnen, dass Kristijan beinahe nur aus der Melodie des Satzes den Sinn heraushören konnte.
„Ich habe es doch gesehen, du wolltest springen. So schwach wie du bist, hättest du das nicht überstanden. Siehst du nicht, wie groß die Wellen heute sind?“
Das Rauschen des Meeres klang wie ein gewaltiger Chor, eine spürbare Vibration der Luft, voller Energie. Ab und an hörte man das Geräusch einzelner großer Brecher, die direkt unter ihnen mit einem Ton gegen die Felsen schlugen, der sich wie ein lautes Wuff anhörten. Der melancholische Schrei einer Möwe verstärkte die Trostlosigkeit in beiden Jungen, die von ihrem Umfeld, von ihren Mitmenschen einfach zu stark gefordert wurden.
„Wollte ich springen?“ Ante war verwirrt, wusste noch nicht einmal genau wie er hergekommen war, oder welcher Geist ihn hergetrieben hatte.
Wollte er springen?
Nein!
Oder doch?
Der Sog der Tiefe, die Stimme des Meeres, die Hoffnung auf Frieden … Keine Schmerzen mehr. Endlich keine Schmerzen mehr!
„Ich habe dich doch gesehen, Ante, damals, unten im Wasser. Ich habe gesehen, wie du immer tiefer gesunken bist. Du hast dich nicht gewehrt, hast nicht gekämpft. Hast dich einfach immer tiefer sinken lassen.“
Ante schauderte in den Armen, die ihn hielten.
Er wollte verneinen, doch Kristijans Wort enthielten eine Wahrheit, der er sich bisher verweigert hatte.
Diese Sehnsucht in ihm, die Sehnsucht nach … nichts. Einfach nichts mehr spüren müssen, einfach nicht mehr nachdenken müssen, über graue Wege und dunkler Zukunft. Er erinnerte sich daran, wie vertraut der Ton der Stille war, dort unten im Wasser, aber auch als er im Krankenhaus gelegen hatte und glaubte seinen Vater zu sehen. Sie zog ihn an, die Stille! Zog ihn mit ihrem machtvollen Ruf. Es war so einfach sich ihr hinzugeben.
Ante konnte sich nicht daran erinnern, jemals in seinem Leben so müde gewesen zu sein.
„Bitte, Ante, bleib hier. Bei mir! Ich könnte nicht in einer Welt ohne dich leben! Bitte tu es nicht!“
Kristijans Tränen flossen unverhohlen.
Er gab sich selbst die Schuld an Antes Verzweiflung. Übersah dabei, dass er zumindest am ersten Vorfall nicht beteiligt war, außer, dass er es gewesen war, der Ante gerettet hatte. Auf mehr als eine Weise.
Er war es gewesen, der einem verzweifelten Jungen gezeigt hatte, was Leben hieß, wie es war geliebt zu werden. Liebe zu spüren und zu geben. Der Hoffnung weckte und die Gier nach dem Sein … Bis er Ante dieses Licht, diesen Hoffnungsschimmer aus Feigheit entzogen hatte. Die Wahrheit schlug mit der Gewalt eines Schmiedehammers auf die beiden Jungen ein. Und ihre Liebe war der Amboss auf dem dieser Hammer bei seinem Aufprall Funken schlug.
In Wirklichkeit hatte sich nichts verändert.
Nichts!
Je weltbewegender sie ihre Liebe empfanden, desto unbeteiligter reagierte ihre Welt. Der Hass und das Unverständnis würden nicht plötzlich verschwinden, nur, weil es gerechter wäre.
Ihre Tränen vermischten sich, als Kristijan verzweifelt Antes Gesicht an sich heranzog und ihn küssen wollte. Er schmeckte Antes Blut, das Salz seiner Tränen, spürte, wie der kleinere Jungen in seinen Armen aus Schmerz zusammenzuckte und wie Ante dennoch seine geschundenen Lippen auf seine presste.
„Was sollen wir nur tun?“, wisperte Kristijan verzweifelt.
Ante antwortete nicht, klammerte sich nur fester an Kristijan, wollte förmlich in ihn hineinkriechen, um den Schutz zu finden, den er so dringend benötigte.
Kristijan legte seine Hände um das geliebte Gesicht, nahm Antes Anblick bewusst in sich auf und registrierte nun entsetzt das Ausmaß von Antes Verletzungen.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Joso! Joso ist passiert!“
Ante wollte sein Gesicht in Kristijans Halsbeuge verstecken, doch Kristijan ließ ihn nicht.
„Das werde ich nicht mehr zulassen, hörst du?“
Plötzlich war alles so klar! So einfach!
Und endlich konnte er die Antwort geben, die er in Antes Zimmer nicht hatte geben können. Nicht länger hallten Worte als leere Gedankenhülsen in seinem Hirn, wie Mäuse in einem Labyrinth auf der Suche nach einem Ausweg. Endlich konnte er ihnen Inhalt geben und Sinn.
„Ich liebe dich, Ante. Ich liebe dich und sollen sie es doch alle wissen!“
Keiner der beiden sah die Augen, deren Besitzer sie eifersüchtig aus einem altbekannten Ginsterbusch heraus beobachtete.
Kristijans Stirn furchte sich besorgt als er sagte: „Wir müssen deine Wunden versorgen!“
Ante schüttelte den Kopf, wollte nicht wieder hinunter ins Dorf, wollte sich nicht wieder diesen Blicken aussetzen, die nichts anderes sagten als „Selbst Schuld. Wärst du wie wir, hättest du keine Probleme.“
Ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, ließ sich nicht beurteilen, weil es ganz subjektiv Antes Wahrheit war.
Viel wahrscheinlicher war, dass die Leute zwar wieder einmal Antes Verletzungen registrierten, ansonsten aber ihre Hände in Unschuld wuschen. Es war nicht ihre Sache sich in Streitigkeiten einzumischen.
Doch Kristijan beharrte sanft auf sein Vorhaben.
„Aber wir gehen nicht durch das Dorf, Kristijan, bitte! Lass uns hinten durch die Gärten gehen. Unser Haus steht weit genug nach hinten, ich will nicht, dass sie mich so sehen!“
„Dann müssen wir aber zum Dorf runter klettern, über die Felsen, schaffst du das?“
Ante nickte stumm, zuckte gleichzeitig unsicher mit den Schultern Ob er es schaffte? Er wusste es nicht, aber mittlerweile war es ihm egal, wenn er abstürzen sollte. Diese gelassene Gleichgültigkeit seinem Schicksal gegenüber, sagte mehr über sein Seelenleben aus, als jede lange Rede es gekonnt hätte.
Die beiden Jungen gingen los. Kristijan stützte Ante und keiner von ihnen blickte zurück, denn sonst hätten sie Joso gesehen, der ihnen mit loderndem Hass und grenzenloser Wut hinterher sah.
Getarnt durch dichtes Gebüsch und niedrigen Bäumen gelangten Ante und Kristijan tatsächlich den steilen Hang hinunter, der hinter dem Dorf lag. Er war nicht ganz so steil wie die Klippen neben dem Dorf, die zum Meer hinunterfielen. Manchmal kletterten sie mehr wie die Ziegen, doch schließlich erreichten sie den Boden, obwohl Ante sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte vor Schwäche. Innerlich verfluchte er sich. Dieses Kraftlosigkeit hatte er sich und seiner Unvernunft zu verdanken, das musste endlich ein Ende haben.
Im Grunde genommen war es eher ein Zufall, der Wille einer übergeordneten Macht oder Kristijans helfende Hand, die verhinderte, dass etwas passierte.
Einige Schrammen und blaue Flecken mehr fielen an Antes Körper nicht auf und es brodelte in Kristijan als dieser Gedanke ihn kurz streifte.
Sie schlichen durch den Garten zur Hintertür ins Haus hinein. Vorsichtig horchte Ante, aber es war wie er es gedacht hatte. Seine Mutter war nicht daheim.
Seit einigen Tagen arbeitete sie bis Mitternacht als Küchenhilfe in einem der großen Hotels, die weiter hinten an der Küste lagen.
Erleichtert zog er sich die Treppe hinauf, musste dafür beide Arme benutzen, sonst wäre er auf der Treppe einfach zusammengebrochen.
Seine Erschöpfung war zu groß, er registrierte noch nicht einmal Kristijans Abwesenheit, der in Richtung Küche verschwunden war.
Erst als Ante auf seinem Bett lag und nach Luft schnappte, bemerkte er das Fehlen des Freundes.
Er wollte rufen, sich wieder aufsetzen, doch sein Körper verbot beides.
In diesem Moment hörte er Kristijan jedoch schon die Treppe hinaufkommen. Der hatte umsichtig aus der Küche eine Schüssel mit Wasser und einige Handtücher geholt.
„Komm, ich helfe dir, dich ein wenig sauber zu machen!“, sagte er.
Ante sah ihn an, hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken, reisten in die Vergangenheit, als Kristijan ihm schon einmal geholfen hatte. Er erinnerte sich daran, wie verwirrt er gewesen war und an seine Scham, als Kristijan das Handtuch einfach von seinem Körper gezogen hatte.
Wieviel seitdem passiert war! So viel … zu viel!
Plötzlich schlugen alle Ereignisse der vergangenen Wochen über ihn zusammen, inklusive der Erkenntnis, dass Kristijan eben auf der Klippe Recht gehabt hatte.
Er wäre gesprungen!
Neue Tränen stürzten aus seinen Augen, brannten in den Schrammen und Wunden und ließen sich nicht aufhalten, egal wie peinlich seine Schwäche ihm war.
Sofort stellte Kristijan die Schüssel ab und nahm seinen Freund behutsam in die Arme.
„Pst, schon gut, Ante. Hier kann dir niemand mehr was tun. Ich passe auf ich auf.“
„Warum? Warum passiert mir immer so was? Ich habe niemanden etwas getan. Ich habe Joso nichts getan, aber er benutzt mich als Punchingball. Warum hasst er mich so, dass er mich lieber im Krankenhaus oder tot sieht? Was mache ich falsch? Womit habe ich das verdient? Das, und die Gleichgültigkeit der Menschen, wenn sie zusehen und nichts unternehmen? Bin ich wirklich so wertlos?“
Ratlos zuckte Kristijan die Schultern. Was sollte er antworten auf Fragen, die eher rhetorischer Natur waren? In seinen Augen gab es an Ante nichts Falsches, ganz im Gegenteil. Wertlos? Eben, als er Ante vom Abgrund zurückgezogen hatte, war da dieser eine Moment gewesen, in dem ihm plötzlich bewusst worden war, er hielt gerade das Kostbarste in den Armen, was diese Welt ihm zu bieten hatte. Kristijan hatte noch nie die Mechanismen verstanden, die die Leute hier antrieben bei Ante ihre schlechtesten Seiten zu zeigen. Er hatte sie alle anders kennengelernt, selbst Joso klebte immer an seiner Seite, wenn er in den Semesterferien zu Hause war. Doch wie sollte er Ante das erklären? Seine eigene Welt war nicht so schlecht, wie die seines Freundes. In seiner wortlosen Hilflosigkeit küsste er Ante die Tränen von den Wangen, murmelte zärtliche Koseworte und zog ihn eng an sich. Versuchte eine Sicherheit zu vermitteln, die er angesichts seiner Jugend und der Umstände kaum in sich selbst fand.
Antes Arme legten sich fest um Kristijans Hals. Nach und nach verebbte sein Schluchzen und er genoss die tröstliche Nähe und die Wärme Kristijans. Bald trafen sich ihre Lippen, schmusten zärtlich mit einander. Sacht und sanft, ohne jede Forderung, bis Kristijan Ante schließlich ein wenig von sich schob.
„Lass uns erst das Blut und den Schmutz abwaschen. Ich wette danach fühlst du dich schon besser.“
Nach den Minuten der Ruhe und Entspannung war Ante beinahe nicht mehr in der Lage die Arme zu heben, damit er sein Shirt ausziehen konnte. Seine Muskeln waren verhärtet und übersäuert.
„Ich mach das wohl besser!“, sagte Kristijan, als er sah, wie schwer sein Freund sich mit diesen einfachen Handgriffen tat.
„Darf ich?“
Ante nickte stumm und seine Wangen verfärbten sich hochrot.
Ganz behutsam half Kristijan ihm aus dem Shirt, streichelte anschließend mit beiden Händen sanft über die flache Brust, dann beinahe andächtig an den Seiten vorbei nach unten zum Bund der Hose. Anschließend nötigte er Ante mit leichten Druck sich auf das Bett zu legen, so dass er ihm vorsichtig die Shorts samt Unterhose vom Hintern ziehen konnte.
Ante war sich nur zu bewusst, dass er zum ersten Mal vollkommen nackt Kristijans Blicken dargeboten war.
Doch noch bevor seine Scham sich festsetzen konnte griff Kristijan zu den Handtüchern, nahm eines, tauchte es in die Schüssel und strich dann in vorsichtigen Zügen über Antes Körper. Jeder Bewegung folgte Kristijan mit den Augen, konnte sich nicht satt sehen an diesen Jungen, an dem Mann, der sich noch unter dem Kokon der Jugend versteckte. Ante war zierlich, aber kein Schwächling. Die Arbeit auf dem Feld seiner Mutter, das Gepäckschleppen und die Gärtnerarbeiten in den Hotels hatten durchaus Muskeln geformt, die zu Antes Körper passten. Flach, doch hart und schön modelliert.
Die Berührung des Tuches in Antes Gesicht war mehr eine Streicheleinheit denn eine Zweckmäßigkeit. Die sorgsame Reinigung von Brust und Armen flüsterte von überbordender Zärtlichkeit und Sorge. Langsam streichelte das Tuch über den Bauch, dann folgten Kristijans Fingerspitzen der Struktur von Haut und Bauchmuskeln. Bewusst vermied Kristijan den Blick auf den Intimbereich, strich erst in kreisenden Bewegung an den langen schlanken Beinen herab, setzte jeweils einen Kuss auf den Fußrücken. Mit unendlicher Achtsamkeit arbeitete er sich dann wieder nach oben, wobei er abwechselnd das feuchte Tuch benutzte oder seinen warmen Mund. Strich mit der Zunge über gereinigte Partien, probierte Ante als süße Kostbarkeit und wurde süchtig nach dem Geschmack, nach Antes Geruch, der Wärme der Haut unter seinen Lippen. Kristijan streichelte und massierte seine Liebeserklärung mit unsichtbaren Buchstaben in Antes Haut. Zuwendungen die dieser brauchte um die Schrecken des Tages zu vergessen.
Jede Regung Antes wurde beobachtet, Kristijan wollte jedes Anzeichen von Unwohlsein registrieren, als er nun sanft die Beine des Jungen vor ihm auseinander drückte, die Reinigung weiter oben, zwischen den Schenkeln fortsetzte. Doch er sah nichts außer tiefstes Vertrauen und Hingabe.
Kristijans Herz tat bei diesem Anblick ein, zwei Extraschläge. Bisher hatte er sich dieses Vertrauen nicht verdient! Es wurde einfach aus Antes Liebe zu ihm geboren und Kristijan schluckte schwer an seiner Rührung.
Endlich richtete er den Blick auf Antes Körpermitte, sah nun das, was er vorher immer nur durch den Stoff einer Hose oder eines Krankenhaushemdes gespürt und berührt hatte.
Unbewusst leckte Kristijan über seine Lippen, als sein Mund mit einem Schlag trocken wurde.
Ante war unglaublich schön. Alles an ihm war in einer Symmetrie, in einer Perfektion geschaffen, die ätherisch wirkte. Die Gesamtheit des Bildes schien der Fantasie eines Künstlers entsprungen, der versuchte absolute Unschuld gepaart mit einer verruchten Schönheit zu schaffen. Selbst einzelnen Muttermale könnten dieses Bild nicht zerstören, wenn nicht die Wunden und blaue Flecken gewesen wären.
Für einen Moment verzog sich Kristijans Gesicht vor Widerwillen und sofort bemächtigte sich Unsicherheit des Körpers vor ihm. Kristijan konnte nichts anderes tun als sich auf diesen begehrenswerten Leib sinken zu lassen und Ante um Sinn und Verstand zu küssen, um ihn zu versichern, dass nicht er es war, dem der Widerwillen galt. So tief und inniglich, dass jeder böse, verunsichernde Gedanke direkt aus Antes Kopf vertrieben wurde.
„Ich könnte ihn umbringen, für das, was er dir angetan hat!“, murmelte Kristijan zwischen zwei Küssen. Ihre Körper pressten sich aneinander, gierten nach mehr.
Ante fragte nicht nach, wollte nicht denken, nicht wissen, wollte nur fühlen und … leben.
Irgendwann bemerkte Ante, dass Kristijan noch immer komplett angezogen war, während er nackt und mit erigierten Glied unter ihm lag.
Ungeduldig zog er daraufhin am Shirt seines Liebsten, bis Kristijan es endlich über seinen Kopf streifte. Ante nutzte die Gelegenheit und fummelte an den Knöpfen von Kristijans Hose, doch seine Hände zitterten zu sehr vor Aufregung nicht mehr nur den Stoff der Hose an sich zu spüren, sondern Fleisch an Fleisch zu legen. Endlich kam Kristijan ihm zur Hilfe. Auch er wollte mehr, wollte fühlen mit dem kompletten Körper. Nähe teilen, Wärme teilen, Haut spüren und in Küssen versinken.
Nichts ließ sich vergleichen mit diesem Gefühl als Haut endlich auf Haut traf.
Es war, als wären sie in einer Zauberblase gefangen, in der Wünsche wahr wurden und gute Feen dafür sorgten, dass alle Märchen glücklich endeten, egal wie tragisch die Geschichte vorher war.
Hier und jetzt bekamen Ante und Kristijan ihr privates und ganz persönliches Happy End. Einfach indem sie sich spüren durften, sich näherkommen und lieben durften ohne Störungen, ohne an das Morgen zu denken oder an die Konsequenzen ihres Tuns.
Ihr Fühlen war so intensiv, so lebendig. Gab es je genug Berührung? Genug Mund, genug Lippen und Hände, um die Sehnsucht in ihnen zu stillen?
Ante legte den Kopf zur Seite als Kristijan sich den Hals entlang küsste, bot mehr Platz für noch mehr Begehrlichkeit.
Sein Seufzen war Musik in Kristijans Ohren. Ein Geräusch, ein Ton, den er immer und immer wieder hören wollte.
Er küsste sich vor zum Schlüsselbein, hinunter zu den kleinen Brustwarzen, die schon längst zu Perlen verhärtet waren. Leckte und küsste sie abwechselnd. Ante war Wachs in Kristijans Händen, schmolz an der Vielzahl der Empfindungen, zerfloss vor Bedürftigkeit nach mehr. Noch mehr, immer mehr!
„Schlaf mit mir!“
Ein Flüstern in Kristijans Ohr, das ihm am ganzen Körper eine Gänsehaut bescherte.
„Ich weiß nicht … Bist du sicher?“
Kristijan war es nicht! Er war sich nicht darüber klar, wie er es beginnen sollte. Natürlich wusste er, wie man mit Frauen schlief, aber … Sex mit einem Mann?
Ante zog Kristijans Kopf wieder zu sich hinunter, küsste ihn.
„Sei einfach nur vorsichtig, okay? Mach ganz langsam. Ich vertraue dir!“
Da war es wieder, dieses Vertrauen. Woher nahm jemand, der von seinen Mitmenschen dermaßen enttäuscht worden war, dermaßen im Stich gelassen worden war, nur diesen Glauben, dass er, Kristijan, ihm nicht auch weh tun würde?
Kristijan mussten die Gedanken auf der Stirn geschrieben sein, denn plötzlich nahm Ante sein Gesicht zwischen die Hände, ihre Augen versanken ineinander, kommunizierten auf einer Ebene, in der Worte nicht wichtig waren, weil Worte manchmal Gefühle nur unzureichend transportieren konnten. Gefühle basierten auf Empfindung, und wie sollten sie die Tiefe ihrer Empfindungen kommunizieren, außer über ihre Herzen, über ihre Seelen?
Als hätten sie tatsächlich Worte ausgetauscht nickte Kristijan schließlich, gab seine Zustimmung, versprach nur mit dieser Geste alle Vorsicht walten zu lassen, zu der er fähig war und Ante legte sich zufrieden wieder zurück.
„In der Nachtischschublade ist eine Creme, vielleicht kannst du ...?“ Ante sprach den Satz nicht aus, Kristijan wusste auch so wofür er diese Creme brauchen sollte.
„Ich – ich glaube ich sollte dich ein bisschen vorbereiten oder?“, fragte Kristijan verlegen nach.
Ante lächelte leicht. Kristijans Unsicherheit war zu süß. Zum ersten Mal fühlte Ante sich ebenbürtig, obwohl auch er keine praktische Erfahrung besaß. Ganz einfach, weil er sicher war das Richtige zu tun, wenn er einfach nach Gefühl handelte. Es mochte natürlich ein bisschen unfair sein, sich einfach in Kristijans Hände fallen zu lassen und ihn machen lassen, aber Ante war sich sicher, alles würde sich finden.
Diesmal waren es Kristijans Hände, die zitterten. Er schob Antes Beine weiter auseinander, berührte ihn kurz mit einem Finger, strich über kleine Hautfalten und schreckte zurück, als Antes Körper mit einem Zucken auf die Berührung reagierte.
Da nahm Ante seine Hand, führte ihn, presste ihn gegen den Muskelring und sagte: „Mach ruhig, das gerade war ein schönes Gefühl, Kristijan. Hab keine Angst, ich habe auch keine!“
Es war seltsam für Kristijan, der Geführte zu sein, wo ihm doch die aktivere Rolle zugedacht war, doch wie eben Ante, war auch er bereit zu vertrauen, darauf, dass Ante wusste was er wollte, dass er sich melden würde, wenn etwas falsch lief oder schmerzhaft wurde.
Und dann endlich spürte er Antes warmes Inneres, spürte die Enge und seidige Haut um seinen tastenden Finger.
Eine kurze Sekunde spannte sich Antes Körper an, wollte sich gegen den Eindringling sperren, da entspannte Ante sich mit einem tiefen Atemzug bewusst.
Es fühlte sich fremd an für Ante, aber dennoch gut. Seltsam, aber aufregend. Weiter öffnete er erst seine Beine und dann sich. Ließ zu, dass der Finger tiefer drang und schnappte dann nach Luft, als Kristijan eine Stelle in seinem Inneren berührte, die einen Schauer durch seinen kompletten Körper jagte.
Er stöhnte laut auf und hielt dann Kristijan davon ab sich zurückzuziehen, weil der befürchtete Ante weh getan zu haben.
„ Oh – das war – wow! Mach das noch mal!“ Kristijan ließ sich nicht zwei Mal bitten.
Nach und nach verloren sie die Berührungsängste. Sie wurden wagemutiger und experimentierfreudiger. Einem Finger folgte ein zweiter, eine Hand legte sich um Antes Erektion, schob weiche Haut über hartes Fleisch. Ein Daumen strich über die empfindsame Eichel.
Kristijan liefen einzelne Schweißtropfen am Körper herunter. Seine eigene Erregung war auf einem Siedepunkt, obwohl Ante oder er selbst sich kaum berührte. Alleine wie Ante vor ihm lag, sich ihm hingab, reichte, um ihn beinahe kommen zu lassen. Antes Stöhnen, wie sein Körper sich auf dem Laken wand, dieser verhangene Blick, der nicht mehr im Hier und Jetzt war.
Kristijan hatte nie geahnt, dass Lust schenken ebenso berauschend war, wie selbst berührt zu werden. Es war unglaublich was Ante alleine mit seiner Gegenwart mit ihm anstellte.
Wenn sie nicht bald richtig zur Sache kamen, bezweifelte Kristijan, dass der erste echte Sex mit einem Mann für ihn heute noch stattfinden würde.
„Ante, wenn wir nicht bald – dann … Ich kann nicht mehr lange!“
Antes Hände waren heiß, als er Kristijan zu sich herunterzog.
„Dann mach!“, hauchte er.
Einen Moment zögerte Krsitijan noch, dann drückte er Antes Beine nach oben auf dessen Brustkorb, kniete sich in Position und führte seine eigene Erektion mit einer Hand. Drückte und stieß gegen den Muskelring, der ihm den Zugang verwehrte. Doch er kam nicht weit, Ante verspannte sich.
Der Gast, der da Einlass erbat erschien ihm plötzlich doch zu groß. Es zog und begann zu schmerzen.
Heftig atmend aber ohne Zögern zog Kristijan sich wieder zurück.
„Wir müssen nicht, Ante. Wir haben Zeit!“
„Nein! Nein, bitte! Ich will dich Kristijan, ich will dich so sehr. Probiere es noch mal!“
Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Beide Jungen waren unsicher, aber gleichzeitig hocherregt. Sie konnten und wollten nicht aufhören. Ante zitterte, wollte zu viel, zu sehr, zu schnell, da legte Kristijan sich neben ihn, drehte sich auf die Seite und zog den aufgeregten Jungen an seinen Körper, drückte ihn beruhigend an sich, während sein eigenes Herz scheinbar einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen wollte.
Ante Hintern lag gegen seinen Bauch, gegen seine Erektion gepresst und Kristijan stöhnte auf. Diese Reibung, dieser Druck. Er begann sich zu bewegen, rieb sich, stieß gegen Antes Po. Die zuvor großzügig verteilte Handcreme oder auch seine Freudentröpfchen reichten, um sich einen rutschigen Weg zwischen die zwei verlockenden Halbkugeln zu bahnen. Er stieß von hinten gegen Antes Hoden, daran vorbei und gegen die Wurzel von Antes Schwanz. Bald atmeten beide Jungen laut und keuchend. Durch einen anderen Winkel in seinem Bewegungsablauf stieß Kristijan plötzlich gegen die Stelle, die ihm vor Kurzem noch den Zugang verweigert hatte. Er drang ein, nur ein Stück und zog sich vor Überraschung wieder zurück.
Ante stöhnte. „Nein, Kristijan, mach weiter, komm schon!“ Fiebrig und abgehackt klangen die Worte, doch lag kein Zweifel oder gar Angst in ihnen.
Ante winkelte ein Bein an und Kristijan hob es hoch.
Und plötzlich klappte es. Der Weg war offen, Kristijan drang Stück für Stück in Ante ein. Der hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Noch konnte er nicht entscheiden ob es vor Wonne war oder der Druck des Eindringens doch zu heftig war. Vielleicht auch eine aufregende Mischung von beidem.
„Fass dich an, Ante!“, ächzte Kristijan in sein Ohr. „Komm schon, fass dich an, mach es dir selbst!“
Ante legte seine Faust um seine Erektion. Zusammen mit der Bewegung in seinem Inneren, die Stöße, die ihn durchrüttelten war es keine Frage mehr ob die Gänsehaut eine Gute oder Schlechte war. Ante flog, flog in Kristijans Armen, flog einem Himmel entgegen, von dem er nie geahnt hatte, dass es ihn gab. Natürlich hatte er sich schon selbst berührt, doch im Vergleich zu dem was er gerade erlebte, war es nichts als einfacher Druckabbau gewesen. Das hier, jetzt gerade … Liebe zu machen mit der Person, die einem auf dieser Welt am meisten bedeutete, die Nähe, die Innigkeit, die in jeder Bewegung, in jeder Berührung lag, das war mehr als jede Fantasie jemals ausmalen könnte. Das war das Leben – das Sein in seiner puren, pulsierenden Essenz. Rein und wahr. Voller Zärtlichkeit, ein Liebesschwur ohne Worte.
Ante kam, kam so gewaltig, dass er für einen Augenblick nur Sterne sah. Das Hoch war beinahe zu heftig, während er sich in heißen Schüben über seine Faust ergoss.
Kristijan hinter ihm stöhnte auf. Die Kontraktion des Muskels, der ihn umschloss war immens. Sein Schwanz wurde beinahe festgehalten und mit einem letzten Stoß kam auch er, schrie seinen Höhepunkt in die Hitze der kleinen Kammer, die nach ihnen beiden roch und nach dem, was zwischen ihnen geschehen war. Ihre Herzen rasten, nur langsam landeten sie wieder in der Realität.
Ante seufzte leise. Wie und wann war die Sonne weitergewandert, seit wann zeichnete sie die Schatten bereits lang? Er erinnerte sich nicht an ein Verstreichen der Zeit.
Die Welt hier in Kristijans Armen war so viel schöner, soviel besser als alles, was ihm bisher begegnet war. Leise schlich sich Angst in Antes Herz. Würde Kristijan wirklich zu ihm stehen? Hier, in der Abgeschiedenheit des kleinen Zimmers mochte es einfach sein die Liebe zu leben, sie zu zelebrieren, doch würde sie dem harten Alltag ihres dörflichen Lebens standhalten?
„Nicht grübeln, Ante!“, murmelte es plötzlich leise an sein Ohr. „Bitte glaube an uns, das gerade war so viel mehr als ich es jemals erlebt habe. Es war mehr, weil du dabei warst, weil es nicht irgendeine x-beliebige Person war, mit der ich geschlafen habe, sondern du! Ich liebe dich, Ante! Es tut mir so leid, dass ich dich aus Feigheit im Stich ließ.“
„Pst, nicht! Nicht davon reden, Kristijan! Es war so schön mit dir. Ich will nicht an irgendetwas anderes denken, nur an uns. An dich und mich. Ich will – ich will alles andere vergessen! Ab jetzt kann es nur noch besser werden, weil wir zusammen sind! Wir sind doch zusammen, oder?“ Er drehte sich in Kristijans haltenden Armen, seine Stimme war halb ängstlich belegt, halb bittend.
Als Antwort küsste Kristijan Ante stumm, es war nicht nötig mehr zu sagen. Seine Liebe strahlte so offenkundig aus seinen Augen, lag in jedem Blick, in jeder Geste, mit der er Ante berührte.
„Ich werde gleich mit meinem Vater reden!“, sagte Kristijan. „Er sollte es zuerst von mir hören, bevor Klatsch und Tratsch durch das Dorf gehen.“
„Aber was wirst du tun, wenn er gegen mich ist? Was wirst du tun, wenn er unsere Liebe ablehnt?“
„Alles wird sich finden. Nichts wird passieren, Ante!“
Für einen Moment stand die Welt still, als sie sich in den Augen des anderen verloren.
Für einen Moment war alles möglich.
Während diesen kostbaren Augenblicks war ihre Liebe schärfer und klarer als alle Unwägbarkeiten.
Texte: Barbara Corsten
Bildmaterialien: Bild von pixabay bearbeitet von Caro Sodar
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke, Caro Sodar, für das tolle Cover und danke an alle, die meine Geschichte während des Wettbewerbs "Anonyme Gayromance Geschichten" gelesen und kommentiert haben . Und natürlich ein ganz großes Danke an alle, die für die Story gestimmt haben oder mich sogar als Schreiber erkannt haben :) Und ja...sie wird weitergehen...