Himmel und Hölle
Wirklich, manchmal verstehe ich ihn nicht! Max ist einer der einfühlsamsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin.
Stark, innerlich und äußerlich. Lieb und so voller zärtlicher Fürsorge, dass ich dahin schmelzen könnte. Es gibt diese Tage, an denen er mir immer und immer wieder seine Liebe versichert, in denen er lachend und singend durch unsere Wohnung läuft. Ein Sonnentag könnte mir dann keine bessere Laune schenken, als seine Gegenwart, die so intensiv ist, so alles für sich einnehmend. Tage, an denen er von innen heraus leuchtet und mein Herz vor Liebe schier überquellen könnte, weil er einfach wunderbar ist.
Und es gibt diese anderen Tage …
Tage, wo ich mir wünschte, ich könnte in seinen verdammten Schädel hineinsehen, weil er mich an meine Grenzen führt und mich an nichts teilhaben lässt. Seine Laune von einem Moment zum anderen umschlägt und ich einfach keine Grund erkennen kann für seine Wutausbrüche.
Wutausbrüche, die mich immer entsetzt, hilf- und sprachlos zurück lassen. In denen er verbal um sich schlägt. Worte können wehtun, stärker als jeder Schlag es könnte und … oh, er weiß zu genau, auf welche Knöpfe er bei mir drücken muss, damit es mich wirklich verletzt.
So wie heute!
Wir lagen zusammengekuschelt auf dem Sofa und hatten einfach nur ferngesehen, als das Läuten des Telefons die entspannte Zweisamkeit unterbrach.
Mein Kollege Andi fragte nach, ob ich nicht Lust auf ein Bier hätte. Ich weiß, er hat Probleme mit seiner Frau, also suchte er eventuell nur eine kleine Ablenkung, oder, was wahrscheinlicher war, jemanden zum Reden.
Ich hatte nicht das Herz ihn abzuwimmeln. Er ist ein netter Kollege und musste schon oft genug meine Laune ertragen, wenn ich einen Streit zwischen Max und mir mit ins Büro nahm, weil es mir nicht gelang, diese privaten Dinge zu Hause zu lassen. Ich bin jemand, der sein Herz auf der Zunge trägt. Man merkt mir immer sofort an, ob es mir gut geht oder schlecht. Und ich muss gestehen, ich gehöre nicht zu den Männern, die aus ihrem Inneren eine Mördergrube machen. Notfalls quatsche ich meinen mehr oder weniger willigen Zuhörern einfach ein Ohr ab und meist geht es mir danach besser.
Also war es für mich eine Selbstverständlichkeit in diesem Falle das Gleiche für Andi zu tun.
Nur … hatte ich absolut nicht mit Max’ Reaktion gerechnet.
Er, der schon Tränen in den Augen hat, wenn im Fernsehen eine dieser „Ich-überrasche-dich-Sendungen“ läuft oder vermisste Familienmitglieder gefunden werden …
Ausgerechnet dieser Max hatte kein Verständnis dafür, dass ich einem befreundeten Kollegen beistehen wollte.
Dabei fing unser Streit ganz harmlos an.
„Ich will nicht, dass du gehst!“, sagte er ganz ruhig. Er stand auf, genauso wie ich vorher, da ich mich noch ein wenig frisch machen wollte.
„Ach, komm schon, Max! Ich bleibe nicht lange weg und Andi braucht jetzt jemanden, der ihm zuhört. Ich habe dir doch von seiner Frau erzählt!“
Und urplötzlich war es wieder einer dieser Tage.
Quasi mit einem Fingerschnippen … von jetzt auf gleich!
„Wenn fremde Leute dir plötzlich wichtiger sind als ich, dann sollten wir vielleicht unsere Beziehung überdenken!“, brüllte er mich übergangslos an.
Meine erste Reaktion war absolute Ungläubigkeit.
„Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!“
Fast war ich versucht zu lachen, tat es aber nicht. Denn sein Gesichtsausdruck verdeutlichte mehr als jedes seiner gesagten Worte den Ernst der Lage.
Wo war die Zärtlichkeit in seinen Augen? Wo war die Liebe zu mir geblieben, die sonst in ihnen leuchtete? Wo war die Wärme, mit der er mich eben noch umfangen hatte?
Wer war dieser kalte Fremde, der mich anfunkelte als wäre ich ein ekliges Insekt?
„Max!“, versuchte ich ihn zu erreichen.
Seine einzige Reaktion bestand aus einer Drehung, er wandte mir den Rücken zu, die Arme über der Brust verschränkt. Seine angespannten Schultern, sein Rücken waren eine einzige stumme Anklage, doch ich war mir keiner Schuld bewusst.
Was hatte ich denn getan? Ich wollte einem Kollegen ein mitfühlendes Ohr leihen. Was, bitte, konnte diese Reaktion rechtfertigen?
„Max? Bitte, ich bleibe auch nicht lange, versprochen!“, sagte ich versöhnlich.
Ich bat ihn nicht um die Erlaubnis zu gehen, aber ich wollte dennoch sein Okay.
Ich hasse es mit ihm zu streiten.
„Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht mehr nach Hause zu kommen!“
Es war als wäre ein Fallbeil zu Boden gestürzt und hätte all die Bänder zerstört, die uns ausmachten, die uns hielten. Die sich miteinander verflochten und uns zu dem Paar machten, das wir waren.
Und mit einem Mal kochte auch meine Wut hoch, fielen mir die anderen Gelegenheiten ein, in denen er plötzlich, ohne ersichtlichen Grund austickte.
Natürlich, meist tat es ihm hinterher leid und er entschuldigte sich nach ein paar Minuten, oder spätestens nach ein, zwei Stunden, in denen unser Schweigen zu Eis wurde, das uns auseinanderzutreiben drohte. Und immer gab ich nach. Nahm seine Entschuldigung entgegen oder ging selber auf ihn zu.
Ich ertrage diese von Vorwürfen erfüllte Stille nämlich nicht.
Doch diesmal war es anders. Etwas in mir schien zu reißen. Meine Kraft, für uns beide zu kämpfen verschwand, machte meine Beine schwach, die unter mir zitterten, mich kaum mehr trugen und dennoch blieb ich hart, gab nicht nach.
„Nicht schon wieder ich!“, war der einzige Gedanke, der mich neben einer aufkommenden Panik ausfüllte.
„Ich kann nicht mehr, Max! Ich kann einfach nicht mehr. Wie soll ich deine Stimmungsschwankungen verstehen? Deine Launen ertragen? Wie soll ich damit leben können, dass nichts sicher ist? Das mit dir und mir. Wenn ich jede Sekunde darauf gefasst sein muss, vom Himmel in die Hölle gestürzt zu werden, ohne eine Möglichkeit mich zu fangen, ohne Rettungsfallschirm oder doppelten Boden? Du saugst mich aus wie ein Vampir, nimmst mir jede Kraft! Es ist wie ein ständiger Tanz auf einem schwankenden Drahtseil. Mit dir bin ich entweder ganz oben oder ganz unten. Mit dir gibt es kein Mittelding. Himmel oder Hölle, Max! Wie wäre es, es einfach hier auf der Erde zu probieren? Ich ... kann einfach nicht mehr!“
Meine Stimme wurde immer leiser, die letzten Worte mehr ein Flüstern, ein verzweifeltes Flehen, doch nach wie vor sah ich nur seinen Rücken. Er zeigte mir im wahrsten Sinne des Wortes die kalte Schulter.
Und ich tat etwas, was ich noch nie während eines Streites gemacht hatte, was ich noch nie innerhalb unserer Beziehung getan hatte.
Ich ging in unser Schlafzimmer, zog die Reisetasche von Schrank herunter und fing an einige Kleidungstücke hineinzuwerfen.
Es war bestimmt die Schuld dieses blöden Staubs vom Schrank, dass meine Augen tränten ... dieses Kratzen in meinem Hals …
Nur war ich mir nicht sicher, ob ein Glas Wasser als Medizin reichen würde.
Das alles geschah wirklich erst vor zwei Stunden?
Jetzt sitze ich hier bei Andi, in seinem Wohnzimmer, auf seiner Couch und wir unterhalten uns tatsächlich, nur bin nicht ich derjenige der zuhört und Trost spendet!
„Bist du dir sicher?“, sein mitfühlender Blick ruht auf mir. „Natürlich kannst du hier bleiben. Aber ihr beide wart immer so ein tolles Paar. Eigentlich die Einzigen, bei denen ich mir sicher war, dass es für die Ewigkeit ist!“
Seine Worte treiben neue Tränen in meine Augen. Verdammt, ich wünschte, er würde nicht so etwas sagen. Ob ich mir sicher bin? Nein, bin ich nicht! Wie denn auch? Gerade geht mein Leben den Bach runter und ich würde allzu gerne mit fliegenden Fahnen zurück nach Hause, zurück zu Max.
Aber da ist gleichzeitig diese innere Gewissheit, dass ich so nicht weiter leben kann. Dieses Abwägen der Worte, um keinen neuen Wutausbruch zu riskieren. Dieses ständige Gefühl vor einem Abgrund zu stehen, ohne zu wissen, wie man dorthin kam. Antworten auf Fragen zu suchen, die man noch nicht einmal kennt.
Müde, ich bin so unendlich müde und würde zu gerne eine Runde schlafen, auch wenn es erst 20 Uhr ist.
Lediglich mein Pflichtbewusstsein und Andis gutes Zureden holen mich heute Morgen aus dem Bett in Andis Gästezimmer.
Viel lieber würde ich mir die Decke über die Ohren ziehen und mich wieder in diesem Halbtraumland verstecken. Diese paar Minuten zwischen Schlafen und Wachen, in denen man seine Träume ein klein wenig kontrollieren kann und sich beim Aufwachen sogar noch eine Zeit lang daran erinnert.
Keine Frage von wem ich geträumt habe! Und keine Frage, dass es mir nach wie vor beschissen geht.
Kurz vergrabe ich mein Gesicht noch einmal in meinem Kissen, erinnere mich an Max und daran wie er duftet, wie gut er riecht nach einer langen Nacht … seine Haut, so sehr Max, ganz Kerl und manchmal auch nach mir und dem, was in der Nacht zwischen uns geschah. Erinnere mich daran, wie ich es liebe, seinen schlafwarmen, entspannten Körper in den Armen zu halten.
„Reiß dich am Riemen, Patrick!“, schimpfe ich mit mir selbst. „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!“
Mir ist noch immer bewusst, wie richtig meine Entscheidung war. Max und ich ... Wenn ich noch länger geblieben wäre, weiter Entschuldigungen für sein Verhalten gefunden hätte, dann hätte er mich mit in seinen Strudel abwärts gerissen, aus dem es für uns beide kein Entkommen gegeben hätte. Gefangen in einer beinahe symbiotischen Abhängigkeit wäre keiner von uns wirklich glücklich gewesen. Bis Alltag und Gewohnheit uns abgestumpft hätten, unsere Gefühle grau und staubig geworden wären und alles, was an uns gut war und richtig, wäre für immer beschmutzt gewesen.
Doch dieses Wissen macht es nicht leichter, lässt mich den Schmerz nicht weniger fühlen. Ein ständiges Pochen und Hämmern, genauso nervig und angsteinflößend wie das Geräusch des Bohrers beim Zahnarzt. Man weiß, es ist nötig, gefallen tut es einem trotzdem nicht!
Andi hatte gestern Abend schon recht.
Normal ist Max’ Verhalten wirklich nicht.
Aber was hätte ich anders machen können, wo liegt mein Versagen? Es kann doch nicht alles seine Schuld sein? Sagt man nicht, es liegt immer an beiden, wenn eine Beziehung scheitert?
Hätte ich eher den Mund aufmachen müssen?
Hätte ich früher gehen müssen … oder gar nicht?
Er fehlt mir so unglaublich.
Wir hatten so schöne Zeiten, waren so glücklich und dann plötzlich waren da diese blöden Streitigkeiten. Immer entzündeten sie sich an Kleinigkeiten. Meist ging es darum, dass ich ohne ihn irgendwo hin wollte oder hin musste. Habe ich überreagiert, hätte ich öfters nachgeben müssen?
Aber … das habe ich doch meist, und mich dabei so verbogen, dass fast nichts mehr von mir, von Patrick Siebig, übrig geblieben ist.
Zuerst hielten sich die guten und die schlechten Zeiten noch die Waage. Aber nun überwiegen die schlechten Zeiten eindeutig und die guten Momente sind seltene Lichtblicke, die nicht reichen, uns über diese zunehmend schlechten Tage und Wochen zu tragen.
Ach, Max, wann haben wir zwei die Abzweigung verpasst? Wann wäre der Moment gewesen das Steuer herumzureißen?
Nur dieses blöde Kissen fängt meine Tränen auf. Da ist kein Max, der sie mir zärtlich von den Wangen küsst.
Andis Blick spricht Bände, als ich mich endlich zu ihm an den Frühstückstisch setze. Seine Frau ist bereits vor einem Monat ausgezogen. Gestern hat er die Papiere von ihrem Anwalt bekommen. Sie hat bereits seit Längerem einen anderen und bekommt sogar schon ein Kind von ihm. Da der Neue „ein scheißreicher Kerl ist“ (O-Ton Andi), verzichtet sie großzügig auf jeden Unterhalt.
Wir beide mit den autoreifengroßen Ringen unter den Augen geben schon einen bemitleidenswerten Anblick ab.
Irgendwie bleibt mein Toast mir gerade im Hals stecken. Ich glaube, ich trinke lieber nur eine Tasse Kaffee.
Der Tag im Büro vergeht schleppend und langsam, doch paradoxerweise auch zu schnell, denn ich fürchte mich vor dem Feierabend. Es gibt kein Nachhausekommen für mich, es gibt nur einen guten Freund, der mich bei sich aufgenommen hat, ohne Wenn und Aber. Obwohl es ihm ebenfalls alles andere als gut geht.
Aber vielleicht können wir uns beide gegenseitig stützen, er ist zurzeit auch nicht gerne alleine.
Wir sind heute Morgen gemeinsam mit seinem alten Audi gefahren, weil der Ceed uns beiden, also Max und mir, gehört und ich gestern Hals über Kopf zu Fuß geflüchtet bin.
Ich werde bestimmt keinen Anspruch auf den Wagen erheben, aber irgendwann sollte ich mir Gedanken darüber machen, was mit meinen Sachen aus unserer Wohnung geschehen soll.
Aber bitte nicht jetzt ... nicht heute. Es ist mir zuviel.
Andi hat meinen Seufzer gehört. Fragend sieht er mich an: „Was ist?“
Ich schüttle nur den Kopf, mag nicht darüber reden, weil es hieße, das Scheitern zuzugeben, und Andi akzeptiert es.
Bei ihm ist es ähnlich. Entweder purzeln die Worte über seine Trennung ungebremst und ungeschönt aus ihm heraus oder er vergräbt sich in brütendem Schweigen.
Wenn er nicht absolut hetero wäre ... wir zwei würden gerade ein tolles Paar abgeben.
Darf ich vorstellen? Mr. Schweigsam und Mr. Stillerbrüter!
Blöde Assoziation: Max und ich hatten mal halb scherzhaft darüber geredet … das mit dem Paar werden. Ich meine ein Paar im Sinne des Gesetzes. Welchen Namen wir wählen würden, den jeweils eigenen behalten, oder ...
Ich wollte so heißen wie er!
Und wie ein Schmiedehammer fällt plötzlich dieses Gefühl über mich her.
Verschwendung!
Wenn du jetzt gehst, waren all die Jahre vergeudet … pure Verschwendung.
All diese Zeit, alle Gefühle, all diese herunter geschluckten Emotionen hast du ganz umsonst ausgehalten! All die Kompromisse, die du mit ihm, mit dir selbst geschlossen hast, waren vergebens.
Du wirst nie wieder mit ihm streiten, nie wieder seine ungerechten Vorwürfe ertragen müssen; aber auch nie wieder seine Arme um dich spüren, seine Lippen auf deinem Mund. Nie wieder sein ureigenes inneres Leuchten sehen, seine Liebe spüren in den Momenten, in denen es ihm gut geht.
Ist es das wert? Auch die schönen Augenblicke zu verlieren?
Wie von selbst legen sich meine Arme auf die Schreibtischplatte, um meinen Kopf darin zu verbergen, während die Tränen ungehindert aus meinen Augen tropfen, meinen Hemdärmel durchnässen und dort einfach versickern. Still und leise, ohne großes Drama. Vor lauter Elend ist es mir noch nicht einmal peinlich. Dennoch bin ich froh, dass wir in dieser Etage nur Zweierbüros haben. Die ganze Belegschaft muss nun nicht an meinem Kummer teil haben.
Nach einigen Minuten spüre ich Andi neben mir, erst legt er mir nur seine Hand auf die Schulter, dann geht er in die Hocke und schlingt den Arm um mich.
„Ich würde dich gerne trösten, aber ich habe keine Ahnung, wie. Weil ich nur zu genau weiß, wie du dich fühlst!“, quetscht er hervor.
Ich drehe meinen Kopf ein wenig, so dass ich ihn ansehen kann.
Auch er weint.
„Ist es besser“, frage ich ihn, „wenn man keine Wahl hat, weil man derjenige ist, der verlassen wird. Macht es das leichter?“
„Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht. Es sei denn du gehst, weil dein Partner dir egal geworden ist ... so wie Angie es mit mir gemacht hat. Hat mich einfach ausgewechselt wie ein langweiliges, altes Spielzeug.“
Ich wende meinen Stuhl zu ihm herum, lege nun meine Arme auch um ihn und wir halten uns gegenseitig. Auf der Suche nach solchen Dingen wie Wärme und Trost, die wir uns doch kaum geben können, weil es eben nicht die richtige Person ist, die wir da in den Armen halten, und doch ist es besser als alleine zu sein. Alleine mit seinen Gedanken, die sich in einem wirren Karussell immer und immer wieder um einen aus der Achse gekippten Mittelpunkt drehen.
Alleine mit all diesen Emotionen, die gerade in einer verrückt gewordenen Berg- und Talbahn herumwirbeln.
Mit dem Schrei, der in der Kehle feststeckt und einem die Luft zum Atmen nimmt.
Wir bemühen uns beide redlich um unsere Fassung.
Gemeinsam heulend in einem Büro zu sitzen würde die anderen Kollegen eventuell ein wenig überfordern.
Ich löse mich als Erster, nuschele etwas von „frisch machen“ und verschwinde mit gesenktem Kopf Richtung Sanitärräume. Hoffentlich sieht niemand zu genau hin. Ich weiß, dass einige meiner Kollegen mit meiner Art zu leben ein Problem haben. Ich würde ihren Klischees ungern neue Nahrung liefern, indem sie die Schwuchtel verheult über den Flur laufen sehen.
Gott sei Dank ist niemand im Vorraum bei den Waschbecken.
Unglaublich, wie gut das kalte Wasser tut. Einige Minuten halte ich immer und immer wieder meine zur Schale geformten Hände unter den schwachen Strahl und bade mein Gesicht in der kühlen Nässe.
Schließlich drehe ich das Wasser ab. Greife nach den Papiertüchern und tupfe mein Gesicht trocken.
Dabei fällt mein Blick auf den großen Spiegel über dem Waschbecken.
Interessiert betrachte ich die Person, die mir daraus entgegenblickt. Sie ist mir vertraut und dennoch fremd.
Das ist nicht das Gesicht, das ich bis gestern noch jeden Morgen im Spiegel sah. Das optimistisch und gut gelaunt dem Tag entgegen blickte.
Diese Person hier sieht müde aus, mit noch immer leicht geschwollenen Augen. Okay, das hatte ich nach so mancher Fete auch, aber da lag auch immer ein Funkeln der Lebensfreude in meinen Augen. Doch am deutlichsten bemerkt man die Veränderung im Blick. Dieser neue Patrick ist mit großen Zweifeln behaftet. Er zweifelt nicht nur an seiner verlorenen Beziehung, sondern auch an sich, an seinen Gefühlen. Er zweifelt daran, ob er richtig ist, so wie er ist. Und er zweifelt, ob er sich jemals wieder finden wird, zu dem Mann, der er war.
Wie weit hat ihn das Erlebte verändert? Wie weit ist er noch bereit zu vertrauen?
Nicht nur sich selbst und seinen Gefühlen, sondern auch anderen Menschen.
Obwohl … Andi vertraute er doch!
„Sprich es deutlich aus, Patrick!“, ermahne ich mich. „Die Frage, die du dir eigentlich stellst, lautest doch: Würdest du einen anderen Mann noch einmal so über dein Leben bestimmen lassen, wie du es bei Max zugelassen hast? Um noch genauer zu sein: Würdest du Max wieder vertrauen?“
Eine überflüssige Frage. Max hat mir gestern Abend sehr deutlich zu verstehen geben, dass es ein uns nicht mehr gibt. Kein Max + Patrick umkränzt von rosa Herzchen, sondern nur noch Max Herzog und Patrick Siebig … auf zwei getrennten Klingelschildern in zwei getrennt geführten Leben.
Mein Blick auf die Uhr im Büro zeigt Minuten als zähe Ewigkeiten. Wie können zehn Minuten einem so endlos lang erscheinen?
Zehn Minuten, die die vorhergehenden acht Stunden im Nachhinein wie ein Zuckerschlecken erscheinen lassen.
Ich würde gerne denjenigen erschlagen, der das Konzept der Zeit erfunden hat! Mir ist danach, mich zu verkriechen und meine Wunden zu lecken, stattdessen muss ich hier meine Zeit vergeuden, nur damit die Stechuhr ihre Genugtuung hat?
Tick ...
Endlich ist wieder eine Minute um. Ich glaube, diese Uhr ist kaputt, ich würde beinahe Wetten eingehen, dass sie rückwärts läuft.
Andis Blick ist genauso genervt wie meiner. In den wenigen Minuten gibt es eh nichts mehr zu erledigen. Ich springe auf, tigere zum Fenster und zurück zu meinem Stuhl
Tack ...
Ich hasse dieses Geräusch.
Und wieder bin ich auf dem Weg zum Fenster, ein flüchtiger Blick nach draußen. Einige Kollegen haben anscheinend recht früh Feierabend gemacht. Zumindest zeugen einige freie Plätze auf dem Firmenparkplatz davon.
Tick ...
Ich erzähle es Andi. Er verzieht nur den Mund ein wenig. „Du kennst doch den Spruch!“, sagt er. „Die Kollegen, die morgens etwa später kommen werden gebeten äußerst rechts zu gehen, damit sie nicht die Kollegen behindern, die nachmittags etwas eher gehen!“ Es reicht bei uns beiden nicht für ein richtiges Grinsen.
Tack …
Und plötzlich bleibt die Zeit tatsächlich stehen. Der Wagen, der sich gerade in eine freie Parklücke schlängelt, ist unser schwarzer Kia Ceed!
Er ist hier!
Max!
Ich halte den Atem an, spüre, wie das Blut aus meinem Kopf weicht. Da herrscht gerade so eine unglaubliche Leere, ich kann nicht denken, kann nichts sagen. Es ist wie ein Schock. Was will er hier?
Hoffentlich macht er keine Szene!
Mit beiden Händen umklammere ich die Kante der Fensterbank, so fest, dass meine Finger weiß werden. Wäre ich eine Frau, hätte sich zumindest gerade ein Fingernagel verabschiedet.
Ich bin keine – so spüre ich nur den Schmerz, den der Druck erzeugt … an meinen Fingerspitzen, in meinem Herzen. Und endlich ist da wenigstens wieder ein Gefühl. Etwas, das mich daran erinnert, Luft zu holen.
Andi hat es bemerkt. Er steht auf, kommt zu mir an das Fenster.
„Ist er hier?“
Ich nicke stumm und deute auf den schwarzen Wagen.
„Da unten, neben dem roten Panda und dem weißen SUV. Dritte Reihe links.“
In diesen Augenblick steigt Max aus, lehnt sich gegen den Wagen und zündet sich eine Zigarette an.
Er raucht nie im Auto, er sagt, er kann den Gestank von kaltem Qualm nicht ertragen. In meinem Magen zieht sich etwas zusammen. Er sieht so unglaublich gut aus mit seinen dunklen Haaren und den Bartschatten, den ich bis hier erkennen kann.
Sein Blick gleitet die Fassade entlang sucht mein Büro, unwillkürlich trete ich eine Schritt vom Fenster zurück, obwohl er mich nicht sehen kann. Die Fenster sind verspiegelt. Es ist mehr ein Instinkt der mich zurückweichen lässt.
„Soll der Hausmeister dich hinten raus lassen?“, fragt Andi.
Ich schließe die Augen, reibe mit den Fingerspitzen der rechten Hand müde über meine Stirn, überlege einen Moment.
Schließlich verneine ich: „Irgendwann müssen wir miteinander reden. Da ist eine Gelegenheit so gut wie die andere.“
Der murmelnde Singsang sich unterhaltender Menschen und das Geräusch von vielen Füßen auf quietschendem, aber pflegeleichtem Linoleum macht uns beide darauf aufmerksam, dass Zeit trotz aller gegenteiligen Erwartung niemals still steht.
Mein Gang den Flur entlang und zum Treppenhaus ist schleppend. Jede Stufe der zwei Etagen abwärts überfordert mich. Gleichzeitig spüre ich das mühsam unterdrückte Bedürfnis zu rennen. Mich mit Anlauf in seine Arme zu werfen und zu flehen: „Bitte nimm mich zurück!“
Wie erbärmlich ist das denn?
Andis Blick ist mitfühlend.
„Ich geh schon mal zum Auto!“, flüstert er mir zu. Die Kollegen haben gute Ohren, doch müssen sie nicht alles wissen. „Bleib stark, du hattest gute Gründe für die Trennung!“
Ich nicke knapp, bin versucht, doch noch hinten raus zu gehen. Aber es würde die Konfrontation nur hinausschieben. Sie ist unumgänglich. Wenn ich nur wüsste, wie er reagieren wird.
Und wieder tut er das Unerwartete!
Als er mich sieht, stürmt er auf mich zu. Unwillkürlich versteife ich meinen Rücken, richte mich auf. Reine Urinstinkte, Primatengehabe, das da gerade abläuft, um größer zu wirken.
Das Wissen macht es nicht leichter. Höchstens fühle ich mich lächerlich. Wir stehen mitten in Frankfurt auf einem Parkplatz, nicht im Dschungel von Borneo! Außerdem ist Max größer und kräftiger als ich.
Dann ist er bei mir und reißt mich einfach in seine Arme.
„Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid, Patrick! Bitte komm wieder nach Hause“, flüstert er, sein Mund dicht neben meinem Ohr. Es macht mir eine Gänsehaut, nur bin ich mir nicht sicher, ob es eine der guten Art ist. Ich glaube, diesmal nicht. Diesmal wirkt seine Stimme nicht so auf mich wie sonst.
Ich stemme meine Arme gegen seine Brust, versuche, ihn von mir zu schieben.
„Max, meinen Kollegen fallen gleich die Augen raus. Lass mich los!“, fordere ich.
Stattdessen legen sich seine Arme noch fester um meine Taille.
„Lass sie gucken, dann haben sie morgen wieder etwas, um sich ihre Mäuler zu zerreißen.“
Wieder drücke ich gegen seine Brust, bin versucht mich heftiger gegen ihn zu wehren, doch ich will den Gaffern kein Schauspiel bieten.
Zwei Kolleginnen kommen an uns vorbei, ich spüre ihre Blicke. Eine höre ich flüstern: „Süß! Das ist Liebe!“
Warum haben Frauen eigentlich weniger Schwierigkeiten mit Homosexualität als Männer?
„Womit sie vollkommen recht haben, Lady!“, grinst Max in ihre Richtung.
Er ist sich so sicher! Wieso ist er sich so sicher, wieso geht er davon aus, dass ich ohne Umschweife in dieses Auto steige und mit ihm heimfahre?
„Weil es bisher immer so war!“, gebe ich mir selbst die Antwort.
Nein, diesmal wird es nicht auf diese Weise funktionieren.
Energisch befreie ich mich nun wirklich aus seinen Armen.
„Was willst du hier, Max?“
„Dich nach Hause holen, Honey! Die letzte Nacht war schrecklich. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“
Er sorgt sich um mich?
„Bitte, Pat! Ich verspreche dir, es kommt nie wieder vor. Noch so eine Nacht halte ich nicht aus. Du fehlst neben mir ... deine Wärme. Dieses leise Geräusch deines Atems, selbst die Bewegung des Bettes, wenn du dich drehst. Es geht nicht ohne dich!“
Da ist er wieder! Mein Max! Wenn er von innen erstrahlt, wenn ich seine Liebe so deutlich in seinen Augen lesen kann.
Es tut unglaublich gut und es tut unglaublich weh, denn ich werde nicht mit ihm gehen.
Ich weiß, dass er mich liebt, und ich weiß, es tut ihm leid, aber er wird sich nicht ändern. Er verspricht es zu oft. Und es gelingt ihm tatsächlich, sich einige Zeit unter Kontrolle zu halten … bis er das nächste Mal explodiert. Er ist eine tickende Zeitbombe und ich frage mich, wie lange es gedauert hätte, bis er mich das erste Mal geschlagen hätte. Er war des Öfteren schon nahe dran. Ich habe es gespürt und wollte es nicht wahr haben.
Habe lieber beide Augen zu gemacht und mich der Illusion hingegeben, dass Liebe reicht.
Seine Liebe, meine Liebe, und doch waren wir selbst gemeinsam nicht stark genug.
„Ich werde nicht wieder mit nach Hause kommen. Max, du brauchst Hilfe, merkst du das denn nicht? Deine Wutausbrüche, deine ständig schwankenden Launen. Manchmal hatte ich das Gefühl neben einem Fass Nitroglyzerin zu leben. Ständig auf eine Explosion gefasst. Nie wissend was der Auslöser sein würde. Ich kann so nicht weiter leben. Daran gehe ich kaputt. Max … du machst mich kaputt!“
Seine Hände sind an seinem Körper herabgesunken.
Pures Entsetzen in seinem Blick.
„Was willst du damit sagen? Du kommst nicht mehr nach Hause? Liebst du mich denn nicht mehr?“
Er schweigt, seine blauen Augen huschen hin und her, als könnte er auf dem grauen Asphalt eine Lösung finden, und bevor ich eine Antwort geben kann, sagt er den Kopf hebend: „Das ist mir egal, meine Liebe reicht für uns beide. Komm heim, Patrick, ich werde dir alle Zeit geben, die du brauchst, wenn du nachdenken musst. Aber bitte, ich flehe dich an … lass mich nicht alleine!“
Da schimmern tatsächlich Tränen in seinen Augen und ich bin in Versuchung – oh, so stark in Versuchung!
Aber ich kann nicht, ich darf nicht.
Es würde nicht gut gehen. Nicht ohne professionelle Hilfe.
Sanft lege ich eine Hand auf seinen Arm, mein Herz blutet und ungeweinte Tränen des Mitleids lassen meine Stimme kratzig klingen.
„Mit fehlender Liebe hat das nichts zu tun, dann wäre ich erst gar nicht gegangen. Ich liebe dich, mehr, als ich dir sagen kann. Max, ich verspreche dir, wenn du dir Hilfe suchst, dann ... Wir starten einen zweiten Versuch, aber nicht so, hörst du?“
„Dann komm jetzt schon mit nach Hause. Und ich verspreche dir, ich werde mich umhören“, sagt er drängend.
Ich schüttele den Kopf. Das wäre die leichte Variante, die, die nicht gut gehen würde, weil wir allzu schnell wieder in alten Seilen, in alten Gewohnheiten gefangen wären. Der scheinbar einfache Weg ist leider auch meist der, der am wenigsten funktioniert.
Ganz einfach, weil keine Mühe, keine Arbeit dahinter steckt. Wenn es so einfach wäre, sich zu ändern, warum hat es denn vorher nicht geklappt? Und ich glaube ihm, dass er es die Male davor auch ernsthaft versucht hat.
Seine Augen schwimmen in Tränen, machen das Blau leuchtender, tiefer, seine Gefühle und seine Qual echter.
„Ich schaffe das nicht ohne dich, Patrick!“
Ich nehme seine Hand, halte sie so fest ich kann.
„Ich verspreche dir, ich werde immer für dich da sein. Du hast meine Handynummer, ruf mich an und ich werde kommen, immer ... zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wir treffen uns irgendwo und reden.“
Sein Blick klebt förmlich an mir, als versuche er, in die Tiefe meiner Seele zu blicken und gleichzeitig, als wäre ich sein Anker in einer Welt, die sich gerade dazu entschlossen hat aus der Umlaufbahn zu stürzen.
In diesen Augenblick hält der alte Audi neben uns, Andi kurbelt das Fenster runter und fragt: „Kommst du direkt mit oder willst du später mit einem Taxi nachkommen?“
Ich sehe nicht Andi an, ich sehe in das Gesicht von Max, und sehe den Umschwung. Sehe die Gletscher und Spalten, die sich in seinen Augen auftun. Eine Arktis im Kleinformat und doch meine ganze Welt.
„So ist das also!“, brüllt er mitten auf dem Parkplatz los. „Mir redest du ein, ich bräuchte einen Irrenarzt, während du einfach nur fremdficken willst?“
Seine Hände ballen sich zu Fäusten, er tritt einen Schritt auf mich zu und zum ersten Mal habe ich bewusst Angst vor ihm.
Eine Angst, die ich mir früher zu fühlen verboten habe. Jetzt überspült sie mich mit Fassungslosigkeit.
So schnell, der Wechsel ging so schnell.
Innerlich höre ich mich jammern und greinen wie ein Kind: „Ich will meinen Max zurück, ich will sofort meinen Max wieder haben.“
Äußerlich versuche ich eine Gelassenheit zu heucheln, die jeder, der mich gut kennt, sofort zu durchschauen weiß.
„Überlege es dir, Max. Ich liebe dich, doch so werde ich nicht weiter an deiner Seite bleiben.“
Ich sehe, wie sehr er mit sich ringt, wie sehr er versucht, seine Kontrolle zurückzuerlangen. Bevor er auch nur einen weiteren Ton sagen kann, eine weitere Bewegung in meine Richtung machen kann, öffne ich die Autotür und setze mich neben Andi auf den Beifahrersitz.
„Fahr los!“, herrsche ich ihn an, mühsam um Fassung ringend.
Bei Andi angekommen stürze ich zuerst einmal zur Toilette. Während der ganzen Fahrt habe ich das Gefühl gehabt, der Kaffee des Nachmittags wollte unbedingt zurück ans Tageslicht.
Wer kann es ihm verübeln? Auch ich würde gerne ein Licht am Ende des Tunnels sehen.
Blödes Wortspiel, blöde Übelkeit ... Als ob ich mir um nichts anderes Gedanken machen müsste.
Aber es ist leichter, sich um solche Nichtigkeiten zu kümmern. Ich will mich nicht mit dem Schmerz auseinander setzen, will nicht immer sein Gesicht vor Augen haben, will nicht mehr diesen furchtbaren Umschwung in seiner Mimik, in seiner Haltung sehen und kann doch an nichts anderes denken. Tief hole ich Luft ... zu spät.
Der Kaffee gewinnt.
Einige sehr unerfreuliche Minuten später spüle ich mir den Mund aus und putze mir die Zähne. Ich wollte es nie glauben, aber Liebeskummer macht tatsächlich krank.
Andi steht in der Küche neben dem Kühlschrank und sieht mir entgegen. „Besser?“, fragt er.
Ich antworte nicht, meine Gesichtsfarbe spricht Bände.
„Ich nehme mal an, dass du keinen Hunger hast?“
Angewidert verziehe ich nur meinen Mund.
„Ich habe auch keinen Appetit. Was fangen wir mit dem Restnachmittag und dem Abend an?“
Mir ist danach, mich in meinem Bett zu verstecken und am liebsten würde ich die Tränen laufen lassen, die ich mir eben auf dem Parkplatz verboten habe. Verdammt, wann bin ich zu einer solchen Heulboje mutiert?
Die Antwort ist ganz einfach: gestern!
Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit und kein Ende ist in Sicht.
Jäh setzt Andi sich auf einen der Küchenstühle, sein Gesicht in den Händen vergrabend, jetzt ist er es, der plötzlich seine Fassung verliert.
Von meiner eigenen Unachtsamkeit peinlich berührt, merke ich wie egoistisch ich die ganze Zeit gewesen bin.
Und irgendwie ist es gut, es lenkt mich von mir selber ab. Für andere stark sein … das kann ich!
Schnell bin ich vor ihm, ziehe ihn hoch und in meine Arme.
„Pst!“, wispere ich. „Schschsch, es wird alles wieder gut!“ Dämlich, und so dumm! Das weiß ich selbst.
Aber mir geht es wie ihm eben im Büro. Man steht hilflos daneben und weiß nichts zu sagen, angesichts dieser aufrichtig empfundenen Trauer.
Ich wiege mich leicht hin und her, halte ihn dabei und flüstere weiterhin belanglose Laute, die nach und nach ihr Ziel anscheinend erreichen. Er beruhigt sich etwas.
„Ich brauche jetzt was zu trinken!“, grummelt er. „Was Richtiges!“ Er löst sich aus meinen Armen und geht Richtung Wohnzimmer.
Auffordernd sieht er mich mit seinen verheulten Augen an: „Du auch?“
Ein wenig zweifle ich, aber was soll‘s?
Werde ja schon sehen ob mein Magen das mitmacht oder nicht … Im Zweifelsfalle brennt ein anständiger Schnaps alles Üble aus, beschließe ich, meine nicht vorhandenen medizinischen Kenntnisse in die Waagschale werfend.
Urg, Jägermeister. Eigentlich mag ich keinen Kräuterlikör. Egal, Hauptsache das Zeug wirkt.
Beim ersten Glas kneife ich noch die Augen zusammen und verziehe mein Gesicht. Beim zweiten Glas krause ich nur noch die Nase und das dritte Glas rutscht schon echt gut. Kunststück, wenn man nichts im Magen hat.
Andi geht es ähnlich. Bei ihm sehe ich schon süße, kleine, rote Flecken auf den Wangen. Der scheint ja noch weniger zu vertragen als ich.
Das vierte Glas ist auch schon leer. Vielleicht sollten wir unsere Schlagzahl etwas senken, sonst ist die Flasche zu schnell leer.
Andi winkt ab, als ich meine Gedanken mitteile. „Da steht noch eine zweite Flasche im Kühlschrank.“
Na, dann ist der Abend ja gerettet.
Irgendwann fängt er an zu erzählen, es klingt schon ein wenig vernuschelt, aber alles was er sagt ist in seinem Leid leider viel zu deutlich, viel zu klar zu verstehen.
„Weißt du, was am meisten weh tut?“, fragt er. „Ich wollte so gerne Kinder mit ihr haben und sie hat immer gesagt, es wäre noch nicht der richtige Zeitpunkt.“, er seufzt, legt für einen Moment den Kopf in den Nacken. „Erst mussten wir die Wohnung perfekt und nach ihrem Geschmack einrichten, dann musste es der neue Wagen sein, den sie mitgenommen hat, und ich Trottel immer noch abbezahle. Irgendetwas musste immer zuerst noch erledigt werden, in Ordnung gebracht werden und so weiter, und so weiter. Dabei hat sie mich bloß hingehalten. Ich war nur der Pausenclown, der Lückenbüßer, der versuchte all ihre Wünsche zu erfüllen, bis sie jemand Besseres gefunden hatte.“
Während seiner ganzen Erklärung laufen vereinzelt Tränen an seinen Wangen herunter. Ich glaube, er bemerkt sie noch nicht einmal.
„Bin ich wirklich so wertlos, so nichtssagend, wie ich mich jetzt fühle?“
Ich ziehe ihn einfach in meine Arme, was überraschend einfach geht. Weil wir zum einen nebeneinander auf der Couch sitzen und zum anderen beide viel zu betrunken sind für irgendwelche Abwehrmaßnahmen.
„Habe ja immer gedacht, das wäre als schwuler Mann viel leichter!“, murmelt er irgendwo gegen meine Schulter. „Dieses Gefühlsding. Aber wenn ich dich und deinen Max so sehe, dann glaube ich, es ist piepsegal, was man ist. Ob schwul, lesbisch oder hetero, Katz oder Maus ... es tut immer weh, oder?“
Ich glaube, in diesem Falle wäre ich lieber die Katze, die könnte die Maus wenigstens auffressen ...
Er hebt ein wenig den Kopf, sieht mich von unten an mit diesen grünen Augen, deren Farbe von den vergossenen Tränen doppelt leuchten. Mit seinen zitternden Lippen, auf eine Antwort wartend, die ihn trösten soll, die ich nicht geben kann, die mich restlos überfordert ... Weil er das große JA dahinter bestimmt nicht hören will.
Wie von selbst senkt sich mein Kopf, will ich diese roten Lippen tröstend küssen. Wärme gebend und endlich selber wieder Wärme und Nähe spürend.
Langsam, ganz langsam komme ich seinem Mund näher. Da ist so viel Sehnsucht in mir, nach einfacher Zwischenmenschlichkeit, nach Vergessen, nach einem „In-sich-verlieren“.
Im letzten Augenblick reiße ich den Kopf wieder hoch. Was zur Hölle tu ich da gerade?
Wollte ich tatsächlich einem Hetero einen Kuss aufzwingen?
Plötzlich spüre ich seine Hand in meinem Nacken.
„Tu es einfach!“, flüstert er und zieht meinen Kopf wieder nach unten.
Gut - es tut einfach nur gut, diese Wärme zu spüren, als ich mit meinen Lippen zärtlich über seine streichle, hauchzart, federleicht ...
Andi hat die Augen geschlossen, genießt offensichtlich die Nähe genauso wie ich.
Schließlich werde ich mutiger, stupse ein wenig mit meiner Zunge gegen seine Lippen, damit er seinen Mund öffnet.
Tatsächlich ... er tut es, kommt mir entgegen, bis wir beide plötzlich in Gelächter ausbrechen.
Überdreht und hysterisch, aber immerhin besoffenes, prustendes Gelächter.
Wem wollen wir hier etwas vormachen?
Im Endeffekt genügt es, dass wir auf diesem Sofa aneinander gekuschelt liegen. Die Wärme spüren und den Trost, den der andere bereit ist zu geben.
Einfach die Körperwärme teilen, wie ein Nestbau, ein Ort zum Verkriechen. Ein Ort der Heilung?
Nein!
Das wohl nicht, aber immerhin ein Ort, um die nächste Nacht zu überstehen.
Bildmaterialien: Rigor Mortis
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2015
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