Cover

Nat

Inmitten der Nacht



Mein Name ist Nathan aber eigentlich interessiert das niemanden wirklich. Alle rufen mich nur Nat, wenn sie etwas zu trinken bestellen möchten oder ihr Rechnung bezahlen wollen. Ich bin 26 Jahre alt und bereits stolzer Inhaber einer eigenen Lounge mit Cocktailbar.
Doch das ist momentan nebensächlich, denn eigentlich stellen sich mir zur Zeit wichtigere Fragen.

Können Fremde, die sich in einer Nacht begegnen, wichtig füreinander sein? Können sie an Dinge rühren, die tief verschlossen in einem Herzen ruhen und doch nicht wirklich still sind? Kann ein einziger Abend tatsächlich Dinge bewegen?
Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, seit ich Ronny traf.
Er stolperte eines Abends in meine Bar. Eigentlich wollte ich gerade schließen. Die auf ihre Sitzflächen gekippten Stühle ruhten schon auf den Tischen, damit die Putzfrau am Morgen leichter durchwischen konnte. Alle Gläser waren bereits gespült und standen auf ihren Plätzen, sie schienen genauso müde wie ich zu sein. Der warme Mahagoniton der Theke schimmerte schwach im Lichtschein der bereits gedimmten Beleuchtung. Träge wie ein schläfriges Tier kauerte sie in der Dämmerung der Bar.
Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir meinen Feierabend an. In der letzten Stunde hatte sich ohnehin kein Gast mehr hierher verirrt. Gerade ging ich um die Theke herum und wollte die Tür schließen, da öffnete sie sich plötzlich und ein später Besucher betrat den Raum.
Overdressed – kam es mir sofort in den Sinn.
Er erschien fast zu jung für seinen Anzug zu sein; den Hut hatte er nicht korrekt auf seinem Kopf, sondern etwas in den Nacken geschoben und die Augen musterten teilnahmslos die Umgebung.
So betrat er meine Bar.
„Tut mir leid, ich wollte gerade schließen!“, sagte ich.
„Gib mir nur einen Drink, dann bin ich wieder weg.“
Seine Stimme leise, seine Bewegungen müde, beinahe apathisch.
Ich zauderte einen kurzen Moment; der Abend war lang gewesen und mein Bett rief mich mit immer lauterer Stimme.
Er bemerkte mein Zögern. Der Blick seiner verschatteten Augen bohrte sich für Sekunden in die meinen und ich las etwas in ihnen … etwas … was? Ich gab nach.
Was brachte mich dazu diesen seltsamen Fremden ein Glas hinzustellen und ihm einen Whiskey einzuschenken?
Ich weiß es nicht, ich weiß auch heute noch nicht, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist.
Nach diesem kurzen Blick musste ich meine Meinung über sein Alter revidieren, denn seine Augen waren älter als sein jugendliches Aussehen glauben machen wollte. Im ersten Moment hätte ich ihn für höchstens 22 gehalten, aber niemand in diesem jungen Alter konnte solche Augen haben. Augen, die von einem Schmerz sprachen, der weit über seine Lebenserfahrung heraus reichte.
Ich schluckte, versuchte den Kloß in meiner Kehle unauffällig los zu werden. Als Barkeeper erlebte man manchen Gast und seine Geschichte, und nicht alle diese Geschichten waren leicht verdaulich.
Irgendwie wusste ich, seine gehörte dazu.
Doch er war nicht hier um zu reden, seine Hand griff ruhig und zielstrebig nach dem Glas, setzte es an seinen Mund und im Gegensatz zu vielen anderen kippte er es nicht herunter, sondern nahm lediglich einen kleinen Schluck, benetzte nur seine Lippen. Erst als er das Glas wieder absetzte sah ich den schmutzigen Verband, der provisorisch um sein Handgelenk gewickelt war.
„Du blutest!“, entfuhr es mir.
Sein desinteressierter Blick streifte kurz das umwickelnde Tuch.
„Nichts Tragisches, keine Sorge. Ich trink nur eben aus, dann bist du mich wieder los!“
Nur erschien mir gerade das keine gute Idee mehr zu sein.
Seine Stimme!
Etwas lag in seiner Stimme, das ich nicht identifizieren konnte, doch es brachte mich um meine Selbstsicherheit. Mein Feierabend verschob sich gerade in weite Ferne, doch war mir im Moment nichts unwichtiger als das.
„Soll ich es mir mal ansehen? Ich kann den Verbandkasten holen und ...“
Er winkte ab.
„Lass nur, bemühe dich nicht. Es ist nicht der Rede wert!“
Warum klang es in meinen Ohren so, als wäre er nicht der Rede wert?
Ein erneuter Griff zum Glas, ein erneutes Rücklegen des Kopfes und sein Glas war bald zur Hälfte geleert.
Ich wollte nicht, dass das Glas zur Neige ging, wollte nicht, dass er den letzten Schluck nahm und in die anonyme Dunkelheit der Nacht verschwand. In eine Dunkelheit, die alles zudeckte, alles versteckte.
Auch ihn?
Ich wollte, dass er blieb, ich wollte, dass er mit mir redete, über was auch immer, nur eines wollte ich nicht ... Ich wollte nicht, dass er ging. Etwas in mir zog sich bei diesem Gedanken zusammen.
Ich tat das, was jeder gute Barkeeper machte, ich stellte mich als Gesprächspartner zur Verfügung.
„Willst du reden? Manchmal hilft’s.“
Wieder dieser müde Blick, der von einem ebenso müden Lächeln begleitet wurde.
„Gaube nicht …“
„Was glaubst du nicht? Dass du reden willst oder dass es hilft?“
„Beides!“
Erneut der Griff zum Glas, nur noch ein kleiner Rest blieb zurück, höchstens noch ein Schluck und er würde gehen.
Panik kam in mir auf. Die Zeit rannte mir davon
Außer der Verletzung an seinem Arm war nichts an ihm offensichtlich und dennoch wusste ich, würde ich ihn jetzt gehen lassen, stünde er morgen in der Zeitung.
Auf dem Titelblatt, als Opfer eines tragischen Bahnunglücks oder ... Mir fiel die Brücke hier in der Nähe ein, die, die über den Fluss ging und so unendlich hoch erschien, wie das Wasser darunter tief war.
Drei Tage später würde ich seinen Namen erneut in der Tageszeitung lesen, nur diesmal auf der letzten Seite … bei den Nachrufen.
„Wie heißt du?“ Blöde Gedankenkette, aber ich wollte wenigstens seinen Namen erfahren.
„Ronny, eigentlich Ronald, aber so ruft mich niemand mehr.“
„Wieso nicht?“
Das leichte Heben einer Augenbraue teilte mir mit, dass er meinen Plan durchschaute.
Gleichzeitig zuckte er mit den Achseln, es schien keinen Unterschied mehr zu machen.
Aber verdammt, welchen Unterschied? Den zwischen reden oder schweigen? Zwischen verstehen und nicht wissen? Den zwischen Leben und Tod?
Als er erneut nach dem Glas griff, hielt ich seine Hand auf, hielt sie einfach zwischen meinen Händen und ließ ihn nicht mehr los.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass meine Finger Injektionsnadeln wären, die ihm meine Menschlichkeit einimpfen könnten, meine Wärme und mein Mitgefühl.
„Willst du mir nicht sagen, wer dich Ronald nennt und nicht Ronny?“
Irritiert sah er auf unsere Hände hinab, machte jedoch keine Anstalten sich meinem Griff zu entziehen.
Für einige Sekunden spürte ich ein leichtes Zittern, das mir Hoffnung schenkte.
Wenn es noch etwas gab, das ihn berühren konnte, vielleicht konnten dann auch meine Worte ihn berühren? Ihn schmerzen oder gut tun? Hauptsache sie brachten ihn aus diesem Niemandsland des Nichtfühlens.
Nur zu schnell hatte er sich wieder im Griff, verschwand das kleine Zeichen der Schwäche, bevor er wieder zurück glitt in dieses Land, in das ich ihm nicht folgen konnte. In dem es scheinbar außer schwarzer, trüber Müdigkeit nichts anderes mehr gab.
„Mein Opa nannte mich immer Ronald!“
Ein kleines Zipfelchen Information; ich klammerte mich daran, so wie ich mittlerweile seine Hand umklammerte.
Ich versuchte mich verzweifelt in Gedankenübertragung … Rede weiter! ... Rede mit mir! … Bitte rede mit mir!
Doch wieder schwieg er.
„Und warum nennt er dich jetzt nicht mehr so?“
„Weil er tot ist.“
„Oh, das tut mir leid. Was ist denn mit deinen Eltern, deinen Freunden? Rufen die dich alle Ronny? Was ist dir denn lieber?“
Ich plapperte, redete Unsinn, aber das war mir gerade egal.
„Übrigens mein Name ist Nat. Kann ich dir noch etwas anbieten?“
Bitte rede mit mir!
Langsam, viel zu langsam glitt sein Blick wieder in mein Gesicht, schien etwas zu suchen. Ob er es fand?
„Nein, nichts mehr. Danke! Was bin ich dir schuldig?“
Oh nein, er fing an mir seine Hand zu entziehen und es gab nichts, mit dem ich ihn aufhalten könnte.
Keinen simplen Grund ihm am Gehen zu hindern außer meinem dummen Gefühl.
Er griff nach seinem Glas, der letzte Rest des Whiskeys glitt über seinen Lippen, floss in seine Kehle, verschwand so, wie auch er nun verschwinden würde.
„Lass nur, geht aufs Haus!“
Er schüttelte den Kopf, griff in die Tasche seines Jacketts und zog einen 20 Euro Schein hervor.
„Ich bezahle meine Schulden ... immer!“
Warum klang selbst das als meinte er eigentlich etwas vollkommen anderes?
Er wandte sich um, ging einen Schritt Richtung Tür und schwankte plötzlich, hielt sich mit einer Hand an einem Tisch fest, bevor er allzu offensichtlich nach einer inneren Stärke suchte, die ihn die paar Schritte zur Tür hinaus geleiten würde.
Beinahe unmittelbar stand ich neben ihm, gerade noch rechtzeitig, um seinen Sturz abzumildern, als ihn nun endgültig alle Kraft verließ.
Seine Augen schimmerten glasig, füllten sich, ehe sie überliefen und Tränen an seinen Wangen herab rannen.
„Ich habe ihn getötet!“, stammelte er. „Ich habe ihn getötet und heute habe ich ihn beerdigt.“
Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken.
Er hatte seinen Großvater getötet? Er sah nicht aus wie ein Mörder und ganz gewiss würde er nicht mehr frei herumlaufen, wenn er tatsächlich einen Mord begangen hätte.
Ich konnte nichts anderes tun als mich vor ihm zu knien und ihn einfach in meine Arme zu ziehen.
Sein offensichtliches Leid ließ keine andere Handlung zu und er klammerte sich an mich wie ein Ertrinkender.
Ich hielt ihn und wiegte ihn wie ein Kind, flüsterte sinnlose Worte, die Trost spenden sollten und die doch nichts anderes als leere Worthülsen waren angesichts seines Elends.
Geleitet von meiner Hilflosigkeit ließ ich Küsse auf sein Haar regnen, auf seine Wange und seine Hände.
Er war keine Fremder … ich war kein Fremder. Wir waren einfach Menschen, die nach Rettung suchten.
Irgendwann rappelte er sich auf, schwankte und wich doch Schritt um Schritt vor meiner ausgestreckten Hand zurück.
Immer wieder schüttelte er den Kopf, verneinte alles.
Das gerade Geschehene, meine Hilfe. Seine Schuld?
Ich weiß es nicht und noch bevor ich mich aus meiner knienden Position erhoben hatte, war er verschwunden.
Am nächsten Tag stand nichts in der Zeitung und auch drei Tag später stand kein Ronny oder Ronald unter den Todesanzeigen. Aber musste das etwas bedeuten?
Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, ich weiß auch nicht, ob er tatsächlich seinen Großvater tötete.
Ich weiß nur, dass in einer Schublade meiner Theke ein Umschlag mit Wechselgeld liegt und dass jede Nacht eine Kerze in meinem Ladenfenster brennt. Damit er, wenn er aus der Dunkelheit kommt, ein Licht finden wird, das ihm den Weg zeigt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /