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Stimmen im Wind

Stimmen im Wind

 

Wumm!

Das Wrackteil traf Hajo voller Wucht gegen den Kopf. Kurzfristig wurde es schwarz um ihn herum. Es war Leanders Stimme, die ihn im Hier und Jetzt hielt.

„Um Gottes willen, Hajo! Halt diesen scheiß Rettungsring fest! Lass bloß nicht los!“

Schwach versuchten Hajos Hände dem Befehl seines Mannes Folge zu leisten. Aber sie rutschten eine nach der anderen immer wieder ab und erst als Leander in anschrie: „Verdammt, Hajo! Reiß dich am Riemen!“, gelang es ihm seinen Griff tatsächlich soweit zu festigen, dass die wütenden Wellen ihm den Reif nicht mehr entreißen konnten.

Wobei es ein Wunder war Leanders Stimme überhaupt im Toben des Sturmes zu verstehen.

Was als harmloser Wochenendausflug begonnen hatte, war in einer Katastrophe geendet, als erst der Motor der kleinen Yacht versagt hatte und dann ein Sturm aufgezogen war, der in keinem Wetterbericht voraus gesagt worden war.

Nun trieben sie hier.

Meilen von jeder Küste entfernt.

Meilen, fern jeder Hilfe.

Meterhohe Wellen beutelten Hajo, warfen ihn hin und her, ganz zu schweigen von den Wellenbergen, die ihn weit hinauftrugen, um ihn anschließend wütend in brüllende, tosende Abgründe zu stürzen.

Minuten, Stunden, Tage?

Zeit ließ sich nicht verifizieren, war lediglich messbar am Grad der Erschöpfung in seinem ausgekühlten Körper.

Es war unglaublich anstrengend für ihn sich weiterhin festzuhalten. Sich festzuhalten an dem runden Stück geschäumten Kunststoffs, der ihn oben hielt. Festzuhalten an dem bisschen Leben, das das Meer und seine Verletzung ihm gelassen hatten. Sich an dieses winzige Stück Hoffnung zu klammern, die Leanders Stimme ihm immer wieder vermittelte: „Es wird Rettung kommen, Hajo! Du musst nur noch die Nacht überstehen!“

Müde, er war so unendlich müde. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, drohte ihm dieses kleine rot weiß gestreift Stück Überleben aus den kraftlosen Fingern zu rutschen. Und immer war es Leander, der ihn anspornte, der ihn anbettelte wach zu bleiben.

„Ich weiß, du bist müde. Aber du musst stark bleiben. Komm schon, Liebling, mach die Augen auf.“

Mal flehte Leander, mal schimpfte er und ab und an schnauzte er Hajo unvermittelt an.

Die Platzwunde an Hajos Kopf blutete immer wieder, nahm ihm zusätzlich die Sicht, wenn das ewig brennende Salzwasser einmal nicht in seinen Augen gelangte. Hajo wusste nicht mehr zu sagen, ob es das Blut in seinen Augen war, die Verletzung an sich, das Salzwasser oder allgemeine Erschöpfung, die seinen Blick immer wieder verdunkelte. Oder war es ganz einfach nur die Finsternis dieser alles verschlingenden Nacht, in der es nichts gab als das Brüllen des Sturms?

Er hatte es schon lange aufgegeben, sich die salzverkrusteten Augen zu reiben.

Es half nichts und kostete im Endeffekt zu viel Kraft, die er dringender brauchte, um weiter den überlebensnotwendigen Halt zu finden.

„Leander?“

Hajos Stimme war kaum ein Flüstern. Matt und mutlos klang sie.

„Leander, ich kann nicht mehr!“

„Doch du kannst. Und du wirst! Der Morgen ist nicht mehr weit.“

„Ich bin müde! Bitte, kann ich die Augen nicht ein kleines bisschen schließen? Du passt doch auf mich auf, damit ich nicht abrutsche!“ Hajos Zähne klapperten aufeinander, als ein Kälteschauer ihn durchfuhr und seine Stimme und seine Worte beinahe unkenntlich machte.

„Liebling, ich kann dich nicht halten. Die See ist stärker als ich. Der Sog der Wellen ist unglaublich. Halt dich wach, Hajo! Bitte, Liebling, halte dich wach!“, eindringlich klang die Stimme des Geliebten, doch erreichte Leanders Stimme nur noch schwach Hajos Ohren. Diese allumfassende Müdigkeit versprach eine Ruhe, die ihn immer stärker verlockte. Sie rief ihn, versprach Rast und Obhut.

Plötzlich zuckte Hajo zusammen, als Leander in sein Ohr schrie: „Du Arschloch wirst jetzt nicht aufgeben.Verdammt nochmal, halte endlich deine bescheuerten Augen auf!“

Empörung mischte sich mit Wut. Irgendwie schaffte es Hajos Körper noch einmal ein wenig Adrenalin durch seine Venen zu pumpen.

„Wie redest du eigentlich mit mir? Reicht es nicht, dass wir in dieser Scheißlage stecken? Musst du mich jetzt auch noch beschimpfen?“

Wäre ihre Lage nicht so trostlos gewesen, hätte Hajo nun das Lächeln in der Stimme seines Mannes gehört.

„Aber jetzt bist du wieder wach!“

„Du Arsch!“

„Ich weiß! Hajo?“

„Mh?“

„Ich liebe dich!“

Ein zärtliches Lächeln flog über die erschöpften Züge des verletzten Mannes.

Seine Gedanken drifteten ab. Verließen die grausame Dunkelheit, mit ihrer Kälte und Nässe, suchten Zuflucht in der Erinnerung ihrer ersten Begegnung.

Ein dummer Zufall, ein unbedachter Augenblick und ein verschütterter Milkshake hatte sie zusammen geführt.

„Ich weiß genau woran du jetzt denkst!“

Leanders Stimme klang auf, zärtlich und liebevoll.

Es wunderte Hajo nicht. Leander hatte schon immer eine tiefe Bindung zu ihm gehabt. An manchen Tagen glaubte Hajo sogar, sein Liebster las seine Gedanken.

Müde legte Hajo den Kopf auf dem Schwimmreifen ab, es war anstrengend ihn die ganze Zeit oben zu halten.

Statt des Salzwassers roch er plötzlich Erdbeeraroma, fühlte eine feste Hand, die seinen Arm packte, um eine Sturz zu verhindern.

„Tut mir leid!“, hörte er zum ersten Mal die Stimme, die der Liebe seines Lebens gehörte.

„Ich habe einfach nicht darauf geachtet, dass die Trageschlaufe meines Rucksacks zu weit in den Gang hinaus reichte!“

Hajo sah nach unten, sah den Übeltäter und seinen darin verfangenen Fuß, sah auf die Pfütze seines verschütteten Erdbeermilkshakes und dann in ein paar unglaublich blauer Augen, als er endlich den Blick hob.

Augen, die ihn nie wieder los ließen. So wie die Arme des dazugehörenden Mannes. Der mit Hajo lachte und weinte, der ihn von diesen, im Nachhinein magischen, Moment an begleitetet.

Sie bauten ihr gemeinsames Leben auf, gründeten gemeinsam eine Cateringfirma, heirateten 5 Jahre später und fantasierten davon, wie es wäre ein gemeinsames Kind zu haben. Stattdessen adoptierten sie einen kleinen Hund, dessen Rasse undefinierbar war und verschoben den Kinderwunsch auf später.

Hielten sich gegenseitig tröstend in den Armen als beide kurz hintereinander einen Elternteil verloren. Und liebten sich von Jahr zu Jahr mehr, inniger, vertrauter.

Das Wort Seelenpartner erhielt für beide eine ureigene Bedeutung, dessen Realität ihr Leben bestimmte und sie in der Gewissheit ihrer gegenseitigen Liebe einwob.

„Hajo? Komm, Liebling, genug geträumt. Der Sturm lässt nach. Bald kommen bestimmt die Rettungskräfte!“

Sanft geflüsterte Worte, zärtlich wie eine Liebkosung.

Unwillig der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, wollte Hajo in seinen Erinnerungen versteckt bleiben. Die hartnäckige Stimme seines Mannes verhinderte es bestimmt.

„Du hast es bald geschafft. Sieh nur, dahinten kannst du sehen wie die Sonne aufgeht. Bleib stark, Liebling! Ich weiß, dass du es kannst. Nur noch wenige Stunden. Ich liebe dich, mein Herz! Ich liebe dich so sehr!“

„Kopfweh ... und mein Hals ... bin müde ... kann nicht mehr!“, heiser vor Müdigkeit und unendlich leise antwortete Hajo. Es erschien ihn für den Moment verlockender und einfacher den Griff zu lösen und sich der allgemeinen Taubheit in seinem Körper hinzugeben.

Langsam, wie in Zeitlupe rutschte sein Körper tiefer, glitten die weißen und vom Wasser aufgeweichten Hände kraftlos vom Rettungsring ab.

„Tu mir das nicht an. Geh nicht, Liebling! Du kannst doch jetzt nicht aufgeben, nachdem du die ganze Nacht gekämpft hast! Ich weiß, dass bald Hilfe kommen wird. Bitte! Bitte, Liebling! Mir zu liebe!“

Voller Emotionen, voller Zärtlichkeit und Liebe versuchte die vertraute Stimme Hajo vom Leben zu überzeugen.

Versuchte dem von der Kälte des Wassers kraftlosen Körper, dem vom Kampf ermüdeten Geist eine Hoffnung einzuimpfen, die der Verletzte selber nicht mehr in sich finden konnte.

Es war wie ein Wunder als Hajo noch einmal tief Luft holte, eine Energiereserve mobilisierte, von der er keine Ahnung hatte aus welchen Tiefen seines ausgezehrten Leibes diese Energie kam. Seine Hände packten noch einmal zu, krampften sich schmerzhaft in den seelenlosen Kunststoff vor ihm.

Hajo spürte beinahe körperlich die Erleichterung seines Mannes.

„So ist es gut. Du bist so unglaublich tapfer, mein Herz!“

Plötzlich setzte sich ein Gedanke in Hajos Hirn fest, verschwand kurz im Nebel seiner Schwäche, bevor er sich gewaltsam zwang diesen Gedanken festzuhalten.

„Woher willst du wissen, dass Rettung kommt? Du selbst hast gesagt, es sei zu gefährlich zurück unter Deck zu gehen, um über Funk unsere Koordinaten durchzugeben. Sei ehrlich zu mir ... es wird niemand kommen, nicht wahr?“

„Doch, Liebling! Ich weiß es. Sie sind bereits unterwegs“

Hajo hielt die Lider geschlossen, verschloss die Wirklichkeit, das Grau des Meeres, seine Todesschwäche, seine Angst dahinter und spürte doch, dass Leander recht hatte. Die Sonne ging auf, er konnte es spüren, bemerkte trotz seiner salzverklebten Augen den Wechsel des Lichts, bis er schließlich gar nichts mehr bemerkte.

Auch nicht den Rettungshubschrauber der eine Stunde später über ihn kreiste.

 

Drei Jahre später ...

... stand Hajo am Ufer des Meeres. In einer Hand hielt er die Leine seines Hundes. In der anderen eine einzelne rote Rose.

Er setzte sich in den warmen Sand und blickte über das im Sonnenlicht glitzernde Wasser.

Er kniff die Augen zusammen, schützte sie zusätzlich mit einer Hand und blickte zum Horizont.

Seine Gedanken glitten zurück, glitten durch von Trauer verschattete Monate bis zu dem Augenblick, in dem er in einem Krankenhaus wieder zu sich gekommen war …

Seine erste Frage galt Leander, sein Blick suchte seinen Mann.

Man teilte ihm mit, dass Leanders Körper in dem gekenterten Boot gefunden worden war. Er war wieder besseren Wissens noch einmal unter Deck gegangen, hatte den Ruf, der Hajos Leben rettete, abgesetzt und war nicht wieder zurück an Deck gelangt.

Hajo schrie und tobte, verlangte eine erneute Rettungsmission, solange bis man ihm eine Beruhigungsspritze verabreichte.

Der Küstendienst versicherte ihm anschließend glaubhaft, es habe nie eine Möglichkeit bestanden, dass Leander das Kentern des Bootes überlebt haben könnte.

Erst als man Hajo mit einem Rollstuhl in den Keller der Pathologie brachte und er der Realität in Form einer kalten Stahlschublade, in der der leblose Körper seines Mannes lag, ins Auge blicken musste, erst da gelang es ihm den Tod seines Seelengefährten zu akzeptieren. Verstanden hatte er ihn jedoch bis heute nicht.

Sicher, Leander hatte ein Grab, war nicht auf See geblieben und doch fühlte Hajo sich Leander hier am Wasser näher als sonst irgendwo. Eigentlich sollte er das Meer hassen, aber er konnte es nicht. An guten Tagen nahm die See Leanders Augenfarbe an. Wie konnte er etwas hassen, das ihn an die Liebe seines Lebens erinnerte? An guten Tagen spürte er hier die Nähe seines Mannes ganz besonders stark. An schlechten Tagen ertrug er noch nicht einmal das Geräusch von Wind in den Bäumen seines Gartens. Es erinnerte ihn zu stark an eine Stimme im Wind. Eine Stimme, die sanft seinen Namen flüsterte und ihn ermahnte weiter zu leben, nicht in Trauer zu versinken.

Er küsste die Rose und warf sie anschließend ins Wasser; beobachtete, wie die sachten Wellen mit ihr spielten. Vorsichtig, als wollten sie keines der roten Blütenblätter knicken.

Harry, der kleine Hund, bellte, zog an der Leine und riss sich plötzlich los. Sprang in das Wasser und schnappte nach der Blüte, zog sie zurück ans Ufer, als wollte er sagen, dass Trauer und Abschied nicht hier her gehörten

Hajo musste unwillkürlich grinsen.

„Ich höre dein Lachen bis hier, mein Lieber. Das wäre wieder was für dich. Wie ich dich kenne hättest du alles mit deiner Handykamera gefilmt.“

Ein sanfter Wind strich durch Hajos blondes Haar, er schloss die Augen und gab sich dem Murmeln der Wellen hin, die zu flüstern schienen.

Ein zärtlicher Gesichtsausdruck legte sich auf sein Gesicht:

„Ja, ich liebe dich auch!“

Menschen, die man liebt sterben nie ...

 

Ende

 

 

Die Idee zu dieser Geschichte entstand nachdem ich im Radio Juliane Werdings „Stimmen im Wind“ gehört habe.

Der Titel und die letzte Zeile sind an ihrem Lied angelehnt.

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Babsi Corsten
Bildmaterialien: Rigor Mortis
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

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