LOST IN AFTERGLOW
A HEARTBREAKING ROCKSTAR-ROMANCE
JO JONSON
»Alles, worauf die Liebe wartet, ist die Gelegenheit«
~ Miguel De Cervantes ~
Für Laura, Antje und Jan
Danke für eine Reise voller Magie
For Sunrise Avenue
Thank you for everything
PROLOG
Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Boden gelegen hatte. Sie stand nur auf, weil es ihr nicht möglich war, einfach liegen zu bleiben und zu sterben. Und sie wollte ihm heute nicht noch einmal begegnen, wollte ihm nie mehr begegnen. Ihre Finger tasteten sich über die eiskalten Fliesen des Hausflurs, pressten sich gegen den Boden, stemmten ihren Körper nach oben. Zuerst wollten ihre zitternden Beine sie nicht tragen, sodass sie gegen die Wand sank.
Doch als sie nebenan seine Schritte hörte, mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und nahm die Treppe in Angriff. Sie wusste genau, welche Stufe knarrte, und übersprang sie, ohne es bewusst wahrzunehmen. Sie bewegte sich in ihrem eigenen Zuhause so lautlos wie ein Geist. Dennoch atmete sie erst auf, als sie den zweiten Stock erreicht hatte.
Vor der weißen Tür zu ihrem Zimmer hielt sie inne. Mit dem Raum dahinter verband sie so viele widersprüchliche Gefühle, wie es wohl nur eine Sechzehnjährige konnte. Es war ihre Zuflucht und ihr Gefängnis. Wohlige Wärme und kalte Einsamkeit. Schöne Stunden und angstvolle Nächte. Sie hatte noch nie eine Freundin mit hierhergebracht, von einem Jungen ganz zu schweigen. Wie hätte sie das mit ihren Eltern auch nur irgendjemandem erklären sollen? Es würde niemand verstehen, und niemand konnte ihr helfen. Sie hatte keine Geschwister, ihre Großeltern waren tot. Sie war mutterseelenallein auf dieser Welt.
Sie drückte die Klinke herunter und trat in ihr perfekt eingerichtetes Reich. Ein Zimmer mit mintgrünen Wänden, passend zum dunkelgrünen Teppichboden und der olivfarbenen Schlafcouch, auf der sie sich so oft weit weg von hier träumte. Alles in diesem Raum war stets sauber und ordentlich. Sie brauchte das Gefühl, wenigstens diesen Raum unter Kontrolle zu haben. Alles war stets an seinem Platz, und sie merkte sofort, wenn etwas nicht so war, wie es sein sollte. So wie heute. Mit wild klopfendem Herzen sah sie sich im Zimmer um. Lange suchen musste sie nicht, da entdeckte sie ihr Tagebuch, aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch.
»Oh mein Gott!« Sie durchmaß den Raum mit zwei Schritten. Zornestränen traten in ihre Augen, als sie die Worte auf der aufgeschlagenen Seite las. Heiße Scham und Übelkeit befielen sie bei dem Gedanken, dass ihr Vater in ihre tiefsten Geheimnisse eingedrungen war. Das Schloss lag kaputt daneben. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sein Eindringen in ihre Privatsphäre zu vertuschen.
Sie zitterte am ganzen Körper. In der Spiegelung des ausgeschalteten Computerbildschirms konnte sie das Veilchen unter ihrem rechten Auge erblühen sehen. Längst waren ihr die Ausreden für ihre Lehrer und Mitschüler ausgegangen. Sie hatte keine Kraft mehr, für ihn zu lügen. Sie hatte keine Kraft mehr, ihre Verletzungen zu überschminken und wegzulächeln. Sie hasste ihn. Und sie hasste sich selbst. Es war zu viel. Der letzte Tropfen und das Fass zerbarst und überschwemmte alles, was von ihrem jämmerlichen Leben übrig war.
Er hatte es geschafft. Er hatte sie gebrochen. Für wen sollte sie noch kämpfen? Warum sollte sie ihre erbärmliche Existenz weiterhin aufrechterhalten? Nie mehr wollte sie sich im Spiegel in diese verletzten geschundenen Augen sehen müssen. Sie würde kein Opfer der Umstände mehr sein. Es gab eine Sache, die er ihr noch nicht genommen hatte. Das konnte sie noch selbst tun. Ehe er das auch noch tat.
Ihr Kopf war kühl und klar, als sie entschied, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Fast regte sich so etwas wie Euphorie in ihrer Brust. Die Erleichterung, dass es bald durchgestanden war. Mechanisch nahm sie die Bilderrahmen vom Fensterbrett, die sie lachend mit ihren Klassenkameraden auf der letzten Klassenfahrt zeigten, und öffnete das Fenster. Einem Impuls folgend, schaltete sie das Radio ein. Musik hatte sie immer gemocht. Das Lied, das gerade begann, war ihr unbekannt, doch schon die ersten Töne rührten an ihr Herz.
Lächelnd stieg sie auf das Fensterbrett. Sie würde dieses Gefängnis der Einsamkeit hinter sich lassen und in die Töne dieses wundervollen Liedes fallen. Sie atmete tief die süße Sommerluft ein und breitete die Arme wie Flügel aus. Dann ertönte die Stimme des Sängers, und sie fror mitten in der Bewegung ein wie eine groteske Gallionsfigur dieses Horrorhauses. Die Stimme hüllte sie ein wie eine Umarmung. Dunkler Samt, der sich in die süßen Töne flocht. Und dann hörte sie die Worte.
Your world is dark. But that's not the real world. Not what's out there waiting for you. Don't let yourself be dragged down. Don't break, run away! Don't break, run away! You have to run away now!
Der Text riss sie zurück – in die Wirklichkeit, in ihr Zimmer, ins Leben. Wie betäubt ließ sie sich rückwärts auf den grünen Teppichboden fallen, und dort blieb sie, bis die letzten Töne des Liedes verklungen waren. Doch in ihr klangen sie noch lange nach, würden dort für immer klingen. Brich nicht, sondern lauf! Du musst jetzt davonlaufen!
Heiße Tränen strömten über ihre Wangen. Es war unsinnig, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, das Lied war nur für sie und diesen Moment komponiert worden.
»Das war Afterglow mit ihrer neuen Single Run Away …« Die Stimme des Radiomoderators klang, als wäre sie meilenweit entfernt. Nur zwei Worte hallten ständig in ihr wider. Run away.
Ruckartig stand sie auf, zerrte eine Handvoll Sachen aus ihrem Kleiderschrank, stopfte sie in ihren Schulrucksack und verließ das Haus wie eine Diebin bei Nacht, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie kehrte nie mehr zurück.
1
Zehn Jahre später
Sie war auf der Flucht wie ein Fuchs vor den Hunden. Ihr Puls raste wie der eines Rehs, kurz bevor es von den Scheinwerfern eines heranrasenden Wagens erfasst wurde. Der Tod hatte seine Krallen nach ihr ausgefahren. Das getrocknete Blut auf ihrer Stirn erinnerte sie bei jedem Blick in den Rückspiegel daran. Sie konnte nicht anhalten, um es sich abzuwischen. Sie musste weiter. Weit fort von hier. Das war alles, was sie wusste.
Sie kannte weder ihren Namen noch ihren Wohnort. Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren ein heruntergekommenes Toilettenhäuschen und ein Zettel, der unter dem Türschlitz in die Kabine geschoben wurde. Ein Zettel, der solches Grauen in ihr auslöste, dass sie sich die Erinnerung nicht näher ansehen konnte. Es war, als versuche sie, Rauch mit bloßen Händen zu fangen.
Der Rest ihrer Welt war leer und dunkel. Sie wusste keinen Platz, an den sie fliehen konnte. Es schien, als wären sie und ihr unsichtbarer Verfolger allein auf dieser Welt. Sie trat das Gaspedal durch und raste ungestüm in dem kleinen schwarzen Auto durch die eisige Winternacht. Die Welt hatte kein Licht für sie. Nur die Scheinwerfer ihres Wagens durchschnitten die zähe Dunkelheit der abgelegenen Straße. Kurve um Kurve bestieg sie den Berg. Der Wald erklomm die steile Steigung rechts von ihr und lehnte sich in einer Art und Weise über sie, als wolle er sie den Abhang auf der gegenüberliegenden Seite hinunterstoßen.
Sie ertappte sich bei dem Gedanken daran, wie ihr Wagen die Leitplanke durchbrach. Sie würde fliegen. Schwerelos, sorglos, frei. Und dann könnte niemand ihr folgen. Wie leicht wäre es, einem Leben ein Ende zu setzen, an das ihre einzige Erinnerung ein Gefühl kalten Grauens war! Aber etwas hielt sie zurück. Es war wie ein Licht in tiefster Nacht. Und es befand sich direkt an der Stelle neben ihrem Herzen.
Unwirsch wischte sie sich die Tränen mit dem Ärmel aus den Augen und verteilte das getrocknete Blut damit noch mehr auf ihrem Gesicht. Sie fluchte. Und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Nervös warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Niemand folgte ihr. Dann musterte sie für einen Moment das Gesicht der Frau im Spiegel. Eine große Platzwunde zierte den Großteil ihrer Stirn. Sie betete zu Gott, dass sie nicht genäht werden musste. Sie konnte in kein Krankenhaus fahren. Das war so sicher wie die Tatsache, dass sie verfolgt wurde. Nur den Grund hätte sie nicht benennen können.
Wieder warf sie der fremden Frau im Spiegel einen kurzen Blick zu. Blasse Haut umrahmte große Augen, die wie grüne Monde in der Finsternis leuchteten. Ihr kastanienbraunes Haar war wirr und lang. Das war alles, was sie über sich selbst sagen konnte. Sie war eine Fremde in einer Welt, die sie nicht kannte. Sie wusste, sie musste Familie haben. Irgendeinen Menschen hatte jeder auf dieser Welt.
Sie verbot sich, darüber nachzudenken. Zuerst brauchte sie einen sicheren Ort, wo sie sich ausruhen und notdürftig ihre Wunden versorgen konnte. Sie wusste nicht, wie lange sie gefahren war, wie oft sie willkürlich diese oder jene Ausfahrt genommen hatte, als vor ihren Augen Lichter auftauchten.
Wie aus dem Nichts erschien vor ihr der Umriss eines riesigen Gebäudes, davor ein stark besuchter Parkplatz. Instinktiv lenkte sie ihren Wagen durch die Einfahrt. Irgendetwas an diesem Platz zog sie magisch an. Sie drehte einige Runden, bis ihr klar wurde, dass jede Parklücke besetzt war. Unentschlossen blickte sie zur Straße zurück, aber etwas in ihr sagte ihr, dass sie genau hier sein sollte. Die aus dem Gebäude strömenden Menschenmassen vermittelten ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Während sie sich suchend umsah, entdeckte sie eine weitere kleine Einfahrt auf der anderen Straßenseite. Sie war so dicht von hohen Bäumen umgeben, dass sie in der Dunkelheit kaum wahrzunehmen war. Somit wirkte sie auf die verängstigte junge Frau nicht gerade einladend, aber wenn sie nicht weiterfahren wollte, musste sie sich wohl oder übel damit zufriedengeben. Ihren Peiniger musste sie einige Kilometer hinter sich zurückgelassen haben. Sie hatte penibel darauf geachtet, wer ihr folgte, und die Autos hatten ständig gewechselt. Sie fühlte sich so sicher, wie eine Frau in ihrer Lage es vermochte. Das musste für den Moment genügen.
Entschlossen lenkte sie den Wagen auf die Straße zurück und fuhr dann in die dunkle Einfahrt, die zu einem unbeleuchteten Parkplatz führte, der eher wie eine Lichtung anmutete, da er von hohen Bäumen umgeben war. Vielleicht war es hier sogar sicherer als auf dem Platz vor dem hell erleuchteten Gebäude. Nur ein schwarzer Bus mit getönten Scheiben und ein weißer Transporter leisteten ihr Gesellschaft. Vorsichtig lenkte sie ihr Auto um beide Wagen herum und spähte aus dem Fenster. Außer ihr schien niemand hier zu sein. Erleichtert stellte sie ihren Wagen in einiger Entfernung ab und bettete ihren schmerzenden Kopf auf dem Lenkrad.
Für einige Minuten erlaubte sie es sich, die Augen zu schließen. Obwohl ihr vor Erschöpfung das Denken schwerfiel, konnte sie sich hier nicht ausruhen. Sie brauchte einen Ort, an dem sie einige Tage bleiben konnte, ehe sie wusste, wie sie weiter vorgehen sollte. Doch wie sollte sie das jemals wissen? Sie kannte weder ihren Namen noch den eines nahen Angehörigen. Sie wusste nicht, wer sie in diese Lage gebracht hatte und warum. Sie wusste nur, dass sie niemandem trauen konnte und völlig auf sich allein gestellt war.
Ihre Gedanken wanderten zu dem Zeitpunkt zurück, da sie namenlos in dieser Welt erwacht war. Das war nun gerade mal einige Stunden her. Es war hier in diesem Wagen geschehen. Sie war in eben dieser Pose erwacht, in welcher sie jetzt so erschöpft verharrte. Aber was war zuvor passiert?
Wieder blitzte das Bild des kleinen Zettels vor ihren Augen auf. Sie sammelte sich. Sie sah sich selbst in einer schäbigen Toilettenkabine sitzen. Jetzt war sie sich ganz sicher, dass es das Toilettenhäuschen des Rastplatzes war, den sie vor Stunden fluchtartig verlassen hatte. Was hatte es mit diesem Zettel auf sich, dass er es vermocht hatte, ihre ganze Welt auszulöschen? Sie sah, dass er in einer krakligen Schrift beschrieben war, doch alles war wacklig und unscharf. Je mehr sie sich zu erinnern versuchte, desto unerträglicher wurde der Schmerz in ihrem Kopf. Die Blutspuren am Lenkrad passten zu der Platzwunde auf ihrer Stirn.
Sie wusste, jemand hatte sie verletzen, wenn nicht gar töten wollen. Wenn sie Glück hatte, dachte dieser Jemand nun, er hätte sein Ziel erreicht. Das würde ihr Zeit verschaffen.
Sie war zu müde, um sich darum zu kümmern. Die Tatsache, dass sich ihr Auto unversehrt auf einer Autobahnraststätte befunden hatte, schloss jede Theorie eines Unfalls aus. Noch mehr tat das allerdings der schier übermenschliche Antrieb zur Flucht in ihr. Die Angst klebte wie eine zweite Haut an ihr und ließ ihr die Kehle eng werden. Sie schnappte schluchzend nach Luft wie eine Ertrinkende.
Als sie das Gefühl bekam, in dem engen Wagen zu ersticken, riss sie panisch die Tür auf und sprang taumelnd in die Nacht hinaus. Die Luft war schneidend kalt, sodass ihr die Zähne klapperten, aber sie konnte noch nicht ins Innere des Wagens zurückkehren. Dort war es passiert.
Sie zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück, da sie spürte, dass sie andernfalls einer Panikattacke zum Opfer fallen würde. Sie war kein Opfer, sie weigerte sich, eines zu sein. Sie würde herausfinden, wer ihr das angetan hatte, und für Gerechtigkeit sorgen. Aber bis dahin war es ein langer Weg. Wo sollte sie nur anfangen?
»Hast du dich verlaufen?«
Sie fuhr heftig zusammen und schrie erschrocken auf.
Ein warmes tiefes Lachen ertönte. Die Stimme, der melodische Klang der Worte, das Samtige in den Nuancen dazwischen – all das war ihr so vertraut, dass ihr beinahe das Herz stehen blieb. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Sie fuhr mit wildem Blick herum. In ihrer unmittelbaren Nähe stand ein Mann in einem langen dunklen Mantel. Die Dunkelheit machte es ihr unmöglich, mehr von ihm zu erkennen als einen Schatten, und bewahrte sie zeitgleich davor, dass er die Blutspuren auf ihrem Gesicht entdeckte.
Für diese ersten wenigen Sekunden war sie für ihn eine ganz normale Frau, die er zufällig in einer kalten Winternacht traf. Diesen Gedanken fand sie unsinnig tröstlich.
Da bemerkte sie, dass sie sich mit dem Rücken fest an ihren Wagen presste, und zwang sich, wieder zu Atem zu kommen. Das war er nicht. Er war nicht der dunkle Schatten, der sie verfolgte. Sie hätte es gern schwarz auf weiß gehabt, aber im Moment konnte sie nichts anderes tun, als sich auf ihr Gefühl zu verlassen.
»Ganz schön clever von dir, hier hinten zu parken. Wir haben nicht damit gerechnet, dass jemand die Stelle entdeckt.«
Sie sah ihn verwirrt an. Seine Worte brachten das Misstrauen zurück. Warum wollte er mit wem auch immer nicht gesehen werden? War sie von einem Grauen ins nächste gerannt? War er ein Schmuggler, ein Dieb, ein Vergewaltiger?
»Der andere Parkplatz war voll«, erwiderte sie ausweichend und tastete hinter sich unauffällig nach dem Türgriff.
Er schien ihr Unbehagen gar nicht zu bemerken. Er lachte und erwiderte: »Natürlich war er das, schließlich war das Konzert restlos ausverkauft.«
»Oh«, stieß sie hervor. Erleichterung überflutete sie. Er war nicht mehr als ein verrückter Fan, der hier hinten darauf wartete, auf sein Idol zu treffen. Sie hätte sich höflich verabschieden, ins Auto steigen und weiterfahren sollen, aber seine Gesellschaft fühlte sich wie eine rettende Insel auf stürmischer See an. Er war der erste Mensch, mit dem sie sprach, seit sie sich erinnern konnte.
»Sagst du mir, wie du heißt?«
Hilflos sah sie auf ihre Hände hinunter, als könnten ihr diese die Antwort liefern. Zu spät fiel ihr ein, dass sie einfach einen Namen hätte erfinden können. Nun hatte sie bereits zu lange gezögert. »Wir kennen uns doch gar nicht.«
Er lachte betroffen. »Sich einander vorzustellen, ist der erste Schritt, sich kennenzulernen, weißt du?«
Sie hätte ihm sagen können, dass das nicht in ihrem Interesse lag, aber sie wollte nicht, dass er ging. Sie wollte nicht wieder allein mit der Nacht und der namenlosen Frau im Spiegel sein. Sie hörte, dass er nähertrat, und der Mond enthüllte ihr die ersten schemenhaften Züge seines Gesichts. Er sah wie ein verlorengegangener Filmstar aus. Was würde er sagen, wenn er ihr übel zugerichtetes Gesicht entdeckte? Was würde sie ihm sagen?
Da ließ sie die Stimme eines zweiten Mannes erneut heftig zusammenfahren. »Sem, was treibst du da so lange? Ihr holt euch den Tod. Bring sie einfach mit!«
Sie sah an ihm vorbei zu dem schwarzen Bus, wo ein Mann stand und zu ihnen herüberwinkte. »Geh rein und kümmere dich um deinen eigenen Kram, du Nervensäge«, rief der Fremde namens Sem zurück, ehe er sich wieder zu ihr umwandte. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, oder?«
War es blindes Vertrauen, Erschöpfung oder pure Dummheit? Sie konnte es nicht sagen, aber es brach einfach aus ihr heraus. »Woher soll ich wissen, wer du bist, wenn ich noch nicht einmal meinen eigenen Namen kenne, verdammt?«
Überraschtes Schweigen folgte, dann trat er näher. Sie sah blondes Haar, das ein übermenschlich schönes Gesicht einrahmte, und Augen so blau wie ein Bergsee bei Sonnenschein. Als er ihr Gesicht und die Platzwunde sah, sog er scharf die Luft durch die Zähne. »Du bist verletzt! Hattest du einen Unfall?«
Sie schüttelte den Kopf. Seine hellblauen Augen wirkten hypnotisch, sodass sie den Blick nicht abwenden konnte. »Ich rufe jetzt erst einmal einen Krankenwagen, und dann kommst du zu uns in den Bus und wärmst dich auf.«
»Nein!«, schrie sie panisch, als er sein Handy aus der Tasche zog.
»Hey, immer mit der Ruhe. Du bist verletzt. Das ist kein kleiner Kratzer«, sagte er ernst. »Hast du nicht gerade gesagt, du weißt nicht, wer du bist? Du gehörst in ein Krankenhaus, und die Polizei sollten wir ebenfalls informieren. Sicher sucht dich schon jemand.«
»Bitte nicht!«, flehte sie. Der Klang ihrer eigenen Stimme war schrecklich befremdlich für sie.
»Ich kann dich hier nicht so zurücklassen«, sagte er mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Schuld, ehe er zu wählen begann.
Sie hatte es nicht bewusst vorgehabt. Es war eher ein Reflex, und sie nahm es kaum wahr, als sie nach vorn stürzte und ihm panisch schreiend das Telefon aus der Hand schlug. Er hob die Hände, um sich gegen ihren Angriff zu schützen, was sie hysterisch werden ließ. Er wollte sie angreifen. Das Gefühl, einem Mann ausgeliefert zu sein, war ihr so vertraut, dass ihr Körper sich instinktiv wehrte. Die Nacht war von ihren eigenen Schreien erfüllt.
Da packte er sie und zog sie fest an seine Brust. Erst dort erschlaffte ihre Gegenwehr, da sie spürte, dass er nicht vorhatte, sie zu schlagen. Stattdessen hielt er sie und redete ganz sanft zu ihr. »Ganz ruhig. Ist ja gut. Ich werde niemanden anrufen. Hast du gehört?«
Seine Stimme war ganz nah an ihrem Ohr, sein warmer Atem strich tröstend über ihr Haar. Seine Arme umfingen sie fest und sicher. Sie ließ sich in diese neue Geborgenheit fallen wie in ein weiches Bett. Als ihr Geist kapitulierte, folgte ihr Körper ihm nach, und sie fiel in erlösende Schwärze.
2
Sem Kramer hatte geglaubt, bereits alles in dieser Welt gesehen und erlebt zu haben. Mit Mitte Dreißig fühlte er sich so desillusioniert und gelangweilt wie ein Mann, der sein ganzes Leben bereits hinter sich hatte. Wenn er sich früher in seinen Jugendfantasien ausgemalt hatte, wie es wäre, seinen größten Traum zu leben, hatte es sich vollkommen anders angefühlt.
Damals war seine Band namens Afterglow nicht mehr gewesen als fünf pubertierende Jugendliche, die ihre Köpfe zu hoch in den Wolken hatten. Mit schlechten Instrumenten aus zweiter Hand hatten sie Tag für Tag in der Garage von Jans Onkel Harry geprobt. Zwischen alten Kisten mit vermoderten Erinnerungsstücken, die vor Nässe schimmelten, Postern von Playmates aus den Neunzigern und dem geliebten Ford Mustang des Onkels. Sem erinnerte sich gut daran, wie dieser reagiert hatte, als Finns Drumsticks nach einem besonders wilden Solo durch die Luft geflogen waren und zwei dicke Kratzer auf der Motorhaube hinterlassen hatten. Danach hatte der arme Zwölfjährige sechs Monate lang sein Taschengeld an den alten Harry abdrücken müssen, um den Lackschaden beheben zu lassen. Das hatte Finn Harry bis heute nicht verziehen. Und das obwohl er dem Alten jetzt mit seinem Vermögen jedes Jahr ein solches Auto hätte kaufen können.
Sie waren Rockstars geworden. Nahezu jeder meinte, sie zu kennen. Fast jeder konnte mindestens eines ihrer Lieder anstimmen. Sie tourten durch die ganze Welt, schwammen in Ruhm und Geld, bekamen so viele Frauen, wie sie wollten. Dennoch sehnte Sem sich verzweifelt nach der alten Garage zurück.
Sie hatten sich im Freudentaumel ihres Erfolges verloren. Nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Sem konnte nicht mehr sagen, wann es passiert war. Als er es bemerkt hatte, war es längst zu spät gewesen. Selbst die Fans bemerkten es, denn ihre Auftritte wirkten mechanisch. Wo früher glühende Leidenschaft gewesen war, herrschte nur noch eisige Routine. Eine Ehe kurz vor dem Aus. Auch die Presse spekulierte bereits. Sem wusste nicht, ob es sich weiterzukämpfen lohnte. Die Band war sein ganzes Leben. Aber wie viel war ein Leben wert, in dem jegliche Freude fehlte?
Mit exakt diesen Gefühlen hatte er gestern das Konzertgebäude verlassen und Samira auf dem Parkplatz entdeckt. Er hatte angenommen, dass sie ihn erwartete; dass sie den versteckten Parkplatz ausfindig gemacht hatte, um in sein Bett zu kommen. Weil sie attraktiv war, hatte er sich beinahe schon auf das Abenteuer gefreut. Aber selbst das war ihm zur Routine geworden. Mit der Zeit waren all die oberflächlichen Bekanntschaften und ihre Gesichter zu einer unbedeutenden Masse verschwommen. Zu einem See aus schnellem Sex, schlechtem Kaffee und flüchtigen Abschiedsküssen.
Als er jedoch festgestellt hatte, dass Samira keineswegs auf ihn gewartet hatte; dass sie scheinbar noch nicht einmal wusste, wer er war, war er das erste Mal seit sehr langer Zeit aus diesem See wieder aufgetaucht und hatte gierige Atemzüge der neuen Luft genommen.
»Hörst du mir eigentlich zu?«
Er kehrte mit einem Schlag in die Realität zurück. Jan – sein bester Freund, Keyboarder von Afterglow und Bandmanager – sah ihn ernst an. »Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«
Nach Samiras Zusammenbruch hatte Sem Jan zu Hilfe geholt. Mit vereinten Kräften hatten sie die junge Frau in Sems Schlafkoje ihres Tourbusses verfrachtet. Er sah auf ihr totenbleiches Gesicht hinab. »Das können wir nicht machen. Sie hatte Todesangst.«
»Dann müssen wir zur Polizei«, sagte Jan dringlich.
Sem schüttelte den Kopf. »Als ich ihr das vorgeschlagen habe, ist sie in Panik ausgebrochen.«
»Und was willst du stattdessen tun?«, fragte Jan ungläubig. »Wir können sie nicht mit auf Tour nehmen.«
»Das ist mir klar«, erwiderte Sem ärgerlich.
Er hatte gehofft, sein vernünftiger Freund wüsste eine Lösung. Er selbst war ein Mann, der nur von einem Tag zum anderen lebte. Er ließ aus gutem Grund nicht zu, dass seine Gedanken zu weit nach vorn schweiften. Oder zurück. Woher sollte gerade er wissen, was in einer Situation wie dieser angebracht wäre?
»Das nächste Konzert ist erst in zwei Tagen. Wir haben alle die Nase voll von den Schlafkojen. Ich schlage vor, wir quartieren uns in einem Hotel in der Nähe ein. Dort kann ich die Zeit nutzen, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen.«
Jan zog skeptisch eine Braue in die Höhe. Sem kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er nicht viel von dieser Idee hielt – und dass sein Herz so weich war, dass er ihr dennoch zustimmen würde. »Gut, verdammt. Dann mach schnell und bring sie hier weg, bevor die anderen hier sind. Ich habe keine Lust, ihnen etwas zu erklären, was ich selbst nicht verstehe. In zwei Tagen ist die Sache vom Tisch, verstanden?«
Sem nickte. »Ich danke dir.«
Als Samira die Augen aufschlug, wurde sie von einer Welle aus Schmerz und Verwirrung überschwemmt. Sie lag in einem himmelweichen Doppelbett in einem luxuriösen Schlafzimmer, das nur vom sanften Schein einer Nachtleuchte erhellt wurde. Die dunkelvioletten Vorhänge am Fenster waren geschlossen, und es roch angenehm nach Vanille.
Sie setzte sich mit einiger Anstrengung auf und versuchte, die vergangenen Ereignisse in ihrem Kopf zu rekonstruieren. Sie war auf der Flucht. Sobald sie versuchte, sich daran zu erinnern, wovor sie floh, wurde der Kopfschmerz so heftig, dass ihre Sicht verschwamm. Darum ließ sie es vorerst dabei bewenden.
Neben der Dunkelheit und der Angst tauchte in ihrem Geist immer wieder das Gesicht des blonden Mannes vom Parkplatz auf. Er musste sie hergebracht haben. Sie sollte der Sache schnellstmöglich auf den Grund gehen, obwohl sie lieber zurück in die Kissen gesunken wäre, um das Vergessen zu vergessen.
Als sie die Beine aus dem Bett schwang, berührten ihre Füße butterweichen Teppichboden. Sie ging zu dem bodenlangen Spiegel, welcher an der Wand gegenüber dem Bett hing, und sah sich zum ersten Mal, soweit sie sich erinnern konnte, von Kopf bis Fuß. Sie wirkte schäbig. Ihre hellen Jeans waren schmutzig. Bei näherer Betrachtung wurde ihr klar, dass es sich bei den Flecken um getrocknetes Blut handelte. Auf dem tief ausgeschnittenen gelben Tanktop befanden sich dieselben bräunlichen Flecken. Das musste auch dem Mann vom Parkplatz aufgefallen sein, der ihr die Jacke ausgezogen haben musste, bevor er sie ins Bett gelegt hatte. Er würde einige Fragen haben. Sie würden sich beide gedulden müssen.
Sie atmete tief durch und öffnete zögerlich die Tür zum Nebenraum, wo sich ein überraschend großes Zimmer befand. Es besaß einen Kamin, in welchem ein behagliches Feuer prasselte. Der Schein der Flammen und die dunklen Mahagonimöbel sowie Sessel aus schwerem weinrotem Stoff ließen den Raum herrschaftlich wirken und passten perfekt zu dem Mann, der am Fenster stand und nachdenklich in die Dunkelheit blickte. Sein blondes wirres Haar wirkte im Schein der Flammen beinahe golden. Die Haltung seines großen sportlichen Körpers strahlte eine anziehende Art der Arroganz aus.
Er sah sie im Spiegelbild des Fensters, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke dort in der Dunkelheit, ehe er sich zu ihr umdrehte. »Du bist ja schon wach. Wie fühlst du dich?«
»Besser«, murmelte sie verlegen und sah sich hilflos im Zimmer um. »Wo sind wir?«
»In einem Hotel nahe dem Parkplatz, auf dem wir uns getroffen haben. Ich habe uns mit deinem Wagen hergebracht. Ich hoffe, das war in Ordnung«, erwiderte er und taxierte sie forschend mit diesen hypnotisch blauen Augen.
Sie nickte zerstreut. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Sicher hast du eine Million Fragen, aber ich –«
»Das kann warten«, unterbrach er sie sanft und deutete zu der gemütlichen Sitzgruppe vor dem Kamin. »Setz dich, ich mache dir einen starken Kaffee, und dann reden wir.«
Stumm folgte sie seiner Aufforderung und ließ sich in einem der ausladenden Sessel nieder. Während sie ihn beobachtete, rang sie nervös die Hände. Der Schein des Feuers tanzte tröstend und warm über sie. Nach einiger Zeit kam er mit zwei Kaffeetassen zum Tisch zurück. Ehe sie sich bedanken konnte, fragte er noch: »Brauchst du Milch oder Zucker?«
Sie sah ihn ratlos an. Woher in Gottes Namen sollte sie das wissen? Sie riss sich zusammen und erwiderte: »Etwas Milch kann nicht schaden, denke ich.«
Er ging zu der Minibar, auf deren Arbeitsfläche auch die Kaffeemaschine stand, und kam mit einem kleinen Plastikbehälter mit Kaffeesahne zurück. »Mit etwas Besserem kann ich momentan leider nicht dienen.«
»Das ist vollkommen in Ordnung«, erwiderte sie, gerührt von seiner Freundlichkeit.
Sem setzte sich in den zweiten Sessel und beobachtete, wie sie linkisch Milch in ihren nachtschwarzen Kaffee gab, ehe er sprach. »Als du zusammengebrochen bist, war ich ziemlich überfordert. Du wolltest ja offensichtlich keine Ärzte oder Polizisten sehen. Darum habe ich dich erst einmal hierhergebracht.«
Sie schluckte hart und erwiderte leise: »Das war unbeschreiblich nett von dir.«
»Während du geschlafen hast, war ich noch einmal unten in deinem Wagen. Ich wollte nicht schnüffeln, aber du warst so aufgelöst, als du sagtest, dass du nicht einmal deinen eigenen Namen kennst. Ich dachte, vielleicht finde ich im Auto einen Anhaltspunkt auf deine Herkunft.«
»Schon gut«, erwiderte sie schnell, ihr Herz raste. Sie spürte sofort, dass er etwas gefunden hatte, was sie bei ihrem übereilten Aufbruch übersehen haben musste. Wortlos erhob er sich, und sie beobachtete, wie er zu dem kleinen Esstisch am Fenster ging, wo auf einem der Stühle eine silberfarbene Damenhandtasche stand. Wie hatte sie eine so auffällige Tasche übersehen können?
»Die habe ich unter dem Beifahrersitz gefunden«, sagte er, als er sich wieder zu ihr gesetzt hatte. Er stellte die Tasche zwischen sie auf den kleinen runden Tisch aus schwarzem Holz.
Sie starrte die Tasche an. Mit Sicherheit war darin etwas, das Aufschluss über ihre Herkunft gab. Warum empfand sie plötzlich eine solche Furcht? Sie brachte es nicht fertig, danach zu greifen. Stattdessen richtete sie ihren Blick wieder auf Sem. »Hast du hineingesehen?«
Er nickte, ohne jegliche Spur der Schuld im Gesicht, und erwiderte ruhig ihren Blick. Es war ihr gleich. Nein, das stimmte nicht – sie war heilfroh. Sie war froh darum, das nicht allein durchleben zu müssen.
»Wie ist mein Name?«, fragte sie begierig.
Er sah sie mit einem Blick an, der sich wie eine Umarmung anfühlte. Die folgenden Sekunden würde sie nie vergessen. Sie würde nie vergessen, wie sie ihren Namen das erste Mal aus seinem Mund gehört hatte. »Samira.«
Samira. Das war ihr vertraut. Es kamen zwar keine Erinnerungen zu ihr zurück, jedoch das eine oder andere vage Gefühl. Nicht jedes davon war von positiver Natur. Sie drängte sie zurück. »Samira, und weiter?«
Er nickte zur Tasche, die nach wie vor wie eine stumme Trennlinie zwischen ihnen stand. »Dein Ausweis ist da drin.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich ihre unsinnige Angst selbst nicht erklären. »Ich möchte es von dir hören. Es ist dann, als spräche ich mit einem alten Freund über eine gemeinsame Bekannte.«
Er sah sie weiter direkt an. Sie konnte keinen Ärger oder Spott in seinen Zügen erkennen. Dort war nichts als unendliche Geduld und eine sanfte Art der Neugierde. Als er ihr antwortete, tat er es ohne Zögern. Und ohne einen zweiten Blick auf ihren Ausweis. »Dein Name ist Samira Sinner. Du bist sechsundzwanzig Jahre alt. Dein Geburtstag ist der einundzwanzigste Oktober. Du wurdest in Lübeck geboren und bist eins neunundsechzig groß. Auf deinem Ausweis ist deine Augenfarbe als grau angegeben, aber wenn sich das Licht in ihnen verfängt, schimmern sie grünlich.«
Sie starrte ihn sprachlos an. »Du scheinst eine wirklich schnelle Auffassungsgabe zu haben.«
Er neigte leicht den Kopf und erwiderte: »Nur, wenn es um ganz besondere Begegnungen geht.«
Sie lachte unbehaglich auf. »Das klingt fast, als würdest du dich darüber freuen, heute einen derartigen Klotz am Bein zu haben.«
Nun las sie das erste Mal eine Spur von Ungeduld in seinen Zügen, die dadurch wild und unnahbar wirkten. »Du bist eine Frau, die Hilfe benötigt. Und ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Sie sah ihn mit tiefer Dankbarkeit an. »Ich denke nicht, dass das jeder in deiner Situation so ausgedrückt hätte.«
Er ging nicht darauf ein, sondern stellte die Frage, vor der sie sich bis dahin gefürchtet hatte. »Woher kommt das ganze Blut an dir? Wer hat dir das angetan?«
Sein Blick richtete sich auf ihre Stirn, was dafür sorgte, dass das Pochen der Wunde intensiver wurde. Sie hätte sie am liebsten mit ihren Händen vor ihm verborgen. Sie empfand eine tiefe Scham aufgrund ihres Zustandes, obwohl sie wusste, dass sie keine Schuld daran traf.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie schließlich.
Es gab so viele Dinge, die sie nicht wusste. Eigentlich ließen sich die Dinge, die sie mit Sicherheit über sich sagen konnte, an einer Hand abzählen. Am schlimmsten war die Panik davor, die nächsten Schritte zu gehen. Schritte auf einem Weg, der vor ihr im Dunkeln lag.
Wo sollte sie nur anfangen? Wo sollte sie wohnen und mit was sollte sie für diesen Wohnraum aufkommen? Sie brauchte außerdem Nahrung, saubere Kleidung und über dies hinaus irgendjemanden, der ihr helfen konnte, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Wie sollte sie so jemanden finden, wenn sie nicht wusste, wem sie vertrauen konnte? Die Welt jenseits dieses Zimmers erschien ihr so furchteinflößend wie ein ferner Planet.
»Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?«, durchbrach Sems Stimme ihre Gedanken.
Sie wandte ihren Blick ab und sah ins Feuer. Sie konnte sich nicht konzentrieren, wenn sie in seine Augen sah. »Ich bin in dem Auto aufgewacht. Ich weiß nicht einmal, ob es mir gehört.«
»Tut es«, unterbrach er sie und nickte wieder zu der Tasche. »Die Fahrzeugpapiere sind da drin, und sie sind auf dich ausgestellt.«
»Gut«, erwiderte sie zerstreut und sammelte sich einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: »Ich glaube, ich werde verfolgt. Ich hoffe, ich habe dich nicht in etwas hineingezogen, das dir Unannehmlichkeiten beschert.«
Er legte die Stirn in Falten. »Wo bist du aufgewacht?«
»Es war irgendeine heruntergekommene verlassene Autobahnraststätte. Ich weiß nicht, auf welcher Autobahn es gewesen ist, und auch nicht, wie lange ich dann ziellos herumgefahren bin, ehe ich auf dem Parkplatz gelandet bin, wo wir uns begegnet sind.«
»Wenn du in Lübeck wohnst, würde ich sagen, ziemlich lange. Wir befinden uns jetzt in Leipzig.«
Irgendetwas klingelte in ihrem Kopf, als er die Namen der beiden Städte erwähnte. Als sie versuchte, nach der Erinnerung zu greifen, entglitt sie ihr wie Wasser, das einem zwischen den Fingern hindurchrinnt.
Er ließ sie einige Sekunden weiter danach fischen, indem er schwieg, dann sagte er: »Ich muss kurz fort, um einige Dinge zu regeln, aber ich beeile mich, und dann sehen wir, wie es weitergeht.«
Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, und sie fragte atemlos: »Wir?«
Er sah sie weiter mit diesem undurchsichtigen Blick an. »Im Moment sieht es so aus, als wäre ich der einzige Mensch, der dir helfen kann.«
Sollte das heißen, dass sie vorerst hier in Sicherheit bleiben konnte und er ihr über dies hinaus noch helfen wollte? Sie wurde von einer so heftigen Woge der Dankbarkeit überschwemmt, dass sie sich beinahe in seine Arme geworfen hätte. Trotzdem musste er wissen, worauf er sich einließ. Sie war sich nicht sicher, ob es ihm klar war. »Das bedeutet wahnsinnige Umstände für dich. Umstände, deren Tragweite wir zum jetzigen Zeitpunkt beide nicht abschätzen können. Warum solltest du dir das aufbürden?«
»Bevor du auf den Parkplatz gekommen bist, habe ich mich mindestens so orientierungslos gefühlt wie du. Das ist jetzt anders. Das muss etwas bedeuten, meinst du nicht auch?«, erwiderte er langsam, bevor er sich erhob, um seine Jacke von einem der Haken nahe der Tür zu nehmen. »Ich beeile mich, Samira. Fühl dich wie zu Hause.«
Noch lange nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, starrte sie zu der Stelle, an der er gestanden hatte. Sie wusste, sie hätte sich mit all ihren Sinnen dem Inhalt der Tasche zuwenden sollen. Aber alles in ihr wollte nur wissen, wer dieser Mann war, der vorbehaltlos ihre Last mit ihr trug.
3
Sem ging langsam über den Korridor. Er musste Jan sagen, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Sein Leben war auch ohne eine Frau ohne Vergangenheit turbulent genug. Warum sollte ausgerechnet er ihr helfen können?
Er sah auf die beiden Konzertkarten in seiner Hand hinab und wusste, er hätte sie nicht aus ihrer Tasche nehmen dürfen. Doch er konnte es nicht riskieren, dass sie erfuhr, wer er war, und dass sie zu ihm und seiner Band auf dem Weg gewesen war, ehe jemand ihr Leben ausgelöscht hatte.
Dennoch hatte sie ihn gefunden oder er sie. Konnte das Zufall sein?
Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Und jemanden, der schonungslos ehrlich zu ihm war. Jan war der einzige Mensch auf dieser Welt, auf den das zutraf. Trotzdem stand Sem nun schon seit sage und schreibe zehn Minuten unentschlossen vor seiner Tür.
»Wo bin ich da nur hineingeraten?«, murmelte er, ehe er klopfte.
Jan öffnete so schnell, als hätte er ihn bereits erwartet. Seine ersten Worte, nachdem Sem den Raum betreten hatte, bestätigten das. »Hast du etwas über sie herausfinden können?«
Er durchquerte das Zimmer, um Zeit zu gewinnen, und ließ sich schließlich in einen der großen Sessel der Sitzgruppe am Fenster fallen. »Ich habe ihre Tasche im Auto gefunden. Darin war unter anderem ihr Ausweis.«
Schlagartig erhellte sich Jans Miene. »Wir wissen nun also, wer sie ist und woher sie kommt. Damit ist die Sache erheblich einfacher geworden.«
Sem sah ihn missmutig an. »Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie weder ins Krankenhaus noch zur Polizei gebracht werden möchte.«
Sofort fiel Jans Begeisterung in sich zusammen. »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Im Moment bist du der Einzige, den sie hat. Damit stehst du in der Verantwortung, das Richtige für sie zu tun. Und das einzig Richtige ist, sie so schnell wie möglich zur Untersuchung in ein Krankenhaus zu bringen und den Vorfall der Polizei zu melden. Mein Gott, sie hat doch nicht nur einen einfachen Kratzer. Sie hat ihr Gedächtnis verloren.«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr er auf. »Und genau aus dem Grund, weil ich in der Verantwortung stehe, das Richtige für sie zu tun, muss ich ihre Wünsche berücksichtigen.«
Jans Züge fielen vor Fassungslosigkeit in sich zusammen. »Das ist hoffentlich nicht dein Ernst. Was zum Henker glaubst du denn, für die Kleine tun zu können?«
»Ich habe keine Ahnung!«, rief er, sprang auf und knallte die Konzertkarten auf den Tisch. »Ich weiß nur, dass diese Begegnung kein Zufall gewesen ist.«
Jan griff nach den Karten, und sein Blick verfinsterte sich. »Damit ist die Sache ja wohl klar.«
»Was soll das schon wieder bedeuten?«, fragte Sem aufgebracht und wusste zeitgleich nicht, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
Jan sah ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Mitgefühl an. »Die Kleine spielt ein falsches Spiel. Und ich muss zugeben, sie macht ihre Sache verdammt gut. Ich wäre beinahe darauf reingefallen. Die Ohnmachtsnummer war bühnenreif. Ganz offensichtlich haben wir es hier mit einem Groupie der harten Sorte zu tun. Sieh bloß zu, dass du sie schnell loswirst.«
Sem war bei den Worten seines Freundes erstarrt. Plötzlich war ihm eiskalt. »Du meinst, das war alles einstudiert, um sich meine Aufmerksamkeit zu erschleichen?«
Jan legte den Kopf schräg und stellte die Gegenfrage: »Meinst du, sie ist eine Frau ohne Vergangenheit, die vorhatte, auf unser Konzert zu gehen und die dir dann rein zufällig nach ihrem Unfall in die Arme gelaufen ist?«
Er sah aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien. Das schwarze Auto der Frau auf seinem Zimmer war im Weiß versunken. War die Wahrheit ebenso tief vergraben? Er wollte Jan widersprechen und seine Worte mit einer schnippischen Bemerkung abtun. Doch dafür ergaben sie zu viel Sinn. Er fragte sich, warum er nicht selbst darauf gekommen war, als er die Karten in ihrer Tasche gefunden hatte.
Die Wahrheit war, dass er so erbärmlich fasziniert von der Möglichkeit gewesen war, dass sich ein Mensch mit ihm unterhielt, der ihn offensichtlich nicht kannte, dass er die Wahrheit gar nicht hatte sehen wollen. Selbst jetzt konnte und wollte er es nicht glauben. Er dachte an Samiras große grüne Augen, die Verzweiflung in ihrem Blick und sah seinen Freund direkt an. »Gib mir Zeit bis morgen Abend.«
»Sem«, begann Jan, doch er unterbrach ihn.
»Ich bitte dich! Ich muss mir einfach sicher sein.«
Jan fluchte. »Meinetwegen, aber danach ist Schluss. Ich will die anderen auf keinen Fall mit in diese Sache hineinziehen. Genau genommen wäre es mir lieber, ich wüsste selbst nichts davon!«
Sem lächelte schwach. »Du bist mein bester Freund. Du hättest es so oder so erfahren.«
Jan nickte mit finsterem Blick. »Das ist ja das Schlimme an der Sache.«
Ein knallroter Lippenstift, Taschentücher, Kaugummis, ein kleiner Handspiegel und ihre Geldbörse – mehr war Samira von ihrem alten Leben nicht geblieben. Die Handtasche enthielt keinerlei persönliche Dinge. Kein Adressbuch. Kein Foto ihrer Eltern oder ihres Freundes. Keine Einkaufslisten. Sie dachte allen Ernstes darüber nach, die Überreste dieses anscheinend tristen Lebens fortzuwerfen und noch einmal ganz neu anzufangen.
Sie schloss die Augen und bettete ihren schmerzenden Kopf für einen Moment in ihren Händen. Es war zu viel für den Moment. Sie würde sich ausruhen und schlafen müssen, auch wenn sie am liebsten alle Antworten sofort gehabt hätte. Aber zuerst musste sie sich den Schmutz und die Angst vom Körper waschen.
Sem hatte gesagt, sie solle sich wie zu Hause fühlen. Sie wünschte, er hätte auch gesagt, wann er zurück sein würde. Sie sehnte sich nach seiner Gesellschaft. Sie war das einzige Vertraute, was ihr geblieben war. So verrückt es war – obwohl sie sich gerade einmal wenige Stunden kannten, war er ihr so vertraut, als kenne sie ihn aus einem anderen Leben.
Sie schüttelte diesen verwirrenden Gedanken ab und begab sich ins Badezimmer. Es konnte sich nur hinter der Tür rechts von dem schönen Kamin befinden, dessen Feuerstelle makellos und unbenutzt wirkte. Sie wünschte, sie könnte dort tanzende Flammen sehen, dann wäre der Raum nicht mehr von dieser schrecklichen, einsamen Stille erfüllt gewesen.
Während sie das Zimmer durchquerte, nahm sie jedes Detail wahr. Den roten weichen Teppichboden zu ihren Füßen, die Sitzgruppe bestehend aus zwei weißen Ohrensesseln vor dem Kamin, das kleine Bücherregal an der Wand gegenüber. Als sie den kleinen Weihnachtsbaum neben dem Fernseher entdeckte, hielt sie inne.
Bisher hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, in welchem Monat sie lebte. Anscheinend war bald Weihnachten. Sie wusste, was für ein Fest das war, doch sie verband keinerlei Gefühlsregung damit. Vielleicht ein Tröpfchen Wehmut wegen all dem, was sie nicht wusste, und dieses Sehnen nach jemandem, der auf sie warten möge.
Just in diesem Augenblick begannen Schneeflocken vor dem Fenster zu tanzen. Den Anblick fand sie ergreifend und bedrückend zugleich. Suchend sah sie sich im Zimmer nach einem Kalender um und entdeckte dabei die Wetterstation auf dem Fenstersims. Demnach war es der zehnte Dezember. Noch vierzehn Tage bis Heiligabend. Seltsam, dachte sie ohne jegliches Gefühl. Ich weiß, wann Jesus geboren wurde und wer er war. Von mir selbst weiß ich so gut wie nichts.
Sie summte leise vor sich hin, um sich an den Klang ihrer Stimme zu gewöhnen, während sie ihren Gedanken nachhing. Laut ihrem Ausweis war sie sechsundzwanzig. Sie hatte ein viertel Jahrhundert einfach übersprungen, um in dieser Situation zu erwachen; bei diesem Mann. Warum?
Samira wurde in dieser Sekunde etwas Wichtiges über sich selbst klar – sie glaubte nicht an Zufälle. Hieß das im Umkehrschluss, dass sie an das Schicksal glaubte? Das schien ihr blauäugig und verklärt. Sie empfand beides nicht als zutreffend. Dennoch schien Sem auf irgendeine Art und Weise mit ihrem Schicksal verbunden zu sein. Er hätte sie schließlich einfach stehen lassen oder trotz ihres Widerstandes die Polizei rufen können.
Stattdessen hatte er ihnen ein Hotelzimmer besorgt und ihr seine Hilfe angeboten. Dass er sie nicht direkt zu sich nach Hause mitgenommen hatte, fand sie mehr als verständlich. Schließlich war sie eine Fremde für ihn. Genauso wie sie eine Fremde für sich selbst war. Bestimmt erwartete ihn zu Hause eine Frau, vielleicht sogar Kinder. Der Gedanke machte sie seltsam traurig, darum schob sie ihn beiseite und setzte endlich ihren Weg ins Badezimmer fort.
Dieses war ein Traum aus bodenlangen Fenstern mit schweren Vorhängen, die einen goldenen Schimmer auf die Marmorfliesen warfen. In der Mitte des Raumes befand sich eine klauenfüßige Badewanne, auf deren Rand ein halbes Duzend Kerzen darauf wartete, ihren warmen Schein im Raum zu verteilen. Sie hätte sich gern ins warme Wasser gelegt, doch da sie nicht wusste, wann Sem zurückkehren würde, entschied sie sich für die ausladende Duschkabine.
Sie entkleidete sich langsam, schließlich tat sie es in diesem neuen Leben zum ersten Mal. Neugierig betrachtete sie den Körper der Frau im Spiegel. Alles war ihr so fremd an ihr selbst. Sie war klein und schmal. Mit Rundungen nur an Po und Busen. Ihre Haut war hellbraun, so wie sie ihren Kaffee am liebsten mochte. Sie hatte so wenig Bezug zu ihrem eigenen Körper, dass ihr die natürliche Unzufriedenheit der Frau mit sich selbst fehlte und sie ihn als schön empfand. Samira konnte nicht wissen, dass sie dieses Selbstbewusstsein schon immer besessen hatte.
Langsam ging sie zur Dusche hinüber. Spürte bewusst dem Gefühl ihrer nackten Füße auf den beheizten Hotelfliesen nach. Sie nahm alles intensiv und überdeutlich wahr, wie ein Baby kurz nach der Geburt. Als sie sich unter die Dusche stellte und das heiße Wasser über ihr Gesicht lief, lag ein friedliches Lächeln auf ihren Lippen.
Als Sem zurückkam, fiel ihm als Erstes der kleine Tannenbaum neben dem Fernseher auf. Samira hatte die Lichterkette eingeschaltet, und etwas an dieser simplen Geste rührte ihn zutiefst. Es mutete wie ein Nachtlicht für einen Heimkehrer an. Er wusste, er sollte objektiv bleiben. Doch er wollte glauben, dass sie keine Heuchlerin war.
Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, trat sie aus dem Badezimmer. »Du bist ja schon zurück.«
Ihre Augen strahlten vor unverhohlener Freude. Alle Zweifel in ihm zerfielen zu Staub. Das Blut war von ihrer Stirn verschwunden, nur ein dünner Riss und ein blauer Fleck waren Zeugen davon, dass sie keins seiner zahlreichen Dates war, die er aus Langeweile mit auf sein Zimmer nahm. Sie hatte geduscht. Der ganze Raum roch nach ihr. Ihr Haar hing in wirren, nassen Strähnen lang über ihre Schultern.
Er hatte vor Begehren einen Kloß im Hals. Was war falsch mit ihm? Verdammt, sie hatte andere Probleme, als sein nächstes Betthäschen zu werden. Und doch war das Verlangen da. Wild und unbezwingbar. Mit einer Intensität, die viel tiefer reichte als nur bis zu seinem Körper. Sie ging ihm unter die Haut.
Samira schien sein Schweigen misszuverstehen, denn sie fragte schuldbewusst: »War es in Ordnung, dass ich die Dusche benutzt habe?«
Er wandte sich ab, um seiner Sinne wieder Herr zu werden, und stellte die zwei Tüten, die er mitgebracht hatte, auf die Anrichte. »Selbstverständlich war das in Ordnung. Ich habe uns etwas zu essen geholt. Du hast sicher Hunger. Außerdem war ich noch einmal an deinem Wagen und habe das Erste-Hilfe-Set aus dem Kofferraum mitgebracht. Wir müssen deine Verletzungen wenigstens notdürftig versorgen.«
Er hörte, dass sie nähertrat. Der Geruch des Duschgels wurde intensiver. »Ich bin dir so dankbar, Sem. Für alles, was du für mich getan hast.«
Er hob kurz hilflos die Schultern. »Irgendetwas musste ich doch tun.«
»Musstest du das wirklich? Ich denke nicht«, murmelte sie, eher zu sich selbst.
Er atmete einige Male tief durch, ehe er sich wieder zu ihr umdrehte. Dennoch traf es ihn wieder. Er riss sich zusammen und fragte: »Hast du die Wunde schon gereinigt?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich war unter der Dusche, wenn du das meinst.«
Das hatte er befürchtet. Seufzend ging er zur Minibar und nahm die kleine Wodkaflasche heraus, die er am Abend vor ihrem Zusammentreffen hatte vernichten wollen. Gut, dass ein Besuch von Finn ihn davon abgehalten hatte. »Du musst jetzt etwas die Zähne zusammenbeißen.«
Sie sah ihn misstrauisch an, als er auf sie zukam. »Ich hoffe, du hast vor, dich damit zu betrinken.«
»Dafür würde sie kaum ausreichen«, erwiderte er, ohne zu lachen.
Sie hob abwehrend die Hände, Panik blitzte in ihren Augen auf. »Ein Pflaster tut es vollkommen!«
»Entweder lässt du es mich tun, oder ich rufe einen Arzt, der es tut«, sagte er. Der Verrat in ihren Gesichtszügen schmerzte ihn mehr, als es Wodka in einer offenen Wunde je könnte.
»Du hast gewonnen«, sagte sie steif.
»Setz dich«, bat er sanft und nickte zu der kleinen Sitzgruppe am Fenster.
Gehorsam ließ sie sich auf einen der Stühle sinken und sah stumm in das Schneetreiben hinaus. Er stellte den Erste-Hilfe-Koffer auf dem Tisch ab, öffnete ihn und suchte nach einem Wattepad und einem Pflaster. Er hatte es selbst noch nie getan, nur zu spüren bekommen. Das musste jetzt schon sechs Jahre her sein.
Es hatte eine heftige Prügelei gegeben, weil er sich an ein Mädchen rangemacht hatte, das mit ihrem Freund ihr Konzert besucht hatte. Sie hatte es willig geschehen lassen, ohne ihren Liebsten zu erwähnen. Dieser hatte sie entdeckt. Auf dem Parkplatz, eng umschlungen am Tourbus. Wenn er sich jetzt an das Bild zurückerinnerte, war er sicher, jeden Schlag verdient zu haben. Vielleicht hatte er es damals schon gewusst, denn er hatte sich nicht gewehrt, keine Anzeige erstattet. Jan hatte seine Wunden versorgt und ihn mit allen Schimpfwörtern unter der Sonne verwünscht, weil er ihren Bandnamen in den Dreck zog. Auch ihn hatte er gewähren lassen.
Er hatte die Frauen mit keinerlei Respekt behandelt. Bei Samira war es anders. Er kniete sich vor sie und öffnete die Flasche. Der scharfe Geruch sorgte dafür, dass sie ihm angstvoll das Gesicht zuwandte. Er hätte ihr gern gesagt, dass es nicht weh tun würde, und so wenig er sich aus der Wahrheit machte – er konnte sie nicht belügen. Nicht in dieser Sache.
Ihre Blicke trafen sich. Zum ersten Mal sah er ihren unbeugsamen Charakter in ihren Augen. Er schluckte hart und fiel mit jeder verstreichenden Sekunde tiefer in diese Sache hinein. Seine Hand zitterte, als er den hochprozentigen Alkohol auf den Wattepad träufelte. Als er seine Hand hob und sie ihrem Gesicht näherte, wusste er, dass er in seinem Leben noch nie einem Menschen näher gewesen ist als dieser Fremden in einem anonymen Hotelzimmer. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung davon.
Er zögerte. »Das wird jetzt weh tun.«
Sie sah ihn nur weiter unverwandt an. Er tat es schnell, weil er es andernfalls nie über sich gebracht hätte. Als der Alkohol die Wunde berührte, fiel alle falsche Zurückhaltung von ihr ab, und sie stöhnte schmerzvoll auf. Der Laut ging ihm durch Mark und Bein, sodass er automatisch die andere Hand tröstend gegen ihre Wange legte und sanft mit seinem Daumen über ihre Haut fuhr. Sie riss die Augen auf und starrte ihn an. Er beendete die Berührung erst, als er die Watte von der Wunde nahm. Das Pflaster klebte er so sanft auf ihre Stirn, dass sich die Berührung für sie anfühlte wie ein Gutenachtkuss. »Ich hoffe, das genügt.«
»Das wird es«, sagte sie.
Ihre Stimme war leise, die Züge wieder sanft. Er spürte, dass er sich in einer Gefahr befand, die ihn Kopf und Kragen kosten konnte, darum brachte er Abstand zwischen sie beide, indem er sich erhob. »Hast du Hunger? Ich hoffe, du magst Chinesisch.«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie mit einem leisen Lächeln.
Er sah sie an. Wieder kamen ihm die Konzertkarten in den Sinn. Er wusste, er hätte sie damit konfrontieren müssen. Dass er es nicht tat, rechtfertigte er damit, dass er sie nicht überfordern wollte. Morgen, sagte er sich.
Und so aßen sie kalte Chinanudeln aus Styroporbehältern. Es schmeckte grauenvoll, aber er hatte lange kein Essen mehr derart genossen. Sie nahmen es in einvernehmlichem Schweigen zu sich, obwohl er ihre unausgesprochenen Fragen um sich surren spürte. Wie sie sicher auch die seinen. Es hatte keinen Sinn, sie mit Fragen zu überfordern, deren Antworten sie ohnehin nicht kannte. Und sie war zu scheu, die ihren zu stellen. Er war dankbar dafür, denn er wollte sie nicht belügen.
»Ich glaube, ich mag Chinesisch«, befand sie und legte ihre Plastikgabel beiseite.
Er lachte. »Das kann nur daran liegen, dass du keinen Vergleich hast.«
»Mag sein. Das gibt mir die Chance für ein Leben voller Genügsamkeit.«
Er sah sie ernst an. »Glaubst du nicht, dass deine Erinnerungen zurückkommen werden?«
Sie sah nachdenklich aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, ob ich das überhaupt möchte.« Letzteres flüsterte sie nur.
Er horchte auf und fragte betroffen: »Wie meinst du das?«
Sie sah ihn offen an. »Ich kann es nicht genau erklären. Es ist nur so ein Gefühl. Ein Gefühl des Grauens. Dabei geht es nicht nur um die Tat, die mein Gedächtnis gelöscht hat. Ich weiß nicht, ob es besser für mich wäre, dieses alte Leben für immer hinter mir zu lassen und neu anzufangen.«
Auf sein langes Schweigen hin sah sie ihn fragend an. »Du hältst mich jetzt sicher für einen Feigling.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich halte dich für den mutigsten Menschen, den ich je kennenlernen durfte.«
Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich bin entsetzlich müde.«
Er warf einen bedeutungsvollen Blick zur Uhr. »Kein Wunder, es ist kurz nach drei. Geh rüber und schlaf dich aus.«
Sie sah ihn unsicher an. Er wusste nicht, ob ihre Frage der Angst oder Sorge entsprang. »Und du?«
Er nickte Richtung Couch. »Ich mache es mir hier gemütlich.«
Sie senkte beschämt den Kopf. »Es ist mir unangenehm, welche Umstände du durch mich hast.«
»Du machst mir keine Umstände«, sagte er mit fester Stimme. »Geh und ruh dich aus.«
Sie nickte und erhob sich. In der Tür zum Schlafzimmer drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Danke für das alles, Sem. Weißt du, die ersten Augenblicke habe ich mich gefragt, ob du ein Engel bist, der zu mir geschickt wurde, um mich zu beschützen.«
Nein, dachte er bitter, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Ich bin ein verdammter Rockstar.
4
Die Nacht war furchtbar. Und das nicht nur, weil Sem auf der engen Couch keinen Platz für seine langen Beine fand. Wie sollte sein Kopf zur Ruhe kommen, wenn er sich immer wieder fragte, wie er Jan erklären sollte, dass er Samira noch immer bei sich hatte? Und schlimmer: dass er nicht vorhatte, sie so bald wegzuschicken.
Er wusste genau, wie fassungslos sein Freund reagieren, welche Fragen er stellen würde. Wie hast du dir das gedacht? Wohin soll sie, wenn wir morgen weiter touren? Was, wenn die Presse Wind davon bekommt? Und das Wichtigste: Bist du von allen guten Geistern verlassen?
Das Schlimmste an der Sache war, dass Sem sich all diese Fragen selbst schon gestellt hatte. Er fand keine Antworten darauf. Womit sollte er rechtfertigen, dass er gerade das aufs Spiel setzte, was er und seine Bandkollegen sich die letzten fünfzehn Jahre hart aufgebaut hatten?
Als er es nicht mehr aushielt, stand er auf und verließ so leise wie möglich das Hotelzimmer. Der große Zeiger hatte gerade mal die Fünf-Uhr-Marke erreicht, doch es war völlig egal, wann er Jan diese Neuigkeiten überbringen würde – das Gespräch würde so oder so ein ungemütliches werden.
Auf dem Weg ins Zimmer seines ältesten Freundes dachte Sem über all die Dinge nach, die sie bereits miteinander durchgemacht hatten. In fünfzehn Jahren Bandgeschichte und fast zwanzig Jahren Freundschaft waren das nicht wenige. Jan war der Einzige, der sich traute, ihm die Stirn zu bieten. Oder der ihn nicht längst als hoffnungslosen Fall abgestempelt hatte. Mit seinem Hang zum Egoismus hatte Sem auf seinem Weg zum Erfolg nicht wenige Leute vor den Kopf gestoßen. Wer wusste, was gut für ihn war, hatte sich abgewandt.
Jan war geblieben, obwohl der fröhliche Keyboarder alles andere als ein Dummkopf war. Er hatte die einzigartige Gabe, Menschen in nur wenigen Augenblicken einschätzen zu können. Es war Sem ein Rätsel, dass er dennoch seine Freundschaft gesucht hatte.
Er blieb unschlüssig vor Jans Zimmer stehen. Schon morgen würde die Tour in Hamburg weitergehen. Noch einmal zwei Tage ausverkaufte Shows. Normalerweise freute er sich auf diese Abende. Jetzt wollte er sich einfach nur die Haut abziehen, um die eines anderen überstreifen zu können. Aber es ging nicht nur um ihn, auch wenn er sich das Zeit seines Lebens gern einzureden versuchte. Das hier war größer.
Er klopfte erst, als er sich seiner Sache gänzlich sicher war. So sicher zumindest, wie ein Mann wie er es sich in einer Situation wie dieser sein konnte. Es dauerte, bis Jan öffnete. Sem stellte sich vor, wie er sich nach dem dritten Klopfen aus dem Bett quälte, durch das dunkle Zimmer stolperte und sich wie so oft irgendwo den Fuß anstieß. Kurz darauf hörte er ein Rumpeln, dicht gefolgt von einem deftigen Fluch, ehe die Tür aufgerissen wurde.
Jan sah furchteinflößend aus. Die blauen Augen sahen Sem wild blitzend an, seine blonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. In einer anderen Situation hätte Sem über diesen Anblick aus vollem Herzen gelacht. »Du meine Güte, Sem! Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Es tut mir leid. Es geht um Samira.«
Für einen Moment sah Jan ihn verwirrt an, ehe der Groschen fiel. »Du meinst die Kleine vom Parkplatz. Hast du es geklärt? Komm erst mal rein.«
Sem trat ins Zimmer seines besten Freundes, wo ihn das übliche Chaos empfing. Jan hatte seine Sachen wie stets einfach dort liegen gelassen, wo er sie ausgezogen hatte. Auf dem Boden verstreut lagen Notenblätter. Das Einzige, was ordentlich verstaut war, war wie immer sein Keyboard. »Ja, ich habe es geklärt.«
Jan atmete hörbar aus. »Gott sei Dank. Du hast mir echt angefangen, Angst zu machen. Musstest du den Sicherheitsdienst rufen?«
Sem fuhr herum. Es war schlimm genug, seinen Freund anlügen zu müssen. Auf keinen Fall würde er Samira wie eine Verrückte dastehen lassen. »Sie hat die Wahrheit gesagt. Ich lasse sie noch ausschlafen, dann fahre ich sie in die nächste Polizeistation.«
Jan riss die Augen auf. »Ich kann nicht glauben, dass die Geschichte wirklich wahr ist. Armes Ding. Wie hat sie es aufgenommen?«
Sem hob ungeduldig die Schultern und hoffte, dass sein Freund das Thema bald fallen ließe. »Ich habe ihr keine andere Wahl gelassen, als sich zu fügen.«
»Na ja, ich meine, was hat sie erwartet? Dass du sie mit auf Tour nimmst?«
»Ich habe ihr nichts über uns erzählt«, erwiderte er müde.
Jan machte ein überraschtes Gesicht, ehe er zu dem Sekretär hinüberging und sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. »Ist vermutlich das Beste so. Du weißt, die Presse.«
»Wie könnte ich die vergessen«, murmelte Sem düster.
Jan sah ihn forschend an. »Du hast doch nicht etwa Gefallen an ihr gefunden?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Sem ungeduldig.
»Nein, tut es nicht. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass wir morgen hier wegkommen. Die Show in Hamburg ist eine große Nummer. Vor allem da wir unsere neue Single präsentieren werden.«
»Darüber wollte ich noch mit dir sprechen.« Sem wappnete sich. »Ihr müsst heute bei der Probe auf mich verzichten.«
Jan ließ die Kaffeetasse sinken. »Ist das dein Ernst?«
»Hör mal, Jan. Mir tut die Kleine einfach leid. Ich möchte wenigstens sichergehen, dass sie in guten Händen ist. Ich werde sie nicht einfach vor der Wache absetzen und wieder davonfahren.«
Er rechnete fest damit, dass Jan explodieren würde, doch zu seiner Überraschung nickte er nur nachdenklich, ehe er besorgt fragte: »Was, wenn dich einer der Polizisten erkennt?«
»Mach dir darüber mal keine Gedanken. Ich denke nicht, dass einer der Groupies aus der ersten Reihe unter ihnen ist.«
Jan grinste schräg. »Bis auf deine kleine Freundin.«
Sem sah ihn warnend an, und er hob ergeben die Hände. »Entschuldige bitte, aber was glaubst du, wo sie gewesen wäre, wären die Dinge anders abgelaufen?«
Die Frage ließ Sem auch nicht los. Hätte er sie jemals getroffen, wenn ihr das Schicksal nicht so übel mitgespielt hätte? Wäre sie eines seiner unbedeutenden Betthäschen gewesen? Oder hätte er es auch so gespürt – diese unwiderstehliche Anziehungskraft, die immer größer wurde, je öfter er daran dachte, dass er sie nicht haben durfte. Er war wirklich ein einfach gestrickter Egoist. Jetzt, da er seinen besten Freund belogen hatte, war Samira ihm heillos ausgeliefert. Was machte er sich eigentlich vor, für wen er das tat?
Sie schlief wie eine Tote und träumte wie eine Betrunkene. Sie lief durch eine Nebelwand, die so dicht war, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Es gab weder Ost noch West, oben oder unten. Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft irrte sie panisch durch den weißen Dunst. Ihre Schritte waren ohrenbetäubend laut in der allumfassenden Stille. Sie war vollkommen allein.
»Hallo?« Sie rief nur, um die unerträgliche Stille zu durchbrechen, nicht weil sie mit einer Antwort rechnete. Da erschien die hochgewachsene Silhouette eines Mannes im Nebel. Hart hob sich die schwarze Kontur gegen das blendende Weiß ab und gab der Umgebung eine Bedeutung. Dennoch war er nicht mehr als ein Schatten, aber instinktiv wusste sie, dass sie sich nicht fürchten musste. »Wer bist du?«
Da trat er aus dem Nebel heraus. Sonnengelbes Haar umrahmte wild und romantisch zugleich ein Gesicht, das aussah wie gemalt. Er hatte himmelblaue, wissende Augen, in denen Unschuld und Gefahr eine Beziehung miteinander eingegangen waren. Seine Stimme war tief, beruhigend, schön und verführerisch. Sie berührte etwas in ihrem Inneren, das sich zu erinnern versuchte. »Hast du mich etwa vergessen, Samira?«
Da bemerkte sie, dass der Boden nicht länger konturlos war. Sie standen auf einer Art großem Podest. Sie spürte die federnden Holzbretter unter sich. Und über ihnen erschienen, drei Sonnen gleich, große helle Lampen, deren Licht so warm war, dass sie meinte, es müsse ihr die Haut versengen. Aber alles, was sie wahrnahm, war das Gefühl in ihrer Brust, das sein Blick auslöste.
»Sem!« Und mit seinem Namen auf den Lippen erwachte sie.
Fast im selben Augenblick hörte sie, wie sich im Nebenraum die Tür öffnete. Fahrig stützte sie das Gesicht in die Hände. Während sie Sems Schritten nebenan lauschte, dachte sie darüber nach, was dieser verrückte Traum ihr sagen wollte. Nun, allzu schwer war es nicht, die Bedeutung zu entschlüsseln. Sie wusste nicht, wer sie war, und hatte alle Erinnerung verloren, was den Nebel erklärte. In diesem Nebel war Sem die einzige vertraute Gestalt. Nur das Herzklopfen konnte sie mit allen logischen Argumenten der Welt nicht erklären.
»Es war nur ein Traum«, flüsterte sie leise und schwang die Beine aus dem Bett. Da klopfte es
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Jo Jonson
Cover: M. D. Hirt
Korrektorat: Sabrina Undank, TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2023
ISBN: 978-3-96714-376-8
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