„Warum vertraust du mir nicht.“
Ihre dunklen Augen fixierten mich. Ich versuchte ihrem Blick auszuweichen, in der Hoffnung, ich könne so meine Gedanken vor ihr
verbergen.
„Mache ich dir Angst…?“
Nein!, schoss es mir durch den Kopf, doch im gleichen Atemzug wusste ich, dass es eine Lüge war. Vielleicht war Angst nicht das richtige
Wort. Ich hatte keine Angst vor ihren stahlblauen Augen, die mich durchdringend anstarrten. Ich hatte keine Angst vor ihrer
totenbleichen Haut, vor ihrer unmenschlichen Schnelligkeit oder vor der Tatsache, dass sie meine Gedanken lesen konnte und jede noch
so kleinste Lüge durchschaute. Es bereitete mir eher Unbehagen, dass ich nicht wusste, was in ihr vorging und dass sie nicht so
durchschaubar war, wie ich.
„ Ich…fühle mich dir so ausgeliefert. Ich weiß nicht, was du denkst, was du fühlst. Ich fühle mich dir gegenüber…so nackt.“
Schnell sank ich den Blick und starrte auf meine schmutzigen Fußspitzen. Jetzt ist alles vorbei, dachte ich. Jetzt denkt sie, ich würde sie
hassen.
„Das verstehe ich.“ Ihre Stimme klang sanfter. Ich hatte keinen einzigen ihrer Schritte gehört, dennoch wusste ich, dass sie mir
nähergekommen war. Während ich immer noch auf den Boden starrte.
„Als meine Verwandlung noch nicht vollständig abgeschlossen war, hatte ich dieselben Gedanken wie du. Ich empfand es als eine
Ungerechtigkeit, dass Melchior alles von mir wusste, jeden noch so kleinen Gedankengang von mir verfolgte. Ich dagegen, wusste nichts
von ihm.“ Sie trat noch einen Schritt näher auf mich zu. „Manchmal habe ich ihn dafür gehasst.“
Überrascht schaute ich zu ihr auf. Ich hatte sie mit Melchior zusammen gesehen, hatte das starke Band der Vertrautheit der beiden
gespürt, den Respekt und die Hochachtung, die sie dem anderen entgegenbrachten. Aber Hass?
Ein leichtes Schmunzeln umspielte ihre blassen Lippen. „Ja…man mag es kaum glauben. Erst als meine Verwandlung vollkommen
abgeschlossen war, konnten wir gemeinsam daran arbeiten, meine Fähigkeiten zu trainieren. All das wird auch auf dich zukommen.“
„Wann…“, fragte ich leise.
„Wenn die Zeit gekommen ist.“, antwortete sie und kam noch einen Schritt näher. Sie war mir so nah, dass ich ihrem Blick nicht mehr
ausweichen konnte. Ich spürte, wie ihre Aura auf mich überschwappte, spürte wie sie mich in ihren Bann zog.
Ich seufzte und ließ meinen Kopf an ihre Brust sinken. Ich fühlte ihre starken Arme die sich um mich schlangen, mich liebevoll an sich
drückten. Gierig sog ich ihren süßen Duft ein. Eine Mischung aus Lavendel und weißen Rosen. Es war genau dieser Duft der mich auf sie
aufmerksam gemacht hatte, als wir uns das erste Mal begegneten. So vertraut und doch so fremd. Eine Erinnerung die ich niemals
vergessen werde. Von diesem Tag an wusste ich, dass ich niemanden anderes wollte als sie. Auch wenn sich dieses Wissen noch für
einige Zeit in den Tiefen meines Unterbewusstseins versteckt hatte.
Ich wollte für immer bei ihr bleiben. Bis in die Unendlichkeit. Und noch viel viel weiter.
Es war ein ziemlich verregneter Montagmorgen. Perfekt für einen ersten Tag an der Uni, in einem komplett fremden Ort, irgendwo im
nirgendwo. Das Erste was ich sah, als ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster schaute, waren Wälder voller meterhohen Fichten und
Tannen über deren Kronen dichte Nebelschwaden hingen.
Alles war dunkel und grau, es gab keine Hotels oder Diskotheken, nur einen kleinen Kaufmannsladen zwei Straßen weiter und wenn man
wirklich in die nächste Stadt wollte, hatte man mindestens zwei Stunden Autofahrt vor sich. Und überhaupt wirkte dieser Ort, als hätte
die Sonne sich nicht ein einziges Mal durch die dichte Wolkendecke getraut, um der feuchten, morastigen Erde etwas Licht zu schenken.
Ich hoffte nur, dass ich mich schnell an die neue Umgebung gewöhnen würde.
Bevor ich hierher kam hatte ich zusammen mit meinem Dad auf einer Farm in Texas gewohnt, doch um des Vaterswillen und um ein
gutes Studium absolvieren zu können, hatte es mich in den Norden Canadas verschlagen. Hier hatte ich eine kleine Wohnung etwas
abseits am Stadtrand bezogen und einen Aushilfsjob in einem Café in der Innenstadt angenommen, um mir diese leisten zu können.
Ich hätte auch in das Studentenwohnheim am Campus ziehen können, doch nach einem kurzen Rundgang auf dem Universitätsgelände
hatte ich dankend abgelehnt. Das berühmt berüchtigte Studentenleben, so wie es in den meisten Filmen veranschaulicht wurde, war
dann doch nichts für mich. Da zog ich die dichten Wälder und dunklen Straßen lieber vor. Nicht nur, weil ich eine gewisse Anonymität
wahren konnte, sondern weil ich hier vor allem meine Ruhe hatte und mich zurückziehen konnte wann immer ich wollte.
Das lauten Schlagen der Standuhr im Flur, weckte mich aus meinen Gedanken. Es war acht Uhr und für mich das eindeutige Zeichen,
mich auf den Weg zu machen. So stand ich vom Küchentisch auf, entsorgte das restliche Müsli im Mülleimer und ging in den Flur, um
mich anzuziehen. Auch wenn ich so in Gedanken versunken war, spürte ich doch das nervöse Kribbeln in meiner Magengegend.
Wird schon schiefgehen, dachte ich und trat zur Tür heraus. Ein kurzer Blick gegen Himmel signalisierte mir, dass es heute mit Sicherheit
noch schneien würde. Die Winter hier, waren meistens eisigkalt und dauerten mehrere Monate lang. Ich schloss die Tür hinter mir und
machte mich daran, das Sicherheitsschloss meines Fahrrads aufzuschließen. Ein Auto besaß ich leider nicht – dazu fehlte mir das nötige
Kleingeld. Ein Glück, dass der Umzug hierher mit der Hilfe meines Vaters und einigen Freunden, überhaupt geschafft worden war.
Ich schwang mich auf mein Rad und machte mich auf den Weg zur Universität. Zum Glück befand sich diese eher im Stadtrandgebiet,
sodass ich nur eine Stunde brauchte, bis ich dort ankam. Am College angekommen, erblickte ich schon die große Traube an Studenten,
die sich auf dem Gelände versammelt hatte. All diese Studenten würden heute ihr erstes Semester antreten, inklusive mir.
Aus der morgendlichen Nervosität wuchs so langsam ein Gefühl der Freude. Ich hatte mein Ziel erreicht und würde meiner großen
künstlerischen Leidenschaft nachgehen können und genügen Fachwissen sammeln, die mich beruflich hoffentlich weiterbringen würden.
Es war der erste, der allererste Schritt ins selbstständige Erwachsenleben.
Nachdem ich mein Fahrrad abgestellt hatte, schlenderte ich zu den anderen Studenten hinüber und tat das, was all die anderen um mich
herum auch taten: warten, auf das was in den nächsten Minuten passieren würde. In dem Anschreiben welches man mir vor
Semesterbeginn hatte zukommen lassen, stand geschrieben, dass es am ersten Tag eine Ansprache auf dem Universitätsgelände geben
sollte. Ein bisschen kurios war das Ganze schon. Nun, so stand ich hier herum und beobachtete die Menschen um mich herum. Einige
Meter vor mir stand ein junger Mann mit Vollbart und kurzem Haar, gekleidet in zerrissenen Jeans und Rolling Stones Shirt. Das Mädchen
neben ihm, schien wohl seine Freundin zu sein, da sich die beiden an den Händen hielten und förmlich aneinanderklebten. Schnell wand
ich den Blick ab. Das wollte ich nun nicht genauer beobachten.
„Hey. Bist du auch im ersten Semester?“
Überrascht drehte ich mich um. Vor mir stand eine zierliche kleine Frau. Ihre braunen Haare hatte sie zu langen Zöpfen geflochten und
mit ihrer Hornbrille sah sie eher aus, als würde sie ein Physikstudium absolvieren. Ich schätzte sie auf vielleicht dreiundzwanzig Jahre.
„ Ehm, ja. Ja das bin ich.“, stammelte ich verwirrt und ergriff irritiert ihre schmale Hand, die sie mir entgegenstreckte.
„ Hi, ich bin Emma, aber meine Freunde nennen mich nur Em.“, sagte sie lächelnd und deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die
Gruppe hinter ihr.
„ Ahh“, sagte ich, „Ich bin Emily.“, und schüttelte einem nach dem anderen kurz die Hand. Auf den ersten Blick schienen sie alle ganz
nett zu sein. Insgeheim freute ich mich, dass ich nicht total verloren auf dem Gelände herumstand, denn ich war alles andere als
extrovertiert.
So standen wir im kleinen Kreis herum und unterhielten uns. Ich erfuhr, dass sich die vier aus der High School kannten und alle totale
Kunstfanatiker waren. „Mein Vater ist Inhaber einer großen Galerie in New York. Er hat mich überhaupt erst auf den Gedanken gebracht
ein Kunststudium zu absolvieren.“, erklärte Ron und warf mir ein breites Grinsen zu. Bei genauerer Betrachtung, hätte er auch Werbung
für Zahnpasta machen können, so schneeweise Zähne hatte er.
„ Cool. Ich komm aus Texas und naja, seitdem ich klein bin, habe ich noch nie einen Stift aus der Hand gelegt.“, meinte ich beiläufig und
zuckte mit den Schultern. „ Ganz aus Texas?“, rief Alice überrascht und musterte mich. „ Dafür bist du aber ganz schön blass im Gesicht.“
Ich lachte kurz auf. „ Ja, ja das stimmt! Ich habe komische Gene.“
Plötzlich ertönte ein lautes Klingeln aus dem hohen Collegegebäude und eine kleine, rundliche Frau mit Dauerwelle trat aus der Tür, ging
auf das Rednerpult zu. Um uns herum wurde es ganz still, bis sie begann zu sprechen.
„ Liebe Studenten und Studentinnen, ich heiße sie alle herzlich Willkommen. Heute startet ihr erstes Semester am erfolgreichsten College
in Canada. Bevor Sie ab heute Ihr erstes Semester beginnen können, gibt es zuvor einige Regeln, die ich Ihnen ans Herz legen möchte
und ich gehe davon aus, dass Sie jede einzelne dieser Regeln ernst nehmen und befolgen werden.“
Ich verdrehte die Augen. Ihr Gerede ging mir jetzt schon auf die Nerven. Und diese Regeln…da würde sich wahrscheinlich nur ein kleiner
Teil der Studenten dranhalten. „ Da bin ich ja gespannt.“, raunte Em mir zu. Mich interessierte es ehrlich gesagt nicht, was ich durfte und
was ich nicht durfte. Außerdem hasste ich Regeln und Schulregeln, waren wohl die schlimmsten Regeln, die es gab.
Nach der halbstündigen Ansprache, in der Mrs. Rose und alles über die Geschichte des College, Regeln und Pflichten der Studenten und
der Freizeitaktivitäten erzählt hatte, durften wir endlich in unsere erste Vorlesung. Mit klopfendem Herzen bahnte ich mir zusammen mit
Em und den anderen einen Weg durch das Gedränge am Eingang und kramte im Gehen nach dem Brief, in dem man mir die
Raumnummer mitgeteilt hatte. „ Seid ihr auch im Raum 410?“, fragte ich und drehte den Kopf in Ems Richtung.
Diese nickte und sagte: „Ja, wir haben bei der Anmeldung extra angegeben, dass wir alle in den gleichen Kurs möchten.“
Na, die Vier scheinen ja wirklich zusammenzukleben wie Pech und Schwefel, dachte ich. Nachdem wir die Treppenstufen hinter uns
gelassen hatten, waren wir auch schon im großen Hörsaal angekommen und was soll ich sagen…er war wirklich riesig.
„ DAS nenne ich mal wirklich einen Saal.“, hörte ich Ron hinter mir beeindruckt flüstern. Und er hatte Recht. Die Sitzreihen reichten bis
fast unter die Decke, an der gegenüberliegenden Wand war ein riesiges Whiteboard befestigt und davor stand das Rednerpult des
Dozenten. „ Komm, suchen wir uns einen Platz.“, meinte Alice dann und wir folgten ihr in die dritte Reihe. Während ich ihr folgte und
mich neugierig umsah, blieb mein Blick plötzlich an einem Paar stahlblauer Augen hängen, die mich durchdringend anstarrten. Und diese
Augen gehörten dem wohl schönsten Mädchen, welches mir je begegnet war. Ich konnte nicht anders als für einen kurzen Moment
stehen zu bleiben und sie zu mustern. Sie saß in der zweiten Reihe vor uns, hatte sich lässig in ihren Sitz gelehnt und musterte mich.
Ihr schwarzes Haar reichte ihr bis zur Taile und ihre Haut hatte so einen blassen Teint, dass man sie für eine Tote hätte halten können,
würde sie sich nicht bewegen. Plötzlich schenkte sie mir ein kurzes Lächeln. Dann wand sie den Blick ab und lehnte sich zu dem Mädchen
neben ihr hinüber, um ihr etwas zuzuflüstern.
„ Hey Emily, willst du nicht mal weitergehen?“, riss Ron mich aus meinen Gedanken und stupste mir leicht in die Seite.
„ Oh, ähm entschuldige, ich war kurz abgelenkt.“, stammelte ich und setzte mich schnell neben Em. Von meinem Platz aus konnte ich die
schwarzhaarige Unbekannte gut beobachten. Neben ihr saßen zwei weitere Studenten. Eine Blondine, die mit ihrem Charme
wahrscheinlich jeden um den Finger wickeln konnte, und einem Jungen, der aussah, als würde er jeden Tag im Fitnessstudio verbringen.
Sie hatten alle Drei nur etwas gemeinsam: Sie sahen alle aus, als wären sie von den Toten wieder auferstanden. Vielleicht hatten sie sich
aber auch nur so blass geschminkt.
„ Du weißt, wen du da die ganze Zeit anstarrst?“, raunte Em mir leise zu und nickte in Richtung der schönen Unbekannten.
Verdutzt sah ich sie an. „ Nein, was meinst du?“
„ Die drei sind mit uns zur Schule gegangen. Die sind eine ziemlich komische Gruppe, alles Geschwister. Aber sie sehen gut aus, nicht?“.
Mit einem schelmischen Grinsen zwinkerte sie mir zu. „Mh…ja schon. Aber was meinst du mit komisch?“, fragte ich und versuchte nicht
rot anzulaufen. „ Meistens sind sie nur an regnerischen Tagen zur Schule gekommen. Und bleiben eher unter sich.“
„ Aha. Wer sind die denn überhaupt?“, flüsterte ich zurück.
„Das sind die Campbells. Lyna, Mary und René. Wie gesagt….sehr komische Leute.“
Lyna…so hieß die hübsche Unbekannte also....
„Wir scheinen ja ziemlich euer Interesse geweckt zu haben.“
Überrascht schauten Em und ich auf. Lyna hatte sich zu uns umgedreht und sah uns mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht an.
Ich schluckte. Ups.
„ Äh….das war ja nicht böse gemeint.“, stammelte Em.
„ Genau!...Ich bin halt etwas neugierig.“, sagte ich schnell und konnte nicht verhindern, dass sich meine Wangen rosa färbten, als Lyna
mich direkt ansah. „ Äußerst amüsant.“, sagte sie und der tiefe Klang ihrer Stimme ließ mein Herz schneller schlagen.
„Wie heißt du?“
„ Emily.“, sagte ich und merkte, wie mein Hals immer trockener wurde. Als sie aufstand und mir ihre Hand reichte, konnte ich meinen
Blick einfach nicht von ihr abwenden. Mein Herz setzte für einige Sekunden aus. Ich ergriff ihre Hand und stellte fest, dass sich ihre Haut
ganz zart anfühlte.
„ Ich hoffe, wir lernen uns bald näher kennen.“, flüsterte sie und beugte sich etwas zu mir herunter, so, dass nur ich es hören konnte,
während ich in ihren blauen Augen versank und in ihren Bann gezogen wurde. So schnell dieser Moment gekommen war, desto schneller
war er wieder vorbei. Sie ließ meine Hand los, drehte sich um und setzte sich wieder auf ihren Platz, während ich immer noch wie
versteinert an meinem Tisch saß. Als wäre nichts passiert.
„ Was zum Teufel war das denn?“, flüsterte Em entsetzt, während Alice und Ron mich ungläubig ansahen.
„ Ich..ich habe keine Ahnung.“, entgegnete ich und erwachte so langsam wieder aus meiner Trance.
„Die hat dich ja total um den Finger gewickelte.“, lachte Ron leise. Sofort schnellte mein Kopf in seine Richtung und ich starrte ihn
entgeistert an.
„ Was meinst du?!“
„ Emily…das sieht ja wohl jeder Blinde mit Krückstock, dass du dich in sie verknallt hast.“
Ich wollte etwas erwidern, doch mir viel partou nichts ein, was ich hätte sagen können.
„ Wie..?! Du…du..bist..“
„ Ja bin ich.“, sagte ich in Ems Richtung und sah ihr fest in die Augen.
Nach einem kurzen Schweigen meinte sie: „ Ach, es gibt schlimmeres. Und hey, ich hatte noch nie eine lesbische Freundin!“
Ich grinste. „ Na dann ist ja alles gut.“
Der Tag verging wie im Flug. Die Vorlesungen hatten definitiv mein Interesse geweckt und ich wurde mehr als nur einmal darin bestätigt,
dass ich den für mich , richtigen Weg gewählt hatte. Ab und zu ertappte ich mich allerdings selbst dabei, wie ich Lyna, wahrscheinlich
total verträumt anstarrte. Sie hatte etwas Unheimliches und zugleich so geheimnisvolles an sich, welches mich total neugierig machte.
Ich wollte unbedingt herausfinden, wer und vor allem was sie war.
Es war 15 Uhr als ich das Universitätsgebäude verließ. Em und ich hatten uns mit den anderen für morgen Nachmittag verabredet. Wir
wollten ein bisschen die Umgebung kennen lernen. Nachdem ich mich von ihnen verabschiedet hatte, schlenderte ich zu meinem
Fahrrad. Es hatte mittlerweile angefangen zu regnen.
An meinem Fahrrad angekommen, wurde ich jedoch von einem ärgerlichen Ereignis überrascht. Jemand hatte mutwillig den Hinterreifen
meines Fahrrads durchgeschnitten und ich hatte ausgerechnet heute kein Flickzeug dabei. „ So ein Mist!“, knurrte ich. Da blieb mir wohl
nichts anderes übrig, als mein Rad stehen zu lassen und nach Hause zu laufen. Bei strömenden Regen. Na ganz toll.
Wütend hockte ich mich vor mein Rad und sah mir den zerschnittenen Reifen genauer an, doch da war wirklich nichts mehr zu retten.
„Brauchst du Hilfe?“
Erschrocken fuhr ich herum und blickte geradewegs in diese blauen Augen, die mir so den Verstand geraubt hatten.
„ Ähm…mein Reifen ist hin.“, entgegnete ich und brachte gerade so ein nervöses Lächeln zustande.
Sie runzelte die Stirn und mit den Worten „Mal sehen, ob sich da was machen lässt.“, hockte Lyna sich neben mich. Mein Herz schlug
schneller, war sie mir doch auf einmal so nah. Ich konnte sogar ihr Parfüm riechen. Es roch nach Lavendel und weißen Rosen.
„ Der ist definitv im Eimer.“, brummte sie und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.
„ Sag ich ja…“, meinte ich und kratzte mich verlegen am Hinterkopf.
„ Nun…ich könnte dich nach Hause bringen. Bei dem Regen macht das Fahrrad fahren doch eh keinen Spaß.“ Sie grinste frech. Und ich
brachte wiedermal nur ein nervöses Lächeln zustande.
„ Also…du musst das wirklich nicht tun. Sonst…laufe ich. Oder so.“
Sie lachte.
„ Nein, nein. Du läufst mir nirgendwo alleine hin. Und schon gar nicht durch die dunklen Straßen.“
Mit diesen Worten legte sie sich, als gäbe es nichts leichteres der Welt, mein Fahrrad über die Schultern, stand auf und reichte mir dir
Hand.
„ Kommst du oder willst du hier sitzen bleiben und dich erkälten?“
„ Äh, nein, nein.“, stammelte ich hastig, ergriff ihre Hand und ließ mich von ihr hochziehen.
„Danke.“
„Dafür nicht.“
Während wir nebeneinander herliefen, hatte ich große Mühe, meine Gedanken im Zaum zu halten. Ob sie etwas gemerkt hatte? Fühlte
sie dasselbe für mich? War sie einfach nur nett zu mir und ich machte mir viel zu viele Gedanken? Zu viel Hoffnung? Warum konnte ich
nicht ganz normal mit ihr reden? Weil du dich bis über beide Ohren in sie verliebt hast, sprach die Stimme in meinem Kopf.
Na wunderbar. Ich war tatsächlich an dem Punkt angekommen, wo ich Zwiegespräche mit mir selbst führte.
„ Setzt dich ruhig schon rein.“
Lynas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir bereits vor ihrem schwarzen Mustang standen und
ich fragte mich, wie zur Hölle, sie sich dieses Auto leisten konnte.
„ Okay.“, antwortete ich schnell und machte es mir auf dem Beifahrersitz bequem, während sie mein Fahrrad in ihren Kofferraum einlud.
„Ist ganz schön sperrig das klapprige Ding.“, sagte sie als sie in ihr Auto stieg und sich mit einem frechen Grinsen auf den Sitz plumpsen
ließ. Sofort spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden.
„ Oh nein. Das tut mir wirklich leid, ich mache dir viel zu viele Umstände.“, sagte ich mit einem schiefen Grinsen.
„ Keine Sorge, ich hatte schon viel schlimmere Umstände, als eine hübsche Frau nach Hause zu bringen.“, erwiderte sie grinsend,
startete den Motor und wir fuhren los. Ich dagegen sank verlegen den Blick und starrte auf meine Schuhe. Oh verdammt. Mich hatte es
tatsächlich erwischt. Ich erinnerte mich daran, als ich mich zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt hatte. Ich war damals dreizehn Jahre
alt gewesen, noch sehr jung und vielleicht auch zu naiv und ängstlich, vor Dingen, die leider aus gesellschaftlicher Sicht, nicht normal
waren. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie ich sie in den Pausen heimlich beobachtet hatte, ihr auf dem Heimweg gefolgt war
und mich irgendwann endlich getraut hatte sie anzusprechen. Es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die dennoch, nach einigen
Jahren, in die Brüche ging. Ich weiß noch, wie schwierig es für mich gewesen war, diese Gefühle zu akzeptieren, mich zu akzeptieren, zu
verstehen, dass es nichts Absurdes war. Zum Glück verlief das Outing einigermaßen gut, ohne einen Weltuntergang heraufzubeschwören.
Nun und jetzt…war es das normalste der Welt.
„ Du bist so still. Alles in Ordnung?“
Der sanfte Ton ihrer Stimme riss mich abermals aus meinen Gedanken.
„ Ja. Ja, es ist alles in Ordnung.“
Mit prüfendem Blick sah sie mich an.
„ Wirklich?“
„ Ja, wirklich Lyna, keine Sorge.“
Wir sahen einander an, lächelten.
Warum sah sie nur so verboten gut aus?
„Seit wann lebst du hier in Canada?“, fragte sie und hielt an einer roten Ampel.
„ Um ehrlich zu sein, erst seit ein paar Tagen. Ich habe vorher in Texas gewohnt. Mein Dad lebt dort.“, erwiderte ich. In dem Moment fiel
mir ein, dass ich ihm noch einen Brief schreiben wollte.
„Oh, Texas ist ja ganz schön weit…ich wohne schon seit einigen Jahren hier.“
„Und…deine Eltern?“
Lyna trat auf´s Gaspedal. Noch zehn Minuten, bis wir meine Wohnung erreicht hatten.
„ Sie sind gestorben. Ich war noch ganz klein, als es passiert ist.“
Ich biss mir auf die Unterlippe. Warum musste ich ständig in irgendwelche Fettnäpfchen treten?
„Entschuldige. Das…das wusste ich nicht.“, murmelte ich und starrte wieder auf meine Fußspitzen.
„ Das macht nichts, du konntest es doch gar nicht wissen.“
Lyna fuhr auf den Hof und stellte den Motor ab. Schweigend saßen wir nebeneinander. Es war nicht dieses betretende Schweigen,
sondern eher, aus Verlegenheit, weil keiner wusste, was er sagen sollte.
Plötzlich legte sie ihre Hand auf meine. Ich hatte das Gefühl, als würde mich ein Stromschlag durchzucken, in meinem Magen tanzten die
Schmetterlinge durcheinander und mein Herz sprang mir fast aus der Brust.
„Du bist ein toller Mensch, Emily.“
Ich sah sie an. Überrascht und geschmeichelt zugleich.
„ D-danke..“
Sie lächelte. Es war ein ganz warmes Lächeln. Beinahe liebevoll.
„Ich..kann dich morgen mit zur Schule nehmen. Wenn du möchtest.“
Mein Herz tat noch einen Sprung. Vor Freunde. Ich umschloss ihre Hand. Und stellte fest, dass sie sich ganz kalt anfühlte.
„Das würde mich freuen.“
In diesen kitschigen Liebesfilmen, war genau das der Moment, in denen sich irgendwelche Schauspieler küssten. Doch das traute ich
mich definitiv nicht. Obwohl ich ein bisschen das Bedürfnis hatte.
„Dann hol ich mal dein Fahrrad aus dem Kofferraum.“
Einen kurzen Moment noch hielt sie meinem Blick stand. Dann ließ sie meine Hand los und der magische Moment war vorbei.
Ich spürte nur mein klopfendes Herz und stieg mit weichen Knien aus dem Auto aus. Lyna hatte stattdessen schon mein Fahrrad aus
dem Kofferraum geholt und an die Hauswand gestellt. Mit einem lauten Knall schlug sie die Klappe zum Kofferraum zu. Wir standen vor
einander. Verlegen strich ich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„ Nun…dann…sehen wir uns morgen?“, fragte ich hoffnungsvoll und konnte ein leichtes Zittern in meiner Stimme nicht verbergen.
Lyna nickte und sah mir direkt in die Augen. Etwas irritierte mich. Waren ihre Augen nicht blau anstatt gold-braun? Doch bevor ich etwas
sagen konnte, drückte sie kurz meine Hand, verabschiedete sich mit einem „Dann bis morgen!“, stieg ins Auto und fuhr los.
Ich blieb im Regen stehen und sah ihr nach, bis sie hinter der Kurve verschwunden war. Sie hatte so etwas Anziehendes an sich, dass ich
gar nicht wusste, wie ich das beschreiben sollte. Es war beinahe etwas unheimlich, wie gut sie mir gefiel und das in so kurzer Zeit.
Nun…wer weiß, wozu es gut ist.
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2018
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