- 12. August 2184 -
Vorsichtig wagten sie einen Blick hinaus, versuchten möglichst viel von der Welt, die sich ihnen nun darbot aufzunehmen. – Verstört zogen sie sich ins Innere zurück.
Die automatische Tür schloss sich mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch und verharrte dann still und reglos wie diejenigen, für die sie sich gerade geöffnet hatte. Die Schritte anderer Reisender erschienen auf einmal unnatürlich laut und doch in großer Distanz zu den drei jungen Menschen, deren Augenpaare allesamt auf die Pforte des Preview-Raums gerichtet waren.
„Ich geh da nicht hin“, sagte Evelyn entschieden. Rozerin und Naira hörten deutlich die Unsicherheit in ihrer Stimme. Das junge Mädchen löste ihren Blick von den Zeichen „T-5“, die in das polierte Metall geätzt waren und die ihr bis gerade eben, bis sie einen Blick aus dem Fenster dieses Preview-Raums geworfen hatte, so vielversprechend vorgekommen waren. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und musterte die Gesichter derer, die neben ihr standen. Doch auch bevor sie ihre ernsten Mienen sah, war ihr klar, dass die anderen das gleiche über diese Topie dachten wie sie.
Nachdem Evelyn, ihr Bruder und Naira bis jetzt nur den Alltag in den Wäldern von T-4 gekannt hatten, der Topie, in der man nichts hatte, außer dem, was man der Natur abgewinnen konnte, wollten sie nun, da sie alle alt genug waren um zu reisen, einen Lebensstil kennenlernen, der weniger mit Natur und mehr mit Technik zu tun hatte. Deshalb war ihnen Topie 5, betitelt mit „Virtuelle Welt“, wie ein geeignetes Ziel erschienen.
Doch sie hatten sich etwas anderes vorgestellt als fette, bleiche Leiber, die im Dunkeln mit großen, leeren Augen vor leuchtenden Bildschirmen saßen und vor sich hin siechten. Die Vorstellung, sich so zu vernachlässigen und den Bezug zur Realität zu verlieren, ekelte sie an und machte ihnen Angst.
Wie konnten Menschen sich freiwillig selbst belügen und entscheiden, in solch einer Scheinwelt zu leben?
Rozerin, der mit fast 21 Jahren der Älteste in der Gruppe war, suchte Blickkontakt mit Naira, seiner Freundin, doch sie starrte nachdenklich ins Leere und nahm ihn nicht wahr. Als er sich damit abgefunden hatte, sagte er: „Wir sollten zurück in die Haupthalle gehen und ein anderes Ziel wählen. Ich bin sicher, es gibt auch Topien, die weniger … extrem sind. Diese hier entspricht vielleicht doch nicht dem, was wir uns vorstellen.“
Naira schüttelte ihre Gedanken ab und nickte Rozerin mit einem dankbaren Lächeln zu. Evelyn setzte sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, in Bewegung und übernahm die Führung. Sie machte große Schritte, als wolle sie schnellstmöglich viel Abstand zu Topie 5 gewinnen. Naira war gezwungen, die ihr zu lange Robe anzuheben, um bei diesem Tempo nicht zu stolpern. Sobald man die Zentrale betrat, musste man eines dieser schwarzen Gewänder überziehen, denn hier sollte man anonym sein, um wie ein Schatten in die nächste Topie huschen zu können. Ungesehen von einer Welt in eine andere.
Der Korridor, dem sie folgten, mündete in die große Haupthalle, die das Herz der Zentrale darstellte. Sie bot genügend Raum, damit sich die Reisenden nicht zu nahe kommen mussten. Eine riesige Anzeigetafel – Evelyn hatte sie vorhin gar nicht beachtet, weil sie geglaubt hatte, ihr Ziel stünde fest – listete die zehn Haupt-Topien auf:
T-1 Anarchie
T-2 Kapitalismus
T-3 Kommunismus
T-4 Urgesellschaft
T-5 Virtuelle Welt
T-6 Christentum
T-7 Islam
T-9 Buddhismus
T-10 Judentum
Darunter hing ein großes Bild der letzten menschlichen Herrscher der alten Welt, aufgenommen in dem Moment, als sie ihre Macht abtraten. Es waren nicht mehr als sieben Politiker, in deren zu Apathie gefrorenen Gesichtern Erleichterung und Erschöpfung schimmerten. Der dritte Weltkrieg hatte bei denjenigen, die überlebt hatten, tiefe Wunden geschlagen.
Deshalb, als am Ende kaum noch Waffen und Menschen übrig waren und die Verbliebenen keine Kraft mehr hatten und zum ersten Mal wirklich verstanden, dass es dieses Mal keine Sieger gab, gaben sie allesamt auf. Nicht nur den Krieg, sondern den Versuch, sich selbst zu regieren. Die Menschen kapitulierten sich selbst gegenüber. Angewidert von ihrer eigenen Grausamkeit und Dummheit übertrugen die Verbliebenen die Verantwortung für ihr Leben jemandem – oder eher etwas, das sie an Intelligenz und Wissen übertraf.
Einem Computer, einer künstlichen Intelligenz namens 42-6.6, die den Krieg wie durch Glück überstanden hatte. Viele sagten, dass die KI wohl das einzig Gute sei, was die Menschheit jemals zustande gebracht hatte. 42-6.6 erklärte, dass das Aufeinandertreffen von verschiedenen Wertesystemen unterbunden werden müsse, damit die Menschheit in Frieden leben kann. Deswegen hatte die KI für die Menschen diese Alternative geschaffen, das Topien-System, in dem die verschiedenen Ideale isoliert voneinander existierten, ohne miteinander in Konflikt zu geraten.
Das alles wusste Evelyn aus der intertopialen Schule, die jeder Minderjährige besuchen musste, um eine neutrale Bildung zu erhalten. Man wurde dort von der KI selbst unterrichtet.
Und das war nur eine der Aufgaben, derer sie sich angenommen hatte, außerdem kontrollierte sie den Shuttle-Verkehr zwischen den Topien und der Zentrale und wachte über die Isolation der Topien voneinander. Alles bewältigte 42-6.6 gleichzeitig. Evelyn fand das eine sehr bemerkenswerte Leistung.
Rozerin und Naira stellten sich neben Evelyn und blickten auf die Anzeigetafel. Jeder wusste in etwa, welche Grundgedanken hinter den Bezeichnungen steckten, doch wie die drei gerade festgestellt hatten, hieß das nicht, dass sie sich ein korrektes Bild vom Leben in der jeweiligen Topie machen konnten. Weil keiner von ihnen jedoch irgendeinen Bezug zu Religion hatte, ließen sie die Topien 6-10 außer Acht.
„Vielleicht sollten wir alle einen Eignungstest machen und uns danach richten“, meinte Naira. Der Eignungstest wurde ebenfalls von 42-6.6 organisiert und sollte Reisenden helfen, eine für sich passende Topie zu finden.
„Nein“ erwiderte Evelyn schroff. Sie hatte große Angst davor, dass sie und Rozerin verschiedene Ergebnisse erhielten und er beschließen könnte, sich von ihr zu trennen. Obwohl sie mit 14 schon volljährig war und auch alleine reisen durfte, wollte sie das auf keinen Fall, solange ihr alle anderen Topien so fremd waren.
Naira ließ sich nicht anmerken, dass ihr Evelyns dominantes Auftreten auf die Nerven ging, sie wollte das Mädchen Rozerin zuliebe nicht provozieren. Er liebte seine kleine Schwester und war immer darauf bedacht, gut auf sie aufzupassen. Er nahm diese Aufgabe umso ernster, seit seine Eltern an den Spätfolgen ihrer Kriegsverletzungen früh gestorben waren.
„Evelyn“, sagte Rozerin, „was sollen wir deiner Meinung nach tun?“ Ihm war klar, dass es ihre Unsicherheit war, die Evelyn aggressiv wirken ließ, eigentlich war das nicht ihre Art. Die Geduld in seiner Stimme beruhigte sowohl Evelyn als auch Naira.
„Wir sollten uns T-1 näher ansehen“, antwortete Evelyn und zeigte auf den Korridor links von der Anzeigetafel. Topie 1, die Anarchie, war das beliebteste Ziel für Künstler und Wissenschaftler, denn durch die vollständige Automatisierung der Versorgung und Produktion blieb den Bewohnern alle Zeit, um sich selbst zu entfalten. Diese Topie hatte auch die wenigsten Regeln.
Rozerin blickte Evelyn wachsam an. Er war keinesfalls blind für ihr rücksichtsloses Verhalten. Doch Naira hatte nichts dagegen, den Preview-Raum von T-1 zu besuchen. Sie interessierte sich ebenfalls für diese Topie, denn sie hatte von den wunderschönen Gärten, Galerien und Bibliotheken gehört. Sie nahm Rozerins Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen, um ihm zu zeigen, dass von ihrer Seite alles in Ordnung war. Seine Mundwinkel zuckten nach oben.
Evelyn zupfte nervös an dem Ärmel ihrer Robe und wartete darauf, dass Rozerin eine Entscheidung fällte. „Okay, dann lasst uns gehen“, sagte er endlich.
Obwohl Evelyn Angst hatte, von T-1 genauso enttäuscht zu werden wie von T-5, konnte sie es nicht erwarten, zu erfahren, wie die Menschen dort lebten. Sie lief sofort wieder voraus und überholte dabei viele andere Reisende, trotzdem achtete sie genau darauf, ob Rozerin ihr noch folgte. Schnell hatte Evelyn die Halle durchquert. Sie blieb direkt vor dem Korridor zu Topie 1 stehen und wartete darauf, dass die anderen sie einholten. Als Rozerin mit Naira an seiner Hand in ihre Hörweite kam, meinte er: „Du brauchst nicht so zu hetzen, Evy, das ist keine Treibjagd.“
Evelyn senkte den Kopf. „Entschuldigung.“ Kritik von ihrem Bruder nahm sie sehr ernst.
Im Vorübergehen griff Rozerin nach ihrer Hand und zog sie mit sich und Naira in den Korridor hinein.
Jeder Korridor war an die Topie, zu der er führte, angepasst. Auf dem Weg zu Topie 4 hatte man den Eindruck, durch eine Platanenallee zu gehen, der Korridor zu Topie 5 bestand aus Bildschirmen, die Szenen aus den Scheinrealitäten der „Virtuellen Welt“ wiedergaben. Evelyn hatte gehört, dass der Gang zu Topie 6 mit restaurierten Fresken aus dem Vatikan, dem früheren Sitz der katholischen Kirche, verkleidet war.
Hier waren die Wände mit kunstvollen Ornamenten bedeckt, die vielleicht gleichzeitig eine Schrift darstellten, Evelyn war sich nicht sicher. Ihr gefiel diese Verzierung, obwohl sie ihre Bedeutung nicht verstand.
Nach zwei Rechtsbiegungen erschien der Eingang zum Preview-Raum auf der linken Seite, geradeaus ging es weiter zur Anmeldung und dem Shuttle, der die Reisenden zur Topie transportierte. Die Tür dieses Preview-Raums sah beinahe genauso aus wie die letzte, der einzige Unterschied lag in der Ätzung: „T-1“. Während sie sich der Tür weiter näherten, kamen andere Reisende aus dem Raum und gingen in Richtung Shuttle. Rozerin schien das ein gutes Zeichen zu sein.
Kurz vor dem Bereich, der den Öffnungsmechanismus des Eingangs aktivierte, verlangsamten Rozerin, Naira und Evelyn ihr Schritttempo. Naira drückte die Hand ihres Freundes etwas fester. Mit dem gleichen Geräusch wie bei T-5 öffnete sich die Tür für sie.
Dieser Raum unterschied sich in der Einrichtung nicht von allen anderen Preview-Räumen: Links war ein Display in die Wand eingelassen, das allgemeine Informationen in einem Menü bereitstellte, daneben lag die Satzung der Topie aus, also die Regeln, an die man sich halten musste, anderenfalls wurde man aus der Topie verbannt. Zur Rechten waren ebenfalls mehrere Bildschirme angebracht, die Videosequenzen und Bilder wiedergaben. Direkt gegenüber vom Eingang war ein großes Fenster. Alle Topien waren mindestens 30 Kilometer von der Zentrale entfernt, doch durch das Zusammenspiel genau justierter Linsen konnte man einen Blick in die Topie werfen, als sei sie direkt auf der anderen Seite der Wand. Dieses Kunststück war ebenfalls von der KI vollbracht worden.
Evelyn ließ Rozerins Hand los und näherte sich dem Fenster. Vorsichtig wagte sie einen Blick hinaus, versuchte möglichst viel von der Welt aufzunehmen, die sich ihr nun darbot. Sie wusste sofort, dass sie ihre Topie gefunden hatte. Die Finsternis von Topie 5, die aus einer einzigen abgedunkelten Halle bestand, war ihr viel zu beklemmend erschienen, dagegen gab es hier viel Licht und Grünflächen und Bäume, die ihr die Vertrautheit der Wälder und Wiesen von Topie 4 vermittelten. Dazwischen ragten Gebäude auf, von denen keines den anderen glich, doch alle waren auf ihre eigene Weise wunderschön. Evelyn hatte noch nie in einem befestigten Haus geschlafen und das einzige Gebäude, das sie bis zu diesem Tag überhaupt gekannt hatte, war die Schule gewesen. Die geraden Wände und geschwungenen Bögen leuchteten in verschiedenen Farben. Evelyn wollte herausfinden, wie diese Materialien sich anfühlten.
Sie drehte sich um, um mehr über diese Topie zu erfahren. Naira betrachtete die Fotos und Videos, die von den Bildschirmen gezeigt wurden. Rozerin war über dem Regelwerk der Topie vertieft. Weil Evelyn noch nie eine Menüanzeige bedient hatte und den konzentriert wirkenden Rozerin nicht stören wollte, entschied sie sich dafür, sich neben Naira zu stellen, um ebenfalls die Bilder anzusehen.
Die Aufnahmen zeigten Kunstwerke jeder erdenklichen Art in riesigen Galerien, Labors einer Forschungseinrichtung, die automatisierte Ausgabe von Produktionsgütern und viele lachende Menschen, die bunt gekleidet waren und auf einer großen Wiese ein Fest feierten.
Als ein Bild von einer unglaublich großen Bibliothek eingeblendet wurde, begannen Nairas Augen zu leuchten. Sie hatte natürlich lesen gelernt, doch bis jetzt hatte sie diese Fähigkeit fast ausschließlich in der Schule genutzt und ihre Schulzeit lag nun schon vier Jahre zurück. Noch nie hatte sie ein Buch nur zum Vergnügen gelesen, dabei hatte sie gehört, dass es ganz viele Bücher gab, die von wunderbaren Geschichten handelten. Naira wollte solch ein Buch lesen.
„Wie findest du diese Topie?“, fragte Evelyn, der das Lächeln auf Nairas Gesicht nicht entgangen war.
„Ich glaube, dort könnte es mir gut gefallen“, erwiderte sie.
Rozerin las währenddessen aufmerksam die Ordnung von T-1 durch. Das Regelwerk für diese Topie war tatsächlich ziemlich dünn. Die Sprache war kurz und klar gehalten, das gefiel ihm; die Gesetze der Wildnis waren auch recht simpel, wenn man sich ihnen öffnete.
Er überlegte, dass diese Topie wohl die beste Wahl für sie alle war, denn Rozerin wusste von Nairas großem Interesse an Literatur und wie sehr Evelyn sich für Architektur begeisterte. Evy hatte immer die besten Unterschlüpfe errichtet.
Rozerin selbst wurde von CERN 2 gelockt, der größten Forschungs- und Entwicklungseinrichtung des gesamten Topien-Systems. Topie 5 mit ihren unzähligen Kanälen, in denen man Fabelwesen, Raumstationen oder Vorkriegsverhältnisse simulieren konnte, war sehr faszinierend, doch letztendlich nicht mehr als eine bedeutungslose Spielerei, das war ihm nun klar. Doch Rozerin wollte die moderne Technologie nicht nur verwenden, sondern auch vor allem verstehen. Und wie sollte man etwas richtig verstehen, wenn man selbst darin verwickelt war?
Als er hörte, dass Naira und Evelyn sich ihm näherten, drehte er sich zu ihnen um und fragte: „Was denkt ihr?“ Beide Mädchen strahlten, das war ihm eigentlich schon Antwort genug. „Sollen wir dorthin reisen?“
„Ja“, sagte Evelyn und Naira nickte. Rozerin freute sich über die Begeisterung in ihren Gesichtern.
„Gut, dann melden wir uns an und gehen zum Shuttle.“
Am Empfang hinter der zweiten Tür hatte jeder von ihnen eine Registrierungskarte erhalten, deren genauen Zweck sie jedoch noch nicht erklärt bekommen hatten, außerdem hatten sie die Roben wieder ablegen dürfen. Nun konnte man an ihrer selbstgemachten Kleidung wieder erkennen, woher sie kamen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag stiegen Rozerin, Evelyn und Naira in einen Shuttle, ein länglicher Wagon auf Schienen mit großen Fenstern und vielen in Vierergruppen angeordneten Sitzen. Neun andere Reisende hatten bereits Platz genommen und warteten auf die Abfahrt. Nachdem die drei sich gesetzt hatten, kam noch ein weiterer Reisender nach. Evelyn saß Rozerin und Naira gegenüber und konnte den Einstieg des großen, fülligen Mannes beobachten. Er trug eine verdunkelte Brille und bewegte sich sehr unbeholfen, als fehle ihm die Kraft, die Masse seines eigenen Körpers zu bewegen. Evelyn vermutete, dass dieser Mann aus T-5 kam, denn er sah den bleichen Gestalten, die sie dort durch das Fenster gesehen hatte, sehr ähnlich. Sie hatte ein wenig Angst vor ihm. Der Mann wählte den erstbesten freien Platz und setzte sich schwerfällig.
Kurz darauf schloss sich die Einstiegstür und eine Stimme, die jeder Mensch im Topien-System kannte, ertönte aus an der Decke angebrachten Lautsprechern. Es war die sanfte Stimme einer jungen Frau, mit der 42-6.6 immer zu ihnen sprach: „Seid willkommen. Der Shuttle wird gleich starten und euch zu Topie 1 bringen. Diese Topie ist 164,527 Kilometer von der Zentrale entfernt und die Fahrt wird 22 Minuten und 14 Sekunden dauern. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“
„Danke, 42-6.6!“, antworteten alle Insassen wie aus einem Munde.
Dann setzte sich der Shuttle in Bewegung und gewann schnell an Geschwindigkeit. Rozerin drehte seinen Kopf, um die Zentrale noch einmal zu sehen. Die Außenfassade war von blau glitzernden Solarzellen bedeckt. Seitdem die Ozonschicht und die Aschewolken verschwunden waren, waren sie eine sehr effektive Energiequelle. Unzählige Gleise führten von der Zentrale weg, jedes Gleis zu einer anderen Topie. Zu diesem Zeitpunkt gab es außer den zehn Haupt-Topien noch ungefähr vierzig weitere.
Je weiter sie sich von der Zentrale entfernten, desto mehr musste Rozerin sich verrenken und schließlich war er gezwungen, die restliche Umgebung anzusehen. Nach 35 Jahren konnte man noch immer deutlich erkennen, dass hier ein verheerender Krieg getobt hatte. Niemand sah Sinn darin oder war dazu in der Lage, diese größtenteils unbewohnbar gewordenen Gebiete von Trümmern und Leichen zu befreien und die Natur tat sich in vielen Gebieten, die chemisch oder atomar verseucht waren, schwer, diese Mahnmale zu verdecken. Jeder Quadratmeter war ein Mahnmal.
Von anfänglich 16 Milliarden Menschen hatte ungefähr eine Milliarde den Krieg überlebt. Ohne Schutzvorrichtungen des Topien-Systems, die sie vor der gefährlich gewordenen Sonne und radioaktiver Strahlung abschirmte und sie mit sauberer Luft versorgte, wäre die Menschheit bis zu diesem Tag wahrscheinlich schon längst ausgestorben. Ein Leben außerhalb war nicht mehr möglich. Die KI hatte ein unglaubliches Wunder damit vollbracht, aus den Kriegstrümmern heraus diese Überlebensgrundlage für sie alle zu schaffen.
Rozerin fand es wichtig, dass sie alle sich ihr Glück bewusst machten, denn sie lebten nicht nur in Frieden und Freiheit, ihre Generation genoss auch die Gnade der späten Geburt und hatten den Preis dafür nicht selbst zahlen müssen. Es war schmerzhaft und deprimierend, die zerstörte Welt außerhalb zu sehen, doch es war notwendig, um sich daran zu erinnern, wie viel Glück sie eigentlich hatten.
Er warf kurz einen Blick auf seine kleine Schwester. Sie schaute mit ausdrucksloser Miene auf mehrere eingestürzte Hochhäuser einer Geisterstadt. Auf einmal war Rozerin sehr froh, dass die Gleise des Shuttles über vierzig Meter über dem Boden verliefen, sodass man die Toten nicht so gut erkennen konnte.
„Schaut mal, was ist das?“, sagte Evy plötzlich und deutete auf eine lange Reihe noch stehender Hochhäuser. Naira beugte sich vor, um an Rozerin vorbei einen Blick hinauszuwerfen und zu sehen, wovon Evelyn sprach.
Das Blut stockte in Rozerins Adern, als er begriff, worauf sie zeigte. An diesen Gebäuden waren riesige Stofftücher herabgelassen. Sie waren nicht von Asche bedeckt, deshalb konnten sie nicht allzu alt sein. Jeder dieser Banner war beschriftet, mit großen, roten Buchstaben, sodass sie die Botschaften trotz der Geschwindigkeit des Shuttles und ihrem langsamen Lesetempo entziffern konnten:
„ÜBERWACHUNGSSTAAT 42-6.6“, „DER 3. WELTKRIEG WAR ARRANGIERT!“, „TRAUT DER KI NICHT! SIE SPIELT MIT EUCH!“, „6.6 – DIE ZAHL DES TEUFELS“, „WACHT AUS EURER SCHEINWELT AUF!“, „42-6.6 HAT 15 MILLIARDEN MENSCHEN GETÖTET!“, „IHR LEBT IN EINER LÜGE!“
Was hatte das zu bedeuten? War die Welt außerhalb des Topien-Systems nicht unbewohnbar? Wer hatte diese Banner dort aufgehängt? Und warum warnten sie alle vor der KI? Weshalb sollte 42-6.6 für den Krieg verantwortlich sein?
Alle Insassen schwiegen. Die einzigen Geräusche waren das leise Summen des Shuttles und das schwere, rasselnde Atmen des fetten Mannes. Der Wagon entfernte sich von der Geisterstadt, nun befand er sich über einem jungen Wald. Rozerin zwang sich, ruhig zu bleiben und klar zu denken.
Konnten die Banner die Wahrheit sagen? War es möglich, dass sie tatsächlich, nicht anders als die Menschen in Topie 5, in einer Scheinwelt lebten? Er wollte es nicht glauben, auf keinen Fall, denn das wäre zu schrecklich. Die KI hatte sie gerettet, welchen Grund sollte sie dazu haben, wenn sie für den Krieg verantwortlich war? Was hatte das alles zu bedeuten?
Evelyns Gesicht gegenüber von ihm war aschfahl. Zitternd griff Naira nach seiner Hand. Rozerin wusste nicht, was er machen sollte.
Ein Mann hinter Evelyn, der die Banner auch gesehen hatte, räusperte sich und begann mit bebender Stimme zu sprechen: „42-6.6? Mein Name ist Uriel, ich stamme aus Topie 6, und ich frage dich: Hast du den dritten Weltkrieg zu verantworten?“
Rozerin verdammte diesen Mann für sein törichtes Handeln. Falls es stimmte, würden sie alle die Folgen zu spüren bekommen.
„Was redest du da?“, fragte der fette Mann verwirrt. Er saß auf der anderen Seite des Shuttles und hatte die Banner wohl nicht bemerkt. Niemand antwortete ihm.
„Ich kann nicht zulassen, dass sich das verbreitet“, tönte es schließlich aus den Lautsprechern.
Dann öffneten sich die vorderen und hinteren Türen des Shuttles und mit einem Mal entstand ein gewaltiger Luftzug. Die anderen Menschen begannen zu schreien und versuchten sich festzuhalten, doch der Sog war zu stark. Nach und nach wurden sie fortgerissen und aus dem Wagon geschleudert.
Naira machte sich klein und presste sich in ihren Sitz, Evelyn krallte sich an einen Haltegriff und Rozerin drückte seinen Rücken an die Glaswand. Sie waren die einzigen, die noch Ruhe bewahrten.
Evelyn sah, dass der fette Mann verzweifelt versuchte, sich mit seinen fleischigen Händen an irgendetwas zu klammern, doch er griff ins Leere, denn er war zu unbeweglich, um überhaupt etwas zu fassen zu bekommen. Plötzlich wurde er mitsamt seinem Sitz hinausgerissen. Sein panischer Schrei wurde vom Wind verschluckt, doch das Bild von seinem aufgedunsenen, von Schreck und Angst entstellten Gesicht brannte sich in Evelyns Kopf.
Uriel, der die KI provoziert hatte, flog knapp an Naira vorbei und schlug mit dem Kopf gegen den Rahmen des Einstiegs. Dieses abscheuliche Geräusch war unüberhörbar. Einige Blutspritzer blieben an der Kante zurück. Nun waren nur noch sie drei übrig.
Naira versuchte Rozerin irgendetwas zuzurufen, doch er konnte sie nicht verstehen. Dann drang ein kurzer, heller Schrei von Evelyn durch das Brausen des Windes. Der Griff, an den sie sich geklammert hatte, war abgebrochen und sie fand nichts anderes mehr, das ihr Halt geben konnte. Sie stürzte auf Naira, die sich noch immer in ihren Sitz kauerte. Die Verankerung von Nairas Sitz brach, doch Rozerin reagierte zu spät und es gelang ihm nicht mehr, ihre Hand zu greifen. Beide Mädchen schrien, dann waren sie weg.
Der heiße, stinkende Wind und seine Wut trieben ihm Tränen in die Augen. Er wusste, dass er nicht die Kraft hatte, die verbliebenen zehn Minuten durchzuhalten und selbst wenn er es aus dem Shuttle schaffte: Die KI kontrollierte unglaublich vieles, vor allem in Topie 1, und sie würde sicher nicht zulassen, dass er mit der Erkenntnis, dass sie der ganzen Menschheit etwas vorspielte, weiterlebte.
Rozerin drehte seinen Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Was würde passieren, wenn er dort draußen in den Wald stürzte? Würden die Äste ihn auffangen oder aufspießen? War es überhaupt sinnvoll, überleben zu wollen? Hatten Naira und Evelyn eine Chance?
Aufgeben war eigentlich nicht seine Art, doch in diesem Moment war Rozerin unmittelbar davor, sich einfach dem unvermeidlichen zu fügen und loszulassen. Doch dann sah er draußen ein Glitzern; der Shuttle würde gleich über einen See fahren. Vielleicht war es doch noch zu früh, um zu kapitulieren.
War der See tief genug? Wann musste er loslassen, um ihn nicht zu verfehlen, bevor oder während der Shuttle sich darüber befand?
Rozerin kletterte vorsichtig zum Einstieg. Wenn er herausgeschleudert wurde, wollte er nicht wie Uriel enden. Er schloss die Augen und stellte sich vor, in Topie 4 auf der Felsklippe an Nairas Lieblingssee zu stehen. Rozerin hatte keine Ahnung, wo sich der See unter ihm befand, doch das schien ihm nicht mehr wichtig zu sein. Er zählte bis drei. Dann sprang er.
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2013
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