Das Klackern von Sandalen hallten laut über den antiken Marmorboden. Eine dicke, weiße Nebelschwade bedeckte den Boden und dämpfte die zügigen Schritte. Die Gestalt einer blassen Frau bewegte sich durch die dichten Schwaden. Das weiße, bodenlange Chiffon-Kleid umschmeichelte ihren schlanken Körper und ein Cape aus Tüll und Spitze folgte ihr flatternd. Einen Fuß vor den anderen setzend ging sie durch die alten Flure.
Geschlossene Türen und abzweigende Durchgänge flogen an ihr vorbei, immer mehr, es schien unendlich, wie in einem Labyrinth, so weiter zu gehen. Doch sie kannte den Weg, sie hatte ihn schon abertausende Male beschritten, doch noch niemals aus diesem Grund. Mal bog sie rechts, mal wieder links ab, oder folgte den Fluren an ihr Ende, bis sie schließlich zu einem weiten Bogengang gelangte, an dessen Ende eine riesige, geschlossenen Tür thronte. Sonnen-Malereien umrahmten den weißen Durchgang. Sie atmete tief durch um sich sich auf die bevorstehende Konfrontation vorzubreiten. Mit einen Schnipsen ihrer Finger öffnete sich die Doppeltür und offenbarte einen weiten, runden Raum. Hohe Marmorsäulen stützen das gläserne Runddach, während weitere Malereien in diversen Blau- und Rottönen die Wände des Zimmers verzierten. In der Mitte standen ein steinerner Rundtisch, bedeckt mit allem möglichen Obst, Früchten und Leckereien aus weit und fern. Bequeme Sessel umringt ihn und luden zu anregenden Gesprächen und Diskussion ein. Verschiedene Vasen standen im Raum herum. Doch ihre Augen suchten etwas anderes.
Als sich die reichgeschmückte Frau mit ernster Miene im Raum umsah, schraken die anwesenden Sklaven zusammen und eilten mit geneigten Köpfen rückwärts aus dem Zimmer. Ihr Blick sagte bereits alles: Die halbfertig geschmückten Vasen mussten warten.
Auf einer Erhöhung im hinteren Teil des Raumes befanden sich eine Chaiselongue, sowie ein Sekretär mit passendem Stuhl. Dort erblickt sie einen jungen Mann. Er war sonnengebräunt und trug einen rot gefärbten Chiton. Seine goldene Accessoires blitzen im hellen Sonnenlicht auf, während er vertieft Papiere studierte
Ihr Eintreffen ließ ihn von seinen Schriftrollen aufblicken und er sah den Neuankömmling an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er erkannte, wer seine Räume ersucht hatte. „Selene!“, begrüßte er sie erfreut, sprang von seinem Stuhl auf und eilte zu ihr. Er setzte sich an den Rundtisch und deutete ihr auf den gegenüberliegenden Sitz. „Was führt dich zu mir, meine geliebte Schwester?“, fragte er.
Doch Selene verschränkte ihre Arme vor der Brust und antwortete stattdessen: „Nein, danke, Helios. Ich bleibe nicht lange.“
Verwirrt runzelte er die Stirn, nickte dennoch mit festen Miene. „Nun, wie kann ich dir helfen?“
Sie schloss die Augen und atmete einige Mal tief durch. Als sie sie wieder öffnete, hielt sie ihr Kinn streng hoch. Die Mondsteine in ihrer silbernen, verzweigten Krone glitzerten im Sonnenlicht, als sie ihn mit einem Todesblick durchbohrte. „Helios. Ich bitte dich!“, fuhr sie ihn an, „Wie kannst du dies nur für Gut heißen?“ Helios horchte auf, und wusste bereits über was sie sprach. „All diese Qualen, all den Schmerzen den wir ertragen mussten, noch immer ertragen müssen. Gewalt, die sich durch Übergriffe und Morde äußert. Erniedrigung, die mit Beleidigungen und dem Verlust unserer Stati einhergehen. Durch seine Knechtschaft unterdrückt, sind wir nur noch kleine, schwache Schatten unserer einst so hellen, strahlenden Selbst!“
„Selene. Du hast doch keine Ahnung über was du redest! Er war es, der unsere Eltern besiegte, der Kronos in den Tartaros getrieben hat. Uns verschonte er, und stellte uns in die Dienste seiner eigenen Kinder.“, sagte er und deutete mit einer ausschweifenden Bewegung in den Raum, „Er gab uns dieses Leben. Was blieb uns da noch anderes übrig, als sich ihm zu fügen?“ Seine goldenen Locken umschmeichelten sein makelloses Gesicht, während er schwach seinen Kopf schüttelte.
„Wir hätten in den Schoß Gaias fliehen können! Wäre ich damals nur nicht so blind gewesen! Stattdessen haben wir sie verraten, als sie sich ihm entgegengesetzte.“ Ein Wimmern erklang aus Selenes Kehle. Doch sie fasste sich wieder schnell und bedrohlicher Unterton schwang plötzlich in ihrer Stimme. „Ich habe bereits von seinen neuesten Plänen erfahren. Mein Informant berichtet mir fast täglich und ich bin schockiert, dass du das Vorhaben des Göttervaters unterstützt.“
„Dein Informant?“, antwortete Helios spöttisch, „Du meinst wohl Eos. Sein froh, dass sie so hoch in seinen Gunsten steht. Informant! Das ich nicht lache.“
„Glaubst du wirklich, dass sie meine einzige Verbündete ist? Viele unserer Art sind erschöpft. Wir befinden uns in mitten eines sehr dunklen Zeitalters, aus dem uns der große Zeus niemals herausführen wird. Oder willst du darauf warten bis dein Herr Apollon sich seiner annimmt? So wie Zeus einst selbst seinen Vater stürzte, oder Kronos den seinen.“, entgegnete sie.
Ein harter Ausdruck trat in sein Gesicht und er sah weg. Eine schwere Stille legte sich um die zwei Götter.
„Du weißt, dies wird nicht geschehen.“, schlussfolgerte Selene, „Ich weiß, dass er es einst versuchte. Und Zeus tat, was er am besten kann. Er mordete, stieß einen Blitz durch das Herz seines Sohnes Asklepios. Nicht nur als Strafe für Apollon, sondern auch um die Menschheit zu verdammen.“
Sein Blick kehrte zu ihr zurück, entnervt atmete er aus. Dennoch antwortete er ihr: „Was schert dich die Menschheit? Seit wann bist du so weich? Ist es wegen deines menschlichen Geliebten?“ Er ging aus sie zu und griff nach ihren Händen. „Ich will doch nur das möglichst Beste aus dieser Situation herausholen. Nicht nur für mich, sondern auch für euch beide. Wir sind immer noch eine Familie.“
„Du hast doch keine Ahnung!“, schrie Selene ihn an und entriss sich seinem Griff. Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange, doch sie sprach mit fester, eiskalter Stimme weiter. „Würdest du das Beste wollen, wären wir nicht in dieser Situation. Du versuchst das möglichst Beste für DICH aus der ganzen Sache zu ziehen. Du sprichst von Familie, und doch sind wir dir völlig egal. Sieh nur was mit meiner geliebten Pandia geschehen ist.“
„Selene. Siehst du es nicht? Was mit Pandia geschehen ist, war deine eigene Schuld, so wie auch Apollons damals.“ Ein harter Schlag traf ihn im Gesicht. Tränen schossen in seinen Augen und die getroffene Stelle begann zu pulsieren.
„Wie es aussieht, ist unser Gespräch hiermit beendet.“ Sie warf ihr langes, silber-weißes Haar über die Schulter und warf ihm einen letzten hasserfüllten Blick zu. Sie begann davon zu rauschen, zurück in den nebeligen Bogengang.
„Selene!“, rief er ihr hinterher, doch sie reagierte nicht. Schneller werdende Schritte ertönten hinter ihr und plötzlich packte sie Helios grob am Arm und hielt sie auf. Ruckartig drehte sie ihren Kopf und sah ihn mit zu Schlitzen geformten Augen angewidert an.
„Was willst du noch von mit?“, fuhr Selene ihn an und entriss sich seinem festen Griff. Ein weißer Handabdruck blieb an ihrem dünnen, hellen Oberarm zurück.
„Wo willst du hin?“, entgegnete er und runzelte irritiert die Stirn.
„Dorthin, wo ich schon vor Jahrtausenden hätte hingehen sollen.“, antwortete sie und sah ihn kampfbereit an.
„Zur Erde?!“, stieß er aus, wütend weiteten sich seine Nasenlöcher und ein goldener Schein begann sich aus seinem Inneren auszubreiten. „Nun denn. Du willst es wohl so. Hiermit befehle ich, Helios, der Sonnengott, Sohn der Titanen Hyperion und Theia, dein einziger Bruder, dass du zum Olymp zurückkehrst, dich wieder in die Dienste der Göttin Artemis stellst und Eos deine Spionage Aufgabe entziehst. Du wirst dich meinem Willen beugen und meinem Beispiel folgen!“
Doch Selene war darauf vorbereitet und ein silberner Schein verhüllte bereits ihre schmale Gestalt. Ein silbernes Zepter, ebenfalls verziert mit Mondsteinen und einer Mondsichel auf der Spitze, hatte sich in ihrer Hand materialisiert. „Du wagst es. Mir. Deiner älteren Schwester. Befehle zu erteilen?“ Mit jeder Silbe wurde ihr Standpunkt klarer, ihre Worte lauter, bis die Luft zu vibrieren begann. Das saphirblaue Symbol auf ihrer Stirn begann zu glühen. Sie lachte auf, nicht hysterisch und irre, sondern ein wunderschönes Windspiel-artiges Lachen. „Nun denn, so sei es. Da wir zwei eins sind, gibt es keine andere Möglichkeit. Stell dich mir entgegen. Auf der Erde. Du wirst wissen, wann die Zeit dafür gekommen ist. Wir werden Kämpfen, bis aufs Blut und der Sieger wird uns unsere Zukunft weisen... Also... Wähle weise, mein BRUDER!“
Die Mondgöttin begann sich aufzulösen, bis sie zu feinem, silbernen Staub zerfiel und wurde vom Wind davongetragen wurde. Der Sonnengott blieb alleine im Nebel zurück, während sich ihre überirdische Erscheinung mitsamt ihre Stimme, ihren Worten und Warnung in seinem Kopf einbrannten.
Feuerrote Strähnen klebten in ihrem Gesicht. Schweißnass und erschöpft sank sie in sich zusammen, und atmete immer noch schwer. Sie schloss müde ihre Augen, doch nur wenige Sekunden später erklang der Schrei eines Neugeborenen. Sie lächelte sanft und schlug ihre Augen wieder auf. Schwach streckte sie die Hände nach ihrer Tochter aus.
„Das hast du gut gemacht, meine Liebe.“, flüsterte eine Frau und legte ihr ein Bündel in die Arme. Sofort kehrte die Kraft in ihre Arme zurück und sie drückte das Kind an ihre Brust. Sie atmete den reinen Duft ein und strich dem Mädchen über das weiche, silberne Haar.
„Es ist unglaublich...“, hauchte sie und betrachtete das lange Haar zwischen ihren dünnen Fingern.
„Und noch unglaublicher wird ihr Schicksal, ihre Zukunft. Doch das alles liegt in weiter Ferne.“, entgegnete die ältere Frau.
„Gibt es denn keine Möglichkeit es aufzuhalten?“, fragte die junge Mutter ängstlich.
„Ich bezweifle es stark. Sie wurden von den Göttern auserwählt.“, murmelte sie traurig und gab dem Baby einen Kuss auf die helle Stirn.
„Und wenn wir fliehen würden?“, murmelte sie.
Die ältere Frau schüttelte ihren lockigen Kopf und setzte ein schwaches Lächeln auf. „Sie sind immer da, und werden über sie wachen... Und früher oder später wird sie die Prophezeiung erfüllen oder aber sterben müssen.“
Draußen schneite es kräftig und der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Blockhauses. In der tiefen, dunklen Nacht brach der helle Vollmond zwischen den dicken Wolken hindurch um kräftig zu strahlen. Er warf ein kühles und intensives Licht durch das Fenster und als er auf das Haar des kleinen Mädchens traf, begann der Lichtkegel zu glitzern und vibrieren. Ihr Haar wurde noch heller und begann zu leuchten, als wurde sie von der Mondgöttin selbst gesegnet. Der Umriss einer hauchzarten, silbernen Mondsichel erschien auf ihrer Stirn. Nur wenige Sekunden später war der Mond bereits wieder hinter den Wolken verschwunden, doch das Symbol blieb wie eine feine Narbe zurück.
Nichts von alledem bemerkte das Kind, denn es schlief bereits auf der warmen Brust seiner Mutter, der einige schmerzende Tränen über die Wange liefen. Stille umhüllte die kleine Gruppe, bis sie sich wieder faste und anschließend räusperte.
„Mutter... kann ich dich um etwas bitten?“, fragte die junge Frau, während sie das Bündel wiegte.
Neugier blitze in den grünen Augen der Älteren auf. „Du willst es nicht akzeptieren, nicht wahr? Was planst du?“, erwiderte sie nüchtern.
Sie nickte schwach und flüsterte: „Erinnerst du dich noch an das Invisibilia-Elixier?“
Wieder blitze es in ihren Augen, als sie dem Gedankengang ihrer Tochter folgte.
„Das könnte klappen. Es würde ihre Wandlung unterdrücken und somit ihre Aura und Ausstrahlung ändern.“ Stille trat ein. „Aber auch ihre Kräfte versiegeln. Auch weiß ich nicht, was eine dauerhafte, langjährige Anwendung bewirken wird.“, fügte sie hinzu.
Die junge Mutter seufzte und atmete schwer. Traurigkeit schlug heftige Wellen gegen ihr Herz und ihren Verstand. „Du hast ja recht mit deinen Bedenken. Aber... Ich will sie nicht einfach sterben lassen. Sieh sie dir doch an. So klein, so schön... und so kostbar.“ Wieder rollten einige Tränen aus ihren Augen, die selben, die auch ihre Mutter besaß.
Die Großmutter sah sie traurig und verständnisvoll an, verschränkte aber ihre Arme vor der Brust. „Ich kann dich verstehen, meine Liebe. Doch wer sagt, dass sie sterben muss? Schau sie dir an. Siehst du es? Spürst du es? Ihre Aura pulsiert. Auch wenn sie nicht so aussieht, schlummern bereits jetzt mächtige Kräfte in ihr. Kräfte, die deine eigenen übersteigen. Selbst meine eigenen wird sie sicher schon in jungem Alter meistern und übertrumpfen.“
„Ja, ich nehme es war. Und genau das ängstigt mich so. Was ist, wenn sie es nicht kontrollieren kann, wenn die Bürde zu groß ist und alles wie ein Kartenhaus über ihr zusammenbricht. Dass sie bricht. Ich kann es einfach nicht übers Herz bringen.“ Immer mehr Tränen fielen, bis sie stumm schluchzte.
Sie konnte es nicht weiter mitansehen. Mit geschlossenen Augen atmete sie durch. Tränen keimten auch in ihr auf. Sie kannte den Schmerzen des Verlustes nur zu gut. Auch wenn es bereits über fünfzehn Jahre her war, dass ihre große Liebe starb, dachte sie jeden Tag an ihn, und hatte mehr als nur die ein oder andere Träne vergossen.
Er strich ihr die feuerrote Locke aus dem Gesicht. „Weine nicht, mein Schatz. Das verunstaltet nur dein schönes Gesicht.“, murmelte er liebevoll.
„Aber... du wirst Sterben!“, antwortete seine Frau. Feuchte, grüne Augen funkelten ihn an.
„Aber nicht umsonst!“ Fest griff er nach ihren Händen „Du musst stark sein. Und bleiben. Für sie, unsere Tochter. Versprich es mir. Versprich mir, dass du nicht mehr weinen wirst.“
„Nur noch dieses eine letzte Mal.“, sagte sie und sah ihn an. Stille Tränen entwischten ihren Augen, liefen über ihre Wangen und fielen an ihrem Kinn hinunter. Er nickte verstehend und sie warf sich in seine Arme, schrie laut auf und schluchzte an seinem Hals. Immer mehr, bis die Quelle versiegte.
Als sie sich an ihr Versprechen erinnerte, konnte sie die Tränen unterdrücken. Sie schüttelte alle Bedenken ab. Sie wollte helfen, und war bereits auf dem Weg ins Wohnzimmer, um ein uraltes, ledergebundenes Buch aus dem Regal zu hieven.
Ich werde sie ihrem Schicksal nicht unvorbereitet entgegentreten lassen, egal was ihre Mutter für das Richtige hält. War ihr letzter Gedanke.
15 Jahre später
„Keine Angst, wir bleiben in Kontakt...“, murmelte die Frau ins braune Haar ihrer Tochter.
„Und rufen dich regelmäßig an.“, fügte eine männliche Stimme hinzu. Kräftige Arme zogen die kleine Familie in eine letzte Umarmung, bevor sie sich widerwillig von einander lösten.
„Wir melden uns, sobald wir in London gelandet sind. Du bist zu dem Zeitpunkt sicherlich schon bei deiner Grandma in Founds.“, vermutete ihre Mutter.
Das Mädchen sah hoch in die Augen ihrer Eltern. Die einen moosgrün, die anderen haselnussbraun, so wie ihre eigenen.
„Mom... Dad... Auch wenn ich euch sehr vermissen werde, bin ich stolz. Stolz auf die Arbeit, die ihr leistet... und freue mich über die Chance, die ihr bekommen habt.“, sprach sie ihre Gedanken aus.
Elizabeth wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und lächelte sie an. „Luna... du bist so erwachsen, auch wenn du gerade mal 14 Jahre alt bist. Doch vergiss nicht. Lebe dein Leben und nimm nicht immer Rücksicht auf all die Anderen. Sei auch mal egoistisch, und verstecke nicht dein inneres Selbst.“ Sie streichelte ein letztes Mal liebevoll ihre Wange, als die Boarding-Durchsage für ihren Flug durch die Halle schallte.
„Gib acht auf dich, Luna, und lass dich von niemandem unterkriegen!“, rief John seiner Tochter ins Gedächtnis, bevor er und seine Frau in der Menschenmasse verschwanden.
„Ich habe euch lieb.“, sagte Luna, mehr zu sich selbst. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Eine Art Mantra, das sie oft benutzte, wenn ihr ihre Umgebung zu viel wurde und sie einen Moment der Stille brauchte. Ihre Mutter hatte es ihr vor langer Zeit beigebracht. Die Geräuschkulisse wurde mit jedem Atemzug leiser, das rege Treiben wurde erträglichen. Als sie die Lider wieder öffnete, hatte sie das Gefühl, dass sie sich in einer Blase befand, ruhig und geschützt vor den fremden Menschen. Sie lächelte instinktiv. Noch hatte sie etwas Zeit, bis sie sich zu ihrem Boarding begeben musste und diese, um ein bisschen in den Flughafen-Shops zu stöbern.
Ich sollte meine Chance nutzen. In etwa 12 Stunden werde ich an einem der entlegensten Ort sein, die es gibt., dachte Luna.
Sie betrat einen Buchladen und zog den vertrauten Geruch von Druckerfarbe und Papier ein. Wärme breitete sich in ihrer Brust aus und sie fühlt sich mit einem mal wohl in ihrer Haut. Sanft strich sie über die verschiedenen Buchdeckel. Manche glatt und glänzend, andere wiederum rau und matt. Verschiedene Farben stachen ihr ins Auge. Sie hob einige auf, las sich die Kurzbeschreibung durch und ging zum nächsten, bis sie gefunden hat, wonach sie suchte. Ein klassischer Fantasie-Roman. Das Abtauchen in neue, meist alte Welten mit Magie und Zauber, Schwertern und Bögen, Sagen und Mythen, sowie verschiedensten Fabelwesen, übernatürlichen Gestalten und mystisch-magischen Kreaturen.
Wann immer sie die Zeit hatte, tauchte sie in diese Welten ab, vergaß ihre Umgebung, vergaß die Menschen um sie herum. Manchmal vergaß sie auch das Essen und das Schlafen, doch das kümmerte sie kaum, denn sie brauchte kaum Schlaf. Schon als Baby hatte sie nur vier bis sechs Stunden täglich geschlafen, an Vollmondnächten sogar gar nicht.
Luna war eine Einzelgängerin, sie hatte kaum Freunde, war eine Außenseiterin, doch auch das störte sie nie. Sie genoss es nicht im Mittelpunkt zu stehen, sondern Beobachterin von der Seite zu sein. So sah sie mehr vom großen Ganzen.
Mit dem bezahlten Buch unterm Arm verließ sie die Handlung und ging in den Wartebereich ihres Fluges. Sie suchte sich einen Platz am Fenster und setzte ihren dunkelgrünen Rucksack auf dem Platz neben ihr ab. Bis zum Boarding hatte sie noch 26 Minuten.
Genug Zeit, um das Buch zu beginnen. Luna machte es sich auf dem gepolsterten Stuhl bequem und schlug das Werk auf.
Ein grobes Stupsen gegen ihren schmalen Oberarm ließ ihre Blase der Ruhe schon einen kurzen Augenblick später platzen. Lautes Stimmengewirr dröhnte auf ihre Ohren. Sie sah auf und blickte in das Gesicht einer freundlich wirkenden Stewardess.
„Ja, bitte?“, fragte Luna. Bestimmt hatte die Frau sie schon angesprochen, doch sie hatte nicht reagiert.
„Ich hatte gefragt, ob du alleine hier bist.“, entgegnete sie und lächelte.
„Ja.“, antwortete sie einfach und sah sich um. Menschen drängten sich bereits beim Einstieg, was Luna zu einem frustrierten Stöhnen brachte.
„Wo sind deine Eltern, Kleine?“, harkte die Flugbegleiterin nach.
Nun schnaubte sie und begann das Buch in den Rucksack zu verstauen.
Kleine? Weil ich 1,55m groß und schlank bin, denkt sie gleich, dass ich nur ein Kind bin?
Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Entschuldigen Sie, Lady, aber ich muss jetzt zu meinem Flug.“, sagte sie entscheidend und schulterte ihre Tasche. Sie quetsche sich an der Stewardess vorbei und ging eilig zur Schlange. Dummerweise war auch die Frau ein Teil von Lunas Flugteam.
Sie starrte Luna mit zusammengekniffenen, rubinrot glitzernden Augen hinterher, bevor sie ihr langes, goldblondes Haar über die Schulter warf und an ihr und ihrer Kollegin vorbei ins Flugzeug rauschte.
Seltsame Augenfarbe., schoss es ihr durch den Kopf und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Innersten aus.
„Ich muss es nur einige Stunden ertragen. Nur fünfeinhalb Stunden.“, murmelte sie vor sich her. Doch niemand achtete auf sie.
Noch bevor sie ihn sah, hörte sie einen Mann im Anzug wütend in seine Telefon kreischen. Themen wie 'Immobilien', 'Aktien' und 'Geld' hörte sie heraus. Aufgedrehte Kinder liefen umher, lachten und schrien, während verzweifelte Eltern versuchten sie zur Ruhe zu bringen. Andere wiederum sahen sich ängstlich nach ihren Koffern um, bis ihnen schließlich wieder einfiel, dass sie sie bereits aufgegeben hatten. Hinter Luna standen auch schon weitere Personen, kleine Familien und Pärchen, aber auch Geschäftsmänner und Einzelreisende, so wie sie. Ein Mann rückte ihr unangenehm dicht auf, als er geistesabwesend auf seinem Handy herum wischte. Winzige, grobe Finger zogen plötzlich fordernd an ihrem Rock und ließen sie hinunter blicken.
„Mama...“, wieder zog das kleine Mädchen kräftige mit der einen Hand, während sie in die entgegengesetzte Richtung sah und mit dem Zeigefinger der anderen Hand deutete, „Sieh doch...“
Luna musste schmunzeln und hockte sich auf Augenhöhe des Kindes. „Entschuldige, Kleine, aber ich bin nicht deine Mama.“
Als sie die fremde Stimme hörte, drehte des Mädchen ihren Kopf ruckartig und starrte Luna mit großen blauen Augen und offenen Mund an. „Nein... du bist nicht meine Mama... Aber hübsch bist du. Kannst du auch singen? So wie sie?“, fragte sie hemmungslos und legte abwartend den Kopf schief.
Sie lächelte. „Ich kann es versuchen.“, antwortete sie und begann die Melodie eines alten Kinderliedes zu singen, dass ihr einst ihre eigene Mutter vorsang.
„Schöööön“, stieß sie hervor, „Kannst du es mir bei bringen?“
Lauter werdende Rufe einer Frau drangen an Lunas Ohr und sie wusste, dass der Zeitpunkt des Abschiedes kam. „Ich fürchte nicht. Schau, da kommt deine Mama. Sie sucht sicher schon nach dir.“ Sie griff das Mädchen bei der Hand und folgte dem Klang der näher kommenden, melodischen Stimme.
„Serenity? Serenity! Oh den Göttern sei Dank! Du hast sie gefunden.“, rief die Mutter und streckte die Hände nach ihrer Tochter aus. Ihre Blicke trafen sich. Die Frau hielt inne und starrte Luna mit den selben saphirblauen Augen an, die auch Serenity besaß. „Pandia...“, hauchte sie sanft. Eine ungewohnte Wärme breitete sich in Luna aus, als plötzlich ihr Blick aufklarte und sie blinzelte. „Entschuldige! Ähm ich...ich...“, sie atmete tief durch, „Danke, dass du Serenity gefunden hast.“ Sie zog das Mädchen an sich und hob es hoch.
„Keine Ursache, aber ehrlich gesagt, hat sie eher mich gefunden, als umgekehrt.“ Luna lächelte die schöne Unbekannte schüchtern an. Sie wirkte majestätisch mit ihrem hellen Haar, das sich wie flüssiges Silber bis knapp unter ihre Schultern reichte. Es ließ sie nicht alt aussehen, im Gegenteil, es verlieh ihr einen jugendlichen Glanz.
„Sie ist hübsch oder, Mama? Genau wie du. Und singen kann sie auch noch! Wie ein kleiner Vogel!“, sagte das Kind und legte ihre kleinen Finger an die Wange der Mutter.
Mit einem schiefen Lächeln musterte sie Luna und stimmte schließlich der Kleinen zu. Geschmeichelt färbten sich ihre Wangen rosa und ihr wurde warm ums Herz. „D-Danke.“, stammelte Luna. Auf einmal begann das Mädchen im Armen ihrer Mutter aufgeregt zu zappeln und deutete wieder in die Ferne, auf das Etwas, dem ihr Interesse bereits vorher gewidmet war. „Mama, Mama! Guck. Da ist Papa!“ Auch Luna folgte Serenitys Blick und sah einen schwarzhaarigen Mann, der mit einer riesigen, schwarzen Handtasche und einem eisblauen Kinderrucksack beladen, auf seine Familie wartete.
„Danke nochmal, Luna!“, wiederholte die Frau, bevor sie mit Kind im Schlepptau zu ihrem Mann eilte. Die Geräuschkulisse kam mit einem mal wieder zurück, wurden immer lauter, erdrückender. Sie wand ihren Blick mit einem leichten Stechen im Herzen von der kleinen Familie ab. Viel zu sehr erinnerte es sie schmerzhaft an sich selbst. Sie verdrängte die traurigen Gedanken und sah nach vorne.
Vor ihr lagen nur noch wenige Schritte, die sie von ihrem neuen Leben trennte. Drei Personen, zwei, eine. Endlich war sie dran. Die Frau am Schalter lächelte ihr aufmunternd zu und streckte ihre Hand nach Passport und Ticket aus. „Luna Salem?“, fragte sie. Luna nickte. Zügig wurden ihre Papiere überprüft und sie wurde anschließend weiter ins Flugzeug gewunken. Aufmerksam suchte sie ihren Sitzplatz und war froh, als sie erkannte, dass sie einen Fensterplatz bekommen hatte. Eilig holte sie ihr neues Buch hervor und verstaute ihren Rucksack in der Ablage über ihrer Sitzreihe.
Von einer Stewardess ließ sie sich eine Decke geben, und kuschelte sich ein, bevor sie ihr Mantra durchführte und wieder in die Geschichte eintauchte.
Kalter Wind peitschte Luna ins Gesicht und wirbelte ihre Haare auf, als sie den warmen Flughafen verließ. Der plötzliche Temperaturumschwung ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
„Willst du dir etwa den Tod holen?“, fragte sie eine altvertraute Stimme und sie erwachte aus der Kältestarre.
„Grandma Rebecca!“, rief sie aus und hechtete durch den knöchelhohen Neuschnee mitsamt schwarzen Riesenkoffer in den Händen und Rucksack auf dem Rücken zum Pick-Up ihrer Großmutter.
Grandma Nurse schloss ihre Enkelin fest in die Arme. „Wo ist deine Jacke?“, fragte sie, als sie von ihr abgelassen hatte.
Luna deutete zitternd auf ihren Koffer und antwortete: „Noch da drinnen. Ich hatte ganz verdrängte, dass hier nicht mindestens 15 Grad Celsius tagsüber sind.“
„Eher 15 Grad minus und niedriger. Wenigstens hast du eine dünne Jacke an. Und jetzt aber schnell ins Auto.“, entgegnete sie lachend.
Gemeinsam wuchteten sie den schweren Koffer ins Auto und stiegen einschließend ein.
Konzentriert parkte die junge Großmutter ihr gigantisches Gefährt aus, verließ das Flughafengelände und schlug auf schnellsten Wege den Heimweg ein. Luna hingegen wand sich der Standheizung zu, drehte sie auf und verstellte die Lüfter um möglichst viel warme Luft abzubekommen
„Brauchst du noch etwas, bevor wir die Stadt verlassen?“, erkundigte sie sich.
„Mum meinte, dass du schon Schreibwaren besorgt hast. Ansonsten brauche ich nichts, danke, Granny.“ Sie wand sich von ihr ab und sah aus dem Fenster, während sie langsam die Stadt verließen. Die Lichter wurden vereinzelter, immer weniger, bis sie das letzte Haus von Fairbanks passiert hatten. Dunkelblau und weiß dominierten die vorbeirauschende Landschaft. Am Himmel bewegten sich dichte Wolkenschwaden, die zwischendurch Sterne und eine Mondsichel offenbarten, während die Tannen und Fichten des verwachsenen und gedrängten Waldes von einer dicken Schneedecke bezogen waren.
Das Surren der Klimaanlage wurde allmählich leiser und das Radio verständlicher. Ein Pop-Song mit eingängiger Melodie spielte im Hintergrund.
„Wie war dein Flug?“, durchbrach Grandma nach einer Weile das anhaltende Schweigen.
„Er war ganz angenehm. Von Los Angeles aus bin ich fünfeinhalb Stunden bis nach Anchorage geflogen. Dort bin ich umgestiegen und dann nochmal eine knappe Stunde bis hierher nach Fairbanks. Wie lange brauchen wir eigentlich noch bis zu dir, Granny?“ Luna sah sie aus dem Augenwinkel an.
„Mhh... wir sind jetzt schon eine knappe halbe Stunde unterwegs, es wird also noch etwa mindestens eine weitere Stunde dauern.“ Sie starrte auf die verschneite Straße. Auch Luna sah nach vorne, konnte jedoch nicht sagen, was im Kegel der Scheinwerfer die Straße oder das Gelände war. Für sie war nur alles weiß und Schnee. „Wenigstens schneit es nicht mehr. Für den Hinweg habe ich über zwei Stunden gebraucht.“, fügte Rebecca hinzu.
Sie nickte mechanisch und begann die Melodie des nächsten Liedes mit zu summen.
Doch Rebecca ließ sich nicht beirren. Elizabeth hatte sie bereits vorgewarnt, dass Luna still war, in sich gekehrt, und kaum Freunde hatte. Sie lebte so zusagen in ihrer eigenen Welt. Einer Welt, die aus Büchern und Musik bestand. Trotz ihrer geringen Sozialkontakte besaß sie keine Sozialinkompetenz, im Gegenteil. Sie reagierte immer richtig, egal auf welche Art von Mensch sie traf. Ihr Scharm spiegelte sich in ihrem Äußeren wieder, sie konnte sich auf Anhieb in die Leute versetzen. Und dennoch mied sie möglichst jede Art von Menschenkontakt. Doch das machte sie niemals unglücklich.
Rebecca versuchte ihr Interesse anderweitig zu wecken. Während sie auf die Straße sah, fragte sie schlicht: „Irgendein Buch in letzter Zeit gelesen, dass du deiner alten Großmutter weiter empfehlen könntest?“
Hellhörig zuckte Lunas Kopf auf und ein verträumtes Funkeln trat in ihre haselnussbraunen Augen. Sie unterbrach ihr melodisches Summen und entgegnete: „Erstens: Du bist nicht alt. Ich hab noch nie in meinem Leben eine so junge Großmutter gesehen wie dich, Granny.“ Sie lachte kurz auf und schmunzelte schließlich. „Und Zweitens: Ich habe einige Bücher in petto. Hast du eine gewisse Richtung in Sicht?“
Für den Rest der Fahrt unterhielten sich die beiden Frauen angeregt über verschiedenste Werke und Autoren. Fiktive Welten und Szenarien standen dabei im Fokus, die sie zu stark schwingenden Diskussionen anstachelten und vertieften.
„Da sind wir.“ Die Großmutter parkte schräg vor einer Garage, die zu einem kleinen Blockhaus gehörte. Luna sah sich gespannt um. Das letzte Mal war sie vor knapp fünf Jahren, an ihrem zehnten Geburtstag, hier gewesen und es sah immer noch so aus wie in ihren ersten Erinnerungen an diesen Ort. Sie besuchte ihre Großmutter immer nur von Zeit zu Zeit, und war niemals länger als einige Wochen bei ihr. Doch alles schien wie in der Zeit festgefroren zu sein. Nicht die kleinste Kleinigkeit hat sich über die Jahre geändert. Das Holzhaus besaß eine kleiner Treppe, Geländer und Veranda, während rund um das Haus herum altertümliche Öllampen hingen. Luna versuchte sich daran zu erinnern sie jemals aus gesehen zu haben. Doch nein, selbst im Sommer brannten sie.
Mit Leichtigkeit sprang die Ältere aus dem Wagen und wuchtete den schweren Koffer vom Rücksitz. Luna schulterte ihren Rucksack, der vorher zwischen ihren Beinen gestanden hat. „Grandma! Das kann ich doch selbst machen!“, rief sie aus, als sie sah, wie sie den Koffer hinkend zum Haus schleppte.
„Papperlapapp! Du bist mein Gast. Übrigens: Deine anderen Sachen sind letzte Woche mit der Post angekommen. Ich habe sie in dein Zimmer gebracht und schon mal mit dem Auspacken angefangen.“, erzählte Rebecca, während sie den schweren Koffer mühelos die Treppe hoch trug und auf der Veranda abstellte. Sie öffnete die Tür und trat beiseite um Luna herein zulassen.
Warme Luft kam ihr entgegen, als sie den Flur betrat und ein alter vertrauter Geruch in ihre Nase stieg. „Du hast Kekse gebacken?“, fragte sie. Aus den verschiedenen Gerüchen erkannte sie Vanille und Schokolade, sowie den heimeligen Duft nach Lavendel und Kamille, der auch dezent an ihrer Großmutter hing.
„Geh und bring deine Sachen hoch, ich bereite das Abendessen so lange zu und rufe dich dann.“, entgegnete Rebecca, als sie ebenfalls durch die Tür eintrat.
Luna nickte ihr verstehend zu, packte ihren Koffer und wand sich nach links, um über die hölzerne Treppe in den zweiten Stock zu gelangen. Während sie Stufe um Stufe den Koffer die Treppe hoch bugsierte, sah sie sich die Wand des Treppenaufstieges an und musste lächeln. An ihr hingen diverse Fotos. Fotos von ihren Eltern an ihrem Hochzeitstag. Bilder von ihrer Mutter als Kind, aber auch Bilder ihrer Großmutter und ihres verstorbenen Großvaters. Als sie höher stieg, begegnete ihr ein Foto von sich selbst, das sie an ihrem letzten Geburtstag zeigte, gefolgt von weiteren, ebenfalls an ihrem Geburtstag, immer mit ihren Eltern um sie herum an ihrem Frühstückstisch in ihrem Haus in Los Angeles, doch jedes davon ein Jahr älter, als das vorherige, bis hin zum Tag ihrer Geburt. Sie waren im Krankenhaus und ihre Eltern sahen überglücklich und stolz in die Kamera. Lunas Gestalt war fest in eine weiße Decke gewickelt, aus dem ihr schlafendes Gesicht mit heller Haut, die fast wie Schnee wirkte, und einem Schopf von schokoladenbraunem Haar herausblickten. Ihre Mutter wiegte sie liebevoll im Arm, die roten Locken waren noch ganz zerzaust, während ihr Vater ihre Hand hielt. Sein ebenfalls braunes Haar war nach hinten gekämmt und auf seinen haselnussbraunen Augen war noch keine dicke Hornbrille. Die moosgrünen Augen ihrer Mutter leuchteten freudestrahlend.
Lächelnd erreichte sie die zweite Etage und wand sich erneut links, um ins alte Zimmer ihrer Mutter zu gelangen, welches ihr neues Zuhause werden sollte. Es hatte sich ebenfalls kaum verändert. Im Zimmer befanden sich ein Bett mit Nachttischen, ein Kleiderschrank und ein Standspiegel, sowie ein Schreibtisch und ein verspieltes Bücherregal, allesamt bestanden sie aus Birkenholz. Sie ließ sich auf das große, weiße Metallbett fallen, das gleich neben der Tür stand, und kuschelte sich in die bunten Kissen. Der Geruch ihrer Mutter haftete immer noch an ihnen und ließ sie mit jedem Atemzug mehr entspannen.
Luna wälzte sich auf die Seite und erblickte den monströsen Schrank. Mehrere Kisten mit der Aufschrift 'Klamotten' stapelten sich neben ihm und warteten darauf von ihr entpackt zu werden. Stöhnend richtete sie sich auf und zog ihre dünne Jacke aus, die sie über den Stuhl warf. Sie krempelte die Ärmel hoch und öffnete die erste Kiste, was sie gleich zum Stoppen brachte, denn sie war leer. Verwirrt sah sich nach rechts und links, konnte aber nichts entdecken. Sie stellte die Kiste beiseite und öffnete die nächste. In dieser befanden sich zwar ein paar Sachen, aber nicht im Entferntesten die Menge, die Luna eingepackt hatte. Genervt bückte sie sich und holte die restlichen Sachen aus dem Karton.
„Bestimmt haben sie sie bei der Post 'verloren'.“, murmelte sie zu niemand bestimmten und kickte die leeren Kartons zur Seite, um den Schrank zu öffnen. Doch sie hielt in ihrer Handlung inne, denn ihre 'verlorenen' Kleidungsstücke befanden sich bereits im Schrank. Leichte Röte stieg in ihre Wangen, als sie ihren Kopf beschämt schüttelte. „Grandma hatte dir doch gesagt, dass sie mit dem Auspacken schon angefangen hat.“, sagte sie.
Es dauerte nicht lange, bis sie ihr letztes Kleidungsstück eingeräumt hatte. Stolz stand sie auf und blickte sich im Raum um. Obwohl das Zimmer voller heller Möbel stand, wirkte es leer, einsam und verlassen. Kaum etwas erinnerte noch an seine Vorbewohnerin, als wäre sie nie hier gewesen. Traurigkeit breitete sich in Luna aus und ließ sie auf ihr Handy starren.
„Noch zwei Stunden...“, murmelte sie und stöhnte, „Weiter geht’s!“, versuchte sie sich zu animieren, „Nur noch drei Kisten, dann bist du offiziell eingezogen.“
Nach einer Weile begann Luna das vertraute Klirren einer kochenden Person von unten wahrzunehmen.
Perfektes Timing, Granny., lächelte Luna in sich hinein, als sie ihre Schulutensilien aus der letzten Kiste räumte, die sie auf und im Schreibtisch sorgfältig verteilte. Kurz daraufhin rief Rebecca auch schon nach ihrer Enkelin. Luna antwortete kurz und setzte sich, nach einem kurzen Blick in den Spiegel, in Bewegung. Mit sanften Fingerspitzen streifte sie ab und zu über die Fotos im Treppenbereich und ließ ihren Blick erneut über sie huschen, als sie daran hinunter ging.
Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne tränkten die vielen wertvollen Gemälde an der Ostseite des großen Konferenzraumes in tiefe rot und orange Töne, während die hohe Glasfront auf der gegenüberliegenden Seite den schneebedeckten Wald in seiner aller schönsten Form zeigte. Die unberührte Schneedecke glitzerte im Schein der Sonne an diesem ruhigen Nachmittag. Ein riesiger Beratungstisch stand in der Mitte des Raumes, dessen Hälfte der Sitze von einer Gruppe junger Menschen, drei Jungen und zwei Mädchen, besetzt war.
Ein lauter Schlag hallte durch den Raum und riss alle Beteiligten aus ihren Gedanken und in Richtung des Tischendes, an dem eine junge Frau stand, die selbstzufrieden in die Runde sah.
„Vielen Dank für euer lü-cken-lo-ses Erscheinen zu unserem Meeting.“, sagte sie zuckersüß, „Ganz anders als im letzten Monat.“ Ihr Blick wurde hasserfüllt, während er zu einem Mädchen mit olivfarbener Haut wanderte, die in einem der großen, gepolsterten Chefsessel zusammen zuckte und bestürzt rein schaute.
„Aber.. aber Helia. Du weist, warum ich es beim letzten Mal nicht geschafft hatte. Meine Eltern...“, versuchte sie sich stotternd zu rechtfertigen, während sie vor Angst zitterte.
„Schweig!“, schnitt ihr Helia mit kalter Stimme ins Wort. „Wir sind nicht hier um über dein bemitleidenswertes Leben zu sprechen, Kirabo“ Sie ließ ihre Schultern rollen und warf ihr hüftlanges, goldblondes Haar nach hinten, um wieder eine neutrale Ausstrahlung zu erlangen. „Lucas.“ Sie neigte ihren Kopf in Richtung eines schwarzhaarigen Teenagers. „Gab es irgendwelche Veränderungen bei deinen Zielpersonen?“
Der junge Mann sah sie durch intensiv an, und antwortete ihr jedoch ohne zu zögern mit fester Stimme. „Nein. Weiterhin keinerlei Veränderungen. Weder bei ihr noch bei ihm. Auch ahnen sie immer noch nichts von meinen Beobachtungen, und weihen mich auch weiterhin in alles ein.“
„Sehr gut.“, entgegnete Helia und setzte sich. „Und dennoch wird die Zeit langsam knapp. Es sind nur noch wenige Monate bis zum Blauen Mond.“ Genervt stützte sie ihren Kopf auf und begann mit den scharfen, roten Nägeln ihrer rechten Hand auf der dunklen Tischplatte zu trommeln. „Wir müssen endlich mit einer Strategie beginnen!“
Lucas schnaufte herablassend, während er sich entspannt im großen Sessel zurücklehnte. Ein dunkles, raues Lachen stieg aus seiner Kehle, dass den gesamten Raum erfüllte. Zwei Paar goldener Augen durchbohrten ihn hasserfüllt, während die übrigen ihn ungläubig anstarrten.
„Wie kannst du es wagen!“, zischte das Mädchen gegenüber von ihm. Ihre Augen formten sich zu schlitzen, was ihrem Antlitz ein schlangenhaftes Aussehen gab.
Er sah sie mit erhobenen Kopf von oben herab an und antwortete:„Wir haben noch reichlich Zeit.“ Sein Blick wanderte zu Helia. „Und das wisst ihr. Ihr beiden. Ihr wisst, dass irgendetwas fehlt. Dass irgendjemand fehlt.“
„Wie meinst du das?“, fuhr ihn die Blonde gegenüber mit erstickter Stimme an.
„Na ganz einfach.“ Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Sie wurden markiert. Und das bereits bei der Geburt. Doch noch sind sie nicht erweckt worden. Noch ist ihre Gabe inaktiv. Anders als bei uns.“ Er streckte seine geschlossene Hand nach oben gerichtete aus. Als er sie öffnete, züngelte eine kleine Flamme auf seiner Handfläche, die ihm gespenstische Schatten über das Gesicht warf und in seinen smaragdgrünen Augen schimmerte. Währenddessen erschienen Male auf seiner Haut die wie flüssige Lava leuchtend und schlangenähnliche Formen, wie flügellose Drachen, auf seinen Armen hinterließen.
„Woher willst du das bitte wissen?“, entgegnete sie schrill.
Lucas schüttelte seinen Kopf und ließ die Flamme mit einer ausschweifenden Bewegung seines Armes verschwinden. Im selben Moment verschwanden auch seine Male. „Ich wohne schließlich mit einer zusammen. Sie vertraut mir und erzählt mir alles. Doch noch nie hat sie von einer Gabe gesprochen.“ Der Junge lachte erneut auf. „Glaubst du wirklich, dass sie nur zwei kleine Schwächlinge gegen uns fünf einsetzen wird?“
Helias Mienen verfinsterten sich, während sie ihre Nägel immer tiefer in die Holzplatte bohrte, als sie den beiden anderen zu hörte. Nach einigen, ewigen Sekunden nickte sie. „Du hast recht. Die Prophezeiung spricht von dreien. Und solange die dritte Person nicht auftaucht, sind diese Treffen völlig nutzlos.“, antwortete sie ruhig, „Solange wir keine weiteren Informationen haben, wird es keine weiteren Besprechungen geben. Lucas?“ Sie sah den schwarzhaarigen Jungen scharf an. Er hielt ihrem intensiven Blick stand und starrte zurück.
„Ja?“, fragte er
„Informiere mich, sobald sich etwas bei unseren Zielpersonen tut. Ihr anderen: Schwärmt aus. Beschafft Informationen und trainiert eure Gaben. Solana?“
„Ja?“ Das Mädchen mit dem goldenem Haar sah Helia abwartend an.
„Mit dir trainiere ich persönlich. Ich werde nichts von deinem Talent verschwenden.“, sagte sie.
„Ja, Schwester.“, entgegnete Solana.
Ein Seufzen ging durch die kleine Runde, als alle ihre Befehle akzeptierten. Stühle wurden verschoben, während einige schon nach ihren Jacken griffen.
„Im übrigen. Wir werden nächste Woche eine neue Schülerin bei uns willkommen heißen.“, fügte Helia hinzu. Erstaunte Blicke sahen einander an und schon bald begann sich ein leises Murmeln durch die Gruppe zu winden. „Wie ich hörte, ist sie die Enkelin von Rebecca Nurse.“
„Rebecca Nurse? Etwa... etwa DIE Nurse?“, fragte Kirabo mit angsterfülltem Gesicht.
„Ja, genau die. Behaltet daher sie und die bekannten Mitglieder ihres Zirkels im Auge. Und zwar jeder von euch. Das wird sicher noch interessant.“ Ein fieses Grinsen breitete sich auf Helias Gesicht aus. „Und nicht zu vergessen, ihre kleine Enkelin. Sie kommt in deinen Jahrgang, Solana. Vater sagte, dass ihr Name Luna Salem sei. Vielleicht ist sie ja das letzte Puzzleteil. Oder aber eine mächtige Verbündete auf unserer Seite. Wie ich hörte, überspringt die Magie ganz gerne eine Generation, um mehr zu reifen und mehr Macht zu erlangen.“ Sie erhob sich. „Das Treffen ist beendet. Sollte einer von euch Neuigkeiten haben, erreicht ihr mich auf die übliche Art.“ Ihre Augen begannen zu glühen und das Gold in ihnen wurde rubinrot. Als sie ihre Faust hob erschien eine rotes Mal, ähnlich Lucas', auf ihrem Handrücken. Es war ein ausgefüllter, runder Kreis, umgeben von fünf tropfenförmigen Umrissen. Eine Sonne. Die anderen folgen ihrem Beispiel und erhoben ebenfalls ihre Fäuste, so dass sich nach und nach die Strahlen der Sonne ausfüllten.
Lucas entfloh als Erster dem stickigem Versammlungsraum. Die Flure flogen in einem grau, goldenem Schweif an ihm vorbei, während er sich zügig aus dem vertrauten Gebäude bewegte.
Erst als er endlich im bereits dunklen Wald war und die eiskalte Luft wie Messer in seine Lungen stach, bemerkte er, dass er gerannt und vollkommen außer Atem war.
Schweiß lief ihm kalt den Rücken runter, während er versuchte sich wieder zu fangen. Eine schöne Show hast du da drinnen abgezogen. Hoffentlich erkennt niemand deinen Bluff, vor allem Helia nicht. Schoss es ihm durch den Kopf.
Er atmete tief ein. Einmal, zweimal, und versuchte sich zu beruhigen. Doch das Rauschen in seinen Ohren hörte nicht auf und die kalte Luft schnitt ihm immer wieder schmerzhaft in die Kehle. Er versuchte sich zu konzentrieren, konzentrierte sich auf seine Kräfte bis er endlich seinen Feueratem erzeugen konnte. Kleine Rauchwolken entkamen seinem Mund und Nasenlöchern, die ihn vom Inneren in seinen Lungen bis in die Kehle wärmte, bis die Kälte in seiner Brust dahingeschmolzen war.
Ein leises Knirschen im Schnee riss ihn aus seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Immer noch pulsierte das Blut in seinen Ohren, doch er konnte zwei verschiedene Personen wahrnehmen. Schnell versteckte er sich hinter dem nächsten Tannenbaum.
„Luna Salem.“, flüsterte die eine Stimme. Kirabo. „Glaubst du, dass sie wirklich so mächtig ist, wie Helia sagt?“
„Das werden wir schon sehen.“, entgegnete die andere arrogant. Solana. „Ich werde mein Bestes geben, um sie für uns zu gewinnen. Doch ich bezweifle stark, dass sie so mächtig ist, wie es heißt. Es gibt nur noch wenige Hexen, und die meisten sind schwach. Bekommen nur Grundmagie hin, und hin und wieder ein paar Tränke.“
„Aber sie ist die Enkelin der alten Nurse. Glaubst du nicht, dass da was dran sein kann.“, erwiderte Kirabo ängstlich.
Solana schnaufte verächtlich. „Unsere Feuerkraft ist stark. Wenn sie einige Tricks auf Lager hat, macht sie das schon zu einer mächtigen. Doch das heißt noch gar nichts.“
Kirabo schwieg einen Moment. „Meinst du, dass sie zu uns passen wird? Dass sie unser Handeln für das große Ganze unterstützen wird?“, fragte sie verträumt.
Ein lautes Lachen brach durch den stillen Wald. „Hast du Helia etwa nicht zugehört? Entweder sie ist unsere Feindin, oder aber wird unsere Verbündete. Sie wird unser Handeln in dem Fall tolerieren müssen, wenn nicht, gehört sie unseren Feinden an. Auf die eine oder aber die andere Weise.“
Das raue Reiben von Handschuhen unterbrach das Gespräch der beiden. „Komm, Kira. Langsam wird es echt kalt und es ist stockdunkel.“
Wie auf Kommando ertönte das Zischen einer Flamme, welches nur wenige Sekunden später durch das laute Klatschen eines Schlags wieder verstummte.
Lucas blickte erschrocken zwischen den Zweigen seines Baumes hindurch.
„Bist du bescheuert? Was hat Helia zum Benutzen unserer Kräfte in der Öffentlichkeit gesagt?!“, fuhr Solana Kirabo an, „Willst du etwa, dass der Zirkel uns entdeckt?“
„Es... es tut mir Leid, Lana. Ich... ich hab nicht mehr daran gedacht.“, antwortete Kirabo verängstigt. Sie hielt sich ihre rechte Hand fest an die Brust gedrückt, „Ich.... ich dachte nur... dass es das ist, was du wolltest.“
„Hätte ich ein Feuer haben wollen, hätte ich es selbst beschworen! Und um ein einiges größeres als deinen mickrigen Versuch.“, entgegnete Solana, „Jetzt komm!“
Langsam wurden die knirschenden Schritte leiser. Lucas wartete noch einige Minuten, bevor er selbst seine Beine in die Hände nahm. In seinen Gedanken wiederholte sich das Gespräch zwischen den Mädchen, während er sich mit schweren Schritten und Händen in den Jackentaschen durch den hohen Schnee in Richtung seines alten Wagens bewegte, der ihn auf schnellsten Weg nach Hause bringen würde.
„Luna Salem.“, rollte ihm der Name über die Lippen, als er sich in sein Auto setzte. Sie könnte Freundin oder Feindin sein., raste es durch seine Gedanken. Er hoffte sehr, dass es nicht letzteres werden würde. Denn, im Gegensatz zu Solana, wird er sie sicher nicht unterschätzen oder als 'geringe Gefahr' betrachten.
Das Klimpern von Schlüsseln an der Haustür ließ Candra aufhorchen. Sie sah auf die Uhr, und erkannte, dass es noch zu früh für die Rückkehr ihrer Mutter war.
„Lucas?“, fragte sie, als die Tür sich öffnete. Sie lehnte sich nach hinten und warf einen Blick von der Couch in Richtung Flur. Lucas schüttelte den letzten Rest Schnee aus seinen Haaren, und klopfte seine schweren Stiefel aus, bevor er das warme Haus betrat. Kaum hatte er seine Jacke ausgezogen und aufgehangen, warf sich ihm Candra bereits stürmisch entgegen.
„Hey Kleine!“, antwortete er lächelnd und erwiderte ihre herzliche Umarmung. Doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Ist Mum schon wieder weg?“, fragte er, als er ihre fehlende Handtasche bemerkte.
„Ja... Ihre Arbeit hat anrufen, und sie gebeten ins Büro zu kommen. Sie hat nur was von irgendeinem Verkaufsabschluss gesagt und ist ziemlich schnell aufgebrochen.“, entgegnete Candra. Mit einer schnellen Drehung, die ihre feinen, blonden Lockenschopf zum Tanzen brachte, wand sie sich um und ging in Richtung Küche. „Es ist noch etwas vom Mittagessen über, soll ich es dir warm machen?“, fragte sie beiläufig, während Lucas ihr folgte.
„Gerne, ich hatte noch nichts seit heute Morgen.“, antwortete er und setzte sich an den Tisch in der Küche.
„Es schneit wieder?“, führte sie ihren Smalltalk fort. Teller klapperten und Besteck klirrte, während die Mikrowelle fröhlich vor sich her surrte. Ein nur zu bekanntes Geräusch im Haus der Familie Jones.
Candra sah ihren Bruder aus dem Augenwinkel heraus an. Er nickte mechanisch. Besorgt wand sie sich um und blickte ihn durchdringend an. Unter seinen grünen Augen waren tiefe dunkle Ringe, während seinem Gesicht eine gespenstische Blässe inne wohnte. „Lucas? Alles in Ordnung? Ist was beim Training vorgefallen?“, fragte sie besorgt.
Er schwieg einen kurzen Moment, zu kurz für andere Menschen um es zu bemerken. Doch Candra kannte ihren Bruder nur zu gut und erkannte sofort sein Zögern. „Es ist nur... Du weißt, wie sich Solana immer aufspielt. Ich verstehe einfach nicht, wie Kira ihre Freundin sein kann.“, antwortete er.
„Lucas, wir wissen beide, dass dich das am wenigsten stört. Und außerdem weiß jeder, der auch nur Augen und eine einzelne funktionierende Gehirnzelle im Kopf hat, was für eine Bitch Solana ist. Es ist Kirabos eigene Entscheidung, wenn sie so auf sich herumhacken lässt.“, sagte sie mit einem imaginieren Schlussstrich. Candra suchte erneut seinen Blick und versuchte ihn zu halten. „Was ist wirklich passiert?“
Lucas wand seinen Blick ab und atmete tief durch. Als er gerade seine Gedanken in Worte fassen wollte, unterbrach das laute Piepsen der Mikrowelle die Stille.
Entnervt drückte Candra auf das Tastenfeld des Geräts, nahm das aufgewärmte Essen heraus und stellte es vor ihm auf den Tisch. Sie setzte sich ihm gegenüber, denn sie würde ihm nicht die Chance geben, vor ihrem Gespräch zu fliehen. Mit verschränkten Armen und einer hochgezogenen Augenbraue sah sie ihn abwartend an. „Iss, und erzähl.“, befahl sie ihm, während ihr Blick ihn durchbohrte.
Aufgebend nahm er die Gabel und begann in seinem lauwarmen Essen zu stochern. „Claire.“, sagte er und hoffte, dass sie verstand.
„Iss.“, entgegnete sie nur.
Er nahm eine Ladung der mit Soße bedeckten Nudeln und schob sie sich in den Mund. Langsam kaute er und schluckte das fade Essen hinunter. „Zufrieden?“, fragte er und zog eine Grimasse.
„Erzähl.“, erwiderte sie unbeirrt.
Der Teller stand vor ihm wie eine Mauer und doch nützte es ihm kaum etwas. Er saß in der Ecke und die Flucht war unmöglich. Geschlagen sah er ihr in die Augen und versuchte sich zu erklären: „Sie will, dass wir noch härter trainieren. Als ob die drei Tage in der Woche nicht schon genug wären. Des wegen auch das Treffen heute.“
„Aber, Lukas.“, sie griff über dem Tisch nach seinem Arm und drückte ihn, „Du weißt, dass es nur Schul-Tennis ist, oder? Ist das nicht etwas überzogen?“ Verwirrt und nicht all zu überzeugt sah sie ihn an. „Hat Claire etwa vor euch auf College-Niveau zu bringen? Sie weiß, dass wir hier zwar noch in den Vereinigten Staaten sind, aber sicher nicht in Europa.“
„Tja, was soll ich sagen?“, antwortete er und rieb sich seinen Nacken, „Sie hat große Pläne für Solana, also müssen wir übrigen darunter leiden.“ Wieder stocherte er im Essen.
„Dann tritt aus, wähl eine andere Sportart. Unsere Schule hat so viele zu bieten. Komm doch in unser Volleyball-Team. Hënë würde sich sicher ebenfalls dafür einsetzen, da dein Wechsel ja mitten im Schuljahr wäre.“
„Ich... ich kann nicht. Nicht jetzt.“ Wieder zögerte er. Während er kaute, hellte sich sein Blick plötzlich auf. „Vielleicht kann ich ja trotzdem bei euch eintreten? Vorerst, als eine Art Schnupperkurs? Claire hat unser Training sowieso für die nächsten Wochen gecancelt. So könnte ich dann auch im nächsten Jahr komplett bei euch einsteigen.“
„Das könnte funktionieren. Aber... Claire hat euer Training abgesagt?“ Sie sah ihn verblüfft an. „Und trotzdem sollt ihr härter trainieren? Wir reden immer noch von der selben Claire, oder?“
„Sie will sich mehr Zeit für Solana nehmen. Einzeltraining.“, antwortete Lucas karg und aß schweigend weiter.
Candra war nicht all zu überzeugt, und ließ ihr Gespräch Revue passieren. Irgendetwas stimmte nicht, da war sie sich sicher. Doch sie hatte das Gefühl, dass es nicht viel mehr bringen würde ihn weiter auszuquetschen und ließ ab. Sie wusste, wann es Zeit war aufzuhören.
Lucas räusperte sich. Interessiert ließ sie ihre Gedanken hinter sich und sah ihn neugierig an. Er wusste, wie er sie angeln konnte. „Was willst du sagen? Spuck es auch!“ Sie vibrierte förmlich in ihrem Stuhl, denn sie wusste, dass er irgendeine Art von Neuigkeiten hatte.
„Claire hat beim Treffen erzählt, dass wir eine neue Schülerin bekommen.“ Er fuchtelte mit seiner Gabel und ein wenig Sauce spritze in ihre Richtung. „Und sie kommt in deinen Jahrgang.“
„Endlich mal richtige Nachrichten! Wie heißt sie? Woher kommt sie? Was weißt du?“, löcherte Candra ihren Bruder und wischte die kalten Saucentropfen weg. Aufgeregt hüpfte sie auf ihrem Stuhl auf und ab, während in ihre Augen eine kindliche Begeisterung funkelte. Das vorausgegangene Gespräch war vergessen. Fast vergessen.
„Hey, hey, langsam bitte!“, er lachte auf und zählte auf, „Luna Salem. Hat Claire nicht erwähnt. Und ihre Familie kommt ursprünglich aus Founds. Ihre Großmutter ist Rebecca Nurse.“
Anerkennend pfiff sie. „Das sind mal wirklich interessante Neuigkeiten. Ich wusste gar nicht, dass Mrs. Nurse eine Enkelin hat.“
„Und sonst weißt du immer alles!“, entgegnete er lachend. Die letzte Ladung des Mittagessens fand den Weg in seinen Mund.
„Hey! Ich hab viele Quellen, aber auch ich weiß nicht alles!“ Sie setzte einen übertriebenen Schmollmund auf. „Aber wow. Enkelin der großen Rebecca Nurse. Du weißt, was man über sie sagt?“
Lucas nickte ernst. „Sie soll angeblich eine der alten Urhexen sein und kam im 17. Jahrhundert her. Vertrieben aus ihrer Heimatstadt an der Ost-Küste, während der Hexenprozesse.“
„Das muss sicher hart gewesen sein. Was glaubst du wie alt sie ist?“, fragte Candra geistesabwesend.
Ein kehliges Lachen entkam ihm. „Glaubst du wirklich diesen alten Märchen? Du weißt, dass Magie, Hexen und so weiter nicht wirklich existieren?“
Sie fasste sich einen Moment ans Herz und schüttelte vehement ihren Kopf. „Egal was du denkst, aber ich glaube daran.“ Mit einer ausschweifenden Bewegung stieß sie ihren Arm beiseite. „Sieh nur was mit mir, mit Hënë, an jedem Vollmond passiert. Wie kann ich da nicht glauben? Wie kannst du da nur nicht glauben?“ Enttäuschung machte sich in ihr breit und schwang auch in ihrer Stimme. „Wie erklärst du dir das? Wie, wenn nicht mit Magie?“
Sie sah ihn intensiv an. Er hatte einen wunden Punkt getroffen, und doch schwieg er und wand seinen Blick ab, unfähig ihr in die Augen zu sehen, oder aber eine Antwort zu geben.
„Warum dann dein Interesse? Ich dachte, dass du uns unterstützen würdest. Doch da lag ich scheinbar falsch.“ Etwas in ihr brach, während in ihren smaragdgrünen Augen bereits Tränen brannten.
Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und ging, ließ ihn hinter sich. Verzweifelt versuchte sie die aufkeimenden Tränen zu unterdrücken und lief mit verschwommen Blick in ihr Zimmer. Sie schlug die Tür hinter sich mit einer bestimmenden Wucht zu, als ihr die ersten Tränen über die Wange liefen. Sie sackte an der Tür in sich zusammen und ließ die Tränen stumm weiter fallen.
Was ist nur los mit ihm? Er sagt, dass er nicht an Magie glaubt. Aber... aber warum hat er uns dann seine Unterstützung gegeben, als er es herausfand? Warum schweigt er jetzt? Oder eher, was hat er zu verschweigen?, fragte sich Candra frustriert und stieß ihren Kopf gegen die Tür. Ihr Blick fiel auf den halb verdeckten, wachsenden Mond und es traf sie wie einen Geistesblitz.
Hënë, er weiß sicher, was jetzt zu tun ist. Sie zückte ihr Handy aus ihrer Hosentasche und öffnete ihren gemeinsamen Chatverlauf.
Candra
wir müssen reden
es geht um lucas
es ist wichtig
!!!!!!!
Hënë
Lucas?
Candra, was ist los?
Eingehender Anruf von Hënë Leka
Widerwillig drückte Candra seinen Anruf weg und schrieb ihm stattdessen weiter.
Candra
kann jetzt nicht reden
triff mich in ein einer halben stunde
@Café
Hënë
In Ordnung. Bin bereits auf dem Weg.
Bis gleich.
Candra
bg
Candra sprang auf und kramte einen dicken, orangefarbenen Pullover aus ihrem Schrank. Der Weg zum Café war nicht all zu weit, aber ohne ihren privaten Chauffeur-Bruder wird es ein kalter werden.
Als sie durch das stille Haus schlich, bemerkte sie, dass auch Lucas bereits das Weite gesucht hatte. Sie warf einen schnellen Blick in die Küche und erkannte, dass sein Teller ordentlich und abgespült auf der Abtropffläche der Küchenspüle stand.
Im Hausflur sah sie, dass sich Lucas' Jacke an ihrem Platz befand, also musste er noch im Haus sein. Schnell entschied sich für ihren hellblauen, gefütterten Parka und ihr Lieblingspaar schwarzer Boots. Mit Kopfhörern in den Ohren verschloss sie geräuschlos die Tür und machte sich auf den Weg zum kleinen Café in der Stadtmitte.
Immerhin hat es wieder aufgehört zu schneien., dachte Candra, als sie sich unter dem hellen Mond durch den Neuschnee bewegte.
Schweiß bedeckt hielt Hënë das Tempo des Laufbandes, während er im Rhythmus der Running-Playlist, die ihm auf die Ohren dröhnte, lief. Er liebte das Laufen. Dabei war er eins mit Körper und Geist und konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen. Nur leider war es zu kalt, um im Januar im Freien joggen zu gehen. Noch würde es einige Monate dauern, bis die Temperaturen wieder milder wurden, also musste er sich mit dem Fitness-Studio im großen Sportzentrum der Schule zufrieden geben.
Der kleine Timer zeigte ihm bereits 27 Minuten an, als plötzlich die Musik leiser wurde und die Stimme des virtuellen Assistenten seines Smartphones sich überschlug und ihm eingehende Nachrichten von Candra meldete.
„Was zum...“, murmelte er, während er seine Kopfhörer abstreifte und nach seinem Handy griff. Zügig las er ihre Worte und antwortete ihr. Schließlich rief er sie an, doch es schaltete sich sofort die Mailbox ein. Verwirrt sah er auf das Gerät in seinen Händen. Candra schrieb ihm bereits, was ihn ein wenig erleichterte.
Er war schon auf dem Weg seine Sachen zusammen zu packen und ging anschließend zu den Umkleiden. Wenn Candra einen Anruf ablehnte, konnte es nur eines bedeuten.
Hënë wickelte sich seinen dunkelrot-karierten Schal fest um den Hals und bis hoch an die Ohren, während seine dunklen und zugleich nassen Haare von einer farblich passenden Strickmütze verdeckt waren. Schnell antwortete er ihr noch, bevor er in die Außenwelt betrat und schon wenig später auf direktem Weg zum kleinen, gemütlichen Café im Inneren von Founds war.
Schnell lief er die leeren, verschneiten Straßen der Schule entlang und schlängelte sich seinen Weg in Richtung Stadtinnerem. Er hoffte fest, dass es bis zu seiner Ankunft nicht wieder zu schneien begann.
Wir haben genug Neuschnee die letzten Tage bekommen., dachte er grummelig. Ein Schneemobil rauschte an ihm vorbei und spritzte matschige Klumpen in seine Richtung. Angewidert klopfte er seine Jacke ab und eilte weiter. Wie er die Kälte und Nässe verabscheute. In seiner Heimat waren es das ganze Jahr über Plusgrade, und selbst im Winter nur selten unter dem Gefrierpunkt. Er hatte nie verstanden, warum seine Familie um den halben Globus nach Alaska gezogen waren.
Er bog um eine weitere Ecke und sah das Café schon in der Ferne. Es leuchtete in warmen Gelbtönen und strahlte wie ein Stern in der Dunkelheit der breiten Hauptstraße. Als Hënë den Coffee-Shop betrat und ihn die mollige Wärme einhüllte, beschlug seine Brille. Mit gekonnter Leichtigkeit befreite er sie und winkte mit verschwommenem Blick der Bedienung hinterm hohen, altertümlichen Tresen.
„Hallo Hënë, das selbe wie immer?“, fragte die männliche Stimme, „Wie war dein Training?“
„Hey, Matt. Gerne. Ganz gut, leider nur etwas kurz.“, antwortete er und setzte die Brille wieder auf, „Und kannst du mir bitte noch eine heiße Schokolade mit Pfefferminz-Shot dazu machen?“
„Ah... Candra kommt auch?“, entgegnete er neugierig, „Nur sie, oder stößt Lucas auch noch dazu?“
Hënë schüttelte seine Kopf. „Heute musst du dich mit uns Zweien begnügen.“, erwiderte er und zwinkerte ihm zu. Matts Ohren nahmen einen zarten, rosa Farbton an, während er verlegen nickte. „Ich bin an unserer Stammecke.“, fügte Hënë hinzu und winkte ihm ein letztes Mal.
Gerade, als Hënë es sich in einem der türkisfarbenen, gepolsterten Sesseln am Fenster bequem gemacht hatte, wurde plötzlich die Eingangstür mit einem kräftigen Windschlag aufgerissen. Erschrocken fuhr er zusammen und erkannte Candra.
Sie hatte einen hochroten Kopf und war ganz außer Atem. Wie oft hatte er ihr angeboten mit ihr zu trainieren? Unzählige Male. Immer war ihre Ausrede die selbe: Sie wäre mit dem Pferd eh schneller, als er zu Fuß. Irgendwann hatte er aufgegeben.
Zügig begrüßte auch sie Matt und war in nur wenigen Schritten bei ihm. Sie schälte sich aus ihrer Jacke und warf sie über seine auf einen der anderen freien Polstersessel der kleinen Sitzgruppe.
„Hast du dein Pferd draußen festgebunden?“, fragte er sie stichelnd.
Verwirrt sah sie ihn an, bevor sie sich mit einem Augenrollen in den bordeauxroten Sessel gegenüber von ihm fallen ließ. „Ha, ha. Wieder bei bester Laune, wie ich sehe.“, antwortete sie sarkastisch. Sie hielt sich einen Finger ans Kinn und ließ ihren Blick durch das Café schweifen. „Woran das wohl liegt?“, fragte sie nachdenklich und blickte Matthew aus den Augenwinkeln heraus an. Er war bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch. Geschickt balancierte er ihre Getränke auf dem Tablett und servierte sie.
„Danke dir.“, murmelte Hënë. Wärme stieg ihm in die Wangen und er wand seinen Blick aus dem Fenster. Draußen fing es bereits wieder an zu schneien.
„Danke, Matts.“, bedankte sich auch Candra mit einem strahlendem Lächeln.
Er nickte freundlich und ließ den beiden Freunden ihre Ruhe. Hënë blickte verstohlen zu ihr hinüber. Ein breites Grinsen war auf ihrem kindliches Antlitz gepflastert, während die warmen Lichter der Lichterkette am Fenster in ihre smaragdgrünen Augen schelmisch tanzten.
Wieder stieg im die Hitze ins Gesicht und er blickte verlegen auf die Getränke vor sich. Schnell schob er ihr die heiße Schokolade vor die Nase, bevor sie ein weiteres Wort von sich geben konnte. Hungrig nahm sie das Karamellbiskuit vom Teller und tauchte es ihn die Sahne. Zufrieden brummte sie und kaute den Keks.
„Ist der mit...?“, fragte sie.
Doch sie brauchte ihre Frage nicht zu beenden. Er kannte seine beste beste Freundin. „Ja, Candra, so wie immer. Mit deinem geliebte Pfefferminz-Shot.“, antwortete er Augen rollend. Glücklich trank sie einen Schluck.
Auch er setzte die Lippen an sein eigenes Getränk, einem Chai Latte mit Hafermilch und extra Schaum. Doch er hielt inne, denn er erkannte, dass oben auf der Schaumkrone ein kleines Herz aus Zimtzucker gestreut war.
Wenn ihm noch nicht die Scham ins Gesicht geschrieben war, dann spätestens jetzt.
Candra sah ihn fragend an, doch er schüttelte nur seinen Kopf und setzte sein Getränk wieder ab. Neugierig schaute sie hinüber und musste sich ihr Lachen verkneifen.
„Auf was für ein Zeichen wartest du eigentlich noch?“, kicherte sie, „Soll er sich mit einem Schild hinstellen auf dem steht: 'Lad' mich endlich ein!'?“ Sie schnappte sich gierig auch seinen Biskuit und verschlang ihn mit einem Klecks der süßen Sahne.
„Husch jetzt.“, fuhr er sie an. Er nahm seinen langen Löffel zur Hand und versuchte den Zimt in seinen Latte zu rühren. „Über was wolltest du reden, das wir nicht am Telefon besprechen konnten?“, fragt er. Mit Interesse sah er ihr zu, wie sie sich besorgt umblickte. Es waren nur eine weitere Gruppe Jugendlicher, sowie zwei einzelner Erwachsener im Café. Beide waren auf ihre Arbeiten am Laptop konzentriert und die Gruppe am großen Rundtisch am anderen Ende des Coffee-Shops unterhielt sich intensiv.
Sie beugte sich vor und flüsterte: „Lucas.“ Das Funkeln in ihren Augen erlosch, während ihre Schultern hinunter sackten.
„Soweit war ich auch schon. Aber was genau ist passiert?“, entgegnete er unbeirrt.
„Ich glaube... Dass wir ihm nicht mehr... vertrauen können.“ Candra lief eine einzelne, stumme Träne über die Wange und brachte sie zum Schweigen.
„Candra. Was. Ist. Passiert.“, drängte er und sah sie erschüttert an.
Sie sah aus, als würde sie sich am liebsten jedes ihrer Haare einzeln ausreißen wollen. „Es... es ist kompliziert!“, kam es ihr laut über die Lippen. Einige Blicke wanden sich in ihre Richtung.
„Candra. Lautstärke!“, zischte Hënë und schaute sich verzweifelt um. Auch Matthew sah sie an.
Entspannend rieb sie ihren Nasenrücken. „'Tschuldige.“, murmelte sie, „Es ist nur... grr. Ich bin so wütend und enttäuscht von ihm.“
„Jetzt beruhige dich erst mal. Und erzähl mir dann, was vorgefallen ist.“, versuchte er sie aufzubauen und lächelte, „Wir kriegen das hin.“
„Mh... jetzt verstehe ich dich.“ Gestresst fuhr sich Hënë durch seine mittlerweile trockenen Haare. „Aber glaubst du wirklich, dass wir ihm jetzt nicht mehr vertrauen können?“
„Irgendwas stimmt da nicht.“ Candra kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Wieso sollte Claire von ihnen wollen, dass sie härter trainieren, um dann im gleichen Zug das Gruppentraining absagen?“
„Du hast schon recht. Es gibt ziemlich viele Ungereimtheiten.“, antwortete er und trank den letzten Schluck seines Chais. Er stapelte sein Geschirr auf ihr bereits geleertes.
„Du hättest ihn einfach sehen sollen! Er stand komplett neben sich. Und nicht, weil er erschöpft war. So wie ich ihn verstanden habe, hatten sie heute nicht mal trainiert.“, entgegnete sie, während sie gedankenverloren mit ihrem Fuß gegen eins der Tischbeine tippelte.
„Also hatten sie eine Art Besprechung.“, schlussfolgerte er.
Candra deutete mit ihren Händen nach rechts. „Einerseits sagt er, dass er sich gerne unserem Team anschließen will.“ Sie gestikulierte in die andere Richtung. „Aber andererseits will er auch die Tennis-Gruppe nicht verlassen.“ Wieder wand sie ihre Hände nach rechts. „Einerseits fängt er an von einer Hexe zu sprechen.“ Wieder schwangen ihre Hände wild nach links. „Und andererseits lacht er mich dann aus, dass ich daran glaube.“ Frustriert warf sie ihre Hände schließlich über den Kopf.
Hënë ließ seinen Blick vorsichtig durch das Café streifen. „Du hast ja recht. Was sollte ich denn sagen? Du weißt, dass ich nach allen möglichen Mutationen und Genanomalien geforscht habe, und nie auch nur im entferntesten etwas gefunden habe. Magie scheint die einzig wahre Erklärung zu sein, auch wenn ich nicht allen Fabeln und Mythen Glauben schenke.“ Er sah sie verstehend an.
„Ich habe einfach das Gefühl, dass er uns etwas verheimlicht.“, äußerte sie und sank im Sessel zusammen.
„Candra. Ich kann deine Bedenken verstehen. Aber... lass uns die Sache nicht ganz so eng sehen. In wenigen Tagen ist Vollmond. Bestimmt legt sich bis dahin wieder alles.“, entgegnete er zuversichtlich und hoffte innerlich fest, dass er Recht behielt.
Ihr Blick hellte sich auf und ihr Enthusiasmus kehrte mit einem Mal zurück. „Hey, das hatte ich ganz vergessen! Bleiben wir wieder bei mir?“
„Klingt gut. Vollmond ist am Freitag.“, informierte er sie.
„Ja!“, jubelte sie, „Langes Wochenende.“ Verschlagen sah sie ihn an. „Und Lucas können wir auch im Auge behalten.“
„Und vergiss nicht unsere Hausaufgaben. Schließlich verpassen wir einen ganzen Schultag.“, erinnerte er sie.
Sie gab auf. „Ja, ja. Die werden wir sicher nicht vergessen. Du reibst es mir ja immer unter die Nase, du Streber.“
„He, ich habe viele Seiten.“, rügte er.
„Sind einige davon, dass du ein ziemlicher Angsthase und gleichzeitig ein hoffnungsloser Romantiker bist?“, reizte sie ihn und kicherte.
Mit rotem Kopf schlug er spielerisch in ihre Richtung. Das Gezanke zwischen ihnen beruhigte Hënë auf eine angenehme Weise. Und auch Candra wirkte abgelenkt von ihren Sorgen.
„Wie war der Name des neuen Mädchens?“, erkundigte er sich beiläufig und genoss für einen kurzen Augenblick die entspannte Stimmung im Café.
„Luna Nurse? Nee, warte. Salem war ihr Nachname. Sie kommt in unsere Stufe.“, antwortete sie.
„Und sie kommt ursprünglich von hier? Glaubst du...?“, fragte er wage.
„Ich weiß es nicht. Es könnte gut möglich sein.“, entgegnete sie nachdenklich. „Ich möchte nicht für immer mit dir alleine in dieser Situation stecken.“ Candra streckte ihm ihre Zunge raus und lachte wieder.
„Morgen werden wir sie sehen.“, sagte er dumpf.
„Morgen...“, murmelte auch sie.
Die beiden Freunde saßen noch einen Moment beisammen, und ließen den Abend ausklingen. Hënë erinnerte sie an die kommenden Wettkämpfe, und die anstehenden an Klausuren, die sie, wie üblich, sicher vergessen hätte, während Candra ihn mit dem neuesten Klatsch versorgte. Zwischendurch kam Matt an ihren Tisch und gab ihnen die Rechnung.
Gemeinsam entschieden sie sich für den Aufbruch, nachdem Hënë die Bezahlung, sowie ein saftiges Trinkgeld auf der Quittung hinterließ. Sie rollte nur mit den Augen, während sie sich ihren Schal um den Hals warf und auf ihn wartete. Zusammen verließen sie das gemütliche Café und traten ihren Heimweg durch den stärker werdenden Schneefall an.
Das laute Piepsen des alten Weckers riss Luna unsanft aus ihrem traumlosen Schlaf. Mehrfach langte sie schlaftrunken in Richtung des nervtötenden Geräusches, bis es endlich verstummte. Müde rieb sie sich die Augen und streckte sich, bevor sie aufstand. Vorsichtig tastete sie sich am Mobiliar entlang, um in der ungewohnten und dunklen Umgebung nicht hinzufallen.
Im Bad angelangt, machte sie sich bereit für ihren ersten Tag an der neuen Schule. Beim letzten Blick in den Spiegel bemerkte sie ein intensives Funkeln in ihren Augen. Beruhigend atmete sie ein und aus.
Mein Körper ist schon vor meinem Kopf aufgeregt., schoss es ihr durch den Kopf.
Luna fuhr noch einige Male mit den Fingern durch ihr offenes Haar, um es zu legen, bevor sie wieder in ihr Zimmer ging. Im Kleiderschrank wühlte sie durch ihre verschiedenen Oberteile, damit sie, trotz eines Zwiebellooks, immer noch ansehnlich aussah. Ihre Entscheidung fiel auf ein schwarzes Top, ein weinrotes Langarmshirt, mit Schnürung am Ausschnitt, und darüber einen schwarzen, grobgestrickten Oversize-Cardigan. Dazu noch ein Paar Kniestrümpfe und ihre schwarze Jeans über die Beine.
Das sollte für heute passen. Hoffentlich werde ich nicht frieren.
Schnell warf die sich ihren waldgrünem Rucksack über, in dem sich nur ein karierter Notizblock, ein leerer, lavendelfarbener Ordner und ein ebenfalls lavendelfarbenes und weiß gepunktetes Federmäppchen befanden. Bücher bekam sie erst in der Schule.
Bevor sie das Zimmer verließ, machte sie noch das Bett. Unten angekommen, setzte sie ihren Rucksack bei der Haustür ab und ging in die entgegengesetzte Richtung in die Küche.
Die pastellgelben Küchenschränke und die großen, grauen Bodenfliesen verliehen der Küche einen moderne Ausstrahlung. Ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen stand in der einen Ecke, während auf der gegenüberliegenden Seite sich eine Hintertür befand, die in den Garten führte. Rebecca saß bereits am Tisch und blätterte entspannt in der Zeitung.
„Morgen, Luna.“, gab sie von sich, ohne auch nur von der Zeitung aufzublicken.
„Morgen, Gran.“, begrüßte Luna sie und gab ihr einen Kuss auf den Lockenkopf. Hungrig wand sie sich einem der Hängeschranke zu, und holte eine Müslischale und die Packung Cornflakes daneben heraus. Sie gab noch etwas Milch aus dem Kühlschrank dazu, und schon war ihr Frühstück auch schon fertig. Mit einem Löffel bewaffnet setzte sie sich ihrer Großmutter gegenüber. Sie selbst hatte eine reich belegte Scheibe Toast vor sich.
Schweigend aßen sie eine Weile zusammen, bis Rebecca sich schließlich räusperte.
„Konntest du gestern gut einschlafen?“, fragte sie beiläufig.
Luna fing an in ihrer restlichen Milch herum zu rühren. „Ganz gut. Als ich im Bett lang, wurde ich direkt müde und bin auch ziemlich schnell eingeschlafen.“, antwortete sie.
„Fabelhaft. Als ich hochkam, hatte ich kurz in dein Zimmer gesehen. Du hast geschlafen wie ein Stein.“ Sie legte die Zeitung beiseite und schaute sie liebevoll an. „Hier, Luna, die ist für dich. Ein kleines Geschenk, da du jetzt bei mir lebst, und heute dein erster Tag an der neuen Schule ist.“
Rebecca überreichte ihr einen kleinen, dunkelblauen Samt-Beutel, der mit einer Schur verschlossen war. Eilig löste Luna den Knoten und ließ das Präsent in ihre Hand fallen. Es war eine lange, silberne Kette mit einem glatten, weißen Stein als Anhänger. Der Stein war von einer verschnörkelter, ebenfalls silbernen, Fassung umschlungen. Er passte perfekt in ihre Handmulde hinein. Trotz seiner Größe war er leichter als erwartet. Im Licht schimmerte er in verschiedenen blauen Nuancen, als sie ihn zwischen ihren Fingern hin und her wand.
„Das ist ein Mondstein.“, sagte Rebecca strahlend. Sie nahm ihr die Kette ab und legte sie ihr um. Der Anhänger lag perfekt, als würde er dorthin gehören, auf ihrem Dekolleté auf. Lunas Augen wurden groß und eine kleine Freudenträne kullerte ihr über die Wange.
„Grandma, das ist das schönste Geschenk, dass mir je jemand gemacht hat!“, sie sprang ihr glücklich um den Hals und zog sie in eine innige Umarmung, „Danke! Vielen, vielen lieben Dank!“
Staunend hielt sie den Stein in der Hand, als sie von ihrer Großmutter abgelassen hatte, und war fasziniert von seinem Lichtspiel. Währenddessen räumte Rebecca das leere Geschirr vom Tisch und spülte es in der anthrazitfarbenen Granit-Spüle ab. Als sie fertig war, fing sie an durch das Haus zu hetzen. Das war für Luna das Startzeichen, sich in ihren gemütlichen, hellbraunen Dufflecoat mit Riesenkapuze zu werfen. Sie stülpte sich noch einen dunkelgrünen Loop-Schal aus Wolle über den Kopf. Zuletzt zog sie ihre farblich abgestimmten Schnürstiefeletten, die mit Kunstfell gefüttert waren, an.
Als sie gerade den zweite Stiefel zuschnürte, stand Rebecca schon fertig neben ihr und griff nach ihrem Schlüsselbund. Schnell schnappte Luna noch ihren Rucksack und richtete sich neben ihr auf. Der kleine Keilabsatz ließ sie größer erscheinen und sie lächelte zufrieden.
„Hier.“, Rebecca warf ihr einen kleineren Bund zu, den sie gerade so noch fangen konnte, „Dieser ist für die Haustür.“, sie deutete auf ihrem eigenen Schlüsselbund auf den Schlüssel mit dem dunkelgrünen Kennring, „Und dieser ist für die Garage.“, nun deutete sie auf den hellgrünen, kleineren Schlüssel. Luna nickte verstehend. Ansonsten befanden sich noch eine kleine, silberne Mondsichel und ein 'L' als Anhänger am Bund. Sie drückte ihn kurz an an ihre Brust, bevor sie ihn in eine der Manteltaschen gleiten ließ.
„Pass auf ihn auf!“, mahnte Rebecca und sah auf die Uhr im Wohnzimmer. „Schon so spät? Jetzt müssen wir aber los!“ Sie schob Luna durch die Tür und warf sie ins Schloss. Sie blieb alleine und frierend auf der Veranda zurück. Zügig verriegelte sie mit ihrem neuen Schlüssel die Haustür doppelt. Klick. Klick. Ihr Fingerspitzen wurden bereits taub.
Ich muss unbedingt Handschuhe mitnehmen., schrieb sie sich auf ihren gedanklichen Merkzettel.
Einige endlose Sekunden später hörte sie einen auf knurrenden Motor aus den Garage und im nächsten Augenblick glitt auch schon das rechte Tor der weißen Doppelgarage hoch. Zum Vorschein kam Rebeccas schwarzer Pick-Up. Sie rollte aus der Garage und blieb neben ihr stehen.
„Jetzt steig schon ein!“, rief sie ihr zu, nachdem sie die Beifahrertür von innen geöffnet hatte.
Luna schüttelte sich die Kälte aus den Knochen und kletterte anschließend zu ihr in den monströsen Truck. Den Rucksack warf sie achtlos in ihren Fußraum. Das Gebläse war bereits auf höchster Einstellung, doch es kam nur kalte Luft heraus. Rebecca drückte auf einigen Knöpfen der Armatur herum und mit einem Mal wurde die Sitzheizung aktiv.
„Besser?“, fragte sie verschmilzt, „Du bist die Kälte absolut nicht gewöhnt!“
„W-warum auch? In K-k-kalifornien haben wir p-praktisch keinen Wi-winter.“, brachte Luna Zähne klappernd heraus. Sie genoss die langsam stärker werdende Wärme an ihrem Rücken und taute allmählich auf.
„Also, der Plan sieht folgendermaßen aus: Ich komme mit dir in die Schule, um dich anzumelden. Danach gehst du in deine Kurse. Und um halb vier, wenn Schulschluss ist, hole ich dich dann ab. Einverstanden?“, erklärte Rebecca ihren Schlachtplan. Luna nickte enthusiastisch.
Wieder einmal saßen sie schweigend beisammen und dennoch genoss sie diese ruhigen Minuten, bevor der Trubel begann. Langsam wurde es auch wärmer im Auto. Sie stellte die Lüftungsstärke runter und öffnete ihren Mantel. Dabei fiel ihr wieder die Kette ins Auge. Gedankenverloren glitten ihre Finger dran und strichen über die kühle, glatte Oberfläche.
Sie fuhren langsam den Berg hinab, auf dem Rebeccas Haus thronte, während in der Ferne die Lichter der Kleinstadt Founds strahlten. Luna blickte aus dem Fenster und ließ die Umgebung auf sich wirken. In der Nacht war wieder jede Menge Schnee gefallen. Hohe Schneeberge umgaben ihren bereits geräumten Fahrtweg, und dennoch kamen sie nur sehr träge vorwärts. Rechts und links waren sie von hohen Tannen umzäumt, deren einzelnen Äste durch die schweren Schneeschichten tief nach unten gedrückt wurden. Langsam wurden die Lichter der Stadt immer heller und streuten sich weniger, auch der Wald wurde immer lichter, bis sie schließlich nach links auf eine feste Straße abbogen, die ihren Weg weiter in Richtung Stadt schlängelte.
Die Straßen der Kleinstadt waren frei und gestreut worden, was Luna erleichterte, da sie nun deutlich schneller vorwärts kamen. Neugierig sah sich um. An ihren früheren Besuchen war sie nur selten im Dorf gewesen und wusste nicht genau, welche Geschäfte Founds zu bieten hatte, nur das am Stadtrand ein verhältnismäßig großer Supermarkt war.
Als sie durch die Straßen rauschten, erkannte sie eine kleine Bäckerei, sowie einen Metzger zwischen den einzelnen Wohnhäuser. Auch erblickte sie eine trostlose Boutique, versteckt in einer Seitengasse. Im Stadtinneren befand sich die Polizeistation. Hier stach ihr auch ein liebevoll dekoriertes Café ins Auge, aus dem einige Schüler mit frischen Heißgetränken und Tüten heraus liefen. Sie unterhielten sich angeregt und lachten.
Rebecca bog ab und schon hatten sie das Zentrum von Founds hinter sich gelassen. Die Schulen, sowie das kleine Krankenhaus, befanden sich ein wenig außerhalb der Kleinstadt. Nach kurzem Weg schlug sie auch schon rechts in eine Nebenstraße ein. Auf einem kleinen Schild stand der Hinweis 'Schulen'.
Gleich sind wir da., dachte Luna aufgeregt.
Der Straße entlang reihten sich verschieden große Gebäude aneinander, während auf der gegenüberliegenden Seite separate Parkplätze verfügbar waren, von denen nur einige wenige im Moment belegt waren. Erstaunt sah sie, dass jedes der Gebäude eine Aufschrift mit ihrem Nutzen über dem Eingang trug. Von Kindergarten bis High School war alles an diesem einen Ort vertreten. Auch befand sich hier eine überdimensionale Kombi-Sporthalle, die relativ zentral zwischen allen Schulen lag.
„Wenigstens kann ich mich hier nicht verlaufen.“, murmelte Luna, „Aber Grandma, warum ist die Schule so groß hier?“ Ihre alte Schule hatte eine ähnliche Größe, doch nie hätte sie gedacht, dass eine so abgelegenen Kleinstadt wie Founds einen so großen Schulverbund zu bieten hatte. Sie wand sich um und blickte Rebecca fragend an.
Sie grinste nur und antwortete: „Eine kleine Geschichtsstunde: Die Schule existiert noch nicht so lange. Vor einiger Zeit haben die Gemeinden rund um Founds sich dazu entschlossen, einen großen Schulkomplex zu errichten, um allen Kindern der Umgebung eine unbeschränkte Schulbildung zu bieten. Da Founds nicht groß ist und genügend Bauflächen zur Verfügung hatte, haben sie sich für den Bau hier entschieden.“
„Heißt das etwa auch, dass ich alle meine bisherigen Kurse beibehalte?“, fragte Luna ungläubig.
„Genau das heißt es, meine Liebe.“ Rebecca grinste sie freudestrahlend an. „Überraschung gelungen?“
„Und wie!“, entgegnete sie glücklich.
Rebecca stoppte schließlich vor einem länglichen, einstöckigen Gebäude mit der Aufschrift 'Verwaltung' und parkte auf einem der freigeräumten Parkplätzen.
Luna schluckte schwer. Ihrer Freude wich einer lähmenden Angst. Ein Schulwechsel war nie leicht und besonders schwer war es, wenn man mitten im Jahr wechselte.
Rebecca griff hinter sich und holte ihre schwarze Handtasche hervor, öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen raus, während Luna paralysiert auf ihrem Platz verharrt war.
„Kommst du?“, rief Rebecca. Ihre Stimme holte sie aus ihrer Starre heraus. Langsam bewegten sich ihre Gelenke und Muskeln und sie öffnete ihre Tür. Ein kalter Windstoß fuhr ihr durch die Knochen und versteinerte sie wieder. Schnell schloss sie ihre Jacke und kletterte vorsichtig aus dem Auto. Mit ihrer geschulterten Tasche schlug sie noch zügig die schwere Tür zu und folgte Rebecca schlitternd zum Gebäude.
„Bereit?“, fragte sie mit einer Hand auf der Eingangstür.
„Absolut nicht.“, entgegnete Luna ehrlich.
Besorgt sah Rebecca sie an und legte ihr die andere Hand auf die Schulter. „Du braucht dir keine Sorgen zu machen. Es wird dich schon niemand beißen. Ansonsten bekommen sie es mit mir zu tun!“, sprach sie ihr Mut zu und drückte ihr kurz die Schulter. Eine kleine prickelnde Welle durchfuhr Luna und entspannte sie sofort. Sie erhob ihren Kopf und nickte ihr mit einem Lächeln zu.
Weit und breit war noch keine Menschenseele zu sehen. An der schweren Glastür hingen eine große Menge von Plakaten in allen möglichen Farben. Sie reichten von vermissten Katzen, über zu Stellenausschreiben für Nebenjobs und Colleges, bis hin zur Information über den nächsten Schulball. Mit einem Ruck zog Rebecca die Tür auf und ließ Luna als Erste eintreten.
Warme Luft strömte ihnen entgegen und trug den Duft von Zimt und Orangen mit sich. Sie standen in einem kleinen Empfangsraum. Wartestühlen waren an den Wänden aufgereiht, während eine Empfangstheke den Raum teilte. Zu ihrer Linken befand sich eine weitere Glastür, die einen dahinterliegenden, langen Flur erkennen ließ.
Rebecca trat an die Theke heran und drückte mehrfach auf die vorhandene Klingel. „Hee, Baaa-abs, bist du daaa?“, rief sie und blickte Luna an. „Barbara Channing ist die Schulsekretärin und meine Freundin.“, erklärte sie, „Sie weiß über alles Bescheid und wird mit uns den Rest deiner Unterlagen fertig machen.“
Luna nickte verstehend.
„In diesem Gebäude befindet sich Barbaras Büro und das Sekretariat. Den Flur entlang...“, sie deutete auf die Glastür, „...sind Aufenthaltsräume und Versammlungsräume, sowie die Büros der Lehrer. Und nicht zu vergessen, das Büro des Direktors. Ich hoffe für dich, dass du dort niemals hinbestellt wirst!“ Sie schaute Luna gekonnt böse an, wurde aber jähe von einer schrillen Stimme unterbrochen.
„Wenn das nicht Becca Nurse ist! Ich habe euch schon erwartet.“, eine kleine, pummelige Frau mit einer blonden, toupierten Kurzhaarfrisur kam aus der verschlossenen Tür hinter der Theke. Sie wackelte auf ihren hohen Absätzen auf Rebecca zu und zog sie in eine kurze und feste, aber freundschaftliche Umarmung, bevor sie sich zur Jüngeren wand, „Und du musst Luna Salem sein. Deine Großmutter hat mir schon so viel von dir erzählt! Ich heiße dich hiermit herzlich an der Denali-School-Group willkommen. Als Freshwoman unserer High School wirst du die ersten zwei Wochen einfach dem Unterricht beiwohnen und dann mit Beginn des zweiten Halbjahr auch offiziell starten.“ Barbara drehte sich mit einem Mal um und war ganz in Gedanken versunken, „Wo habe ich nur...? Einen Moment bitte ihr beiden.“ Die kleine Sekretärin war mit einem Mal so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
„Grandma?“, fragte Luna verwirrt und legte ihren Kopf schief.
„Ihre Gedanken überschlagen sich manchmal. Sie wird sicherlich gerade den Papierkram und deine Bücher holen.“, antwortete sie, während sie in ihre Hand kicherte.
Einige Sekunden später kam sie auch schon mit dem besagten Stapel Bücher zurück. Der Stapel war höher als ihr Kopf. Besorgt ging Luna einige Schritte auf sie zu: „Soll ich Ihnen etwas abnehmen, Mrs. Channing?“
„Ach, das brauchst du nicht!“ Sie setzte im selben Moment die Bücher auch schon auf der Theke ab. „Und übrigens, ich bin weder eine Mrs., noch musst du mich siezen oder mich mit meinem Nachnamen ansprechen. Nenn mich einfach Barbara, das reicht. Das tun sowieso alle, und, als eine Freundin deiner Grandma, bestehe ich auch darauf!“ Barbara schaute sie mit großen, freundlichen Rehaugen an.
Sie nickte ihr verstehend zu und lächelte schüchtern: „Ja, ist in Ordnung... Barbara.“
„So, jetzt zum offiziellen Teil.“, sie blätterte durch eine Akte, „Hast du die Bescheinigung der Vormundschaft dabei, Becca? Oh, und noch brauche ich Lunas Geburtsurkunde und ihres Impfstatus.“ Rebecca holte, während Barbaras Aufzählung, eine Mappe aus ihrer Handtasche und hielt sie ihr entgegen. „Perfekt. Sind das Kopien?“
„Ja, du kannst sie direkt abheften“, erwiderte Rebecca mit einer durchwinkenden Geste.
„Super. Dann bitte hier noch deine Unterschrift.“ Barbara legte ihr einen Antrag vor. Schnell setzte sie ihre schnörkligen Unterschrift darunter und schon war das Papier auch wieder verschwunden. „Und dann sind wir beide auch schon fertig. Von dir, Luna, bräuchte ich auch noch eine Unterschrift, dass ich dir die Bücher ausgehändigt habe. Bitte unterzeichne auch in den Büchern, sobald du sie das erste Mal benutzt.“ Sie öffnete das oberste Buch und zeigte ihr, an welcher Stelle genau.
Wieder nickte sie verstehend und streckte ihre Hand nach der Übersicht aus, um ihre Bestätigung darunter zu setzen.
„So, hier ist dann noch dein Stundenplan, basieren auf deinen Wahl- und Pflichtfächern an deiner letzten Schule.“, sie gab ihr den Plan, ihren Schülerausweis und noch eine Karte des Schulgeländes „Dein Schließfach hat die Nummer 12.“, fügte Barbara hinzu.
Erneut nickte sie und betrachtete schließlich den Lageplan „Wow, die Schule ist ja noch größer als ich gedacht hatte!“
„Ja, da hast du Recht, an diesem Schul-Verbund sind fast doppelt so viele Schüler eingeschrieben, wie Menschen hier in Founds leben.“, erklärte Barbara.
„Gab es wirklich keine Probleme mit meinen Wahlfächer?“, hakte sie nach und sah Rebecca aus dem Augenwinkel an.
Barbara schüttelte ihren Kopf und lachte. „Absolut nicht! Auch 'Japanisch I' haben wir, selbst wenn nicht all zu viele Schüler in diesem Kurs sind. Wir sind sehr stolz darauf, eine große Breitbande an Fremdsprachen an unseren Schulen anzubieten.“
Intensiv studierte Luna die Karte. Die High und Middle School befanden sich in U-Form um das Verwaltungsgebäude herum, und trafen in der Mitte zu gemeinschaftlich genutzten Räumen zusammen. 'Schließfächer & Aufenthaltsräume' stand auf dem Blatt geschrieben, aber auch Räume für bildende Künste, wie Werk-und Kunst-, Musik- und Theaterklassen waren darauf verzeichnet. Eine Aula befand sich ebenfalls dort.
Sie bemerkte, dass unter dem Plan noch weitere Zettel geheftet waren, jedes davon zeigte eine weitere Etage. Sie blätterte sie durch und erkannte, dass das Schulgebäude vier Etagen besaß, während die Verwaltung zwei. Auf der nächsten Etage befanden sich Räumlichkeiten für naturwissenschaftlichen Fächer, während die Cafeteria aus einen Großteil der zentral Fläche bestand.
Auf den letzten beiden Seiten fand sich simple Räume für sozialwissenschaftliche Klassen und Sprachkurse. Der gemeinsame Bereich hier war eine Bibliothek mit integrierten EDV-Bereichen, die sich ebenfalls über beide Etagen verteilten.
„Das ist wirklich beeindruckend. Meine alte Schule war zwar ähnlich groß, war aber bei weitem nicht so gut strukturiert, wie diese hier.“, sagte sie bewundernd.
„Ja, das glaube ich dir. Der Grundplan für den Schulverbund wurde erst im Laufe der letzten fünf Jahren komplett überarbeitet und erneuert. Vorher war hier das reinste Chaos!“, Barbara lachte herzlich auf. Zügig erklärte sie Luna den Aufbau der Schule, und wo sie was fand.
Zuletzt sah sich Luna noch ihren Kursplan an. Genau wie Rebecca gesagt hatte, wurden all ihre Fächer übernommen. Raumbezeichnungen, sowie Lehrkraft standen einfach und verständlich daneben geschrieben.
Rebecca musterte sie nach einer Weile an und fragte: „Wirst du zurecht kommen, oder brauchst du noch jemanden, der dich begleitet?“
Luna sah auf ihre schwarze Armbanduhr und antwortete: „Nein, ich denke nicht. Ich habe noch eine halbe Stunde bis der Unterricht beginnt. Bis dahin werde ich mein Schließfach ausfindig machen und den Raum für US-Geschichte suchen, der...“, sie blickte auf ihren Stundenplan, „... sich im Obergeschoss befindet.“
„In Ordnung. Soll ich dir einige deiner Bücher abnehmen?“, hakte sie nach.
Schnell ging sie alle Bücher auf der Liste durch und seufzte: „Nein, danke. Wie es aussieht brauche ich sie alle. Ich nehme sie jetzt erst mal mit und verstaue sie dann in meinen Spind, sobald ich ihn gefunden habe.“ Eilig warf sie die verschiedenen Bücher in die Tasche, nur das für Geschichte behielt sie in den Händen.
Gerade als die beiden sich von Barbara verabschieden wollten, kam plötzlich eine Gruppe schnatternder junger Frauen herein. Sie verstummten alle, als sie die beiden Fremden entdeckten. Eine große, blonde Schönheit mit goldenen Augen trat vor und ergriff das Wort: „Ist das die neue Schülerin, Barbara?“, fragte sie und sah Luna intensive von oben nach unten an.
„Ja, Claire, das ist Luna Salem, die Enkelin von Rebecca Nurse.“, erklärte Barbara. Sie blickte sie mit ernstem Blick an, während sie abwechselnd auf die beiden deutete.
Claire setzte ein übertrieben freundliches Gesicht auf. „Gut zu wissen.“, antwortete sie bloß. Sie warf sich ihr langes, goldblondes Haar im hohen Bogen über die Schulter und ging. Zügig hielt sie eine Chipkarte an den kleinen schwarzen Block neben der Tür, bevor sie mitsamt ihrer Gefolgschaft durch die große Glastür in Richtung der Lehrerräume stiefelte.
„Sie ist jetzt Referendarin?“, fragte Rebecca ungläubig.
„Ja, leider.“, entgegnete Barbara genervt.
„Und wer ist sie, wenn ich fragen darf?“, warf Luna in ihr Gespräch ein.
„Das ist Claire Goodworth. Die älteste Tochter des Direktors. Ihre jüngere Schwester Solana ist in deinem Jahrgang.“, antwortete die Sekretärin, „Weder ein 'Hallo', noch ein 'Guten Morgen' hört man von ihr! Und von Solana genau so wenig.“ Sie stampfte wütend auf.
„Beruhige dich, Babs, denk an dein Karma.“, Rebecca legte ihr die Hand auf die Schulter und schaute ihr direkt in die Augen.
Sie atmete tief durch und nickte. Mit einem herzlichen Lächeln klatschte sie in ihre Hände „So, dann wird es langsam Zeit. Ich hab noch einiges zu tun. Luna, wir sehen uns dann wahrscheinlich heute Nachmittag irgendwann. Becca, steht noch unser Kaffeeklatsch am Donnerstag?“
Luna winkte ihr zum Abschied, während Rebecca sie in eine kurze Abschiedsumarmung zog. „Ja, das steht, meine Liebe, bis dahin.“
Gemeinsam verließen sie das Verwaltungsgebäude und traten ins bitterkalte Freie.
„Dann hab viel Spaß heute. Bestimmt wirst du schnell Freunde finden, und lass dich nicht durch solche arroganten Leute verunsichern oder einschüchtern, hörst du?“, redete Rebecca ihr aufmunternd zu, als sie an ihrem Wagen stehen blieben.
Luna schüttelte ihre Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Das werde ich schon nicht!“, versicherte sie ihr.
„Damit nimmst du deiner alten Grandma eine ihrer größten Sorgen vom Herzen.“, entgegnete sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Sollte etwas sein, ruf mich einfach auf meinem Handy an, da bin ich immer erreichbar!“
„Ja, Grandma, das mache ich. Bis heute Nachmittag.“, antwortete Luna und drücke sie noch schnell zum Abschied, bevor sie durch den Schnee in Richtung Schulgebäude stapfte. Das Gebäude war noch höher, als es aus der Fernen ausgesehen hatte. Schwer schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter und murmelte sich beruhigend zu.
Du schaffst das schon, es ist nur eine Schule. Wie Grandma schon sagte, keiner wird mich beißen.
Sie atmete nochmal tief durch und schloss die Augen, bevor sie eine der zwei Eingangstüren mit etwas Kraft aufzog.
Auch im Gebäude was es bisher menschenleer, obwohl der Eingangsbereich bereits hell erleuchtet war. Auf der gegenüberliegenden, rechten Seite entdeckte sie ein Schwarzes Brett. Neugierig trat Luna heran. Es waren Wettkampftermine aufgelistet, sowie Anerkennungen diverser Clubs und AGs, als auch deren Treffzeiten. Links vom Schwarzen Brett befand sich eine riesiger Bildschirm, der über die heute anstehenden Kurse informierte. Sie erkannte, dass einige Kurse aufgrund von Krankheit des Kurslehrers ausfielen. Schnell überflog sie die Zeilen für ihre Jahrgangsstufe, und erkannte zufrieden, dass keiner ihrer Kurse betroffen war. Wieder einmal überraschte sie die Organisation der Schule.
Gut, ich habe Glück. Alles bleibt wie geplant., dachte sie.
Im Foyer befanden sich neben einigen Sitzbänken, noch ein Automat für Getränke und einer für Snacks, sowie ein zentral platzierter Wegweiser. Mit Lageplan in der einen und dem Geschichtsbuch in der anderen Hand, verglich sie die Beschilderung mit ihrer Karte und setzte sich anschließend langsam in Bewegung. Während sie durch eine weitere Doppeltür ging, hoffte sie inständige, dass sie nicht für den Rest des Tages mit ihrem Plan herumlaufen musste und sich eine gnädige Seele ihrer annahm.
Sie musste nicht lange suchen und fand ihr Schließfach. Es war offen und ein Schloss hing lose im Verschluss. Die Schränke hier waren größer, als an ihrer alten Schule. Sie zog es mit einem leichten Ruck auf und sah hinein. Es gab einen Haken für die Jacke, sowie zwei Ablagen. Glücklich zog sie ihren Mantel aus und hing ihn auf.
Wenigstens muss ich die nicht den ganzen Tag mit mir rumschleppen., ging es ihr durch den Kopf.
Schnell verstaute sie die unnötigen Bücher im Spind und verschloss ihn wieder. Im Vorhängeschloss gab sie den Code '2007', das Hochzeitsdatum ihrer Eltern, ein, bevor sie das Schloss zu drückte und die Zahlen mit dem Daumen verdrehte.
Luna schulterte ihre Tasche und fand, dank Barbaras Erklärung, ihren Unterrichtsraum zügig. Verschwitzt kam sie auf der obersten Etage an und war froh, dass sie ihre Jacke im Spind gelassen hatte. Nur kurz später erreichte sie auch schon ihren Raum. Er war geschlossen, doch nicht verschlossen und sie betrat ihn. Neben ihr selbst war noch niemand im Zimmer und nach einiger Überlegung entschied sie sich für einen Sitzplatz möglichst weit hinten am Fenster. Sie machte sich bereit für den Unterricht und räumte alle unnötigen Papiere in die Tasche zu ihren Füßen.
Gelangweilt ließ sie ihren Blick schweifen und sah aus aus dem Fenster. Der beleuchtete Parkplatz war mittlerweile gut gefüllt und einige Schüler und auch Lehrer schlitterten und stapften über die Straße und den Schnee. Nur wenige Minuten später kam auch schon ihr Lehrer für Geschichte in den Raum gerauscht. Laut ihrem Plan sollte sein Name Mr. Dickson sein. Er war ein kleiner, schlanker Mann in seinen Dreißigern mit vollem, hellbraunem Haar.
„Guten Morgen. Und Sie sind?“, fragte er direkt, nachdem er Luna bemerkt und sich vor ihren Tisch gestellt hatte.
„Mein Name ist Luna Salem, ich bin von Los Angeles hergewechselt.“, antwortete sie.
„Ah, die Neue. Mein Name ist Paul Dickson. Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“, er reichte ihr die Hand und schüttelte sie kräftig.
Die Neue. Das werde ich die nächste Zeit sicher öfter hören., dachte sie.
„Ganz meinerseits.“, entgegnete sie höflich.
„Sie fangen offiziell erst in zwei Wochen an, oder?“, fragte er nach.
„Ja, genau. Ich soll mich erst mal eingewöhnen und Anschluss an meine Kurse finden.“, antwortete Luna wahrheitsgemäß.
„In Ordnung. Sollten sich Ihnen Fragen während der Stunde auftun, zögern Sie nicht, mich zu fragen.“ Er lächelte sie charmant mit grauen Augen hinter seiner runden Brille an.
„Danke.“, antwortete sie zurückhaltend. Mr. Dickson nickte ihr noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und sich ebenfalls für die Stunde vorbereitete.
Durch die offene Klassentür drang bereits das erste dumpfe Gerede aus dem Flur und bald darauf kam auch schon eine dazugehörige kleine Gruppe von Mädchen herein. Sie waren so vertieft in ihr Gespräch über das vergangene Wochenende, dass sie Luna nicht mal bemerkten. Sie setzten sich im Quadrat in die zwei vordersten, rechten Reihen vom Eingang aus. Weitere Schüler kamen vereinzelt rein, die meisten beäugten sie neugierig, einige wenige wiederum nicht, so wie die erste Gruppe, da sie mit anderen Dingen und Gedanken beschäftigt waren.
Schnell war das Klassenzimmer gefüllt, und jeder der zwanzig Stühle besetzt. Langsam senkte sich auch der Lautstärkepegel, bis es zur ersten Stunde gongte. Mr. Dickson ergriff seine Chance und schlug leicht mit der Handfläche auf seinen Pult: „Einen wunderschönen, verschneiten, Morgen Ihnen! Wie sicher einige von Ihnen bemerkt haben, befindet sich ein unbekanntes Gesicht in unseren Reihen.“ Ein leises Murmeln ging durch die Runde und mit einem Mal waren alle Blicke auf Luna gerichtet. „Miss Salem, wenn sie so freundlich wären, sich kurz vorzustellen?“ Er nickte ihr aufmunternd zu und winkte sie zu sich herüber.
Steif richtete sie sich auf und ging nach vorne. Auch sie nickte freundlich in die Runde und sagte schließlich: „Morgen, mein Name ist Luna Salem, ich bin vierzehn Jahre alt, und bin von Kalifornien aus hier her nach Founds zu meiner Großmutter Rebecca Nurse gezogen.“ Ein Raunen ging durch die Gruppe, als sie ihre Heimat erwähnte. „Ich freue mich bei euch zu sein.“ Als sie ihre kleine Vorstellung beendet hatte, sah sie nochmal Mr. Dickson an. Doch er lächelte nur und forderte sie wieder auf sich hinzusetzen. Luna ging eilig an ihrem Platz zurück, ohne über die herumliegenden Taschen zu fallen, während er bereits seinen Unterricht fortsetzte. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch, um wieder Ruhe in sich zu bringen.
„Sehr schön. Nun gut. Beginnen wir endlich mit der Stunde.“ Ein müdes, und unmotiviertes Stöhnen erklang, doch der Lehrer ließ sich nicht aus seinem Konzept bringen. „In der letzten Woche haben wir mit der Rekonstruktion und Industrialisierung mit Ende des 19. Jahrhunderts beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, wer kann mir eine Zusammenfassung geben? Ja, Miss Hall?“
Ein Mädchen in der vordersten Reihe am Fenster meldete sich. Sie war recht klein und hatte lange, braune Haar: „Es begann mit dem Aufbau des Südens und…“
„Danke.“, murmelte sie ihm zu und nahm den Becher entgegen. Die Wärme drang sofort in ihre zitternden Finger. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck und versuchte sich nicht an der Flüssigkeit zu verbrennen. Zufrieden summte sie, als sich die Wärme auch in ihrer Brust breit machte.
„Immer wieder gerne.“, antwortete Hënë und trank ebenfalls von seinem Milchkaffee.
„Du schreibst heute nach, oder?“, fragte sie und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Sie hatte immer noch den Geschmack von Schokolade auf ihren Lippen.
„Ja, genau. Spanisch. Aber ich schreibe in der dritten Stunde nach.“, entgegnete er.
Plötzlich vergrub Candra ihr Finger grob in seinen Arm und brachte ihn zum Stocken. „Waaaaas? In der dritten?“, fragte sie ungläubig und sah ihn mit großen Kulleraugen an.
Er rollte mit seinen Augen und zog sie mit sich. „Ja. In der dritten. Wie ich dir gestern bereits gesagt hatte.“
„Dann lässt du mich ganz alleine in UW?“, stieß sie aus und ließ ihn wieder los. Langsam setzte auch sie sich wieder in Bewegung.
„Genau so sieht es aus. Aber ich weiß, dass du das auch ohne mich schaffen wirst.“ Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und vergrub seine freie Hand in der Jackentasche.
„Das wird mein Todesurteil. PS: Du kannst vergessen, dass du meine Notizen bekommst.“, sagte sie und sah ihn ernst an.
Hënë lachte auf und zog ihr die Mütze auf die Augen. „Du und Notizen? Wir sprechen immer noch von dir, oder?“, fragte er.
„Hey!“ Candra zog ihre Mütze wieder hoch und schlug wütend in seine Richtung. Allerdings kam sie bei ihrem Größenunterschied nicht allzu weit. „Ich mache mir sehr wohl Notizen im Unterricht!“ Grummelig wirbelte sie ein wenig Schnee mit ihrem Fuß auf.
„Die allerdings absolut nie zu gebrauchen sind.“, fügte er kichernd hinzu.
Beleidigt ignorierte sie ihn und stapfte stumm vor ihm her.
„Keine Sorge. Ich hab schon für einen Plan B gesorgt.“, rief er ihr hinterher.
Sie wurde langsamer, bis sie wieder neben ihm her lief. „Und der wäre?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick war stur nach vorne gerichtet.
„Ich hol mir die Notizen von Charlotte.“, antwortete Hënë.
Erleichtert atmete sie aus. „Dann wird die Stunde nur die reinste Qual und kein Todesurteil.“, entgegnete sie.
„Ich frag mich immer wieder, wie du deine anderen Kurse überhaupt ohne mich schaffst.“, überlegte er grinsend.
„Teilweise gar nicht. In Mathe falle ich im Moment komplett durch.“, murmelte Candra niedergeschlagen, „Ich hoffe einfach auf ein Wunder.“
Schweigend erreichten sie die hell erleuchtete Schule und gingen auf geradem Weg zum Schwarzen Brett, um ihre Kurse zu prüfen. Doch eine große Menge Schüler war bereits davor versammelt.
„Scheinbar fällt wieder irgendwas aus.“, sagte sie und versuchte sich durch die Menge zu quetschen.
„Mh... Wie es aussieht dein Russisch-Kurs.“, antwortete Hënë mit einem kurzen Blick über seine Mitschüler.
„Danke, du Riese.“, erwiderte sie und zog sich die Mütze vom Kopf, „Dann kann ich das Buch auch gleich direkt im Spind lassen. Heißt wohl, dass ich eine ziemlich lange Mittagspause habe.“
Hënë packte sein Handy aus der Tasche und überprüfte die Online-Seite des Schwarzen Bretts. „Eher weniger. Ihr habt Aufgaben bekommen.“ Er wedelte mit seinem Gerät vor ihrer Nase.
„Na toll. Und ich hatte schon gehofft, dass ich ein bisschen Zeit habe, um nach Toffee zu sehen.“, stieß sie genervt aus und ließ ihre Mütze um ihren Finger kreisen.
„Hast du nicht heute Nachmittag Zeit dafür?“, fragte er nach.
„Ja... Das schon, aber hey, ich hab sie seit letzter Woche nicht gesehen.“, antwortete Candra Schulter zuckend. Auch sie packte ihr Handy aus und öffnete die Schul-App, während sie zu einem der Automaten im Flur ging. Zügig tippte sie die Kurzwahl für eine Flasche Wasser und hielt ihr Smartphone an den kleinen, schwarzen kontaktlosen Leser.
Mit verstauter Flasche begaben sie sich gemeinsam zu ihren Spinden und breiteten sich auf die erste Hälfte ihres Schultages vor. Im obersten Stockwerk teilten sich ihre Wege und jeder ging zu seiner ersten Stunde.
„Viel Erfolg bei deiner Klausur! Ich drücke dir die Daumen und denke an dich.“, rief sie ihm noch hinterher und warf ihm einen Luftkuss zu.
„Danke.“ Hënë rollte wieder mal mit seinen Augen. „Als ob deine Gedanken beim Unterricht wären.“ Er salutierte mit zwei Fingern in ihre Richtung, bevor er sich umdrehte und seinen Kurs aufsuchte.
Der Vormittag verging langsam. Zwischen den Fächern musste Candra nicht weit laufen, denn Englisch befand sich nur einige Räume weiter. Doch als sie das Zimmer betrat, spürte sie sofort eine ungewöhnliche Atmosphäre. Neugierig sah sie sich um und erkannte, dass auch ihre anderen Klassenkameraden stockten. Sie folgte ihren Blicken und sah schon den Grund der angespannten Stimmung.
In der vorletzten Reihe saß eine neue Schülerin. Ihr mittellanges, braunes Haar war halb hochgesteckt und sie blickte verträumt aus dem Fenster, als würde sie den Trubel um sich herum gar nicht wahrnehmen.
Candra setzte sich an ihren Tisch, nur einige Reihen vor dem Mädchen. Mr. Evans betrat den Raum und rief die Klasse zur Ruhe, um seinen Unterricht zu beginnen. Er würdigte die neue Schülerin keines zweiten Blickes und verzichtete auf eine Vorstellung.
Während der Stunde stahl sie immer wieder einen Blick über die Schulter auf die Gestalt. Sie wirkte anmutig und geheimnisvoll, sie sprach mit niemandem, folgte jedoch konzentriert dem Unterricht und machte sich Notizen. Ganz im Gegenteil zu Candra.
Das muss wohl Luna sein., ging es ihr durch den Kopf.
Von Luna strahlte eine gewissen Anziehungskraft aus. Sie musste einfach mehr über sie erfahren.
Das Klingeln zum Stundenende riss Candra aus ihren Gedanken. Sie sah auf das leeres Blatt vor sich. Nur das Datum und der Kurs war darauf eingetragen. Hënë hatte recht, auf sie war wirklich kein Verlass.
Wie kann die Stunde bereits vergangen sein?, fragte sie sich. Sie wurde nicht einmal aufgerufen, oder, wie üblich, ermahnt. Das Gerede um sie herum war bereits in vollem Gange. Steif sammelte sie ihre Habseligkeiten zusammen und rappelte sich auf. Als sie ihren Blick wieder in Lunas Richtung warf, war ihr Stuhl bereits leer. Verwirrt sah sie sich um, doch Luna war schon verschwunden.
Hoffentlich haben wir noch andere Kurse zusammen., dachte sie und ging zu ihrer nächsten Stunde, zwei Etagen tiefer.
Sie nahm ich ein Beispiel an Luna und versuchte wenigstens einige Stichpunkt in Umweltwissenschaften zusammen zu bekommen. Zu ihrer Überraschung war das Thema Botanik im Fokus und so konnte sie, ohne große Mühen, konzentriert bleiben. Als Ms. Williams die Stunde für beendet erklärt hatte, blickte Candra zufrieden auf ihre zweiseitige Mitschrift. Vielleicht brauchten sie die Notizen von Charlotte erst gar nicht.
Immer noch glücklich trottete sie in den nächsten Unterricht. Mathe. Von allen Fächern auf der Welt musste es Mathematik sein. Voralgebra, um genau zu sein. Und schon ging ihre fröhliche Laune den Bach runter. Mit grimmiger Miene betrat sie das Zimmer. Mrs. Schneider warf ihr bereits einen bösen Blick zu. Sie rollte bloß mit den Augen und nahm Platz. Nur wenige Sekunden vor dem Klingeln rauschte auch Luna in den Raum und setzte sich an den einzigen leeren Tisch, direkt neben Candra. Ihre Mienen erhellten sich. Endlich bekam sie die Chance auf einen näheren Blick. Vielleicht konnte sie sie auch in ein Gespräch verwickeln.
Mrs. Schneider rief Luna auf, um sich der Klasse vorzustellen. Mit geradem Rücken richtete sie sich auf und ging mit vorsichtigen Schritten zwischen den eng stehenden Tischen hindurch. Sie hielt den Kopf meist unten und blickte nur kurz auf, um ihren Mitschülern ein schüchternes Lächeln zu schenken. Zügig schickte die Lehrerin sie wieder zurück, um mit ihrem Unterricht fortzusetzen.
„Keine Angst, sie sieht nur wie eine Schlange aus.“, flüsterte Candra ihr mit fröhlicher Stimme zu, nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte. Luna zuckte erschrocken zusammen und drehte sich mechanisch in ihre Richtung.
„Ähm, d-danke?“, stotterte sie verunsichert.
Candra kicherte in sich hinein, während ihre Locken um ihr Gesicht sprangen. Als sie sich beruhigt hatte, stellte sie sich ihr flüsternd vor: „Mein Name ist übrigens Candra. Und unsere Mrs. Schneider hier...“
Sie wurde jähe von einer schroffen Stimme unterbrochen, die Luna wieder zum zusammenfahren brachte. „Miss Jones! Wie schön zu sehen, dass Sie sich gleich mit unserer neuen Schülerin anfreunden wollen, doch das kann noch bis zum Mittag warten. Vor allem, da gerade Sie es nötig haben meinem Unterricht ohne Störung zu folgen.“ Ein Lachen ging durch den Raum und Hitze stieg in ihr Wangen. „Und Miss Salem hier muss auch noch einen Anschluss zu ihrem alten Kurs finden.“
„Ja, Mrs. Schneider.“, antwortete sie nüchtern und blickte bedrückt auf ihren Notizblock.
„Nun denn, machen wir weiter, wo wir aufgehört hatten.“, nahm die Lehrerin ihren Faden wieder auf und schrieb einige Gleichungen an die Tafel.
Luna übernahm bereits eifrig alles Geschriebene, murmelte jedoch Candra leise zu: „Wir können ja nach der Stunde weiterreden.“ Sie zwinkerte ihr freundlich zu und ein riesiges Grinsen breitete sich auf Candras Gesicht aus. Auch sie nahm ihren Stift auf und begann damit, ebenfalls mitzuschreiben.
Glücklich versuchte sie dem Rest der Stunde zu folgen und konnte es nun kaum mehr bis zur Pause aushalten. Sie hörte ein leises Magenknurren aus Lunas Richtung. Candra lächelte in sich hinein, sie war scheinbar nicht die Einzige, die sich auf die Mittagspause freute.
Nachdem es geklingelt hatte, packten sie zügig ihre Schulmaterialien zusammen. Sie war schnell fertig und setzte sich mit geschultertem Rucksack auf den Tisch. Mit baumelnden Beinen wartete sie auf Luna.
„Brauchst du noch etwas aus deinem Spind?“, fragte Candra beiläufig.
„Ja, ich muss noch meine Bücher für die Fächer nach der Pause wechseln.“, antwortete sie, während sie ihr Federmäppchen verstaute.
„In Ordnung, dann gehen wir gleich als erstes ganz runter zu den Schließfächer und dann erst in die Mensa. Die befindet sich im B-Geschoss.“, erklärte Candra und sprang vom Tisch auf. Verstehend nickte Luna ihr zu.
„Welches Fach hast du als nächstes?“, fragte sie, als sie sich in Bewegung setzten und den Klassenraum verließen.
„Also, ich habe als nächstes...“, begann sie.
Doch sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn eine zu bekannte Stimme erklang bereits hinter ihnen. „Candra! Candra! Hast du schon..?“ Sie warf einen Blick über die Schulter. Hënë stand mit geweiteten Augen nur wenige Schritte von ihnen entfernt.
Sie drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit hochgezogener Augenbraue sah sie ihn an. „Du wolltest sicher wissen, ob ich die Neue schon gesehen habe?“ Sie hielt sich einen Finger ans Kinn. „Mhm... ja... jetzt wo du sagst. Ich glaube, sie war gerade in meinem Mathekurs. Oh, und sie war auch noch in Englisch.“, entgegnete sie und boxte dem Jungen gegen die Schulter. „Hënë, das ist Luna. Luna, Hënë.“ Candra deutete von ihm zu Luna und wieder zurück.
Sie lächelte Hënë freundlich an und musterte ihm. „Es freut mich.“, sagte sie zurückhaltend.
„G-Ganz m-meinerseits.“, stotterte er, und rieb sich peinlich berührt den Nacken. Die beiden Mädchen schmunzelten.
„Wir haben zusammen Englisch?“, fragte sie Candra erstaunt.
„Ja! Ich sitze zwei Reihen quer vor dir.“, lachte sie, bevor sie ausholte und Hënë ernst mit dem Finger vor die Brust stieß, „Und wärst du in UW gewesen, hätten wir schon längst darüber tuscheln können!“
„Es tut mir ja leid! Ich kann doch nichts dafür, in welchen Stunden sie mich Nachschreiben lassen!“, verteidigte er sich.
Candra kicherte in sich hinein. Sie zog ihm an seinen Arm und versuchte nach seinem welligen Haar zu greifen, um es zu zerzausen. Sein Gesicht lief dabei hochrot an.
„Doch nicht so stürmisch!“, flehte er in seiner unangenehmen Position, bis sie ihn schließlich wieder losließ.
„Sei nicht immer so schüchtern!“, entgegnete sie und streckte ihm die Zunge raus. „Wir beide wissen, dass du nicht immer so bist. Na kommt jetzt. Ansonsten bekommen wir keine ordentlichen Sitzplätze mehr in der Mensa.“ Candra schob Luna sanft an und sie begann sich in die vorgegebene Richtung zu bewegen. Hënë fuhr sich noch schnell durchs dichte Haar, um es zu bändigen, bevor er ihnen hinterher trabte.
Sie bewegten sich entspannt in einer Einheit durch die Menschenmenge auf den Weg ins Erdgeschoss und unterhielten sich angeregt. Luna schwieg die meiste Zeit und versuchte mit ihnen Schritt zu halten.
„Du wirst es kaum glauben.“, begann Candra.
„Du hast mal im Unterricht aufgepasst?“, beendete Hënë ihren Satz. Schnell waren sie zurück bei ihren freundschaftlichen Sticheleien.
„Und ob. Ich hab sogar einigermaßen brauchbare Notizen aus UW für dich.“, sagte sie freudestrahlend.
„Das werden wir noch sehen.“, erwiderte er skeptisch.
„UW?“, warf Luna verwirrt ein.
„Umweltwissenschaften. Wir haben den Kurs zusammen.“, erklärte er, „Genau so, wie wir beiden zusammen Geschichte in der Ersten haben.“
„Wir haben zusammen den Gesichtskurs?“, fragte sie.
„Ja, ich sitze in der ersten Reihe, gleich neben Charlotte. Charlotte-Mary Hall. Das Mädchen, dass sich fast die ganze Zeit über meldet.“
Candra rollte mit den Augen. „So wie in jedem anderen Kurs auch.“, fügte sie hinzu.
„Lieber ein Streber sein, als einen halben Nervenzusammenbruch vor jeder Klausur zu bekommen.“, entgegnete Hënë lachend und stieß Candra mit dem Ellbogen an.
Mit böser Miene rieb sie ihren Arm. „Da sind wir auch schon.“, sagte sie und sah in Lunas Richtung, doch sie hatte sich schon wieder in Luft aufgelöst. Verwirrt sah sie sich um. „Wie macht sie das bloß immer?“, fragte sie sich.
„Wer macht was immer?“, hakte Hënë nach, während er in seinem Spind wühlte.
„Luna. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Vorhin nach Englisch auch. Kaum lasse ich sie für eine Sekunde aus den Augen, ist sie in der nächsten schon weg.“, antwortete sie, öffnete ebenfalls ihr Schließfach und tauschte ihre Bücher aus. Als sie die Tür wieder schloss, stand Luna auch bereits dahinter.
„Wo bist du denn auf einmal hin verschwunden?“, fragte Candra und legte ihren Kopf schief.
„Meine Spind befindet sich beim Eingangsbereich.“, entgegnete sie und deutete um die Ecke.
„Ach so, normalerweise befinden sich die Spinde unseres Jahrgangs hier in diesem Teilbereich. Haben die von der Verwaltung sich ziemlich clever ausgedacht, oder?“, erklärte sie lächelnd.
„Ja, wieder ein Teil dieser Umstrukturierung, oder?“, schlussfolgerte sie.
„Ganz genau, ich war noch in der Mittelschule, als sie damit abgeschlossen haben. Ist ganz praktisch, und vor allem einfach, wenn alles seine Ordnung hat.“
Luna nickte ihr zustimmend zu. Sie warteten noch auf Hënë, ehe sie sich auf den Weg in die Cafeteria machten. Immer wieder warf Luna interessierte Blicke rechts und links, als sie durch die Gänge gingen. Candra sah hinüber zu ihrem Stammtisch und stellte glücklich fest, dass er noch frei war.
„Wo sind denn hier die Kassen?“, fragte sie Luna plötzlich mit einem besorgten Blick. Einige Kantinen-Mitarbeiterinnen bewegten sich zügig hinter den Theken und füllten einzelne Vitrinen mit Mahlzeiten auf.
„Hat dir Barbara das nicht erklärt?“, erkundigte sich Candra und seufzte, „Alles erklärt sie dir, außer dem Wichtigsten, dem Essen! Sicher hat sie es vergessen. Also, das funktioniert so bei uns: Du downloadest dir von unserer Homepage die Schul-App runter. Da loggst dich mit deiner Schüler-ID ein.“ Sie holte ihr Handy hervor, öffnete das Programm und zeigte es ihr. „Du drückst hier, auf das Symbol mit der Teller. Das ist die Seite für die Mensa.“, erklärte sie, „Dort wird dir auch angezeigt, was es die nächsten zwei Wochen hier in der Kantine gibt.“
Candra nahm sich ein Tablett vom Stapel am Anfang der Theke und legte ihr Handy darauf ab. Sie fügte noch Besteck hinzu und reihte sich in die Schlange ein. Die beiden anderen folgen ihrem Beispiel. Gespannt versuchte sie einen Blick auf das Essen zu erhaschen, das einige ihrer Mitschüler bereits auf ihren Tabletts hatten.
Als sie an der Reihe waren, überlegte sie nicht lange und nahm entschied sich für einen kleinen Beilagensalat. „Hier.“, deutete sie und hielt ihr Handy an den kontaktlosen Leser. Die Glastür der Vitrine glitt geräuschlos auf und sie nahm die Vorspeise heraus. „Der Kontakt übermittelt die Daten auf deine ID und dann kriegst du am Ende des Monats eine Rechnung nach Hause geschickt.“, informierte sie Luna und bewegte sich weiter.
„Was hättest du den gerne?“, fragte Hënë sie.
„Muss ich nicht erst das mit der App machen?“, antwortete sie zögernd.
Candra schüttelte ihren Kopf. „Das kannst du ruhig später machen, wir können das Essen auch auf andere Schüler transferieren. Es hat nicht immer jeder sein Handy dabei, beziehungsweise manchmal ist auch einfach der Akku leer.“, entgegnete sie schulterzuckend.
„In Ordnung. Dann hätte ich auch gerne einen Salat.“, entschied sich Luna schüchtern, während Candra ihr Essen bei sich eintrug. „Danke.“, bedankte sie sich höflich.
Sie folgten weiter der Reihe und beluden ihre Tabletts. Als sie zur Dessert- und Snack-Ausgabe kamen, griff Candra gierig nach einer Schale Mousse au Chocolat.
„Die habe ich mir verdient!“, prahlte sie stolz.
„Noch habe ich dich nichts Gesundes essen sehen!“, entgegnete Hënë lachend.
„Hey, das ist meine Belohnung für die umfangreichen Mitschriften heute!“, schimpfte sie.
„Davon überzeuge ich mich gleich selbst.“, erwiderte er und nahm sich eine Banane. Er scannte den Barcode neben dem Obstkorb ein und tippte auf seinem Handy herum, bevor er es Luna anschließend zeigte: „Siehst du, Luna? Um es einfacher zu machen, scanne ich hier den Code für die Früchte ein und suche dann am Handy aus, welche und in welcher Menge ich genommen habe. So haben wir hier kein Chaos mit zu vielen Schildern, bei den offenen Sachen.“
Erstaunt und verstehend nickte sie ihm zu. „Danke!“, antwortete sie freudestrahlend.
Hënë lief rot an und rieb sich den Nacken „K-keine Ursachen!“, stotterte er, was sie zum Lächeln brachte.
Nachdem alle ihr Mittagsessen zusammengestellt hatten, peilte Candra die Getränkeanlage in der Mitte des Raumes an, während Hënë sich an ihren Stammtisch setzte.
„Willst du etwas Warmes oder Kaltes trinken?“, fragte sie Luna.
„Jetzt erst mal etwas kaltes und, wenn wir danach noch Zeit haben, würde ich mir gerne einen Tee holen.“, entgegnete sie.
Sie schaute auf ihr Uhr und antwortete: „Wir haben noch etwa eine halbe Stunde Zeit, das sollte reichen. Also, auf dieser Seite befindet sich die Getränkeanlage für die Softgetränke, sowie ein paar Flaschen verschiedener Limonaden. Auf der anderen findest du die Heißgetränk. Dort befindet sich ein Kaffeevollautomat, der dir alles mögliche ausspuckt.“ Wieder nickte sie verstehend. Sie nahm sich ein Glas Wasser, während Candra ein Limonade und ein weiteres Glas Wasser auf ihrem überfüllten Tablett balancierte.
Sie liefen vorsichtig, ohne ihr Essen auf dem Boden zu verteilen, zum kleinen Rundtisch mit vier Stühlen umgeben und direkt am Fenster war, und stellten ihre Tabletts gegenüber von einander ab.
Hënë hielt seine Hand bereits abwartend auf. Stöhnend reichte Candra ihm sein Glas, welches er prompt wieder absetzte. „Die Notizen.“, sagte er bloß und sah sie ungeduldig an.
„Lass mich doch erst mal runter kommen!“, antwortete sie bissig, suchte aber bereits in ihrer Tasche nach den verlangten Papieren. Ihre Mienen hellten sich auf, als sie die Mitschrift nochmal schnell überflog und sie ihm reichte. „Ich hoffe, dass es den werten Herrn Schwänzer zufrieden stellt.“
Ohne zu blinzeln griff er unbeirrt danach und las sie sich schweigend durch, während er zu essen begann.
Candra ergriff ihre Chance und durchbohrt Luna mit der ersten Frage: „Also, Luna, du kommst aus Kalifornien. Woher genau?“ Sie beugten sich interessiert vor und sah sie abwartend mit großen Augen an. Auch Hënë warf einen neugierigen Blick aus dem Augenwinkel auf Luna.
Sie verschluckte sich bei dem plötzlichen Angriff an ihrem Apfel und hustete schwer. Nachdem sie sich beruhigt hatte und das Essen runter geschluckt hatte, antwortete sie: „Aus Los Angeles.“
Angeregt unterhielten sie sich über Lunas Heimat und ihren Schulwechsel, während sie aßen und gemeinsam lachten.
Als er die Mensa betrat, warf er einen Blick an Solanas Tisch. Sie waren bereits alle versammelt und diskutierten scheinbar intensiv über etwas. Seit dem Streit mit seiner Schwester am Vortag hatte er seinen Appetit verloren und Schuldgefühle plagten ihn. Sie war am Morgen bereits früh verschwunden und er fuhr den Weg zur Schule in Einsamkeit. Er zwang sich dazu etwas zu Essen zu nehmen und ging auf geradem Weg zu seiner Gruppe.
„Findet ihr nicht auch, dass die Atmosphäre um sie so... Wie soll ich sagen?“, hörte er Kira sagen.
Solana saß mit verschränkten Armen vor der Brust auf ihrem Stuhl, während sie gedankenverloren ins Nichts starrte.
„Wessen Atmosphäre?“, fragte er nach, als er sich zwischen die beiden setzte. Kirabo fiel vor Schreck fast von ihrem Platz.
„Lucas! Schleich' dich doch nicht so an.“, zischte sie.
„Lunas.“, antwortete Solana stumpf. Sie starrte immer noch vor sich her.
„Luna Salem?“, entgegnete er.
Sie nickte in die Richtung, in die sie sah. Er folgte ihrem Blick und erkannte, dass ein unbekanntes Mädchen gegenüber von seiner Schwester saß.
Gut gemacht, Candra., dachte er und lächelte in sich hinein.
„Sie scheint sich mit deiner Schwester ganz gut zu verstehen.“, schlussfolgerte Kirabo.
„Mh. Scheint so.“, stimmte er ihr zu und begann auf seinem Müsliriegel zu kauen.
Solana schlug mit der Faust auf den Tisch. Alle Augenpaare am Tisch waren plötzlich auf sie gerichtet. „Das ist ein Desaster! Genau das hätte am aller wenigsten passieren dürfen! Wartet nur, bis Helia das mitbekommt.“
Bedrückt schwiegen alle, nur Lucas ergriff das Wort: „Bist du dir da sicher?“ Nun hingen alle Blicke eingeschüchtert auf ihm.
Auch Solana beäugte ihn kritisch. Sie legte ihr Kinn auf ihre gefalteten Hände ab und sah ihn abwartend an. „Sprich.“, forderte sie ihn auf.
„Wenn sie sich näher anfreunden, kommt sie sicher auch früher oder später zu uns nach Hause. Candra ist ein Plappermaul und wird mir bestimmt alles über sie erzählen.“, antwortete er.
„Mhm. Da ist was dran. Aber ich glaube, dass es uns nicht viel Nützen wird, wenn sie sich mit dem Feind verbündet.“
Lucas schnaufte und fragte: „Meinst du wegen deiner Reputation, oder weil du Angst hast, dass sie sie gegen uns verwenden werden?“
„Sowohl, als auch.“ Entnervt rieb sie sich die Stirn. „Jetzt ist es sowieso zu spät. Ich werde einfach versuchen sie für mich, für uns, zu gewinnen.“
Er warf einen weiteren Blick an Candras Tisch. Interessiert verfolgte Luna ein hitziges Wortgefecht zwischen seiner Schwester und Hënë. Sie sah unscheinbar, und doch graziös aus, auch glich sie in keinster Weise der berüchtigten Rebecca Nurse. Und doch zog sie ihn an, ihr ganzes Dasein weckte in ihm einen nie dagewesenen Beschützerinstinkt. „Willst du das nicht lieber mir überlassen?“, hinterfragte er Solana, während seine innere Stimme ihn anschrie. Er wollte nicht, dass sie jemals zu nah an Luna herankam.
„Dir?“ Sie zog zweifelnd eine ihrer makellosen Augenbrauen hoch.
„Liegt es nicht auf der Hand? Halt deine Freunde nah, doch deine Feinde näher.“, erwiderte er.
„Da ist was dran, Solana.“, bekräftigte ihn Kirabo.
Ohne auf Solanas Antwort zu warten, erhob er sich mitsamt seines Tabletts und ging zur Dreiergruppe.
Er sah bereits von Weitem Candras schlechtgelaunten Blick, als er sich in ihre Richtung bewegte. Sie flüsterte Hënë etwas ins Ohr und auch er sah in seine Richtung.
War klar, dass Hënë wieder komplett im Bild ist. Er unterdrückte das genervte Augenrollen, bevor er am Tisch ankam, und begrüßte die Gruppe schließlich mit einem freundlichen Lächeln. Ein pulsierendes Gefühl ließ ihn plötzlich in seiner Bewegung stoppen. Als er Luna ansah, erkannte er, dass diese Schwingungen von ihr ausgingen.
Er räusperte sich und versuchte seinen Faden wiederaufzunehmen. „Hey Candra, Hënë. Und du musst Luna Salem sein, nicht wahr?“
Candra sah ihn mit zu Schlitzen geformten Augen an, stellte die beiden jedoch widerwillig einander vor. Luna wand sich im entgegen und sah ihn intensiv an. Ein Lächeln formte sich auf ihren vollen Lippen und ließ ihre haselnussbraunen Augen strahlen, was sein Herz kurz zum Stocken brachte. Sie war atemberaubend. Er setzte sich neben sie und bewunderte sie weiter. Sein Blick fiel auf die fein gearbeitet Kette an ihrem Hals.
„Schöne Kette. Ist das ein Mondstein?“, fragte er. Auch Candras und Hënës Blicke fielen auf Luna, die Lucas mit schief gelegtem Kopf perplex ansah.
„Meine Kette?“, entgegnete sie und schaute an sich herab. „Ja. Das ist ein Mondstein. Die hat mir meine Großmutter heute morgen geschenkt.“
Aus Candras Kehle kam an durchdringendes, quietschendes Geräusch, während sie Hënës Arm wild schüttelte. Verwundert blickte Luna die beiden an.
„Kümmer dich nicht zu sehr um die beiden.“, sagte Lucas mit einem Augenrollen und fokussierte sie wieder. Er hatte bereits genug Information durch ihre wenigen Worte bekommen.
„Ich hab auch eine Mondstein-Kette.“, hauchte Candra und bewunderte weiter Lunas Kette. „Aber die ist Zuhause. Ich trag meine nur an Vollmond.“
„Vollmond?“, hakte Luna neugierig nach.
„Ja. Da... fühlt es sich einfach richtig an.“, versuchte Candra sich zu retten und blickte zur Seite.
Lucas räusperte sich. „Nur zur Info. Solana würde dich gerne kennenlernen.“, fügte er hinzu. Er hörte Candra erleichtert aufatmen, was jedoch schnell von einer bitteren Miene gefolgt wurde.
„Solana Goodworth?“, fragte Luna nach.
„Ja, genau. Sie sitzt dort drüben.“ Er deutete mit einem Daumen in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Die braucht mir hier nicht am Tisch aufzutauchen.“, entgegnete Candra mit verschränkten Armen.
„Ich hab schon Claire getroffen. Und von Solana hab ich auch schon einiges gehört. Ich werde es mir überlegen.“, antwortete Luna mit genervtem Blick und stocherte in ihrem Essen herum.
„Du hast He-, ähm, Claire schon getroffen?“, erwiderte Lucas stockend, während eine rasende Wut sich in ihm breit machte.
„Ja, heute morgen in der Verwaltung.“, antwortete Luna und biss sich auf die Unterlippe.
„Du arme.“, tröstete Candra sie, „Du musst dich mit keiner von beiden abgeben, wenn du das nicht willst.“
Schon war Solanas Plan hinfällig und Lucas' fiel in greifbare Nähe.
„Wie wäre es damit. Ich gebe dir meine Nummer, und solltest du je von einer der Goodworth-Schwestern bedrängt werden, lass es mich wissen und ich komme dir sofort zur Hilfe.“, fügte er hinzu und lächelte sie aufrichtig an. Schnell tippte sie seine Nummer in ihr Handy.
„Danke, ihr beiden.“, sagte Luna, während sie die Gruppe anstrahlte.
„Auch auf mich kannst du dich verlassen.“, ergänzte Hënë schüchtern. Sie nickte ihm dankbar zu.
„Wie ist es eigentlich bei deiner Großmutter zu leben? Aufregend, oder?“, wechselte Lucas das Thema, in der Hoffnung, mehr zu erfahren.
„Rebecca? Aufregend? Eher ziemlich entspannt. Ich war schon öfter zu Besuch bei ihr, als ich noch klein war, doch jetzt dauerhaft bei ihr zu leben ist irgendwie... neu... und ungewohnt.“, antwortete Luna gedankenversunken.
„Macht dir der Schulwechsel keine Sorgen?“, hinterfragte Candra neugierig.
„Nein, eher weniger. Ich mache mir mehr Sorgen um meine Eltern, jetzt da sie am anderen Ende der Welt sind.“, erwiderte sie.
„Du machst dir Sorgen um deine Eltern? Ist das normalerweise nicht genau anders herum?“, entgegnete Hënë mit einem Zucken im Mundwinkel.
„Meine Eltern wissen, dass ich bei Rebecca in Sicherheit bin. Auch wissen sie, dass ich eine Kämpferin bin, und mich nicht unterkriegen lasse.“, sagte Luna mit einem selbstbewussten Lächeln.
„So, so. Eine Kämpferin also. Was kannst du vorweisen?“, fragte Lucas und sah sie mit großem Interesse an, während einige seiner Finger an seiner Wange ruhten.
„Einerseits meine gute Menschenkenntnis, andererseits bin ich ganz gut mit dem Bogen und beherrsche ein wenig Selbstverteidigung.“, zählte sie auf.
Hënë stieß Lucas mit dem Ellbogen gegen den Arm und lachte. „Sieht so aus, als würde sie deine Hilfe gar nicht brauchen, du großer Retter in der Not.“
Luna zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich Selbstverteidigung erlerne.“
„Wegen des Großstadt-Lebens?“, hakte Candra nach.
„Genau. Sie lassen mich schon eine Weile auf mich selbst aufpassen, da sie so mit der Arbeit beschäftigt sind. Aber mir ist es ganz recht so. Ich genieße meine Selbständigkeit in vollen Zügen.“, entgegnete sie.
„Unsere Mom lässt uns auch meistens auf uns allein gestellt. Da Lucas hier auch schon sechzehn ist und sowohl Führerschein, als auch ein Auto hat, kommen wir eigentlich ganz gut zurecht.“, sagte Candra mit einem Blick auf ihren Bruder.
„Sechzehn?“, verblüffte sah Luna ihn an, „Du bist nur eine Klasse über uns?“
Er schmunzelte und antwortete: „Ja, genau. Candra kam ziemlich schnell nach mir. Sie wird im Februar fünfzehn, während ich im Oktober Geburtstag habe.“
„Dann bin ich einen knappen Monat älter als du, Candra.“, lächelte sie.
„Du hast noch diesen Monat Geburtstag?“, sie sah sie an und kniff kurz ihre Augen zusammen, „Lass mich raten, der 25. Januar?“ Sie warf einen blitzschnellen Blick in Hënës Richtung, der ihr zustimmend zunickte.
„Wie kommst du auf so ein genaues Datum?“ Perplex sah Luna sie an.
„Ich wurde an einem Vollmond im Dezember geboren. Eine Mondphase dauert ungefähr 29 und einen halben Tag.“, erklärte Hënë, „Auch Candra wurde unter einem Vollmond geboren.“
„Aber das erklärt immer noch nicht, woher ihr das so genau wissen wollt.“, sagte sie verwirrt.
„Es... es war nur so ein Gedanke.“, erwiderte Candra mit großen Augen. Sie war schon immer eine schlechte Lügnerin gewesen.
Luna legte ihre Stirn in Falten. „Um es genau zu sagen: Ich wurde am 26. Januar in L.A. geboren. Sorry Leute.“, antwortete sie.
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen! Es wäre einfach nur ein interessanter Zufall gewesen.“, erwiderte Candra bedrückt.
„Ja. Ein Zufall.“, murmelte Lucas. Alle Augen waren plötzlich auf ihn gerichtet. „Ähm... ich meine, es wäre ein wirklich lustiger Zufall gewesen, dass gerade ihr drei euch direkt gefunden hättet, alle mit der selben Gemeinsamkeit.“
„Nur ist es nicht so.“, fügte Luna hinzu.
„Ja.“, sagten Hënë und Candra wie aus einem Munde. Sie sahen sich an und lachten auf.
„Hast du Musik, Kunst oder Werken gewählt?“, fragte Candra nach einer Weile, um das Gespräch auf etwas anderes zu lenken.
„Musik.“, antwortete Luna.
„Jaha! Wenigstens eine Gemeinsamkeit“, rief sie triumphierend aus, „Ich hab auch Musik, aber ich spiele nur Geige, kein Gesang. Hënë ist freitags auch immer dabei, und zwar am Schlagzeug. Was spielst du?“
„Ich singe und spiele Klavier.“, erwiderte Luna verträumt, „Ein kleines Mädchen am Flughafen hat mich ihr vorsingen lassen.“ Ein sanftes rosa färbte ihre Wangen. „Aber warum ist Hënë nur freitags dabei?“
„Normalerweise habe ich Kunst, aber Mr. Lewis hat darauf bestanden, dass ich trotzdem am Orchester-Tag dabei bin. Er hat sogar extra dafür Mrs. Lightwing bestochen.“, entgegnete er lachend.
„Auch ich habe Musik und bin freitags da.“, warf Lucas ein. Candra rollte mal wieder mit ihren Augen, was ihn wie einen Peitschenhieb traf. Sie war immer noch sauer, auch wenn sie es nicht immer zeigte.
„Genau. Lucas spielt Bass.“, unterbrach sie ihn, „Aber dich würde ich echt gerne singen hören, Luna. Wir haben nicht viele gute Sänger.“
„Eine davon ist leider Solana, du wirst ihr nachher definitiv über den Weg laufen.“, sagte Hënë bitter.
Luna warf einen Blick durch die Cafeteria und schob ihr fast leeres Tablett von sich weg. „Das war's wohl mit Essen.“
Er blickte auf sein Handy. „Du hast recht. Die Pause ist gleich zu Ende und wir sollten uns langsam zu unseren nächsten Kursen begeben.“
Die kleine Gruppe räumte zügig ihren Tisch ab. Mit geschulterten Taschen bewegten sie sich in Richtung des riesigen Treppenhauses.
Als sich in der nächsten Etage ihre Wege trennten warf Luna einen verwirrten Blick auf das Geschwister-Paar. „Hast du jetzt nicht auch deinen Sprachkurs?“, fragte sie Candra.
„Nein. Russisch fällt aus.“, entgegnete sie schulterzuckend.
„Russisch ist doch bei Miss Petrov, oder?“, hakte sie nach, „Ich hatte sie heute in Gesundheitswissenschaften.“
„Laut Plan fällt es aus. Scheinbar hat sie etwas anderes zu tun.“, sagte Candra bevor sie ich mit einem Winken verabschiedete und in die Bücherei ging.
„Ich sollte auch langsam. Ich wünsche dir viel Spaß, Luna.“, verabschiedete sich auch Lucas mit einem Lächeln und folgte seiner Schwester.
Hënë und Luna nickten ihm nur zu und folgten dem Treppenhaus weiter nach oben. Ihre pulsierende Aura wurde mit jedem Schritt schwächer, bis er sie nicht mehr spürte. Eine kalte Leere breitete sich in ihm aus und das bevorstehende Gespräch mit Candra fiel ihm dadurch noch schwerer.
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2022
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