Die Geschichte von der sagenumwobenen Stadt Aqba kennt jeder in der Wüste. Sie ist so alt, dass sie schon seit Menschengedenken von Generation zu Generation erzählt wird. Keiner weiß mehr, ob es diese Stadt jemals wirklich gab oder sie nur eine Erfindung wandernder Märchenerzähler ist. Dennoch wird sie immer wieder in den Träumen und Fantasien aus dem Nichts neu zum Leben erweckt und verschwindet wieder im Nichts.
Eine Perle war sie einst in der Wüste. Als ein Stamm von Nomaden bei ihrem Zug durch die Wüste vom Weg abkamen und nach einem geeigneten Platz zum Übernachten suchten, ließen sie sich am Fuße eines Felsens nieder. Einer Sage nach erschien in jener Nacht einem kleinen Hirtenjungen eine Schlange und führte ihn über einen engen Pass in ein Tal, versteckt in den Felsen, eingebettet in der Tiefe eines Beckens. Er eilte zu den anderen seines Stammes und erzählte ihnen von seiner Entdeckung. Diese folgten dem kleinen Jungen in das Tal und wurden von dem Anblick, der sie hier erwartete, überwältigt.
Das Tal war riesig, Dattelpalmen und exotisches Gewächs ragte hier und da in die Höhe. Aus den Felsen floss Wasser in das Tal und versammelte sich zu einem Fluss, welches das gesamte Tal durchzog und anschließend wieder in den Felsen verschwand. Die Luft war feucht und warm. Sie war wie eine andere Welt, die sich mitten in der Wüste aus dem Sand und kargen Felsstein erhob. Die Nomaden nannten das Tal Farida. Nie zuvor sahen sie eine vergleichbar schöne Gegend. Sie beschlossen, sich im Tal niederzulassen und nicht mehr weiter zu ziehen.
So kam es, dass die Nomaden sesshaft wurden und ihr Geheimnis versuchten, so gut wie möglich zu hüten. Es vergingen Jahre und sie erwirtschafteten mit den Früchten und dem Gold, welches sie in den Felsenhöhlen fanden und abbauten, ein Vermögen. Das einst kleine Dorf der Nomaden wurde immer größer. Wanderer fanden zum Tal und bewunderten sie. Sie ließen sich nieder und zogen nicht mehr weiter. Unter den neuen Siedlern waren auch viele Gebildete aus nah und fern. So kamen Dichter, Denker aber auch Bauherren, die sich auf der Suche nach neuem Wissen auf den Weg in die Ferne machten, doch hier im Tal verblieben und ihre neue Heimat fanden. Von ihnen profitierten die Talbewohner. Sie gründeten Schulen und ließen ihre Kinder in den verschiedenen Wissenschaften unterrichten. Jahre vergingen und das einst kleine Dorf wuchs zu einer prächtigen Stadt, die sie Aqba nannten. Die Nachkommen der Nomaden waren nun gebildete Bürger in einer der prächtigsten und schönsten Städte der Wüste. Ihre Stadt wurde ein Schmelzpunkt für Wissen und Kunst.
Die immer größer werdende Zahl der Einwohner machte den Bewohnern der Stadt jedoch große Sorgen. Immer mehr von dem kostbaren und fruchtbaren Boden musste geopfert werden um mehr Platz zum Bauen abzugewinnen. So versammelten sich die Ältesten der Stadt, deren Herkunft auf die ersten Siedler zurückzuführen war und berieten sich.
Sie beschlossen, dass sie in Aqba keine neuen Siedler mehr zulassen würden. Der Bau neuer Häuser sollte zunächst auch nicht mehr stattfinden und man bat die Bewohner, enger in den Häusern zu leben, bis eine neue Lösung gefunden würde.
Einer der berühmtesten Bauherren der Stadt, der große Teile der weiten Welt bereist und gesehen hatte, berichtete vor dem Ältestenrat von Häusern, die nicht in die Breite sondern in die Höhe ragten. Die Menschen jener Gebiete bauten sich diese Häuser, um auf dem wenigen Platz auf den Felsen so viel Wohnraum wie möglich zu schaffen.
So wurde die Stadt nicht mehr in die Breite sondern in die Höhe ausgebaut. Es vergingen Generationen und die Häuser wurden immer höher. Nur die Häuser der alt eingesessenen Familien hatten das Privileg, weiterhin ihre ursprünglichen Formen zu behalten.
Von der Ferne sah Aqba beim Betreten des Tales wie eine Stadt bestehend aus hoch in den Himmel ragenden Türmen aus. Zwischen ihnen bahnten sich enge und dunkle Gassen. In der Mitte der Stadt befand sich ein großer freier Platz. Er diente als Marktplatz und zum Feiern wichtiger Feste der Stadt wie die Gründungsfeier, die jährlich stattfand. Viele Gäste aus fernen Gegenden kamen um die prächtige Stadt zu bewundern. Am Eingang der Stadt befand sich ein großer Brunnen. Er war mit einer Steinmauer umgeben und wurde von allen Bewohnern als Wasserquelle benutzt. In riesigen Fässern bewahrten die Bewohner in ihren Wohnungen ihre Wasservorräte auf, um sich die langen Wege jedes Mal zu ersparen. Auch wenn Aqba nicht mehr größer wurde, wuchs dennoch ihr Ruhm und Reichtum über die Jahre hinweg unaufhaltsam. Die riesigen Häuser wurden mit aufwendigen Fassaden bearbeitet und die Böden der Stadt mit Steinen bepflastert, die man von den umliegenden Felsen abtrug.
Aqba war in der Wüste die einzige Stadt ihrer Art. Sie hatte viele Namen. Man nannte sie die steinerne Stadt oder die Perle der Wüste. Doch alle wussten welche Stadt gemeint war, wenn man von Aqba sprach. Der einzige Weg, welcher in die Stadt führte, war leicht zu kontrollieren. So war es unmöglich, die Stadt einzunehmen. Auch konnte keiner in die Stadt gelangen, ohne die Posten zu passieren. Die Stadt war sicher und uneinnehmbar. Dennoch verfügte sie über eine große Armee, um für den Ernstfall vorbereitet zu sein.
In dieser Stadt wohnte auch Abdallah. Er war ein einfacher Mann und lebte mit seiner Tochter ein bescheidenes Leben. Seine Familie zählte nicht zu den einheimischen Nomaden. Seine Vorfahren kamen vor langer Zeit in die Stadt, da sie vor dem wütenden Krieg in ihrer Heimat flohen. In ihrer Heimatstadt waren sie für die Bewässerungsanlagen der Felder zuständig und somit auch in dieser Stadt sehr willkommen. Sie wurden geduldet als Arbeiter auf dem Feld. Als Dank errichteten sie eine Bewässerungsanlage nach dem Vorbild ihrer Stadt und leiteten das Wasser aus den Felsen in ein System von Kanälen, welches eine große Fläche versorgte und somit eine ständige und regelmäßige Wasserzufuhr gewährleistete. Um ihre Stellung zu sichern, behielten sie ihr Geheimnis nur für sich. Abdallah lernte alles über das Bewässerungssystem von seinem Vater. In seiner Heimat nannte man diese Formen von Bewässerungssystemen Qanat.
An jenem Tag hörte er mit seiner Arbeit früher auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Den ganzen Tag dachte er an seine Tochter. Sie hieß Habiba. Sie war Witwe und lebte wieder bei ihrem Vater. Ihr Mann starb an einer schweren Erkrankung für die es keine Heilung gab. Denn wenn es eine gegeben hätte, so wäre sie sicher nur in Aqba zu finden gewesen.
Als Abdallah nach Hause lief, sah er schon von der Ferne, dass daheim alle Lichter brannten. Wehmütig stieg er die Treppen zu sich hinauf bis er an der Ebene seiner Wohnung ankam. Zaghaft klopfte er an der Holztür und wartete. Stimmengewirr drang nach außen. Man hörte eilige Schritte hin und her laufen. Der alte Mann wollte erneut klopfen, doch er hielt davon ab und setzte sich auf die Treppe. Er machte sich große Sorgen um seine Tochter. Ihre Mutter starb damals bei ihrer Geburt. Ihr letzter Wunsch war ein schönes Leben für ihre Tochter. Abdallah liebte seine Frau sehr und heiratete nach ihrem Tode nicht mehr. Sämtliche Vorschläge seiner Freunde lehnte er diesbezüglich ab und widmete sein Leben seiner einzigen Tochter. Sie ähnelte seiner Frau sehr und das nicht nur durch ihr Aussehen. Habiba hatte langes und dickes schwarzes Haar. Ihre Haut war weiß wie der Mond und ihre Augen glichen Mandeln. Als sie ein junges Mädchen war, hielten viele um ihre Hand an. Unter ihnen waren auch Söhne von angesehenen Familien der Stadt, doch Habiba hatte nur ein Herz für Malik. Er war der Sohn eines Feldarbeiters, der mit Abdallah zusammen die Felder bestellte und sich um die Dattelpalmen kümmerte. Schon als kleine Kinder waren beide unzertrennlich gewesen.
Abdallah konnte sich dem Willen seiner Tochter nicht widersetzen, obwohl er ihr zu einer anderen Entscheidung riet. So heiratete seine Tochter ihren geliebten Malik. Kurz nach ihrer Ehe erkrankte Malik und hatte leichtes Fieber. Sie gingen zum Arzt und dieser gab ihm einige Arzneien, doch sein Zustand verschlechterte sich zunehmend und er starb. Habiba war damals im vierten Monat schwanger. Sie zog zurück zu ihrem Vater und seither leben beide wieder in ihrer kleinen Wohnung zusammen.
Als Abdullah im Dunklen auf der Treppe saß und seine Augen schloss, riss ihn das Schreien eines Neugeborenen aus der Ruhe. Er stand auf, lief sofort zur Tür und lehnte sein Ohr an sie um zu lauschen. Er hörte Frauen, wie sie über den Neugeborenen sprachen. Ungeduldig klopfte Abdallah kräftig an der Türe bis eine der Frauen öffnete.
Abdallah eilte sofort zu seiner Tochter. Sie lag im Bett, Schweißperlen tropften ihr die Stirn herunter und sie sah sehr erschöpft aus. Er fragte nicht wie es ihr ging, setzte sich einfach an ihre Bettkante und hielt ihre Hand. Kurze Zeit später kam eine der Frauen mit dem in ein weißes Leinentuch eingehüllten Neugeborenen auf dem Arm in das Zimmer. Sie sagte, dass es eines der schönsten Neugeborenen sei, die sie bis jetzt je gesehen hatte, und übergab es seiner Mutter.
Als Abdallah hörte, dass es ein Junge war, freute er sich noch mehr und versuchte ungeduldig das Kind durch die Leinen zu sehen. Habiba öffnete das Leinentuch und betrachtete ihr Neugeborenes. Er sah so friedlich aus. Er schlief und bewegte im Schlaf die Lippen. Seine Haare waren schwarz und seine Haut ganz weiß. Sie blickte zu ihrem Vater und übergab ihm das Kind. Abdallahs Hände zitterten als er den Neugeborenen in die Arme nahm. Sein Herz raste und er atmete unregelmäßig. Er erinnerte sich an den Tag, als er seine Tochter das erste Mal in den Armen hatte. Er war so gerührt von diesem Augenblick, dass ihm die Tränen ungewollt über die Wangen liefen. Als Habiba ihn fragte, wie er ihren Sohn nennen wollte, hielt er ihn in die Luft und sagte zu ihr:
"Mein Enkel ist weiß wie das Leinentuch. Er soll Nor heißen!"
Habiba lächelte und schloss vor Erschöpfung die Augen. Abdallah legte den kleinen in die Wiege neben ihrem Bett und verließ das Zimmer.
Vor der Tür gab er der Hebamme Geld und bat sie am nächsten Tag nach seiner Tochter zu schauen. Da keine anderen Frauen sich in der Familie befanden, musste die Hebamme die Aufgabe übernehmen und Habiba zeigen, wie man ein Kind versorgt. Als Abdallah sich am nächsten Morgen auf den Weg in die Arbeit machte und außer Haus war, klopfte es an der Tür. Habiba öffnete sie und sah den Arzt der Stadt davor stehen. Er fragte sie wie die Geburt verlaufen war und ob es ihr gut ginge. Habiba war der Besuch des Arztes nicht angenehm und sie antwortete in kurzen Sätzen und bedankte sich bei ihm für seinen Besuch. Als sie die Tür schließen wollte, stellte er seinen Fuß davor und bat sie, ihn zu ihrem Gemahlen zu nehmen. Er versprach ihr, dass er sich um sie und ihren Sohn kümmern würde und es ihnen an Nichts fehlen würde bei ihm. Habiba bekam Angst und drohte dem Arzt, dass sie schreien würde, wenn dieser sie nicht in Ruhe ließe. Der Mann lächelte sie nur an und sagte, dass ihr keiner glauben würde. Einer Tochter eines einfachen Bauern. Aus einer Familie, die nicht zu den einheimischen Familien zählt. In dem Moment war die Stimme der Hebamme zu hören. Sie sprach mit einer der Frauen aus dem Haus, denen sie im Treppenhaus begegnet war. Der Arzt zog seinen Fuß zurück, warnte sie flüchtig und lief die Treppe hinunter. Habiba schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Sie war erleichtert, als der Arzt endlich weg war. Ihr Herz raste und ihr Mund fühlte sich ganz trocken an.
Als die Hebamme sie fragte, ob sie Besuch vom Arzt hatte, verneinte die junge Frau und meinte, dass er bestimmt für den kranken Sohn des Nachbarn gekommen sei. Sie erzählte keinem ein Wort über jenen Vorfall und hoffte, dass es sobald wie möglich in Vergessenheit geriet.
Die Jahre vergingen und Habiba arbeitete mit ihrem Vater auf den Feldern. Sie führten ein glückliches Leben in Aqba. Ihr Sohn war bereits sechs Jahre alt. Hier und da hörten sie von neuen Gesetzen. Wer nicht als einheimischer Bewohner galt, durfte keinen Stand mehr aufbauen. Schulen durften nur die Kinder der Einheimischen besuchen. Diese nannten sich die Söhne und Töchter der Stadt und hatten einen hohen Status in der Gesellschaft. Sie hatten auch ausschließlich das Recht, das Schicksal der Stadt und die Regeln der Gesellschaft zu bestimmen. Alle anderen mussten sich ihrem Willen beugen. Ungehorsames und aufständisches Verhalten wurde nicht geduldet. Es drohte entweder die Todesstrafe oder die Verbannung. Wurde jemand aus der Stadt verbannt, durfte er nur Wasser auf seine Reise mitnehmen. Alles andere blieb der Stadt und somit dem Ältestenrat zurück. Es kam oft vor, dass Bürger aus der Stadt verbannt wurden und außer dem Ältestenrat keiner den Grund dafür wusste. Dieser bestand nicht nur aus den Ältesten der Stadt wie es der Name einen annehmen ließ, sondern auch aus einigen jungen Bürgern. Was sie miteinander verband war, dass sie alle Söhne der Stadt waren. Jeder von ihnen besaß besondere Fähigkeiten oder machte durch eine besondere Tat auf sich aufmerksam. Wurde ein Sohn der Stadt schon während seiner Schulzeit durch überragende Leistungen auffällig oder trug zum Wohle der Gemeinschaft bei, behielt man ihn im Auge und lud ihn zum Beitritt in den Ältestenrat ein. Die neuen Mitglieder wurden mit einer aufwendigen und großen Feier aufgenommen. Sie mussten verschiedene Rituale durchlaufen und am Ende ein Lamm opfern. Das Aufnahmeritual wurde beendet durch das Überreichen eines goldenen Ringes mit dem Symbol einer Schlange. Sie war das Wahrzeichen der Stadt. Der Begriff Ältestenrat bezieht sich in Aqba nicht auf das Alter des Körpers sondern dem des Geistes, so steht es über dem Tor zum Ältestenhaus geschrieben. Unter ihren Mitgliedern befanden sich berühmte Dichter der Stadt bekannt in der ganzen Wüste, Bauherren, aber auch einfache Berufslose, die sich durch ihre sozialen Arbeiten auszeichneten. Die Aufgabe des Ältestenrates war es, das Gleichgewicht der Stadt zu wahren und eine absolute Herrschaft zu meiden. Unter den Söhnen der Stadt durfte es nach den Gesetzen von Aqba keine Unterschiede geben und alle sollten an wichtigen Entscheidungen teilnehmen können. So kam es auch, dass Entscheidungen des Rates von den anderen Söhnen der Stadt, welche nicht im Rat waren, abgelehnt wurden und man somit Gesetze nicht erlassen konnte.
Die anderen Bürger mussten sich mit dem Entschluss zufrieden geben. Jedem war es freigestellt die Stadt zu verlassen - unter der Bedingung, alle Besitztümer zurück zu lassen. Diese haben sie sich nach Auffassung des Gesetzes in der Stadt angeeignet und waren somit auch Eigentum der Stadt.
Die Bürger der Stadt waren alle zufrieden, denn die Stadt hatte alles im Überfluss und jeder hatte genug zu Trinken und zu Essen. Außerhalb der Stadt wurde jeder mit Achtung behandelt, wenn man nur den Namen der Stadt Aqba hörte und keiner konnte richtig unterscheiden, wer zu welcher Schicht gehörte. So bezeichneten sich alle als stolze Bürger der Stadt.
Habiba hatte eine gute Freundin, sie hieß Zaynab. Beide waren sehr gut befreundet und kannten sich seit ihrer Kindheit. Zaynab war verlobt mit dem Sohn eines Verkäufers und die Hochzeitsvorbereitungen hatten bereits begonnen. Sie war ein temperamentvolles Mädchen mit einer lauten Stimme. Sie sagte stets was sie dachte und war mit den meisten Mädchen ihrer Gegend zerstritten. Beide arbeiteten auf den Feldern. Habiba fand sehr oft Trost bei Zaynab, da sie immer alles mit einer Gelassenheit betrachtete und über jede Situation lachen konnte und somit auch Habiba zum Lachen brachte. Durch ihre lockere Art relativierte sie die Alltagsprobleme. Am Abend, als sich beide erschöpft wieder von den Feldern auf dem Weg nach Hause machten, bemerkte Zaynab, dass sie ihren Armreif auf dem Feld vergessen hatte. Sie legte ihn während der Arbeit ab und hing ihn an einen der Äste um ihn zu schonen. Habiba war so müde, dass sie ihr eher zögernd anbot, den Weg wieder mit ihr zurück zu laufen. Zaynab hatte Verständnis für ihre Freundin und bat sie, weiter zu laufen und versprach ihr, dass sie sich beeilen und sie wieder aufholen würde. Dann entfernte sie sich und lief durch die Dattelpalmen um zu den Feldern zu gelangen. Während sie sich durch das Grün ihren Weg bahnte, hatte sie ein seltsames Gefühl, als würde sie jemand beobachten. Sie blieb stehen und sah sich um, doch keiner war zu sehen. Als sie ihren Weg fortsetzen wollte, erschreckte sie vor der Gestalt, die plötzlich vor ihr stand. Es war der Sohn einer angesehenen Familie der Stadt. Er hatte große Schwierigkeiten sein Gleichgewicht zu halten. Als Zaynab einen Schritt zurück wich und dann wegrennen wollte, fiel er mit seinem ganzen Gewicht auf das Mädchen und stieß sie zu Boden. Sie wehrte sich und wollte schreien, doch er hielt ihr den Mund zu. Er flüsterte ihr ins Ohr, dass er ihr nicht wehtun würde, aber sie dürfe nicht schreien. Sie nickte und sobald er ihren Mund losließ, schrie sie um Hilfe. Der junge Mann verlor darauf die Geduld, nahm einen Stein vom Boden und schlug ihr damit auf den Kopf. Zaynab spürte keinen Schmerz. Sie war benommen und ihre Arme und Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Sie hatte keine Kraft mehr zu schreien oder sich zu wehren. Wie ein wildes Tier fiel der betrunkene junge Mann über sie her und verging sich an ihr.
Es war schon spät als es bei Abdallah an der Tür klopfte. Der Vater von Zaynab stand davor und fragte, ob seine Tochter bei ihnen sei. Abdallah weckte Habiba auf und fragte sie wo Zaynab sei. Als sie ihnen erzählte, dass sie wieder zurück gelaufen war um ihren Armreif zu holen, machten sich die Männer auf den Weg zu den Feldern. Mit Laternen suchten sie nach ihr und riefen ihren Namen in die Nacht. Sie fanden Zaynab bewusstlos zwischen den Dattelpalmen. Ihre Kleider waren zerrissen und über ihrem linken Auge hatte sie eine blutende Wunde. Ihr Vater dachte zuerst, sie sei gestorben. Doch Abdallah bemerkte, dass sie noch atmete und man brachte sie zum Arzt. Habiba bekam kein Auge zu, da sie sich Sorgen um ihre Freundin machte. Sie machte sich selbst Vorwürfe. Wäre sie doch nur mit ihrer Freundin zurückgelaufen. Sie hoffte und betete, dass ihr nichts passiert sei. Nor wachte auf und lief zu ihr. Sie erzählte ihm, dass Zaynab vermisst wäre und keiner wüsste, wo sie sei. Ihr Sohn antwortete ihr, dass Zaynab was Böses zugestoßen sei und sie nun beim Arzt wäre. Habiba fragte ihn, woher er das wisse und Nor sagte, dass es ihm ein Mann gesagt hätte. In seinem Traum. Habiba nahm ihn in die Arme und hoffte auf eine gute Nachricht.
Gegen Morgen kam ihr Vater zurück nach Hause und als sie ihm die Tür öffnete, sah sie seine bedrückte Miene.
"Was ist los Vater? Habt ihr Zaynab gefunden?", fragte sie ihn, doch ohne ihr einen Blick zu schenken betrat der alte Mann die Wohnung und setzte sich in eine Ecke. Er war sehr müde und seine Augen fielen immer wieder zu. Seine Tochter lief zu ihm und setzte sich neben ihn. Sie fragte wieder nach Zaynab und der alte Mann erzählte ihr was geschehen war. Habiba weinte und gab sich die Schuld. Abdallah versuchte seine Tochter zu beruhigen, doch das Reden fiel ihm schwer.
"Lass uns schlafen gehen. Danach können wir die Familie des Mädchens besuchen und fragen wie es ihr geht" sprach er mit einer sanften Stimme zu seiner Tochter und beide legten sich schlafen. Habiba war die ganze Nacht wach gewesen und war sehr erschöpft.
Als es Tag war eilten sie gleich in der Frühe zu Zaynab. Sie war immer noch nicht zu sich gekommen und lag in ihrem Bett. Ihre Mutter weinte daneben. Ihr Gesicht und ihre Augen waren geschwollen. Habiba setzte sich zu ihr ans Bett und flüsterte einige male ihren Namen, doch Zaynab antwortete nicht. Sie streichelte ihre Hand und ihre Wangen. Dann fragte sie die alte Frau an ihrem Bett, ob sie schon was getrunken hatte. Diese weinte nur und sagte, dass sie ihr bereits was zu trinken gab. Habiba versuchte die alte Frau zu trösten und kam sich selber in diesem Moment sehr hilflos vor. Die Situation quälte sie so sehr, dass sie aufstand und sich verabschiedete. Sie war vor der Tür und wollte gehen als Nor ihre Hand losließ und zu Zaynab ging. Er setzte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr. Habiba sah dem Ganzen erstaunt zu und wusste nicht, was er ihr zu sagen hatte. Dann lief er zu seiner Mutter zurück und hielt ihre Hand als ob nichts gewesen wäre. Als sie Zaynabs Zimmer verließen, hörten sie ihr stöhnen und sie sah zu dem kleinen Jungen und Tränen liefen ihr die Wangen entlang. Doch sie lächelte und man sah in ihrem Gesicht den Ausdruck von Zufriedenheit. Auf dem Weg zu den Feldern fragte Habiba Nor, was er Zaynab ins Ohr geflüstert hatte. Er antwortete, dass er ihr nur das gesagt hätte, was sie bereits wisse.
Als Habiba mit ihrem kleinen Sohn bei den Feldern ankam, sah sie ihren Vater. Er kam zu ihr und fragte, wie es Zaynab ging und sie antwortete ihrem Vater, dass sie sich bald erholen würde. Er bat Habiba, nicht mehr alleine auf den Feldern bis spät in die Nacht zu bleiben und vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kehren. Früher sind solche Vorfälle nie passiert, sagte er. In den letzten Jahren trinken die jungen Menschen zu viel und kommen immer auf dumme Gedanken.
"Die einfachen Bürger sind es nicht. Die haben doch kein Geld für Wein, Vater" erwiderte Habiba und machte sich an die Arbeit. Sie hatten noch viel zu tun.
Es vergingen einige Tage und der Zustand von Zaynab verbesserte sich zunehmend. Ihr Verlobter verwarf die Verlobung ohne einen Grund zu nennen. Doch alle wussten, dass sich keine Familie dieser Schmach aussetzen würde, eine berührte Frau in die Familie aufzunehmen. Ihr Vater wendete sich an den Ältestenrat und verlangte eine gerechte Strafe. Vergewaltigungen wurden in Aqba schwer bestraft. Es drohten je nach Fall die Todesstrafe oder die Verbannung aus der Stadt. Der Strafe konnte man sich entziehen, wenn der Täter die Frau heiratete. Die Ältesten forderten Zeit und Geduld angesichts der vorherrschenden Situation. Die Familie des Täters wurde zur Anhörung vorgeladen. Sein Vater war einer der bekanntesten Männer der Stadt. Er folgte der Vorladung und brachte seinen Sohn mit. Dieser fiel vor dem Rat auf die Knie und bat um Vergebung. Sein Vater verteidigte seinen Sohn und warf dem jungen Mädchen vor, immer schon ein Auge auf seinen Sohn geworfen zu haben. Er verwies dabei auf seinen Reichtum und Stand. Er warf Zaynab vor, seinen Sohn verführt und ihm anschließend ein Verbrechen angedichtet zu haben, welches er nicht begangen habe.
"Diese Menschen sind doch alle gleich. Sie will nur unseren Reichtum sonst nichts. Was wissen solche Menschen schon von Ehre?".
Die Ältesten schwiegen und zogen sich zur Beratung zurück.
Sie setzten sich in einen separaten Raum und unterhielten sich über die Entscheidung. Eines der Ratsmitglieder forderte die Bestrafung des jungen Mannes nach den Gesetzen ihrer Väter. Einige nickten und stimmten ihm zu. Da erhob sich Harun von seinem Platz. Er war einer der jüngsten Ratsmitglieder. Er war der oberste Heerführer und ein einzigartiger Kämpfer. Er konnte mit Pfeil und Bogen sehr gut umgehen. Unter seiner Führung wuchs die Armee der Stadt und wurde mächtig. Er war ein junger Mann mit einer breiten Brust und muskulösem Körper. Seine Haare waren lockig und viele junge Frauen wurden bei seinem Anblick schwach. Er hatte eine tiefe und ruhige Stimme. Er war stolz auf seine Stadt und seiner Herkunft.
"Wollen wir wirklich solch eine angesehene Familie der Stadt vor allen demütigen? Nur weil der Sohn einen Fehler beging? Wollen wir uns wirklich nur um einige Bauern zufrieden zu stellen ihrem Willen beugen? Wohin soll das alles führen? Wir sind die Gründer dieser Stadt und wir haben immer noch zu bestimmen, was Gerechtigkeit ist und wie sie angewendet wird. Ich frage euch, treiben sich eure Töchter bei Nacht draußen auf den Feldern herum? Ist es ein Zufall, dass ihr gerade der Sohn einer wohlhabenden Familie begegnet war? Gibt es Zeugen und woher konnte sie im Dunkeln erkennen, wer der Täter war?"
Ein Schweigen lag im Raum. Einer der Männer stand auf und sagte:
"Dann lasst uns die Anhörung vertagen bis auf weiteres. Beide Parteien sollen Zeugen vorbringen. Es soll ein gerechter Prozess stattfinden. Sonst verlieren wir das Vertrauen der Stadt."
Die Männer verließen den Raum und verkündeten ihren Entschluss. Der Fall wurde um vier Tage verschoben.
Am Abend klopfte es an der Tür bei den Eltern von Zaynab. Ihr Vater öffnete die Tür. Ein Botschafter der Familie des Täters stand davor und überreichte ihm eine Schriftrolle. Er nahm die Rolle entgegen und las sie. Wütend über ihren Inhalt warf er sie auf den Überbringer und schloss die Tür. Er sah zu seiner Frau und sagte, dass der Vater des Jungen ihm eine Geldsumme angeboten hat. Am Abend hörte Zaynab wie sich ihre Eltern im Nebenzimmer unterhielten. Ihre Mutter versuchte ihren Vater zu überreden.
"Wir werden hier nie mehr ein normales Leben führen können. Was passiert ist, das ist nun mal passiert. An der Tatsache wird sich nichts ändern. Unsere Tochter wird hier nie einen Mann finden, der sie nehmen wird. Lass und das Gold nehmen und die Stadt verlassen. Damit können wir uns ein neues Leben aufbauen und du musst nicht mehr den ganzen Tag so hart arbeiten. Wir können ja sagen, dass unsere Tochter eine junge Witwe sei. Hier können wir nicht mehr leben wie früher. Wir werden immer ein Schandmal tragen. Nichts hält uns hier fest."
Die Stimmen verstummten. Zaynab weinte die ganze Nacht. Sie hatte Angst vor dem Einschlafen, da sie jedes Mal wenn sie die Augen schloss, das Gesicht ihres Peinigers sah.
In der ganzen Stadt hatte sich bereits herumgesprochen was geschah. Alle warteten ungeduldig auf den Prozess.
Zaynabs Vater bat Habiba, für seine Tochter als Zeugin auszusagen. Sie erklärte sich sofort bereit, dies zu tun.
Als der Tag endlich kam, versammelte sich die ganze Stadt vor dem Gebäude des Rates. Alle warteten auf den Entscheid des Rates. Das Gebäude stand direkt im Zentrum der Stadt und man konnte vom großen Balkon herunter auf den ganzen Marktplatz blicken.
Alle trafen im Saal ein und man schloss die Türen. Eines der Ratsmitglieder bot beiden Parteien an, vor Beginn der Verhandlung sich noch mal über eine Einigung Gedanken zu machen, doch Zaynabs Vater wies ab. Er wollte nur eine gerechte Strafe für den Verbrecher.
Die Ratsmitglieder riefen alle Zeugen vor und befragten sie einzeln.
Zwei Freunde des Täters traten hervor und berichteten, dass er die ganze Nacht mit ihnen zusammen war und alle drei getrunken hätten.
"Er konnte am frühen Abend nicht einmal mehr laufen und wir mussten ihn zu sich nach Hause tragen. Kann so ein Mann in so einem Zustand einer Frau was antun? "
"Ja, er sagt die Wahrheit. Ich war auch dabei. Ich sah auch, wie sie ihm schon seit längerem schöne Augen machte. Doch er wollte sie nicht, weil sie die Tochter eines Feldarbeiters war. Nun rächt sie sich an ihm."
"Sie lügen! Ich habe ihn vorher nie gesehen! Das ist gelogen!" schrie Zaynab und weinte. Es wurde eindringlich um Ruhe im Saal gebeten und der Prozess nahm seinen Verlauf.
Dann musste Habiba die Fragen des Rates beantworten. Sie wurde gebeten, den Abend des Vorfalls genauestens zu schildern. Sie erzählte alles bis in das kleinste Detail wie es gewesen war. Dann fragte sie einen der Ratsmitglieder:
"Sie sagen also, dass Sie sich zusammen auf den Weg in die Stadt machten und es ihr plötzlich wie aus heiterem Himmel einfiel, dass sie ihren Armreif vergessen hatte?"
"Ja, genauso war es" antwortete sie.
"Und Sie haben ihr angeboten mit zu gehen doch sie lehnte ab und lief alleine zurück? Alleine im Dunkeln? Ohne als Frau Angst zu haben?"
"Ja, aber ich war so…", Habiba wurde in ihrem Satz unterbrochen mit einer weiteren Frage:
"Hat Zaynab zuvor jemals etwas vergessen und musste zurücklaufen?"
"Nein, das passierte das erste Mal".
Der Rat bedankte sich bei Habiba und entließ sie. Sie hatte Schuldgefühle, da sie den Anschein hatte, durch ihre Aussage eher das Gegenteil bewirkt zu haben als sie eigentlich bezweckte.
Es wurde verkündet, dass sich der Rat wieder zurückzieht um über ein angemessenes Urteil zu sprechen.
Im Saal herrschte Unruhe und alle flüsterten und sprachen ihre Vermutungen aus. Habiba sah zu Zaynab, doch sie blickte nur auf den Boden. Nor hielt die Hand seiner Mutter und sagte ihr mit einer leisen Stimme: " Sie haben schon einen Urteil gehabt bevor die Anhörungen begonnen hatten. Somit haben sie auch über das Schicksal der Stadt gerichtet".
Habiba sah ihren Sohn mit einem fragenden Blick an und wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Nor richtete seinen Blick zu der mit Steintafeln ausgelegten Wand. Sie war sehr groß. Auf jeder Steintafel waren bestimmte Regeln und Gesetze verewigt. Die Nomaden hatten damals als sie das Tal besiedelten, Träume und Visionen. Den Beschreibungen nach erschien ihnen jedes Mal die gleiche männliche Gestalt, die ihnen bestimmte Regeln und Gesetze verkündete. Diese wurden mit den Namen der jeweiligen Urväter von den ersten Siedlern zusammengeschrieben und im Laufe der Zeit hier im Raum angebracht. Somit sollten die Ältesten in ihren Entscheidungen stets die Tradition der Stadt im Auge behalten und nicht vom Weg abkommen. Die Gründerväter der Stadt glaubten an einen Geist der Wüste, der über alle Bewohner und Tiere wacht. Von ihm direkt gaben sie an, die Gesetze in Form von Träumen und Visionen erhalten zu haben. Jedes Mitglied des Stammes hatte eine Offenbarung. Manche hatten Träume und andere Visionen. Diese wurden zusammengefasst und als gültige Regeln für die Gemeinschaft von allen anerkannt.
Die schwere Tür öffnete sich und die Ältesten betraten wieder den Saal und alle Stimmen verstummten. Es war kein Ton zu hören und alle waren gespannt auf das Ergebnis ihrer Beratung. Eines der Ratsmitglieder stand auf und erklärte ihren Entschluss.
"Wir, der Rat dieser Stadt und Träger der Tradition unserer Väter haben folgendes zu verkünden. Zaynab hat zu dem an ihr ausgeübten Verbrechen beigetragen, in dem sie gemäß den Zeugenangaben schon seit längerem ein Auge auf den Täter hatte und seine Lage ausnützte um an ihr Ziel zu gelangen. Die Tatsache, dass der Täter einem höheren Stand angehört und nur mit der Zustimmung seiner Eltern aus den niedrigen Ständen eine Frau ehelichen darf, wollte sie somit übergehen. Von daher sieht es der Rat vor, die Last der Tat beiden aufzubürden und gleicht die Schuld mit der gegenseitigen Aufhebung. Dieser Fall soll zudem eine Lehre an alle sein, die gültige Regeln dieser Stadt mit List versuchen zu umgehen."
Zaynab schrie auf und lief vor zu den Ältesten. Sie beteuerte immer wieder ihre Unschuld und verlangte Gerechtigkeit. Dieses Verhalten verärgerte die Ältesten und sie befahlen den Söldnern, die verzweifelte junge Frau vom Saal zu entfernen. Sie zerrten an Zaynab und brachten sie aus dem Saal.
"Welch schändliches Verhalten sie doch an den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Erti Esem
Bildmaterialien: Erti Esem
Übersetzung: Erti Esem
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6786-7
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