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Der Stalker - BoGina Tales

 

Die Probearbeit war ein voller Erfolg gewesen und Lena hatte die Stelle im neuen Einkaufszentrum in der City gleich bekommen. Sie hatte gar nicht damit gerechnet, da es mehrere Bewerberinnen für den einzigen offenen Arbeitsplatz gegeben hatte. Die Chemie zwischen ihr und den beiden anderen Verkäuferinnen, die wesentlich älter waren, stimmte und die drei Frauen hatten sich auf Anhieb verstanden.

Als Lena ein paar Tage zuvor zum ersten Mal die Einkaufsmeile besichtigt hatte, um sich vorzubereiten, war sie aus dem Staunen nicht herausgekommen. Das palastähnliche architektonische Gebäude war ein Blickfang für jeden Kunden, die auch aus den Nachbarstädten in Scharen hereinströmten, um das brandneue Einkaufsparadies zu bestaunen.

Zwischen den Sitzplätzen gab es künstliche mannshohe Orangenbäume, die wie echt wirkten. Zitrusfrüchte baumelten an Zweigen und im Hintergrund berieselten Klavierklänge in gedämpfter Lautstärke die Gäste. Eine grüne und bunte Oase inmitten von Beton und Glas. Alles darin war hell und edel, freundlich und einladend gestaltet.

Lenas zukünftiger Arbeitsplatz befand sich an der südlichen Außenbegrenzung der Fressmeile gegenüber von Pizzabäckern, einem Fisch- und einem Imbissstand, asiatischen Köstlichkeiten und weiteren exotischen Snacks. Sie hatte einen guten Blick auf die Sitzgelegenheiten für die Kunden und die Mitarbeiter der Betreiber. Ab sofort bot sie drei Mal in der Woche von vier bis acht Uhr frisches Obst an. Der Job war zwar hart und das Kistenschleppen verlangte einiges an Kraft von ihr ab, aber sie war jung, gesund und arbeitete nun mit Menschen zusammen, was ihrem Psychologiestudium entgegenkam. Auf diese Weise konnte sie, während sie Geld verdiente, Erfahrungen sammeln.

Lena freute sich schon auf die nächste Schicht. Doch heute freute sie sich noch mehr auf ihren Verlobten Lukas, mit dem sie gleich ihren Einstieg feiern würde. Geschlaucht durch das viele Umpacken der Obstkisten öffnete sie die Tür zu seiner kleinen Zweizimmerwohnung, für die sie einen Schlüssel besaß.

Kaum hatte sie den winzigen Flur betreten, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Zu beiden Seiten waren brennende Teelichter aufgestellt, das Laminat in der Mitte beherrschten verstreute Rosenblätter. Der Tisch im Wohnzimmer war gedeckt. Drei Kerzen in einem alten Lüster tauchten das Zimmer in romantisches Licht. Lukas trat gerade aus der angrenzenden Küchenparzelle. In den Händen hielt er zwei Teller. Es duftete verlockend.

»Hi Schatz«, begrüßte ihre Sandkastenliebe sie. »Dein Steak ist medium, so wie du es magst, und der Champagner ist seit Stunden im Kühlschrank. Setz dich und lass dich verwöhnen. Ich hole schnell noch das Prickelwasser.« Er lächelte.

»Hm«, schmunzelte Lena, »so würde ich gerne jeden Abend von dir empfangen werden, aber es dauert ja nicht mehr allzu lange.« Sie warf ihre Handtasche aufs Sofa, die dicke Winterjacke hinterher und fläzte sich auf die gemütliche Eckcouch mit den vielen Kissen. Mit glänzenden Augen sah sie ihrem langjährigen Freund und Verlobten dabei zu, wie er das Essen servierte, die Flasche Moet öffnete und die bereitstehenden Sektflöten füllte.

Lukas setzte sich neben sie. »Lass es dir schmecken«, sagte er und griff zur Gabel. »Und danach erzählst du mir, wie dein erster bezahlter Arbeitstag verlaufen ist.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Lena berichtete beim Essen, was sie im Zentrum erlebt hatte. Zum Abschluss liebten sie sich in seinem Boxspringbett. Gegen Mitternacht schaltete sie das Licht aus, kuschelte sich an Lukas und ließ den Tag Revue passieren.

Sie war jetzt der glücklichste Mensch auf der Welt. Endlich verdiente sie etwas Geld, das sie für einen gemeinsamen Urlaub sparen würde. Lukas‘ Einkommen als LKW-Fahrer war mehr als schlecht. Er kam gerade mal über die Runden, was ihn nicht zu stören schien. Er sagte, dass er im Heute lebe und die Zukunft in weiter Ferne läge.

Im Grunde waren Lena und er grundverschieden, was die Berufswahl und auch manche andere perspektivische Aussicht betraf. Lukas hatte die Schule nach der zehnten Klasse verlassen und gleich Geld verdienen wollen. Er war handwerklich geschickt und hatte eine Lehre zum Schreiner begonnen. Doch der Lehrlingslohn war ihm zu niedrig gewesen und er hatte den Job nach eineinhalb Jahren geschmissen. Danach hatte er verschiedene Arbeiten angenommen, mit denen er mehr verdient hatte. Er war ein freiheitsliebender Mann, den es in die Welt hinauszog. So machte er recht schnell den LKW-Führerschein und bewarb sich bei einem Logistikunternehmen, welches Waren auch ins Ausland beförderte.

Lena hingegen hatte schon immer höhere Ambitionen. Sie musste etwas tun, das ihr nicht so sinnlos erschien, etwas, das mit Menschen zu tun hatte und bei dem sie später gut verdienen würde. Bei der Berufswahl war sie rasch zu der Überzeugung gelangt, einen Helferjob anzunehmen. In der Schule hatte sie sich dann für ein Psychologiestudium entschieden und war jetzt im ersten Semester.

Da sie noch bei ihren Eltern lebte, brauchte sie für ihren Unterhalt nicht aufzukommen. Sie wollte auch andere Länder kennenlernen, wofür Geld notwendig war. Allerdings mochte sie ihren Eltern nicht auf der Tasche liegen und hatte sich nach einem Job umgesehen. Sie belog Lukas, dass sie wegen ihrer Eltern etwas nebenbei verdienen müsse, dabei käme der Verdienst heimlich aufs Konto. Damit könnte sie dann einen Amerikaurlaub buchen und für Lukas gleich mit. Sie war überzeugt davon, dass es die beste Überraschung wäre, die sie sich vorstellen konnte. Seit sie ihn kannte, schwärmte er von den USA.

 

Lenas Schicht am Samstag ging dem Ende entgegen. Heute sollte sie ausnahmsweise den ganzen Tag aushelfen, da eine Kollegin ausgefallen war. Es war sehr viel zu tun und sie hatte kaum Pausen machen können, doch die Arbeit gefiel ihr. Etwa eine Stunde vor Schichtende sprach sie ein junger Mann an und fragte, ob die roten Äpfel, auf die er zeigte, eher süß oder leicht sauer waren. Lena schätzte ihn auf Anfang zwanzig, also in ihrem Alter. Erst letzte Woche, Mitte Oktober, hatte sie ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Die stechend blauen Augen des Typen zogen sie sofort in den Bann. Sie wiesen einen helleren Touch auf, als die von Lukas und verbargen etwas Geheimnisvolles, vielleicht Trauriges, was sie nicht einordnen konnte und was sie faszinierte. Sein Blick glich zugleich einem peitschenden Ozean und einer ruhigen See.

Obwohl Lena Lukas über alles liebte, flirtete sie auch gerne. Sie genoss das Leben, ging gerne feiern und fühlte sich in der Menge wohl. Sie kam gleich mit jedem klar und es gefiel ihr, wenn ihr ein gutaussehender Junge schöne Augen machte. Warum auch nicht, sie tat ja nichts Unanständiges und würde Lukas niemals betrügen.

Lena lächelte den Fremden an, kein geschäftsmäßiges Lächeln, sondern ihr wahres, gutherziges, das von innen kam. »Die sind süß wie die verbotene Frucht im Paradies.«

Er grinste zurück und zeigte gerade weiße Zähne. Dabei bildeten sich in seinen Wangen Grübchen, die Lena beinahe noch mehr gefielen als seine unergründlichen Augen mit den dichten blonden Wimpern. »Sind sie saftig und würdest du sie mir empfehlen?« Er strahlte sie geradezu an. »So süß wie du?«

»Unbedingt«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Es ärgerte Lena, als sie die Röte in ihrem Gesicht spürte. Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen. »Möchtest du einen kosten?« Sie hielt ihm eine Frucht hin. Zwar war es ihr nicht erlaubt, das Obst auf diese Weise anzupreisen, aber der Typ löste etwas in ihr aus, das sie von sich nicht kannte.

»Ich verlasse mich da ganz auf dich und nehme ein Kilo«, sagte er und sah ihr tief in die Augen.

Lenas Herz klopfte heftig in der Brust und ihre Finger zitterten unmerklich, als sie die Äpfel in eine Tüte packte und abwog. Sie gab ihm das Obst und nahm einen Geldschein in Empfang. Hastig zählte sie das Rückgeld und überreichte es ihm. Dabei berührte sie seine Hand und es durchzuckte sie, als ginge ein leichter Stromschlag von ihm aus. Seine Augen waren weiterhin auf ihre gerichtet und sie sahen sich einen Moment lang an. Lenas Knie wurden weich.

»Danke«, sagte er, griff in seinen Einkauf und überreichte ihr einen dunkelroten Apfel. »Der ist für dich. Ich hoffe, du denkst an mich, wenn du ihn isst.«

In einem Reflex hatte Lena die süße Frucht sofort entgegengenommen. »Das tue ich«, hauchte sie und streichelte unbewusst über die glatte Schale. Der Fremde sah kurz auf ihre Hände, nickte ihr zu und ging in Richtung des Personaleingangs davon. Lena sah ihm verträumt nach.

»Na, dem hast du es wohl angetan,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jutta Wölk
Bildmaterialien: Jutta Wölk
Lektorat: Heidemarie Rabe
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6824-6

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