Es ist erwiesen, dass sich das Drama auf folgende Weise abspielte:
Marie, die Besessene, begab sich gegen achtzehn Uhr an dem Sommerabend in jene dicht bewachsene Gasse, die Claudia, die Verführerin, passieren musste, um vom Parkplatz zum Reihenhaus zu gelangen, in dem sie wohnte.
Schwüle, jeden erdrückende Abendluft. Aber Marie hatte sich einen dicken Pullover angezogen; der Rollkragen reichte überdies bis zum Kinn. Sie fühlte keine Wärme; auch war sie immerfort in Gedanken. Ihre Mordwaffe, halb Dolch, halb Küchenmesser, hielt sie ganz offen immer fest im Griff. Betrachtete das Messer gegen die Abendsonne; die Schneide blitze auf; nicht genug für Marie; sie kratzte mit der Spitze an der gesprungen Oberfläche der Seitenmauer, dass es eine helle Spur nachzog; bereute es vielleicht; und um den Schaden wieder gut zu machen, stichelte sie prüfend gegen die Innenseite ihre linken Hand, während sie, leicht nach vorn gebeugt, mal zur Klinge, mal zum schicksalsvollem Parkplatz hinsah.
Warum duldete das alles die Türkin Aschlah, die in der Nähe aus ihrem Fenster im zweiten Stock alles beobachtete? Verstehe ihre Kultur! Mit enganliegendem Kopftuch, das weite Gewand um den Körper gegürtet, ausdruckslos, blickte sie hinab.
Und fünf Häuser weiter, in freudiger Erwartung, wartete Peter, das Hemd bereits aufgeknöpft, auf seine neue Freundin, die gleich kommen musste.
Endlich erklingt das Motorengeräusch von Claudias Auto, erst fern, dann nah, über den Parkplatz, erstirbt und Claudia, die verführerische Angestellte, steigt dort, in dieser Gasse noch unsichtbar, nur durch das Türschlagen angekündigt, aus dem Auto aus; gleich zählt der graue Asphalt ihre ruhigen Schritte.
Aschlah verharrt ungerührt, sie kann nichts versäumen. Peter rührt, mit Blick auf die Uhr, das Essen um. Marie aber kniet nieder, da sie augenblicklich keine anderen Blöße hat, drückt sie nur ihr Gesicht und Hände gegen die warme Mauer; wo alles schwitzt, friert Marie.
Gerade an der Grenze, welche Parkplatz und Gasse trennt, bleibt Claudia stehen, nur ihr Schatten ragt in die jenseitige Gasse. Eine Vorbereitung. Das Kleid rückt sie noch einmal zurecht, die Bluse und den Rock. Unwissend zieht sie an seinem Saum, unwissend streicht sie über den feinen Stoff; nichts geschieht, um ihr die allernächste Zukunft anzuzeigen; alles ist an seinem gut geschnittenen, wohlgeformten Platz. An und für sich sehr verständlich, dass Claudia weitergeht, aber sie geht ins Messer von Marie.
„Schlampe!“, schreit Marie, auf den Fußspitzen stehend, den Arm ausgestreckt, das Messer scharf gesenkt. „Schlampe! Nichts bekommst du!“ Und rechts in den Hals und links in den Hals und drittens tief in den Bauch sticht Marie. Kätzchen, aufgeschlitzt, geben einen ähnlichen Laut von sich wie Claudia.
„So!“, sagt Maria und wirft das Messer, den überflüssigen blutigen Ballast, gegen die schadhafte Mauer. „Selig die Rache! Erleichterung, Beflügelung durch das Fließen deines Blutes! Claudia, gemeine Schlange, Freundin, Sportsgenossin, verblutest auf schäbige Weise. Warum bist du nicht einfach ein blutgefüllter Pickel, den ich ausdrücke und du verschwändest ein für allemal. Nicht alles wird erfüllt, nicht alle Träume werden wahr, dein schwerer Rest liegt hier, schon unzugänglich jedem Schwanz. Was soll die stumme Frage, die du damit stellst?“
Aschlah, alle Erregung durcheinander fließend in ihrem Leib, steht an ihrer gläsern geriffelten Haustür. „Junge Frau! Junge Frau! Alles gesehen, alles bezeugen.“ Aschlah und Marie prüfen einander. Aschlah befriedigt's, Marie kommt zu keinem Ende.
Peter mit der ganzen Nachbarschaft zu seinen beiden Seiten eilt mit vor Schrecken ganz verzerrtem Gesicht herbei. Das Hemd klebt an ihm, er stützt über Claudia, seine schweißnasser Körper gehört ihr, das Bild des tragischen Liebespaares gehört der Menge.
Marie, mit Mühe die erste Übelkeit verbeißend, die Stirn an die Schulter des Polizisten gedrückt, der wichtigtuerisch sie davonführt.
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2012
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