Max Helmstedt schlug die Augen auf. Er saß in einem kahlen Raum, der von einer nackten Glühbirne erhellt wurde. Er war an den Händen und Füßen mit einem Seil an den Stuhl gefesselt, auf dem er saß. Etwa fünf Meter entfernt stand eine Gestalt in einer dunklen Robe und einer Maske über dem Kopf, die statt eines Gesichts einen gelben Smily zeigte. Neben der Gestalt befand sich ein Tisch aus Metall. Auf diesem Tisch stand ein Kasten, über dem ein schwarzes Tuch ausgebreitet war. Von irgendwoher hallten dumpfe Bassschläge.
„Guten Abend, Herr Helmstedt“, sagte die Gestalt.
„Guten Abend“, sagte Helmstedt zögernd.
„Sie wissen, wo Sie sich befinden?“
„Ich weiß, dass ich noch vor einer Minute an der Bar im Tatataa-Club gestanden habe.“
„Jetzt sind Sie sich ein Stock darüber. Es hat übrigens keinen Sinn zu schreien, falls Sie das vorhaben. Alle Räume auf diesem Stockwerk stehen leer. Niemand wird sie hören.“
„Wer sind Sie?“
„Sagen wir, ich bin ein Gruß aus der Vergangenheit.“
„Haben Sie mir die Nachricht geschrieben?“
„Das ist ein seltsames Ding, nicht wahr? Ein Mann erhält von seiner Freundin die Einladung, heute Abend in den Tatataaa-Club zu kommen. Doch diese Freundin ist tot und das schon seit acht Jahren. Finden Sie nicht, dass es einen tiefen Blick in die Persönlichkeit eines Menschen eröffnet, wenn er einer solchen Nachricht folgt? Beleuchtet das nicht seine innere Erschütterung, seine Qual, die auch nach so vielen Jahren immer noch nicht besser werden will?“
„Ich weiß, dass sie tot ist. Ich bin hierher gekommen, um denjenigen zu finden, der mir so etwas antut.“
„Wissen Sie was; Ich bezweifle das. Worauf hatten Sie gehofft? Dass irgendwann jemand Ihnen den Arm umlegt und sagt 'Hey, dass mit der Nachricht von deiner toten Freundin war übrigens ich'?“
„Ich habe gar nichts erwartet.“
„Erneute Zweifel meinerseits; Sie haben erwartet, Ihre Freundin hier zu treffen. Ich glaube, Sie haben erwartet, das Sie hier, an dem Ort, wo sie sich kennengelernt haben, wie ein wunderschöner Traum auf der Tanzfläche erscheint. Denn so absurd das auch alles ist, haben Sie jemals ihre Leiche gesehen?“
„Es gab keine Leiche, sie ist einfach verschwunden.“
„Verschwunden! Aber wer verschwindet, ist doch noch nicht gleich tot.“
„Sie ist tot. Ich weiß es. Sie hätte sich gemeldet, wenn es nicht so wäre. Ich weiß es ganz bestimmt.“
„Interessant. Gab es irgendwelche Spuren, die auf ein Gewaltverbrechen hindeuteten?“
„Nein, die gab es nicht.“
„Gab es nicht, aha. Sie war also einfach weg? Irgendwann?“
„Sie verschwand von einem Tag auf den anderen, ja.“
„Und Sie können sich nicht erklären, was der Auslöser für ihr Verschwinden gewesen sein könnte?“
„Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.“
„Das war nicht die Frage. Ich möchte nicht wissen, ob sie selbst ihr Verschwinden erklärt hat, ich möchte wissen, ob Sie sich ihr Verschwinden erklären können.“
„Ich kann es mir nicht erklären, nein.“
„Sie sind mit dem Auto hier. Ich habe Sie gesehen, als Sie ausgestiegen sind. Rührend, wie Sie Ihrem Hund noch mal über den Kopf gestreichelt haben. Sie haben ihm versprochen, dass es nicht lange dauern wird, nicht wahr? Sie wollen nur einen kurzen Blick reinwerfen, Sie sind gleich zurück.“
„Was ist mit Leo?“
„Autos sind eine schöne Sache. Und Hunde sind der beste Freund des Menschen. Eine tausende Jahre alte Weisheit.“
„Ist Leo in dem Kasten, der neben Ihnen steht?“
„Mit Auto und Hund zur Disko. Ich nehme an, Sie machen gerne neue Bekanntschaften.“
„Ist Leo in diesem Kasten?“
„Doch zurück zum Thema. Mir ist nicht klar, wie Sie so viele Jahre vor sich hin leben konnten, ohne dass Ihnen nicht zumindest die Idee einer Möglichkeit für das Verschwinden ihrer Freundin gekommen wäre.“
„Könnten Sie das Tuch von dem Kasten nehmen?“
„Ich meine, es ist doch komisch. So plötzlich, so unvermittelt. So etwas kommt doch nicht aus heiterem Himmel.“
„Was wollen Sie von mir?“
„Ich will Ihnen helfen, Herr Helmstedt. Ich will Ihnen helfen, das Rätsel zu lösen, das Sie umtreibt. Ich will, dass Sie mit Leo durch einen Park schlendern können, ohne, dass sie an die Spaziergänge mit Katrina denken und sich fragen müssen, wo sie steckt.“
„Haben Sie sie umgebracht?“
„Sie bezeichnen mich als Mörder, Herr Helmstedt? Mich, der Ihnen die helfende Hand ausstreckt, bezeichnen Sie als Mörder ihrer Freundin? Wissen Sie wie verletzend das ist? So kommen wir nicht weiter. Ich muss mich nicht von Ihnen beleidigen lassen. Ich kann auch gehen. Wissen Sie was, ich lass sie allein, jetzt sofort. Ich lass sie allein hier oben sitzen und Sie können abwarten, ob noch mal irgendwann jemand hier vorbeischaut. Ich persönlich bezweifle das, aber Glück kann man schlecht voraussagen.“
„Halt, warten Sie!“
„Was ist denn noch?“
„Es tut mir leid. Es tut mir leid, Sie als Mörder bezeichnet zu haben. Helfen Sie mir, ich bitte Sie, helfen Sie mir.“
„So ist es schon besser. Sie müssen wissen, auch mir tut es leid. Ich weiß, dass das alles schrecklich für Sie sein muss. Ein Brief von ihrer verschwundenen, totgeglaubten Freundin. Ihr Hund, von dem Sie nicht wissen, ob es ihm gut geht. Und dann dieses Tuch über einem Kasten, bei dem nicht klar ist, was sich darunter verbirgt. Es ist eine ernste Lage, in der Sie sich befinden. Wie kann ich Ihnen in dieser Lage helfen? Wie kann ich Ihnen helfen, sich aus etwas zu befreien, dass so voller Unklarheiten steckt? …..............
Na, Sie müssen es mir schon sagen.“
„Sagen Sie mir, was mit Katrina passiert ist.“
„Herr Helmstedt, wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich Sie gerade dasselbe gefragt. Glauben Sie, ich tue das zum Spaß? Glauben Sie, ich habe nichts besseres zu tun, als Fragen zu stellen, deren Antworten ich bereits kenne? Wollen Sie sich schon wieder über mich lustig machen?“
„Nein, nein, also gut, ziehen Sie das Tuch von dem Kasten weg.“
„Das Tuch von dem Kasten. Mhm, stimmt, das könnte helfen. Was aber, wenn sich unter diesem Tuch etwas ganz Furchtbaren verbirgt? Was, wenn sich darunter etwas verbirgt, das Ihnen nicht hilft, sondern, ganz im Gegenteil, Ihre Qualen steigert? Was für ein Helfer wäre ich dann?“
„Freunde müssen einander die Wahrheit sagen, auch wenn sie unangenehm ist. Die Wahrheit, auch eine schreckliche Wahrheit, kann eine Erleichterung sein. Mir würde es helfen, zu wissen, was unter dem Tuch ist, ganz egal, was es ist.“
„Freunde! Haben Sie uns beide gerade als Freunde bezeichnet? Bin ich Ihr Freund? Ich, der Sie betäubt, die Treppe hochgeschleppt und hier an diesen Stuhl gefesselt hat, bin Ihr Freund? Helmstedt, verzeihen Sie mir diese Bemerkung, aber das ist pervers.“
„Sie sind mein Freund, Sie müssen es sein. Niemand sonst kommt auf die Idee, mir seine Hilfe anzubieten. Ich bin allein. Seit Katrina nicht mehr da ist, bin ich ganz allein.“
„Ja aber, mein Gott, Herr Helmstedt, da tut man doch was dagegen! Da geht man mal wieder auf die Piste! Da sieht man sich nach was neuem um! Da lässt man Belanglosigkeiten an sich vorüberziehen, bis was ernstes dabei ist. Da sucht man sich irgendetwas, was einem weiterhilft.“
„Ich habe mir Leo gekauft. Er hilft mir gegen die Einsamkeit.“
„Mhm, dafür haben Sie Ihren Hund. Und Sie machen sich Sorgen um ihn. Und Sie befürchten, dass ihm etwas schlimmes passiert sein könnte.“
„Ziehen Sie den Vorhang weg.“
„Auch wenn ich Ihnen sage, dass das, was darunter ist, nichts, aber auch absolut gar nichts mit Ihrem Hund zu tun hat?“
„Ziehen Sie ihn weg.“
„Also gut, bitte, ziehe ich den Vorhang weg, dass Sie sich davon überzeugen können, dass es ihrem kleinen Liebling gut geht.“
„Oh mein Gott!“
„Ich habe, es Ihnen gesagt, Herr Helmstedt, habe ich es Ihnen nicht gesagt. Unter solchen Tüchern kann sich etwas Furchtbares verbergen. Sie wollten nicht auf mich hören.“
„Legen Sie das Tuch wieder auf, bitte, legen Sie das Tuch wieder auf!“
„Ich weiß nicht so recht. Sie haben von unangenehmen Wahrheiten gesprochen, denen man ins Gesicht sehen muss.“
„Legen Sie auf! Legen Sie auf! Legen Sie auf!“
„Je mehr ich darüber nachdenke, ich glaube auch, dass wir Freunde geworden sind. Was Sie mir da erzählt haben, von der Einsamkeit, ich kann es nachvollziehen. Und auch ich bin der Meinung, dass alle Beschäftigungstherapie kein lebendigen Wesens ersetzen kann. Nicht die Nähe, nicht die Wärme, nicht das Vertrauen, dass man sich entgegenbringt. Ich glaube, Helmstedt, was Leo für Sie ist, dass sind Sie für mich.“
„Nimm die Maske ab, nimm die Maske ab, du Schwein!“
„Ach, jetzt soll ich die Maske abnehmen, jetzt, wo klar ist, wo in diesem Glaskasten hier fein und säuberlich ausgestellt ist, was aus Deiner große Liebe geworden ist. Jetzt, nachdem Du Dich an das erinnerst, was Du schon immer wusstest, jetzt sagst Du mir, ich soll die Maske abnehmen! Ich habe Dir angeboten, das Rätsel zu lösen, Helmstedt, ich habe Dir meinen helfenden Arm ausgestreckt, ich habe Dir zu verstehen gegeben, dass Du mir nur sagen musst, was ich tun soll und schon tue ich es. Ein Wink von Dir, ich hätte sie gleich heruntergenommen und alles wäre klar gewesen. Aber nein, Freunde müssen einander die Wahrheit sagen, es ist eine Erleichterung, wenn sie es tun. Oder nicht? Freunde tun das füreinander. Aber ich will dir eins sagen, du kleines Arschgesicht, wir sind keine Freunde, wir sind noch nicht einmal Feinde, wir sind ein und dieselbe Person!“
„Ich kann doch nicht, ich kann doch nicht.“
„Du kannst nicht, aber ich kann. Es ist acht Jahre her, seit diese Frau gegangen ist. Seitdem sitze ich gefesselt auf einem Stuhl, obwohl dafür weiß Gott kein Grund besteht. Ich habe es satt, hier zu sitzen und mir Geräusche von Partys anzuhören, auf denen ich nicht bin. Es ist Zeit, dass Du auf diesem Stuhl Platz nimmst, Helmstedt, höchste Zeit.“
„((weint))“
„Ich werde jetzt ein Stockwerk tiefer gehen. Du bleibst derweil hier sitzen und glaub ja nicht, dass ich Dich befreie. Mach Dir keine Sorgen um Leo, um den kümmere ich mich schon. Mach's gut.“
„Stopp! Bevor Du gehst, deck es ab! Bitte, deck es ab!“
„Sie sie Dir an, Helmstedt. Sie Dir an, wie glücklich sie auf dem Foto aussieht. Sie hat eine Familie jetzt. Das Kind ist bestimmt schon fünf. Das war immer das, was sie wollte. Wo waren wir, als es Zeit wurde, ernst zu machen, Helmstedt? Und bei Gott, warum sind wir nicht gleich dort geblieben? Ein neues Rätsel, über das du nachdenken kannst. Viel Spaß dabei.“
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012
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