Das Tor hat gehalten! Der Feind zieht ab! Hurra! Hurra! Die Soldaten auf den Türmen schwenken die Helme und klopfen mit ihren Schwertern auf die Schilde, die Frauen drücken die Kinder an sich, Trompeten schmettern. Seit heute morgen wird das Lager, das sich vor zwei Jahren vor die Burg gesetzt und alle Bewohner in jedem Augenblick daran erinnert hat, wie sie sterblich sind, abgebrochen.
Den Männern aus der Fremde war ihr Ruf vorausgeeilt. Grausamkeiten hatten die Runde gemacht. Dass sie ganze Städte ausgerottet haben. Dass sie Mütter an den Nabelschnüren ihrer Kinder aufgehängt und Männer dazu gezwungen haben, ihren Frauen die Nasen abzuschneiden und vor ihren Augen zu essen. Der Schrecken war groß, als von Ferne ihre Wimpel auftauchten. Die Bewohner haben ihren Angriffen getrotzt, mit der Belagerung gelebt, Gefangene im eigenem Heim. Nun ziehen die Feinde ab, ohne Ankündigung, plötzlich, unverhofft. Die Menschen sind fassungslos vor Glück.
Mitten in dem Gewühl lachender und singender Menschen steht Pater Christian an der Brüstung und ringt ebenfalls mit der Fassung. Jetzt liegt der Zeitpunkt nicht mehr fern, an dem er sich satt essen wird. Nicht einfach nur gerade so viel, dass das Leben erhalten bleibt. Satt. Er schaut zwischen die Scharten des Verteidigungswalls auf die große Wiese, auf der die feindlichen Krieger Säcke, Zeltstangen und sonstiges Lagermaterial auf die Pferdewagen verfrachten. Irgendwo reflektiert ein glatt poliertes Schild die Sonne und bricht ihr Licht in ein flimmerndes Zucken. Pater Christian lächelt und legt die Hand auf die Mulde, zu der sein ehemals stolzer Bauch geworden ist. Nichts als winzige Mengen Brot und ein Schälchen Wasser hat es in den letzten Jahren gegeben. Christian stellt sich das Ferkel vor, dass er essen wird. Er denkt an die krosse Kruste, die er mit den Zähnen durchstößt und an das warme Fleisch, dass er mit einer genießenden Neigung des Kopfes herausreißt. Ein Schauer der Begierde und Vorfreude überkommt ihn. Er wirft noch einen letzten Blick über die Mauer und macht sich dann in Richtung der Ställe auf, die auf der Rückseite der Burg liegen. Es fällt ihm schwer, nicht zu rennen.
“Seht euch die Mönchskutte an, da trabt sie! Wer hat diese Worte gesprochen?” Es ist Herrmann, der da unten steht. Strahlend grinst der junge Mann zu ihm hinauf. Christian kennt ihn noch als kleiner Junge. Das Lernen fiel ihm schwer, die Bibelgeschichten konnte er sich nicht merken, aber kämpfen, das kann er. Wie einen Derwisch hat er mit seinem Schwert auf die dunklen Männer aus der Fremde eingedroschen, als sie mit furchterregenden Schlagwaffen bewaffnet die Sturmleitern heraufdrängten.
“Ah!”, ruft Christian, und geht mit geöffneten Armen auf ihn zu. Sie umarmen sich. “Gott hat uns erhört”, flüstert Herrmann und Christian nickt stumm und ernst. Da kommen auch seine Freunde angelaufen, junge Burschen, die Christian ebenfalls schon als Kinder kennt. Sie rufen wild durcheinander.
“Das Tor hat gehalten!” “Ein Wunder!” “Dank Gott dem Herrn!” Und da Gott gerade nicht greifbar ist, lassen sie Pater Christian hochleben. Sie nehmen ihn auf ihre Schultern, und stimmen ein Hohelied an, dass er mit ihnen gesungen hat, als sie Kinder waren.
“Lasst mich runter ihr Teufelbande!”, ruft Christian lachend und sie setzen ihn glücklich zu Boden.
“Ich muss jetzt was essen”, sagt er. Sie lachen noch über seine Worte, als er schon durch den nächsten Türbogen verschwunden ist.
Das Essen das einzige ist, was im Leben zählt, ist Christian während eines Angriffs der Feinde mit dem Rammbock klargeworden. Es war ganz still in der Burg. Die Menschen starrten mit angespannten, schmutzigen Gesichtern auf das Tor, dass unter den gewaltigen Erschütterungen immer wieder zitterte, als würde ein böser Riese daran klopfen. “Gleich”, dachte Christian, “gleich splittert das Holz und die Eisenspitze grinst uns an. Sie werden durch das Loch in unsere Burg strömen und uns alle töten. Überall werden wir liegen, nebeneinander, übereinander. Mein Gott, ich will nicht hungrig sterben.”
Der letzte Gedanke kam plötzlich und überraschend. Christian versuchte ihn abzuschütteln und bei dem traurig schönen Bild der toten Bewohner zu bleiben, das trotz aller Trauer, so etwas wie Frieden enthielt. Doch es half nichts. Ich will nicht hungrig sterben, dieser Gedanke dröhnte wie ein Klöppel gegen eine Glocke unablässig in seinem Kopf.
“Christian!” Das Rufen seines Namens reißt Christian aus seinen Gedanken. In Schürze und Kopftuch läuft ihm Hirmhild entgegen. Er lächelt schüchtern, in seiner Jungend war er ein wenig in verliebt sie.
“Christian”, ruft sie, “Christian, es ist doch nicht zu fassen!” Sie küsst ihn auf die Wange und ist schon wieder vorüber. Christian blickt ihr nach, wie sie unter dem Torbogen zum Innenhof läuft und ihrem Mann, dem Schmied, das kleine Töchterchen aus den Armen nimmt. Der Schmied schaut herüber. Christian läuft weiter. Der Schmied hat wache Augen. Und er hat ihn einmal bei den Ställen umherstreifen sehn. “He da!”, ruft er jetzt tatsächlich und Christian geht schneller. “He da!”, ruft der Schmied wieder, doch da braust ein großer Jubel durch die Menge. Der König selbst tritt auf den Balkon, neben ihm die Königin und der kleine Prinz. Und er winkt, der König, er winkt und lacht. Die Menschen lachen ebenfalls und werfen ihr Arme in die Luft.
Christian biegt eilig in den Gang, der zu den Ställen führt. Der Lärm bleibt zurück. Er geht an den offenen Gattern vorüber. Die dunklen Höhlen, aus denen früher fröhlich die Tiere lugten, geben ihm einen Stich ins Herz. Gleich dahinter führt ein morastiger Weg die Außenmauer entlang. Dort befindet sich das kleine Tor, das seinem großem Bruder auf der anderen Seite gleich gegenüber liegt. Christian eilt darauf zu. Ein gewaltiger Riegel mit einem Knauf daran versperrt es. Christian nimmt den Knauf in beide Hände. Ein Scharren, ein Ruck, dann ist entriegelt. Das hölzerne Portal knarrt, als er es aufzieht. Vor ihm stehen die Feinde in voller Rüstung. Ihre Helme schlagen aneinander, so dicht stehen sie. Einer von ihnen wirft Christian einen Sack Gold zu. Er fängt ihn auf und weicht zur Seite. Und Wein wird er trinken, so viel Wein, bis ihm der Kopf braust. Das wird ein Fest.
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012
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