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Tagebuch! Heute durch Musik vom Ich zum Wir gefunden.


Ich tanzte übermütig im Zimmer herum, versuchte auch die Wände hochzugehen und fiel auf den Boden. Gleich stand ich wieder aufrecht, versuchte erneut, fiel wieder hin und wälzte mich energetisch hin und her. Gerade rackerte ich mich durch den schönsten Refrain, da klingelte es an der Tür. Ich musste es wohl lange nicht gehört haben, die Türglocke hatte bereits eine Schrille erreicht, die Ungeduld verriet. Stark verschwitzt und außer Atem öffnete ich. Vor der Tür stand eine ältere Dame. Nicht nur sei die Musik sehr laut, sagte sie, zusätzlich würde ein wahnsinniges Gepolter ihre Räumlichkeiten und vor allem ihre geliebte Glasvitrine bedenklich erzittern lassen. Sofort begriff ich ihren – durch Schüchternheit nur unterschwellig vorgebrachten – Wunsch. „Gerne“, sagte ich sanft, nahm ihre Hand und führte sie in das von Klängen berstende Zimmer. Ich fiel weiter von den Wänden, probierte mit großer Ausdauer Kasatschok zu tanzen oder brüllte einige Lieder einfach im Zimmer stehend von Anfang bis Ende mit. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen auf meinem kleinen Sofa, wippte mit einem Fuß im Takt und lächelte still in sich hinein. Die Sonne wanderte langsam durchs Zimmer, machte unsere Schatten länger und länger und sank schließlich hinter einen sich glühend ausdehnenden Horizont.

Tagebuch! Heute Aufbruch.


Ich öffnete die Augen und erkannte einen Schiffsrumpf, der auf meiner rechten Linse schwamm. Boote machten vom Schlupfwinkel los und setzen zu ihm über. Kommandos drangen an mein Ohr, es wurde Ladung herübergeschafft. Neugierig versuchte ich mit dem linken Augen näheres zu erfahren, doch der Nasenrücken versperrte die Sicht. Auf ihm stand ein Männchen im Gehrock und sah in die Ferne. Die Drehung des Augapfels bemerkend, drehte es sich um und winkte fröhlich. Ich lächelte und eine seichte Welle zog durch das Gewässer.

Tagebuch! Heute erleichtert.


Abends putzte ich mir die Zähne, als gleich neben dem Spiegel eine Fliese zu Boden fiel und ein Loch sichtbar wurde, durch das flackernder Lichtschein drang. Ich hielt inne und sah hindurch. In einem kleinen Raum, fünf, sechs Meter im Durchmesser, saß ein Mann in der Mitte auf dem Boden, vor sich eine halbherhabgebrannte Kerze auf einem niedrigen Ständer. „Wer sind Sie?“, fragte ich. Er schaute irritiert auf und hielt sich eine Hand ans Ohr. „Wer Sie sind?“, fragte ich noch einmal. Der Mann begann zu lächeln. „Ach, lassen Sie nur, ich habe vor Ihnen hier gewohnt, ich brauche nichts.“ „Ist gut“, sagte ich, stellte mich wieder vor den Spiegel und schob die Zahnbürste in den Mund. Ich freute mich, nicht mehr allein im Bad zu sein, dessen Waschbecken, Badewanne und Toilette mir manches Mal als urzeitliche Wesen erschienen waren und ein gewisses Unwohlsein bereitet hatten.

Tagebuch! Heute Einbruch.


Ich stieg bei mir durch ein nachlässig angelehntes Fenster ein. Im kreisenden Lichtkegel suchte ich nach Wertvollem, öffnete Schubladen, zog dramatisch Vorhänge beiseite. Alles, was ich fand, waren Dinge, die ich noch brauchen würde und mir unmöglich abspenstig machen konnte. Verärgert änderte ich meinen Plan und beschloss, mir stattdessen einen wahnsinnigen Schrecken einzujagen. Ich schlich zur Schlafzimmertür und öffnete sie vorsichtig. Das Mondlicht fiel auf meine ruhig atmende Silhouette. Mit einem Satz sprang ich aufs Bett, riss die Decke fort und leuchtete mir ins Gesicht. Doch Schreck! Ich hatte mit mir gerechnet. Taschenlampenlicht schoss unter der Decke hervor und leuchtete zurück. Ich stürzte vom Bett und hastete verfolgt durch die Wohnung. Lichtkegel tanzten! Türen knallten! Endlich erreichte ich das Fenster, warf mich hinaus und rannte so schnell ich konnte die silbern leuchtende Straße hinab in die Nacht hinein.

Tagebuch! Heute grün.


Ich erwachte in Bewegung. Blauer Himmel, über mich hinweg ziehenden Baumwipfel, funkelnde Sonnenstrahlen. An meinem Rücken rieb Erde und feuchtes Gras. Ich hob den Kopf. Eine Gestalt im grauen Mantel mit übergezogener Kapuze hielt mein rechtes Bein mit beiden Händen an seine Hüfte gepresst und zog mich hinter sich her. „Wohin soll’s gehen, guter Mann?“, fragte ich. Er schritt stumm mit ausladenden Schritten. Es ging über eine Wiese, eine Lichtung wahrscheinlich. Ich winkte vorbeihoppelnden Hasen zu. Wann war ich eigentlich das letzte Mal in freier Natur gewesen?

Tagebuch! Heute gerührt.


Im Treppenhaus vernahm ich Geräusche spielender Kinder und traf eines von ihnen an der Tür zum Innenhof an. Sie spielten Verstecken! Im Hof waren ein paar Schöpfe hinter umherstehenden Mülltonnen zu sehen und eines hatte sogar hinter der großen, mittig gelegenen Esche Schutz vor einem augenscheinlich umherspähenden Jungen gesucht. Ich war kaum herausgetreten, da entdeckte er es und die beiden rannten um die Wette zu einer Mauer, an die der Fänger laut „Abschlag!“ rufend als erster anschlug. Der Anblick rührte mich derart, dass ich mir eine Hand vor Augen hielt, mit dem Finger der anderen auf sie zeigte und zu weinen begann. Ist denn die heutige Jugend nicht eine Ausgeburt der Hölle, der Stimmen aus dem Internet das Morden befehlen? Und da laufen sie und spielen Verstecken. Noch mehr gerührt, lief ich ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Alle wollte ich sie in meine Arme schließen. Alle, alle. Nachdem sie schreiend weggerannt waren, saß ich noch für Stunden an eine der Mülltonnen gelehnt auf dem Boden und fing immer wieder von neuem mit dem Weinen an.

Tagebuch! Heute Kaugummi verdiente Aufmerksamkeit geschenkt.


Mühsam trug ich den gesamten Tag über die Möbel meines Wohnzimmers auf den Flur, bis es ganz leer war. Ich stellte große Spiegel auf und richtete sie so aus, dass das Licht der Abendsonne sich auf einen Punkt in der Mitte des Zimmers bündelte. Dorthin legte ich den weichen, elastischen Riegel. Das Aluminiumpapier begann zu funkeln, blendete mich, ich schrie auf, verkroch mich in die hinterste Ecke des Zimmers und verbarg mein Gesicht in den Händen. Nach einer Weile blickte ich vorsichtig durch die Finger. Es leuchtete! Es leuchtete, wie ein geheimnisvoller Schatz. Langsam, zögernd, näherte ich mich geduckt dem verheißungsvollen Kleinod. Oh, wie würde ich kauen. Mit einer Hand abblendend, faltete ich die Verpackung auseinander. Da lag es! Zögernd ließ ich den Arm sinken, das Licht blendete nicht mehr, es fiel leuchtend auf einen weißen, mit feinem Pfefferminzstaub bestreuten Riegel, in dem gezackte, an die Schrift der Maya erinnernde Einkerbungen zu sehen waren. Ehrfürchtig nahm ich ihn in die Hand, hielt ihn gegen die Sonne und betrachtete ihn eingehend.
Schwer, aber richtig, war der Moment, als meine Zähne ihn zermalten und meine Zunge aus ihm das Wohnzimmer formte und auch mich entstehen ließ, hell beschienen vom Licht des Mundes.

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012

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