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Es war der schönste Winter meines Lebens. Ich hatte lange gezögert ins Ausland zu gehen, ich weiß auch nicht warum. Über die Jahre hatte ich mir eine ziemlich gute Argumentation einfallen lassen, wieso und weshalb ein Auslandsaufenthalt im Moment nicht möglich und eigentlich auch nicht mein Stil war. Mir fehlte das Geld, ich hatte viel zu tun, und waren nicht diese ganzen Auslandsreisenden im Grunde genommen eine Truppe von Wichtigtuern, die einem ihre Erfahrungen aufdrängten? Doch, um ehrlich zu sein, mich quälte das Thema. Über die Jahre begann ich wegzuhören, wenn Leute von ihren Auslandsaufenthalten erzählten und nicht nur, weil ich sie für Idioten hielt. Dann änderte sich alles.

Eines Morgens ging ich in der Uni an einem Plakat vorbei, dass für Praktika im Ausland warb. Irgendeine Non-Profit Sache. Es zeigte lachende Studenten vor südländischer Kulisse, damit Leute wie ich sich angesprochen fühlten. Leute wie ich? Fühlte ich mich angesprochen? Unter dem Plakat war mit Filzstift das Datum und die Uhrzeit für ein Informationstreffen geschrieben. In einer halben Stunde. Nach einigem Überlegen beschloss ich, nicht hinzugehen und setzte meinen Weg in die Bibliothek fort. Ich verstaute meine Sachen in einem der Schließfächer und stieg die Treppen zu meinem bevorzugten Arbeitsplatz hinauf, als ich aufblickte und eine Frau vom Treppenabsatz im ersten Stock auf mich herabsah. Du wirst Dich für alle Zeit hassen, wenn Du nicht zu diesem Treffen gehst, wollte ihr Blick mir sagen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und erreichte nach einigem Suchen den Raum gerade noch rechtzeitig.

Es waren außer mir nur zwei andere Studenten da und zwei Veranstalter, die ebenfalls Studenten waren. Die Powerpoint Präsentation war für ein Massenpublikum ausgelegt. Die Veranstaltungsstudenten brachen nach zwei Minuten ab, weil ihnen alles lächerlich erschien. Stattdessen erzählten sie frei und unstrukturiert. Ich begriff nicht worum es ging, weil es mir einzig und allein auf das Wort ‚Auslandsaufenthalt’ ankam. Das hier war mein erstes Treffen dieser Art und ich dachte überhaupt nicht daran umzukehren und den Weg nicht ganz bis zum Ende zu gehen. Ich trug auf einem Zettel meine Adresse ein und kreuzte an, dass ich damit einverstanden war, dass man mir Informationsmaterial zuschickte.

Einige Tage später kam ein buntes Heftchen an, das dem Plakat ähnelte. Ich schlug die letzte Seite auf, tippte die E-Mail Adresse ab und bat um einen Vorstellungstermin. Der Frau von der Organisation erzählte ich von meinen Auslandsträumen, woraufhin sie nickte und sagte, sie wüsste was. Einen Monat später saß ich im Flugzeug nach Südamerika.

Es war entsetzlich heiß, als ich die Maschine verließ. Alles schwitzte und wischte sich mit Tüchern die Gesichter ab. Ich wartete auf meinen Koffer, stieg in ein Taxi und zeigte dem Taxifahrer meine neue Adresse. Wir fuhren eine lange Zeit. Zu lange, nach meinem Gefühl. Ich wollte etwas sagen, aber ich hatte Angst vor diesem fremden Mann, der mich jederzeit irgendwo aussetzen konnte. Wir hielten vor einem weiß getünchten Haus.

Die Eheleute, bei dem ich zur Untermiete wohnte, hießen Maria und Rodrigo. Sie hatten ein Inserat auf einer Webseite gepostet, auf das ich in so schlechtem spanisch geantwortet hatte, dass wir uns ab da nur noch auf englisch schrieben. Wenn ich etwas nicht verstand, könnte ich jederzeit nachfragen, ließ mich Rodrigo wissen. Mit solchen Menschen wollte ich zusammenleben.

Als ich die Treppe zu ihrem Haus hochstieg, war es Nachmittag. Maria öffnete die Tür und ich trat ein. Sie hatte einen schönen Körper und Rodrigo einen Schnauzbart, wie ihn junge Männer in Berlin tragen.

Mein Zimmer lag im Obergeschoß und ich konnte von meinem Fenster aus die Straße übersehen, auf der unablässig knatternde Motorräder über schlechten Asphalt fuhren. Ein paar Tage lang schaute ich abwechselnd hinaus und warf mich aufs Bett. Wippend lauschte ich den knirschenden Matratzenfedern. Zweimal ging ich in die Stadt. Das erste Mal lief ich lächelnd durch die Straßen und staunte über alles Neue. Das zweite Mal kannte ich mich schon besser aus.

Das Praktikum begann. Jeden Morgen stand ich auf, ging im Schummerlicht durch das Haus zum Hinterausgang, trat in den Hof, setzte mich auf Rodrigos Motorrad und fuhr zu einer Schule, in der ich als eine Art Hausmeister arbeitete. Rodrigo hatte anfangs Einwände wegen des Motorrades geäußert, aber ich hatte so getan, als verstünde ich ihn nicht. Um die Mittagszeit war ich wieder zu Hause, sah aus dem Fenster, warf mich aufs Bett und lauschte den Matratzenfedern.

Mit meinen Freunden in der Heimat blieb ich in Kontakt. Das Internet war langsam, es dauerte, bis sich die Seiten aufbauten. Als ich das bei meiner Ankunft festgestellt hatte, musste ich an die Zeit vor fünf oder sieben Jahren denken, als das Tempo bei uns das gleiche gewesen war. Ich begann darüber zu lachen. Ich lachte mit zurückgeworfenem Kopf und den Händen vor dem Bauch, bis mir die Tränen kamen.

Rodrigo arbeitete irgendwo irgendwas in der Stadt. Ich musste vor ihm aufstehen, doch an einem Morgen blieb ich liegen. Ich war sicher, in Marias Augen ein begehrendes Funkeln bemerkt zu haben. Der Tag dämmerte und ich hörte ihn das Haus zur Arbeit verlassen, stand auf, ging zum Fenster und sah hinunter. Er tauchte mit seinem Fahrrad auf der Straße auf und war im Begriff aufzusteigen.

Sein Blick ging nach oben, ich wich zurück. Einen Moment bewegte ich mich nicht. Wenn ich nicht mehr ans Fenster trat, würde er jeden Schatten für einen Irrtum halten. Ich war unangenehm berührt. Wie seltsam, ihn da unten zu sehn. Wie gespenstisch, mit mir hinterm Vorhang. Fuhr er mit einem unguten Gefühl zur Arbeit? Ich ging zu Maria und schlief mit ihr.

In der Nacht erwachte ich. Im Mondschein saß Rodrigo auf der Kante meines Bettes und blickte auf mich herab. Wir sahen uns lange an. Maria hatte ihm sicher alles erzählt. Ich richtete mich auf und drückte ihn an mich. Mir fiel ein Schlaflied ein, das mir meine Mutter früher vorgesungen hatte. Ich begann es zu summen und betrachtete dabei unsere Schatten an der Wand. Irgendwo bellte ein Hund.

Die Kinder in der Schule hatten mich gern. Sie umringten mich, wenn ich von meinem Motorrad stieg. Ich streichelte ihre Köpfe. In der Pause versteckten sie sich vor mir, und ich verbrachte die Zeit damit, sie zu suchen. Ein schönes Spiel, ich mochte es.

Was will ich in diesem Land? Was will dieses Land von mir?, malte ich mit schwarzer Farbe an die Wände meines Zimmers. Ich wollte den Einfluss testen, den solche Sätze auf mich haben würden. Ein paar Tage tat sich nichts. Dann ging ich zu Rodrigo in die Küche und sagte ihm, dass ich ab sofort bei Maria schlafen würde. Er schrie mir auf spanisch etwas ins Gesicht und rannte aus dem Zimmer. Ich hatte ihn nicht verstanden, wollte nachfragen und lief hinter ihm her. Polternd hetzen wir Trepp’ auf Trepp’ ab durch das ganze Haus. Schließlich gab ich auf und kroch zu Maria ins Bett.

Mein Spanisch war immer noch schlecht. Auf der Arbeit hatte ich mich von Anfang an als gehörlos ausgegeben, um Situationen zu entgehen, in denen alle über mich lachen würden. Stattdessen machten nun alle vor mir die seltsamsten Verrenkungen. Jeden Abend führte ich ihre Grimassen Maria vor. Drang ihr Gekicher bis zu Rodrigo hinauf?

Wochen vergingen und ich begann, mich in diesem ganzen Geflecht aus Motorradgeknatter, Schulkindern, Marias Körper und Rodrigos Augen einzurichten. Die Sonne hob und senkte sich, die Straßen waren belebt und ausgestorben. Mit dem Hund aus der Nachbarschaft hatte ich mich angefreundet.

An einem Morgen stieg ich vor der Schule vom Motorrad, da überkam mich das Bedürfnis zu beten. Ich sank auf die Knie, faltete die Hände und flüsterte mit gesenktem Kopf heilige Worte. Als ich aufblickte, umringten mich die schreienden Kinder. Ich erhob mich und machte Kreuzzeichen auf ihrer Stirn. Gott war nah.

Allmählich näherte sich das Ende meines Aufenthaltes. Ich musste an zu Hause denken und wurde schwermütig. Dort wartete mein Studium auf mich und ich hatte Angst vor den Prüfungen. Manchmal fühlte ich mich deshalb zum Arbeiten unfähig. Ich winkte am Rahmen der Haustür gelehnt Rodrigo nach, ging zu Maria und klagte ihr mein Leid.
Ich habe nie erfahren, wie viel sie von meinem deutsch verstand, doch es tat gut, mit jemanden zu reden. In diesem fremden Land war es schwer, Leute zu finden, mit denen ich reden konnte.

An meinem letzten Tag wollte mich Rodrigo töten. Er stand mit einem Messer hinter der Küchentür und ließ Maria nach mir rufen. Ich sah einen Schatten und warf mich im Reflex zur Seite. Es gab ein Handgemenge, ich entwaffnete ihn und fesselte die beiden mit Marias Schürzenband ans Ofenrohr. Voller Rührung über ihre gemeinsame Aktion schlug ich ein Kreuz und erklärte sie ein zweites Mal zu Mann und Frau.

Ich sagte dem Hund auf Wiedersehen und fuhr mit dem Motorrad zum Flughafen. Die Menschen, an denen ich vorüber fuhr, würden es niemals schaffen, von hier wegzukommen. Ich war stolz auf mich.

Auf dem Flughafen saß ich auf einem orangen Schalensitz und wartete auf den Abflug. Ich dachte an meine Freunde, die ich bald wiedersehen würde und damit auch an das langsame Internet. Nun blieb ich ernst, ich war reifer geworden.

Das war mein Auslandsaufenthalt. Ich bin total froh, es gemacht zu haben.

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012

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