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NATHANIEL- LOST ANGEL


Mühsam öffne ich die Augen und versuche meine Umgebung wahrzunehmen- erfolglos. Mein Blick ist so verschleiert, dass ich kaum was erkenne. Langsam quäle ich mich auf die Knie und taste mich mit einer Hand nach gebrochenen Gliedmaßen ab. Mein rechter arm lässt sich nicht mehr bewegen und einige Rippen scheinen gebrochen zu sein.
Aus reiner Gewohnheit spreitze ich die Flügel- dass heißt ich versuche sie zu spreitzen, aber während der rechte Flügel etwas verdreckt aber kräftig und flugbereit zur Seite geöffnet ist, hängt der linke Flügel schlaff nach unten. Ich seufze und schaue mich um. Inzwischen hat mein Sehvermögen soweit an Stärke gewonnen, dass ich alles wieder so scharf wie gewohnt erkennen kann.
Kraftlos klammere ich meine rechte Hand fest um den Schmerz ein wenig zu lindern und schleppe mich in einen dunklen Hinterhof das abseits der offenen Straße liegt um dort die Nacht zu verbringen.
An die kalte Metallwand einer Mülltonne gelehnt, denke ich darüber nach wie es jetzt weitergehen soll, nachdem ich verstoßen wurde.

Als Leitherr der Schutzengel habe ich keine eigene Schutzperson, helfe jedoch hier und dort, wo ich gerade gebraucht werde und in Extremfällen. Als Ithuriel, der alte Leitherr der Schutzengel ausgewechselt wurde, musste zwischen Japhael und mir entschieden werden. Die Wahl fiel auf mich und das ließ Japhaels Herz vor lauter Eifersucht auflodern. ‚Wollen wir doch mal sehen wie lange du deinen Posten hältst!‘, hat er mir noch zugeraunt ehe er verschwunden ist.
Als er neulich zurückkam, meldete er dem Obersten Heeresleitung, ich würde irdische Frauen nachstellen, was ein sehr großes Verbrechen wäre, da dies in alten Zeiten schon Mal geschehen ist und großes Unheil mit sich brachte. Ich stritt natürlich alles ab doch er bestand darauf, dass eine Auswechslung nötig sei um wieder etwas Ordnung einzubringen. Ja, ich gebe es zu es sind nicht immer alle Aufträge erfüllt worden, weil manche Schutzpersonen sich entweder so sehr vom Leben abgewandt haben das ihre Lebensfäden zu schnell rissen oder Anhänger Luzifers einigen Schutzengel den Weg zu ihren schutzpersonen abschnitten. Außerdem wollte kaum noch einer der anderen Engel ein Schutzengel sein: Jeder wollte mit Michael in den Krieg ziehen oder an Gabriels Seite fliegen, doch die Geschöpfe ihres Chefs waren ihnen egal.
Japhael jedenfalls brachte so überzeugend gefälschte Beweise gegen mich, dass ich verstoßen wurde.
Zu einem Gefallenen bin ich geworden- und es war ein sehr unangenehmer Sturz nach unten.

Doch nun liege ich hier, zwischen Mülltonnen und muss mich meinem Schicksal fügen. Seufzend lehne ich erneut den Kopf gegen die kalte Metallwand als ich Schritte höre. Jemand kommt hierher!, denke ich panisch, aber ich beruhige mich wieder bei dem Gedanken, dass ich im dematerialisiertem Zustand unsichtbar bin. Die Aura der Person die sich mir nähert fühlt sich so bekannt an- irgendwie vertraut.
Ich hebe den Kopf um zu sehen wer da kommt und erkenne, dass es das Mädchen ist das sich vor zwei jahren das Leben nehmen wollte. Sie war ein sehr schwieriger Fall: Wir haben ihren Lebensfaden nur mit viel Mühe vom reißen abhalten können.
Als sie den Müll wegwerfen will, stolpert sie über meine Beine und schreit auf als sie mich sieht- was mich wundert. Erschrocken presst sie die Hand auf den Mund und starrt mich heftig atmend an. Ich stehe abrupt auf um sie zu besänftigen, doch Schmerzen durchzucken mich und ich sinke wieder auf dem Boden. „Was bist du?“, flüstert sie zitternd. „Wieso kannst du mich sehen?“, presse ich unter Schmerzen hervor, während ich auf dem Boden gekrümmt liege. Sie macht drei Schritte zurück während sie mich immer noch geschockt anschaut. „Nein,bitte...geh nicht. Helf mir, bitte, ich tue dir nichts.“, flehe ich. Zögernd kommt sie auf mich zu, die angst immer noch auf ihr Gesicht geschrieben. Sie hockt sich drei Schritte von mir entfernt hin und betrachtet mein Gesicht. „Du...dich kenne ich doch. Du hast mich mal festgehalten als ich von der Brücke springen wollte, aber da hattest du keine Flügel. Wer oder was bist du?!“, diesmal fragt sie lauter, eindringlicher. Ich seufze ergeben und antworte ihr: „Ein Engel..Ich...bin ein Engel“, wieso höre ich mich so unsicher an, wundere ich mich, „du musst mir helfen, bitte.“, ergänze ich noch.

Nach Zehn Minuten hin und her überlegen beschließt sie mich endlich in ihre wohnung zu bringen. Ich dematerialisiere die Flügel um menschlicher auszusehen, doch es kostet mich so viel Kraft das ich stark geschwächt auf ihren sofa sinke. Sie versorgt meine Verletzungen -die teilweise bereits heilen- während ich ihr meine geschichte erzähle. Wenn sie mich schon sehen kann, dann kann ich wohl auch erzählen wer ich bin. Ich würde wirklich gerne wissen wieso sie mich sehen kann.

„Das lässt du nicht auf dich sitzen!“, ruft sie empört aus als ich fertig bin. „Wir gehen dir deinen Posten von diesem Raphael zurückholen!“, fügt sie entschlossen hinzu. „Japhael“, korrigiere ich matt, immer noch geschwächt. Doch ihre Worte haben mir einen Anstoß gegeben. Ich werde mir meinen Platz holen, denke ich als mir die Augenlider schwer werden. Und sie hat „Wir“ gesagt, mein letzter gedanke als ich in den Schlaf sinke.

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Tag der Veröffentlichung: 07.06.2012

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