Gelangweilt starrte ich auf meinen grünen Wecker neben meinem Bett. Das Ticken machte mich einerseits nervös, andererseits beruhigte es mich auch. Aber weshalb diese Nervosität? Im Normalfall hatte er doch bisher immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Hatte diese Unruhe einen anderen Grund, mir fiel jedoch im Moment dazu nichts ein. Verschlafen richtete ich mich im Bett auf. Eigentlich hätte ich noch gerne weiter geschlafen, aber heute lag ein ganz wichtiger Tag vor mir. Die Abschlussprüfung…, genau, das musste es sein, das war der Grund meiner Nervosität. Bei dem Gedanken daran, musste ich mir ein Stöhnen verkneifen. Gelernt hatte ich sicher genug, oft bis spät in die Nacht hinein, aber ob das wirklich reichen würde? Es musste einfach reichen.
Ich schob den Gedanken an das Scheitern, soweit nach Hinten in meinem Kopf, dass er von der Dunkelheit, die in meinem Kopf seit Monaten herrschte, verschluckt wurde. Die ersten Strahlen der Morgensonne fielen direkt auf mein Gesicht und plötzlich war ich hellwach. Nochmals richteten sich meine verschlafenen Augen auf die Zeiger meines Weckers. Sie waren wunderschön wie Paragraphenzeichen ineinander verschlungen. Doch irgendetwas stimmte da nicht. Der große Zeiger stand bei der Sechs, der kleine bei der Neun,... 'Das darf doch nicht wahr sein!', zuckte es durch meine Gedanken, er hatte nicht geläutet und ich sollte schon seit mindestens einer Stunde auf dem Weg sein!
Ich sprang auf, stürmte ins Bad, zog meine Bürste durch mein blondes langes Haar, schminkte mich dezent, zog mich an und ging runter in die Küche, um den grauen Alltag, der sich mir jeden Tag aufs neue bot, zu beginnen. Heute musste ich mich mit dem Frühstück beeilen um die eine Stunde Rückstand wieder aufzuholen. Während der Kaffee gemächlich in die Kanne gluckerte, strich ich hastig die Butter auf das Brot. Strich eine dünne Schicht Marmelade darauf, schlang es hinunter, nahm einen großen Schluck Kaffee, las das Wichtigste aus der Zeitung und stürzte mit einem knappen "Tschüss Mama!" aus dem Haus.
Um neun Uhr musste ich vor der Prüfungskommission antreten. Nochmals rekapitulierte ich die Themen, über die ich eventuell Fragen gestellt bekommen würde. Physik ..., Gravitationsgesetz ..., Newton ..., Masse mal Beschleunigung ..., Oh,… der Bus! Dort vorne stand er schon, er durfte nicht ohne mich abfahren! Der nächste kam erst in zehn Minuten. Ich begann zu laufen und ein Randstein, das Gravitationsgesetz, ich fiel hin, und der Bus,...
Ich schlug hart auf den Boden auf. Ein Schmerz durchzog meine rechte Körperhälfte. Mein rechtes Knie blutete. Ich fasste an meine Schläfe. Ich merkte, dass an meiner Hand Blut klebte. Eine riesige Platzwunde musste dort sein, mir wurde ganz schwindlich. Trotz all dieser Schmerzen, hatte ich nur einen, einen einzigen absonderlichen Gedanken, der Bus…, dort stand er…, ich musste ihn erreichen…, ich musste meine Prüfung heute ablegen, ich musste es schaffen,… Mit meinen tränenverschleierten Augen sah ich noch, wie sich die Falttüren mit provozierender Langsamkeit schlossen und er, unerreichbar für mich, in der Ferne verschwand, dann sah ich nichts mehr und Schwärze breitete sich in meinem Innersten aus.
Endlich erwachte ich wieder aus dieser grässlichen Finsternis nach meinem Sturz. Der Bus war mir davon gefahren und während meiner kurzen Ohnmacht hatte ich nochmals von dem verpassten Bus geträumt. Ich saß verbittert am Straßenrand und überlegte, was ich nun machen sollte. „Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein“, rief ich verzweifelt, als ich so an mir hinunterblickte, ehe sich meine Emotionen zu Wut und Schmerz verzerrten und sich diese eine Frage andauernd in meinem Kopf drehte. "Was habe ich verbrochen, dass sich alles gegen mich verschworen hatte?" Ich wollte nachdenken, doch keine Gedanken kamen in meinen Kopf, ich wollte schreien, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wollte weinen, doch meine Augen wollten sich einfach nicht mit Tränen füllen. Also blieb ich sitzen und starrte mit meinen toten Augen in die Ferne, dorthin wo der Bus gerade verschwunden war.
Ein stechender Schmerz an meiner Stirn riss mich aus meinen Gedanken und holte mich in die Realität zurück. Vorsichtig tastete ich mit meinen Fingerspitzen zu der besagten Stelle kurz über der rechten Augenbraue. Unter meinen Fingern spürte ich die frischen Wundränder einer etwa sieben Zentimeter langen Platzwunde, erschrocken zog ich meine Finger zurück und starrte verschreckt auf meine blutroten Fingerkuppen.
"Du siehst aus, als ob du Hilfe gebrauchen könntest!", meinte eine weiche Stimme neben meinem Ohr. Ich hob den Blick und fixierte mit meinem Blick einen Jungen, ungefähr in meinem Alter. Als ich in seine wunderschönen braunen Augen sah, ging es mir schlagartig besser.
Und sofort zuckte der Gedanken an meine Prüfung durch meine Sinne.
"Nein, nein, danke alles in Ordnung, es geht schon, nur schade, dass mir jetzt der Bus davongefahren ist, ich..."
"Nein," sagte er mit gefühlvoller und doch bestimmter Stimme, "so funktioniert das nicht! Die Wunde ist tief, die gehört gereinigt und genäht! Ich weiß das, ich studiere Medizin im letzten Abschnitt. Als erstes bringe ich Dich mit meinem Auto einmal in ein Krankenhaus."
Ein kalter, aber nicht unangenehmer Schauer raste über meinen Rücken.
"Aber die Prüfung...!" versuchte ich noch zu protestieren.
"Keine Widerrede und nun komme schon!"
Die Schauerwellen brandeten über meinen Rücken und ich war mir nicht sicher, ob sie von der blutenden Wunde stammten, oder aber,... Ich blickte in die tiefen Augen meines Gegenübers. Er reichte mir seine Hand, und zog mich langsam hoch. Eine Welle des Schwindels überkam mich, und ich war plötzlich froh, dass er neben mir stand und mich stützte und vor dem Fallen bewahrte. Er schob mich sanft und drängend zugleich über die Straße auf ein Auto zu. Ich bin nicht der Typ, der mit jedem Wildfremden in sein Auto steigt. Aber einerseits war ich durch den Schlag auf meinen Kopf etwas benebelt, sodass meine rationellen, normal Alarm schreien müssenden Gedanken ausgeschalten waren, und andererseits hatte ich auch ein untrügliches Gefühl, dass ich ihm Vertrauen schenken konnte.
Als ich nun in seinem Auto saß und er losfuhr, blitzte kurz mein Misstrauen wieder auf und ich überprüfte erschrocken, ob der Weg, den er nahm, tatsächlich zum nächsten Spital führen konnte. Doch so gut kannte ich mich in unserer Wohngegend auch nicht aus, wir waren erst vor drei Jahren hierhergezogen, meine Mutter und ich, nachdem uns mein Vater, aber das war eine andere Geschichte,.. Dann schoss es mir siedend heiß in den Sinn, dass ich meine Mutter,.. Meine suchenden Hände versuchten mein Handy zu greifen, doch sie stießen ins Leere. Es war weg!
"Hallo, bleib mal kurz stehn, ich finde mein Handy nicht und ich muss meine Mutter verständigen, übrigens, wie heißt du überhaupt...?"
Der Junge drehte noch nicht mal den Kopf in meine Richtung, sondern fuhr schweigend an den Straßenrand. Nachdem er gehalten hatte, griff er kurz in seine Jackentasche und förderte dann sein Handy zutage. "Hier, ruf mit meinem Handy deine Mum an", meinte er nur und drückte mir das Mobiltelefon in die Hand. Leicht verwirrt wählte ich die Handynummer meiner Mutter. Erst nach dem vierten Klingeln nahm sie ab: "Frau Dr. Valerie König am Apparat. Was kann ich für sie tun?", drang die weiche Stimme meiner Mutter aus dem Hörer. Bis jetzt hatte ich mir noch gar nicht überlegt, was ich ihr sagen wollte: "Oh, hallo Mum, ich ähm..." Bevor ich mir noch mehr zusammenstottern konnte, wurde mir das Handy aus der Hand genommen.
Mit ganz ruhiger Stimme sprach er ins Telefon: "Ihre Tochter hat eine kleine Verletzung und ich bringe sie gerade ins Spital. Sie müssen sich keine Sorgen machen."
Zuerst hörte man auf der anderen Seite gar nichts, dann kam ein richtiger Wortschwall aus dem Handy, sodass er es so um die zwanzig Zentimeter vom Ohr weg hielt. Typisch Mum, zuerst Ratlosigkeit und dann alles auf einmal. Ich musste ob der grotesken Situation lachen. Ich mit einer Platzwunde in einem fremden Auto, mit einem Mann, von dem ich nicht einmal den Namen kannte und Mum mit kreischender Stimme, dass es sogar einem Fremden zu viel wurde. Was sollte mir heute noch alles passieren? Ich schaute ihn von der Seite fragend an, aber er blickte voll Konzentration auf die Straße.
"Ihre Tochter wird sie später anrufen und alles erklären, jetzt haben wir es eilig", sprach er nun in das Telefon und legte schnell auf. Einem plötzlich von links einfahrenden PKW wich er mit quietschenden Rädern, aber professionell gekonnt aus und beschleunigte weiter. Und wirklich, nach keinen fünf Minuten waren wir beim nächsten Spital angelangt. In der Notaufnahme waren dichtgedrängt zahlreiche wartende Patienten anwesend und drängten, um eine bessere Position zu erlangen. Als ein vorüberhuschender Arzt mich einfach ignorieren wollte, packe ihn mein Begleiter bei der Hand und unter Protest erklärte sich dieser bereit, mich zu untersuchen.
Wie souverän dieser junge Mann war und wie selbstbewusst er auftrat. Wäre ich alleine dort gewesen, hätte es sicher noch lange Zeit gedauert, bis sich endlich jemand um mich gekümmert hätte. "Wie heißt du eigentlich?" fragte ich und er antwortete,
"Mein Name ist Raphael."
Raphael!
Ja, der Name passte. Ein Engel, ein Erzengel, "einer, der die Seele heilt"!
Irgendwie passte alles. Ich unterwegs zu einer wichtigen Prüfung, mein Sturz, ich in einer Notlage, dann erscheint ein Mann der mich rettete, ein, (mein?) heilender Erzengel? Irgendwie kam es mir ins Bewusstsein, zumindestens bildete ich es mir ein, es hatte alles so kommen müssen, irgendein geheimer Plan steckte hinter all dem. Ich konnte trotz der Schmerzen nur zu meinem Engel aufblicken und ihn anlächeln. Eigentlich hatte ich schon immer geahnt, dass es keinen Zufall gibt und jetzt war ich mir plötzlich ganz sicher, dass alles im Leben einen Grund und einen Sinn hatte. Dieser bildschöne junge Mann, der zumindest äußerlich einem Engel glich, war eine schicksalhafte Begegnung für mich. Wie schicksalhaft, das würde ich, rückblickend gesehen, bald merken, aber alles der Reihe nach. Das Aufblicken zu diesem bildschönen jungen Mann, war mir aber nicht ganz gut bekommen, denn mein Kopf begann sich mit einem Mal zu drehen und ich kippte seitlich weg. Dann hörte ich nur mehr das hastige Trappeln zahlreicher Schuhe um mich herum und das nervöse laute Schreien des verantwortlichen Arztes, der auf einmal sehr aktiv wurde.
"Hey", sagte Raphael, "hier geblieben. Du musst wach bleiben. Du hast mir noch nicht gesagt wie du heißt." Einen Augenblick lang flatterten meine Lieder, ich versuchte die Augen offen zu halten. "L-lilian" flüsterte ich. Meine Stimme versagte. Mir wurde schwarz vor Augen. Dann spürte ich nichts mehr.
Meine Augenlider waren merkwürdig schwer und ließen sich nur einen Spalt breit öffnen. Müde blinzelte ich nach oben, wo mich etwas leicht berührte. Ober mir konnte ich eine strahlende Sonne erkennen, die einen schmerzhaften Reiz in mir auslöste und ich war froh, dass ich meine Augen nur einen Spalt breit geöffnet hatte. Bei meinem Blick nach rechts eröffnete sich ein großer Raum, der mit grünen Kacheln bedeckt war. Menschen mit grünen Mänteln, Kappen und mit bedrohlich wirkenden Masken umstanden mich. "So, nur noch eine Naht. Schwester, bitte die Schere,..." kam es nuschelnd hinter einer dieser Masken hervor. Ich hatte zwar keine Schmerzen, aber die leichte Berührung oben auf meinem Kopf wurde zu einem unangenehmen Ziehen. "Soo,… fertig, nur noch einen Druckverband und wir haben's dann! Schwester sie können nun allein fertigmachen." Ich war vollkommen benebelt, aber ich spürte, wie Raphael meine Hand hielt, und das tröstete mich ungemein.
Langsam schlug ich meine Augen auf. Anscheinend hatte man mich in ein Krankenzimmer gebracht, ohne dass ich es bemerkt hatte. Keine Ärzte und Krankenschwestern waren zu sehen, nur Raphael, der sich nun über mich beugte und sehr besorgt fragte: "Hallo Lilian, geht es Dir gut?"
Ich wollte "ja" sagen, aber nur ein leises Krächzen löste sich von meinen Lippen. Der Schmerz dieser Bewegung ließ meinen Kopf noch oben schnellen und unbewusst berührten meine Lippen nun die seinen. Schuldbewusst, schaute ich verlegen zur Seite, doch wie ich in den Augenwinkeln erkennen konnte, lächelte er bloß ob meines Versehens.
Versehen? War es das wirklich?
"Du scheinst noch leicht verwirrt zu sein.", sagte er, sanft schmunzelnd. Einen Moment hatte ich Angst, er könnte sauer sein, doch sein Ausdruck blieb freundlich. Erst als er auf meine Stirn sah zeichnete sich Besorgnis in seinen Zügen ab. Wie von selbst wanderte meine Hand nach oben, bis ich die weiche Kompresse und den Verband unter meiner Hand spürte. Wow, dachte ich, das Ding ist wirklich riesig. Und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie bescheuert ich aussehen musste. Ich lief rot an und meine Augen wurden feucht. Wieso schämte ich mich so vor ihm?
"Ich sehe sicher furchtbar aus", flüsterte ich und hielt mir die Hand abwehrend vor das Gesicht. "Also wenn ich ganz ehrlich sein soll", antwortete Raphael lächelnd, "dann muss ich Dir sagen, dass du sogar mit dem Kopfverband schön wie ein Engel bist". Mein Herz hüpfte mit einem Mal in riesigen Sätzen. Er fand mich schön, trotz Kopfverband. Ich ihn auch, aber,... das durfte ich ihm natürlich nicht sofort sagen.
"Sag einmal, wie lange liege ich hier schon?" lenkte ich daher ab.
"Eine Weile...", war seine unverfängliche Antwort. Ich hob die Augenbrauen, was zu einem stechenden Schmerz in meinem Kopf führte. "Was heißt das?", bohrte ich nach.
"Es ist halb fünf, nachmittags" erklärte er ruhig.
"WAS?" Ich schüttelte den Kopf. "Das kann doch gar nicht sein! Und was ist mit meiner Prüfung?"
"Vergiss mal die Prüfung. Ich bin schon froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist!" Damit hob er die Hand an meine Wange.
"Außerdem", sagte er, "gibt es heute etwas Wichtigeres mit dem wir uns beschäftigen müssen!" Seine sanfte Stimme hallte leicht in meinem benebelten Kopf wieder, während ich ihn fragend ansah.
Er seufzte und flüsterte schließlich: "Heute ist der 20.12.2012 und wenn morgen der 21. Dezember ist, dann..." Weiter kam er nicht, denn plötzlich fiel mir ein, welcher Hokuspokus an diesem Tag passieren sollte, "... die Apokalypse!?", meinte ich nur scherzhaft, doch dann traf mich sein ernster, vorahnungsvoller Blick, mir stockte der Atem und ich dachte mir im Stillen, 'So musste es ja kommen. Da treffe ich einen gutaussehenden, hilfsbereiten, absolut umwerfenden Jungen - und der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.' "Genau.", sagte er ernst.
"Das ist jetzt nicht... dein Ernst, oder?", stotterte ich.
Er blickte etwas nervös auf seine Uhr. Erst jetzt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf seinen breiten Chronographen. Soweit ich es von meinem Standort aus feststellen konnte, waren zahlreiche Knöpfe und Leuchtdioden darauf zu sehen. Eine dieser Leuchtdioden fing auf einmal wie wild zu blinken an. Ich konnte die blauen Reflexionen auf seinem sorgenvollen Gesicht erkennen.
"Jetzt fängt es gleich an!" sagte er bestimmt. Gleich darauf fing der Boden leicht zu vibrieren an und die Sirenen des Spitals begannen mit einem sirrenden Dauerton zu heulen.
"Was ist hier los?" Meine Stimme
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: von Mader Justin, gaby.merci, Jessica G., sowie alanis, maike und papierkoenigin
Bildmaterialien: Mader Justin
Lektorat: gaby.merci
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2012
ISBN: 978-3-95500-119-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte mich bei meinen Mitstreiterinnen, die mir dabei geholfen haben, dieses Buch zu dem zu machen, was dieses Buch auszeichnet, herzlich bedanken.
Ohne sie wären die Gedanken in meinem Kopfe verblieben und hätten vielleicht nur zögerlich die Tasten meines Computers verlassen.
Darum herzlichen Dank für die wertvollen Beiträge an
gaby.merci, Jessica G., sowie an alanis, maike und papierkoenigin!
Sie alle haben an diesem Buch mitgearbeitet und wichtige Beiträge geliefert.