Marie richtete ihren von Tränen verhangenen Blick auf das Fenster. Schluchzend stand sie auf, ging dazu hinüber und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dort draußen lag die große, weite Welt. Alles, wovon sie jemals geträumt hatte. Doch sie hatte beschlossen, niemals wieder zu träumen. Ihre Freundinnen hatten sie im Stich gelassen- viel zu oft, aber dieses Mal würde endgültig das Letzte sein. Marie legte eine Handfläche auf die kühle Glasscheibe. Sie war es leid, immer die Streberin, die ewige Außenseiterin zu sein. Sie waren die Clique, zu der jeder aufschaute- doch sie selbst wurde immer wieder weggedrängt. Sie schluchzte noch einmal, dann drehte sie sich plötzlich um und schlug mit der Faust auf ihr Kissen ein. Ihre Gedanken drehten sich wiederholt um die E-Mail, die ihr ihre „Freundinnen“ geschickt hatte.
Marie- ist es Dir noch nie aufgefallen, dass du nicht dazugehörst?! Wir wollen nichts, absolut nichts, mit Dir zu tun haben, also lass uns gefällig ENDLICH in Ruhe!!
Diese Worte klangen für Außenstehende nicht schlimm, aber für die 15-jährige waren sie der absolute Horror. Inzwischen kannte sie die Worte auswendig, jeder einzelne Buchstabe verletzte sie wie ein Schuss direkt ins Herz. Weiße, heiße Wut kochte in ihr auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. All die Enttäuschung der letzte Tage und Wochen überkam sie plötzlich. Langsam ging Marie aus dem Haus hinaus; hier, im tiefsten Winter, stürmte es. Trotz der Kälte regnete es, jeder Tropfen prasselte mit solcher Wucht auf sie herunter, dass es schmerzte. Blitze zuckten über den Himmel. Sie trat ein paar Schritte nach vorne, zu ihren Füßen erstreckte sich das eiskalte, wilde Meer. Die schwarzen Wellen krachten gegen die Klippen, dann donnerte es. Ein lauter, wütender, enttäuschter und gleichzeitig verzweifelter Schrei entwich ihr, doch das Toben des Unwetters war um vieles lauter.
Dann machte Marie entschlossen den letzten Schritt ihres Lebens- direkt in die tödlichen Fluten hinein.
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2011
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