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Ich laufe weg. Ich renne und renne und renne. Immer weiter. Ich will sie alle nie wieder sehen. Bloß alles hinter mir lassen. Meine Lungen brennen und meine Beine schmerzen, doch ich laufe immer weiter – bloß nicht stehen bleiben, denke ich mir. Es bricht einfach alles über mir zusammen. Die Tränen laufen mir über die Wangen und ich lasse es einfach zu. Ich weine, weine, weine. Die ganzen Gefühle, die sich in den letzten Wochen aufgestaut haben, bahnen sich auf einmal ihren Weg an die Oberfläche. Mein Kleid fegt den ganzen Dreck auf, aber es ist mir egal. Auch das meine Füße kurz vorm Absterben sind in diesen Schuhen. Sie sind definitiv nicht für solche Läufe gedacht...
Und dann bin ich da. Mein Unterbewusstsein muss mich hierhin geführt haben. Ich stehe an diesem mir so vertrauten Ort, der mir in den letzten Jahren immer eine sichere Zuflucht gewesen ist. Ich klettere die Sprossen der Strickleiter zum Baumhaus hoch. Von hier oben hat man einen wundervollen Blick auf die Kornfelder, welche im Licht des Sonnenuntergangs eine goldene Farbe annehmen. Ich weiß nicht wieso, jedoch habe ich mich hier immer frei gefühlt. Frei von allen Problemen. Frei von allen Pflichten. Frei von allen negativen Einflüssen. Dies war ein reiner Ort und er ist es immer noch. Ich sehe eine Silhouette auf der anderen Seite des Baumhauses sitzen – es ist Chester, ich weiß es. Er dreht sich um und als er mich sieht, steht er auch auf. Er bemerkt, dass ich weine und sieht mich bestürzt an. Ich laufe auf ihn zu und er nimmt mich in seine Arme- wie ich das nur vermisst habe. Ich schluchze und weine bis ich nicht mehr kann und Chester mich leise unterbricht.
»Hey… Hey, was ist denn los«
»Ich… I- Ich… Du hast es mir die ganze Zeit gesagt und ich wollte dir nicht glauben… aber…«
„Hey… Sch… Schsch… Alles wird gut. Erzähl mir einfach was passiert ist.“



2 Monate vorher
Der Wecker klingelt. Müde taste ich mit meiner linken Hand nach dem „Weiterschlafen- Knopf“. Als ich ihn finde drücke ich drauf und erlöse meine Ohren somit von dem nervtötenden Piepgeräusch. Ich weiß, dass diese Ruhe nicht lange anhalten wird. In nicht einmal zehn Minuten wird mein Wecker mich wieder unsanft aus meinen Träumen reißen. Ich beschließe ihm zuvorzukommen und öffne die Augen. Die Uhr meines Digitalweckers zeigt 8:00. Da fällt mir ein – es ist Sonntag, wieso klingelt mein Wecker am Sonntag? Plötzlich wird meine Zimmertür geöffnet und meine Mutter kommt herein. Sie zieht mir ohne Zögern die Decke weg.
„Steh auf, Marleen! Heute ist der Geburtstag von Tante Glenda und wir wollen doch pünktlich zum Brunch da sein. Also komm, raus aus dem Bett!“
Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche zurück ins Land der Träume zu gelangen, doch meine Mutter gibt nicht so leicht auf. Sie geht zu meinem Fenster. Und reißt die Vorhänge auf. Es ist zwar noch nicht so hell, dass es mich sonderlich stören könnte, doch dann öffnet sie mein Fenster und lässt die kalte Morgenluft in mein Zimmer strömen. Jetzt ist natürlich nicht mehr ans Schlafen zu denken. Ich springe bibbernd und meckernd aus meinem Bett und laufe ins Badezimmer. Dort steige ich unter die Dusche und drehe das Wasser auf. Die Wassertropfen laufen an meinem Körper herunter und allmählich werde ich wacher. Ich dusche fertig und greife dann zu meinem weichen apricotfarbenen Handtuch. Ich trockne mich ab und ziehe mich an. Dann wickele ich meine Haare in das Handtuch und wasche mir mein Gesicht. Ich sehe schon viel frischer aus und fühle mich auch besser. Schließlich putze ich mir die Zähne, als plötzlich jemand an die Badezimmertür klopft – es ist meine Mutter.
„Marleen, was machst du denn so lange im Badezimmer? Willst du da etwa einziehen? Du hast noch andere Familienmitglieder, die sich auch fertigmachen müssen.“
„Ich bin doch gleich fertig. Und außerdem bin ich doch noch gar nicht so lange im Bad also reg dich doch nicht so auf!“
„Nicht in diesem Ton, meine Liebe! Und jetzt beeil dich, bitte!“
Wie Mütter einfach mal nerven konnten. Nicht zu glauben. Erst wird man unfreiwillig aus dem Bett geworfen und dann darf man sich nicht einmal mehr in Ruhe die Zähne putzen… Um jedoch einer weiteren Auseinandersetzung mit meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, beeile ich mich, fertig zu werden und verlasse dann das Badezimmer. Ich gehe nach unten in die Küche, wo ich meine Familie beim Frühstück antreffe. Meine Brüder sind gerade dabei, herauszufinden, wer von den beiden schneller seinen Kakao austrinken kann. Wenn jemand die beiden so sehen würde, würde der Beliebtheitsgrad meines großen Bruders wahrscheinlich innerhalb einer Sekunde in den Keller rasen… Als mein großer Bruder mich sieht, springt er sofort auf.
„Wow, ist unser Prinzesschen auch endlich fertig, das Badezimmer ihrem großen Bruder zu überlassen? Wie gnädig von ihnen.“, sagt er mit einem Grinsen auf dem Gesicht, als er sich an mir vorbei in den Flur drängelt, um nach oben ins Bad zu verschwinden. Ich setze mich an den Esstisch in der Küche und nehme mir ein Brötchen aus dem Brotkorb in der Mitte des Tisches. Meine Mutter stellt einen Kakao auf den Tisch und ich frühstücke.



Viel zu spät sitzen wir schließlich im Auto auf dem Weg zu meiner Tante. Da hätte ich auch noch länger schlafen können! Ich habe wirklich keine Lust auf eine dieser super langweiligen Familienfeiern, aber was soll man machen? Meine Eltern hätten mir nie im Leben erlaubt, zuhause zu bleiben, weil meine Brüder dann wahrscheinlich auch nicht mittgewollt hätten. Und meine Eltern hätten ja auch schlecht auf Tante Glendas Geburtstag auftauchen können, ohne Kinder, mit der Entschuldigung, dass diese alle keine Lust auf ihre Tante gehabt hätten. Daher muss ich jetzt einfach die Zeit mit meinem iPod und meinem Handy totschlagen. Auf der Fahrt habe ich meine Kopfhörer auf und höre Musik auf voller Lautstärke. Deshalb höre ich auch nicht, als mein Bruder mich anspricht. Erst als er mich etwas gewaltvoller anstößt, merke ich dass er etwas von mir möchte.
„Hey… glaubt du, dass diese Freundin von Maria wieder da ist?“
Maria ist unsere Cousine, Glendas Tochter. Sie ist auch 16, genau wie ich. Deswegen verstehen wir uns ziemlich gut. Bei unserem letzten Besuch hatte sie eine Freundin eingeladen - Sophie. Mein Bruder hatte sich ein bisschen mit ihr unterhalten. Ich verstehe mich sehr gut mit ihm und wir erzählen uns auch fast alles. Mittlerweile kenne ich ihn zumindest schon so gut, dass ich das letzte Mal bemerkt habe, dass er sich ziemlich in Sophie verliebt hatte.
„Also erst einmal musst du nicht so tun, als wüsstest du den Namen von Sophie nicht. Und ich habe gestern mit Maria telefoniert und ich denke, dass es eventuell sein könnte, dass sie Sophie wieder eingeladen hat.“, flüstere ich in mich hineinlachend und werfe meinem Bruder einen wissenden Blick zu.
Erwischt! – Ich sehe wie mein Bruder anfängt zu grinsen…
„Hast du gemerkt, dass…“
„Was? Dass du auf Sophie stehst? Ben, langsam kenne ich dich gut genug, um zu merken wann du jemanden magst und wann nicht.“
„Okay, aber war es sehr auffällig? Also, glaubst du, dass sie es gemerkt hat?“
„Ich weiß nicht…“, sage ich mit einem Grinsen auf den Lippen.
Ben sieht mich an, gibt noch ein belustigtes Grunzen von sich, bevor er sich wieder seiner Musik widmet. Er weiß, was ich ihm damit sagen will – ich brauche es nicht einmal auszusprechen.
Wir fahren noch eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich das Haus meiner Tante erreichen. Es ist wirklich schön und vor allem groß. Meine Tante ist keine von diesen Frauen, die sich einen reichen Typen angeln, dann bei ihm einziehen und völlig abhängig von ihm sind. Sie und mein Onkel verdienen ungefähr gleich viel, wodurch sie auch geleichgestellt sind. Auch was den Haushalt und die Kinder angeht ist keiner bevor- oder nachteilt- sie ergänzen sich wirklich wunderbar.
Weitere Teile unserer Familie sind bereits eingetroffen. Ich erkenne meine Großeltern, meine andere Tante und noch ein paar Bekannte unserer Familie. Außerdem hat meine Tante dieses Mal noch einige Freunde eingeladen, die ich nicht kenne. Kleine Kinder laufen durchs Haus und spielen fangen, während die Erwachsenen an einem Tisch sitzen und sich unterhalten. Insgesamt ist es eine gelöste Stimmung, die ich von vielen vorrausgegangenen Feiern bereits kenne. Ich überlege, wo ich mir eine Ecke suchen kann, in der es mir möglich ist, mich die nächsten vier Stunden zu verkriechen, damit ich nicht krampfhaft grinsend bei den Erwachsenen sitzen und mich von meinem nervigen Cousin zutexten lassen muss. Er ist 13 Jahre alt, klein, picklig, und einfach nur nervig. Jedes Mal, wenn wir eine Familienfeier haben, werde ich zu seinem Opfer. Dann werde ich meistens mehrere Stunden bequatscht von ihm. Mein Cousin ist nämlich leider der Meinung, er wäre der Womanizer schlechthin. Was er meiner Meinung (zumindest seinem Aussehen nach zu urteilen) nicht sein kann.
Noch habe ich ihn nicht gesehen und ehrlich gesagt lege ich es auch nicht wirklich darauf an. Deshalb erledige ich meine Pflicht und begrüße alle wichtigen Familienmitglieder, wie meine Großeltern und das Geburtstagskind woraufhin ich mich die Treppe hoch in die erste Etage verziehe. Inzwischen ist schon mehr als eine Stunde vergangen, da ich doch noch kurz unten beim Essen bleiben musste. Ich steuere auf einen Raum am Ende des Flurs zu. Ich öffne die Tür, hinter der mich ein Bild erwartet, welches ich so nicht erwartet hätte.

Ich sehe meinen Bruder mit Sophie auf einem Bett sitzen. Sie unterhalten sich und bemerken mich überhaupt nicht. Bevor ich versuche mich leise wieder herauszuschleichen, sehe ich noch, wie mein Bruder sie küsst. Da hat er sich endlich getraut. Ich freue mich für ihn.
Als ich wieder auf dem Flur stehe, überlege ich mir, welchen Raum ich als nächstes ausprobiere. Da sehe ich meinen Cousin die Treppe heraufkommen. Ich schlüpfe schnell in das nächste Zimmer, das ich sehe und hoffe, dass er mich nicht gesehen hat. Ich versuche ganz leise zu sein. Als ich mir sicher sein kann, dass er nicht mehr auf dem Flur steht, sehe ich mich im Zimmer um. Es scheint ein unbedeutendes Gästezimmer zu sein. Erleichtert gehe ich auf ein rotes altes Sofa zu, welches in dem dunklen Raum steht. Bevor ich mich hinsetze ziehe ich jedoch noch die Vorhänge auf, um etwas Licht zu haben. Aus dem Fenster hat man einen atemberaubenden Blick auf den Garten. Es ist ein wunderschöner Garten, voll mit bunten Blumen und Sträuchern. Ich verweile ein paar Minuten mit dem Blick aus dem Fenster woraufhin ich es mir auf dem kleinen Sofa gemütlich mache und mein Buch heraushole. Im Moment lese ich ein selbstgeschriebenes Buch einer Bekannten. Ich bin sozusagen ihr Beta-Leser. So etwas mache ich öfter. Meine Freunde schätzen mich, aufgrund meiner ehrlichen Kritik, denn ihre Geschichte nur zu loben, wäre zwar nett, würde ihnen nur leider nicht weiterhelfen, sie in manchen Punkten zu verbessern.
Ich setze wieder meine Kopfhörer auf und schalte meinen iPod ein.
Gerade will ich das Buch öffnen, als ich merke, wie die Tür des Raumes geöffnet wird. Seelisch bereite ich mich schon darauf vor, dass meine Mutter mir gleich eine Moralpredigt halten wird, da ich nicht mehr unten die liebe Tochter spiele und Tante Glenda meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke, doch es ist nicht meine Mutter, die rückwärts in den Raum hineinschleicht. Es ist ein blonder Junge, der meines Erachtens nicht zu meiner Familie gehört. Er schließt langsam die Tür und bleibt kurz bewegungslos stehen, als warte er darauf, dass er wieder ein Geräusch machen dürfte. Als er sich umdreht, ist ihm der Schock ins Gesicht geschrieben. Ich sehe ihn fragend an.
„Ich bin wohl nicht die Einzige hier, die dem Theater da unten entkommen will.“
Zunächst sagt er nichts, doch dann fängt er an zu reden.
„Tja, ehrlich gesagt hast du Recht.“, erwidert er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Als ich die darauffolgende Stille nicht mehr aushalte, sage ich einfach etwas.
„Hast du vor, da noch länger zu stehen oder sehen deine Pläne anders aus?“
„Eigentlich habe ich nicht wirklich einen Plan, was ich hier oben machen soll. Ich wollte einfach erst mal weg da.“
„Ah ja. Also stört es dich nicht, wenn ich jetzt einfach meinen Kram weitermache und du… was auch immer machst?“
„Was ist denn dein Kram? Ich denke, es wäre wesentlich spanender, sich mit mir zu unterhalten.“
Der Typ hat echt eine Menge Selbstbewusstsein.
„Woher willst du das denn wissen? Es kann doch auch sein, dass ich dich total langweilig finde.“
„Das glaube ich nicht.“
„Hm, da wär ich mir nicht zu sicher. Ich weiß ja nicht mal wer du bist. Zu meiner Familie gehörst du auf jeden Fall nicht oder irre ich mich da? Außerdem habe ich gar kein Interesse an so… arroganten Typen.“
Er sieht mich erstaunt an. Dann kommt er auf mich zu und setzt sich zu mir auf das rote Sofa.
„Ich bin Ty.“, sagt er freundlich. Zum ersten Mal habe ich die Möglichkeit ihm richtig ins Gesicht zu sehen. Er hat wunderschöne tiefblaue Augen. „Ich bin der Sohn von Brenda.“
Brenda ist eine gute Freundin meiner Tante. Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit und sie hatte noch nie einen Sohn dabeigehabt wenn sie bei Glenda war.
„Ich habe Brenda bis jetzt auf einigen Familienfesten getroffen, aber dich habe ich noch nie gesehen. Wie kommt’s?“
„Ich wohne erst seit ein paar Tagen hier. Meine Eltern sind getrennt und ich habe die ganze Zeit bei meinem Vater gelebt- bis jetzt.“
Ich sehe ihn skeptisch an. Doch dann beschließe ich, ihm zu glauben.
„Na gut, Ty. Du bist also erst hierhergezogen. Wo genau kommst du denn her?“
„Ich bin aus Hamburg. Wenn du also mal nach Hamburg fährst und du einen Reiseführer brauchst, weißt du ja jetzt, wen du fragen musst“.
Ty fühlt sich ja ganz schön sicher, was seine Wirkung auf andere angeht. Ich weiß nicht genau wieso, jedoch beschließe ich, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen.
„Weißt du, ich denke ich komme ganz gut allein zurecht. Außerdem kann ich mir was Schöneres vorstellen, als mit dir zusammen durch Hamburg zu laufen. Ich denke, das wäre ziemlich langweilig.“ Ich nehme mein Buch und schlage es auf, um demonstrativ mein Desinteresse zu zeigen. Ty bleibt einfach sitzen und sieht mich an, während ich lese. Anfangs ignoriere ich ihn einfach, doch dann halte ich es nicht mehr aus.
„Was ist denn?!“
„Nichts. Mir ist langweilig und deshalb beobachte ich dich beim Lesen. Hast du etwa ein Problem damit?“
„Ja, ehrlich gesagt schon. Ich kann mich nicht konzentrieren dabei!“
„Naja, also ich könnte aufhören, dich zu beobachten. Allerdings nur, wenn du dich dann wieder mit mir unterhältst.“
„Vergiss es!“
„Tja, dann machst du dein Ding weiter und ich meins…“
Ich verdrehe die Augen. Einerseits finde ich es tierisch nervig, wie selbstverliebt Ty mit mir spricht. Andererseits finde ich es aber auch ziemlich faszinierend. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, höre ich, wie mein Name aus dem Erdgeschoss gerufen wird. Meine Familie will sich wohl wieder auf den Heimweg begeben.
„Tja, meine Familie geht wohl schon. War nett dich kennenzulernen, Ty.“, sage ich selbstsicher lächelnd.
„Schade aber auch. Naja vielleicht sehen wir uns ja noch mal. Du kennst ja das Sprichwort: Man sieht sich immer zwei Mal im Leben“, erwidert er genauso selbstbewusst.
Ohne noch ein Wort zu sagen, verlasse ich das Zimmer.


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Tag der Veröffentlichung: 07.07.2012

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