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Unter der dichten Krone des Baumes drang das Sonnenlicht nur schwach an Kiangas dunkles Fell und sie war froh, dass sie sich gerade diesen Baum ausgesucht hatte. Mittags, wenn die Sonne im Zenit am Himmel stand, war die Hitze immer am schlimmsten, doch hier oben konnte sie entspannt liegen und auf Beute warten. Ein seichter Wind wehte und wirbelte hier und dort kleine Staubwolken in die Luft. Ihr Blick wanderte nach Westen. Hatte sie dort nicht eine Regung erspäht?
Eine gescheckte Leopardin stolzierte aus dem Dickicht. Rushas schwarze Augen fixierten Kianga in ihrem Versteck und sie erwiderte den Blick. Dann wandte sie sich wieder um und trabte in die entgegengesetzte Richtung.
Kianga schnaubte. Es regte sie immer noch auf, dass sich ihr Gebiet mit dem Rushas überschnitt. Nicht nur, dass sie dieses arrogante Fellbündel nicht ausstehen konnte – Rusha war auch noch die bessere Jägerin von ihnen beiden und es kam nicht selten vor, dass sie ihrer schwarzen Artgenossin die Beute aus Spaß vor der Nase wegschnappte.
Eine Bewegung zu ihrer Rechten lenkte Kianga schließlich von ihren Gedanken ab. Es sah aus wie ein riesiger Sandsturm, der immer näherkam. Doch sie wusste es besser. Bakari hatte wieder eine Herde aufgehetzt, die jetzt geradewegs in ihr Territorium galoppierte. Sie musste nur noch warten und ein wenig Geschick zeigen, dann war ihr für den heutigen Tag die Beute gesichert. Die Antilopen schienen allmählich wieder langsamer zu werden und die Pantherin kletterte rasch und in geschmeidigen Zügen von ihrem Wachposten. Ihre Pfoten trugen sie über den heißen Boden, doch sie musste nur ein paar Schritte gehen, bis sie hinter ein paar trockenen Büschen Deckung fand. Die Herde, die sich nun wohl von ihrem Verfolger befreit wusste, war inzwischen zur Ruhe gekommen und näherte sich nun im gemächlichen Schritt. Als sie in Reichweite waren, zögerte Kianga noch einen kurzen Moment, ehe sie sich ein Tier aussuchte, das nicht zu kräftig war, aber auch nicht kränklich wirkte. Sie preschte vor, die Herde stob auseinander, doch sie hatte ihre Beute bereits zwischen ihren scharfen Reißzähnen und schleppte sie zurück zu dem Baum. Misstrauisch sah sie sich um und schnupperte, doch es schien keine Gefahr zu lauern. Es kam nur selten vor, dass ein Löwe sich hier blicken ließ, doch manchmal bemühte sich doch einer hierher und stahl ihr das Essen. Doch ihr Instinkt sagte ihr, dass dies heute nicht geschehen würde und wie immer, vertraute sie ihm. Daher ersparte sie sich die Anstrengung, die Antilope auf einen Baum zu schleppen und riss sich gierig ein Stück von dem saftigen Fleisch ab.

Die Pantherin war noch nicht lange bei ihrem Mahl, als ein leises Rascheln an ihr Ohr drang. Sie ließ von dem Tier ab und blickte um sich, machte ein paar Schritte zur Seite. Der Duft des Fleisches hatte jegliche andere Gerüche überdeckt, doch nun witterte sie etwas Fremdes. Sie konnte den Geruch nicht sofort einordnen und erst als sie ein leises Lachen vernahm, wusste Kianga, was es war.
Der Mensch sagte etwas – sie glaubte, dass es sich um ein Weibchen handelte – doch sie verstand nicht, was. Es war eine helle Stimme und die Leopardin wandte sich in die Richtung, aus der sie klang. Da sie keine Feindseeligkeit erkennen konnte, wollte sie ihre frische Beute nicht einfach hier zurücklassen. Also lauschte sie nur weiter. Es musste noch ein weiteres Tier dabei sein, denn eine andere Stimme schien der ersten nun zu antworten. Sie war tiefer und brummiger als die des Weibchens. Männchen dieser Gattung schienen stets etwas angriffslustiger zu sein, allerdings hatte Kianga noch nicht viele Erfahrungen mit Menschen gehabt. Kianga konnte sie nun als Schatten hinter einem dichten Gebüsch herannahen sehen. Es waren tatsächlich zwei, der größere – vermutlich das Männchen – hatte breite Schultern und kurze dunkle Haare auf dem Kopf. Der andere war kleiner und hatte helles Haar. Er schrie kurz auf und schien empört. Kianga wurde nun doch misstrauisch. Sie fauchte leise und scharrte leicht mit einer Pfote über den Boden, sodass eine kleine Staubwolke vor ihrer Nase aufstob. Dann fiel ihr ein, was Bakari einmal über die Menschen gesagt hatte: „Lass dich nie auf einen Kampf mit ihnen ein, Kianga. Egal was sie tun, greif sie nicht an, sondern renn weg – so schnell du kannst und so weit, bis du sie nicht mehr sehen kannst.“
Der Mann hielt den glänzenden Stock immer noch hoch, direkt auf sie gerichtet und Kianga bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Sie wirkten nicht bedrohlich, standen nur da und die Frau redete auf den Mann ein, und auch wenn Bakari vielleicht Vorurteile ihnen gegenüber hatte, so musste Kianga sich doch eingestehen, dass er schon mehr von ihnen begegnet ist, als sie selbst. Sie machte kehrt und sprang mit kräftigen Sätzen davon, preschte über den Sand. Sie hörte einen Aufschrei des kleineren, dann einen lauten Knall und ein Fluchen von dem Männchen. Doch sie drehte sich nicht um, um nachzusehen, was geschehen war, sondern hetzte einfach weiter, schlängelte sich durch Bäume. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich stark und schnell und sie merkte erst sehr spät, dass etwas nicht stimmte. Als sie sich einigermaßen sicher fühlte, wurde sie langsamer und nun wurde ihr der Schmerz immer deutlicher bewusst. Schließlich blieb sie stehen, all die Kraft war plötzlich verschwunden. Ihre Flanke schmerzte und sie sank zu Boden. Sie verrenkte ihren Kopf so, dass sie die Wunde erkennen konnte – es war ein tiefroter Streifen, der sich in ihr schwarzes Fell gegraben hatte. Sie wollte sie sauber lecken, kam aber mit ihrer Schnauze durch den Schmerz nicht nah genug heran. Ihr Atem raste und auf einmal fühlte sie sich sehr müde. Bakari hatte recht gehabt. Sie hätte gleich fliehen sollen.
„Kianga!“ Das Fauchen gehörte Rusha und erst jetzt viel ihr auf, dass sie in ihr Territorium geflohen sein musste. Die Leopardin kam näher und Kianga musterte die Rosetten in ihrem hellen Fell, die so schön deutlich zu erkennen waren. „Was ist passiert?“, fragte Rusha. Sie schien nun nicht mehr böse auf Kianga zu sein, denn sie hatte wohl die Verletzung bemerkt.
„Ich habe zwei Menschen gesehen.“, antwortete sie matt.
„Haben die dir das angetan?“ Rusha fauchte erneut. Für Kiangas Geschmack tat sie das viel zu oft. Sie brachte ein schwaches Nicken zustande und Rusha scharrte wütend mit einer Pfote auf dem Boden herum. „Du kannst hierbleiben.“, sagte sie und Kianga hätte sich gerne bedankt, doch sie wollte nicht noch mehr Kräfte verschwenden, also blickte sie der Leopardin nur für einen Moment in die Augen, dann schloss sie die ihren. Sie hörte Schritte, Traben und Rushas Knurren. Sie fühlte sich, als wäre sie selbst die Beute eines Löwen geworden, der sie mit einem Biss in die Flanke reißen wollte. Und dann war da plötzlich gar nichts mehr.

Als Kianga wieder erwachte, merkte sie, dass ein Schnurren ihrer Kehle entwich. Die Wunde tat noch weh, doch irgendwie fühlte sie sich auch gut an. Sie drehte ein wenig den Kopf ohne sich aufzurichten und entdeckte Bakari, der sie säuberte. Sie schnüffelte, doch Rusha schien nicht hier zu sein.
„Was tust du da?“, fragte sie leise.
„Der Mensch hat dich nur gestreift. Du hast Glück gehabt.“
„Nein, er kann mich nicht berührt haben, Bakari. Er war mindestens vier Sprunglängen entfernt – deine Sprünge, nicht meine.“
Bakari hatte nun von ihrer Wunde abgelassen und leckte ihr über das übrige Fell.
„Doch, er kann, Kianga. Aber das Weibchen hat ihn zur Seite gestoßen, deswegen konnte er nicht richtig zielen.“
„Zielen?“ Sie verstand überhaupt nichts von dem, was er sagte. „Aber, woher weißt du das?“
„Ich hab sie beobachtet. Warum bist du nicht sofort geflohen, wie ich es dir gesagt habe?“
Kianga schwieg. Sie wusste selbst, dass es das Beste gewesen wäre.
„Wo ist Rusha?“, fragte sie stattdessen, doch eigentlich interessierte es sie gar nicht. Es gefiel ihr, dass der Leopard sich um sie sorgte und so liebevoll ihr Fell säuberte.
„Jagen“, antwortete er und fügte dann hinzu, „möchtest du auch etwas? Ich habe für uns ein wenig Beute ergattert.“
Ergattert, hatte er gesagt. Kianga war belustigt über diese Formulierung, wusste sie doch, das Bakari der beste Jäger war, den sie kannte, weit besser noch als Rusha. Er hatte wahrscheinlich innerhalb von Sekunden sein Wild gerissen. Dann erst fiel ihr auf, dass er „für uns“ gesagt hatte. Bakari hatte ihr seine Beute angeboten. Das war seltsam, denn normalerweise teilten Leoparden ihre Nahrung nicht. Aber normalerweise teilten Leoparden auch überhaupt nichts, weder Beute noch Schlafplatz noch Gesellschaft. Kianga starrte Bakari verwirrt an, und der stupste sie neckisch mit der Schnauze. Ihr gefiel seine Gesellschaft. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit genoss Kianga die Anwesenheit eines anderen Leoparden.
„Willst du nun etwas haben?“ Bakari deutete mit einem Kopfnicken auf einen kleinen Haufen, wo Kianga zwei Hasen, drei Mäuse und einen kleinen Vogel erkennen konnte. Wenn sie jetzt etwas davon annahm, dann ging sie eine Verpflichtung Bakari gegenüber ein. Doch sie störte sich mit einem Mal gar nicht mehr an dieser Tatsache, im Gegenteil. Sie würde diese Verbindung gerne eingehen. Sie wollte einen der Hasen zu sich herziehen, doch als sie die Pranke danach ausstreckte, trat ein stechender Schmerz in ihre Flanke und ließ sie zurückzucken.
Bakari erhob sich, sein Haupt zufrieden gen Himmel gerichtet und schob mit seiner Nasenspitze den ganzen Haufen näher zu ihr hin. Dann legte er sich wieder neben sie, zog sich eine der Mäuse heran und nagte genüsslich daran herum.

Vier Vollmonde hatte Kianga seit diesem Tag aufgehen sehen. Ihre Wunde war weitestgehend verheilt, nur eine helle Stelle war noch auf ihrem schwarzen Körper verblieben, doch nach und nach würde auch dort das Fell wieder wachsen. Sie lag unter einem schmalen Vorsprung und beobachtete Taji, der einem kleinen Vogel hinterher jagen wollte. Doch seine kurzen Beinchen waren einfach zu langsam, und schließlich stolperte er über seine eigenen Pfoten und landete alle viere von sich gestreckt auf dem Boden. Seine Schwester rollte sich begeistert im Staub und lachte ihn aus.
„Chiku, lass ihn in Ruhe.“, sagte Bakari streng, doch Kianga kannte ihn inzwischen gut genug um zu wissen, dass er selbst ebenfalls belustigt war. Sie musterte ihn und irgendwann bemerkte er ihren Blick und trottete langsam zu ihr herüber. Es verwunderte sie noch immer, dass er bei ihr geblieben war. Die Welt schien sich allmählich zu verändern, aus den Fugen zu geraten und die Pantherin war sich nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war, oder nicht. Leopardenmännchen pflegten es normalerweise nicht, bei ihren Weibchen länger als eine Woche zu bleiben. Die Aufzucht der Jungen hätte ihre alleinige Aufgabe sein sollen. Doch Bakari hatte sich dazu entschieden, sie nicht zu verlassen, ungeachtet der Tatsache, wie untypisch das für ihre Art war. Und Kianga hatte seine Entscheidung nicht nur gebilligt, sondern sogar sehr erfreut zur Kenntnis genommen.
„Hey, kontrolliert eure Tochter bitte mal besser.“, knurrte Rusha und trat hinter einem Busch hervor, gefolgt von vier weiteren Leoparden und einem Panther. „Und sorgt dafür, dass sie ihrer Aufgabe einmal gerecht werden wird.“
Bakari nickte, doch Kianga zögerte, denn sie war noch immer nicht begeistert davon, dass ihre Kinder die ersten gezielt ausgebildeten Kämpfer werden sollten. Doch auch sie hatte erkannt, dass es nötig war.

Einer der anderen Leoparden, die sich ihnen angeschlossen hatten, hatte ihr einmal einen weiblichen Menschen gezeigt, der ein Leopardenfell über seinem Oberkörper trug. „Sie schmücken sich damit“, hatte er gesagt, „stell dir vor, dass das hier einmal aus deinem Sohn werden könnte – oder aus dem Sohn deines Sohnes. Wir müssen sie aufhalten, Kianga – sonst wird es bald nicht mehr genug von uns geben, die es tun können.“

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2011

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