1
„Oh mein Gott!“ Die Worte, die mir abgehackt über die Lippen kamen, zauberten Stella ein breites Grinsen ins Gesicht. „Das kann nicht dein Ernst sein!“, entfuhr es mir. Mein ungläubiger Tonfall brachte sie zum Lachen. „Doch, und wie es mein Ernst ist! Man du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Ich hätte an die Decke springen können!“ Ehrlich gesagt hatte ich sogar ein ziemlich genaues Bild vor Augen, in dem Stella tatsächlich kreischend und lachend durch das Haus hüpft, bis der Putz von den Wänden des alten Gebäudes bröckelt. Man konnte es ihr nicht verdenken. Allein schon die Tatsache, bei einem dieser Gewinnspiele zu gewinnen, bei denen die Fernsehsender doch sowieso nur auf die 49 Cent pro Anruf scharf sind, ist faszinierend genug. Aber wenn es sich bei dem Preis auch noch um eine zweiwöchige Reise in irgend so ein Jugendcamp in Italien handelt, würde selbst ich wahrscheinlich ausrasten.
„Und das beste kommt erst noch.“, erklärte Stella freudestrahlend. „Die Reise ist nämlich für zwei Personen.“
„Und? Hast du schon entschieden, wen du mitnehmen willst?“, erkundigte ich mich ehrlich interessiert. Meine Freundin nickte, schwieg aber. „Sag schon! Deine Schwester? Lucille? Oder vielleicht eine heimliche Liebe, von der du mir nichts erzählt hast?“, riet ich, als ihre Antwort weiterhin ausblieb. Ich starrte sie erwartungsvoll an. „Ich nehme“, sagte sie langsam, während sie sich um den gleichen Tonfall, den die Juroren bei den Castingshows, die sie so gern schaute, so gut draufhatten, damit das Zeug nicht noch langweiliger wurde, als es meiner Meinung nach ohnehin schon war, bemühte. „jemanden mit, der“, wieder machte sie eine Pause und stieß dann plötzlich einen begeisterten Schrei aus. „Dich!“
Kommt da noch was?, fragte ich mich und überlegte, ob ich ihr nicht vielleicht sagen sollte, dass ‚Ich nehme jemanden mit, der dich’ eigentlich kein vollständiger Satz war. Ich entschied mich dafür.
„Ähm, Stella. Jemanden der mich was?“
Stella blickte mich irritiert an. Dann lachte sie auf. „Ach, tu doch nicht so! Ich nehme dich mit.“
„M-Mich?“ Wieso um Himmelswillen wollte sie denn mich dabeihaben?
„Ganz genau. Und bevor du es auch nur versuchst: Keine Widerrede!“
Ich stand nur da und sah sie verdutzt an, anstatt wie in einem dieser Frauenromane mit Tränen in den Augen gerührt zu schluchzen. Dafür kam Stella jetzt lachend auf mich zugestürmt und umarmte mich heftig. „Wir fliegen nach Italien!“, kreischte sie mir schmerzhaft laut ins Ohr.
„Aber… aber was soll ich denn da?“, stotterte ich, wobei ich überrascht war, dass ich überhaupt ein Wort herausbrachte, obwohl ich von Stella beinahe erdrückt wurde.
„Leute kennen lernen, Jane, feiern, Spaß haben!“
Nach Italien also. Wenn ich wenigstens eine anständige Mutter hätte, die versuchen würde, mich davon abzuhalten, es mir am besten sogar verbieten würde, mit Stella dorthin zu fahren. Aber dazu würde es wohl nicht kommen. Im Gegenteil wird sie sich wahrscheinlich auch noch darüber freuen, unter der scheinbaren Begründung, dass ich endlich mal wieder etwas erlebe, womit sie eigentlich sagen will, dass sie es nur gutheißt, mich los zu sein, um ihren Neuen öfter nach Hause einladen zu können. Ich ging die schmale Auffahrtsstraße entlang, stieg die wenigen Stufen zum Hauseingang hinauf und wollte gerade den Schlüssel in das Türschloss stecken, als die Tür ihrerseits von innen aufgerissen wurde. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück, aber als ich den Mann sah, der, noch immer die Hand am Knauf, in der Tür stand, verflog der Schrecken sofort und wich dem Ärger.
„Dorn“, sagte ich, „es wäre wirklich sehr nett, wenn du dich entweder aufs Reden oder aufs Gehen beschränken würdest. Ich persönlich würde allerdings letzteres bevorzugen.“ Der Freund meiner Mutter drehte sich verdutzt zu mir um, und an ihm vorbei sah ich, wie diese mir einen strengen Blick zuwarf. Er räusperte sich.
„Jane, meinst du nicht, nach einem halben Jahr könntest du mich doch mal mit meinem Vornahmen ansprechen und mit deinem bissigen Tonfall mir gegenüber aufhören?“ Seine Stimme war ruhig, aber dennoch scharf. Mir sollte es Recht sein. Ich lächelte zuckersüß, ohne auf die wütenden Blicke zu achten, die meine Mutter mir zuwarf, und erwiderte in ebenso süßem Ton:
„Meinst du nicht, lieber Sven, dass, wenn ich das finden würde, ich das längst getan hätte? Aber, wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich will euer Gespräch nicht weiter stören – ach halt: wolltest du nicht sowieso gerade gehen? Also dann, schönen Tag noch, Dorn.“ Ich quetschte mich an ihm vorbei, begleitet von einem entsetzten „Jane!“ meiner Mutter und lief in mein Zimmer. Im Grunde war er der einzige von den Männern, die in unserem Haus schon ein und aus gegangen waren, wie sie wollten, den ich absolut nicht ausstehen konnte. Und ausgerechnet der war nun schon so lange mit meiner Mutter zusammen. Die Bezeichnung ihr „Neuer“ ist also vielleicht nicht so gut gewählt, aber – es klopfte. Ich hielt die Luft an, während meine Mutter langsam die Tür öffnete und ins Zimmer trat.
Sie war wütend. Sie sagte nichts und eben genau deshalb wusste ich es. Normalerweise hätte sie wenigstens gefragt, ob sie reinkommen darf, auch wenn sie ein „Nein“ geflissentlich ignoriert hätte. Aber stattdessen schwieg sie vollständig, bis sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.
„Jane“, begann sie langsam und atmete noch einmal tief ein. Jetzt kommt’s, dachte ich, „Ich weiß nicht was ich noch mit dir tun soll, Liebling.“
Irgendein Gefühl sagte mir, dass das ‚Liebling’ eventuell nicht mehr allzu angebracht zu sein schien, wenn ich sie jetzt weiter sprechen ließ. Andererseits wusste ich auch nicht, wie ich sie hätte davon abhalten können. Also sagte ich nichts.
„Weißt du, ich hatte gedacht, wenn ihr euch erstmal richtig kennt, dann würdest du ihn“, sie zögerte einen Moment, „Na ja, vielleicht nicht mögen, aber ich dachte, du wärst zumindest reif genug, Sven zu akzeptieren.“
Reif genug? Was sollte das nun wieder heißen? War ich irgendein Apfel, der an einem Baum hängt? Wenn ich das wäre, dann war ich wohl einfach einer, der noch nicht abgefallen und verfault ist, dessen Hirn, wenn Früchte eines hätten, vom Aufprall also noch nicht so mitgenommen sein kann, dass es so jemanden wie diesen Psychodeppen mag, oder halt: akzeptiert, meine ich natürlich.
Stella hätte sich bei der Vorstellung an faulende Äpfel mit Hirn totgelacht, aber ich starrte meine Mutter nur aus ausdruckslosen Augen an, denn ihr hätte mein Vergleich sicher in dieser Situation nur einen Wutanfall entlockt. Einen Wutanfall, der zweifelsohne trotzdem noch eintreffen wird, fragt sich nur, wie lange ich es noch schaffte, ihn hinauszuzögern – aber hatte ich das überhaupt vor?
„Willst du nichts zu deiner Verteidigung sagen?“, fragte mich meine Mutter in bemüht gleichgültigem Ton.
„Ich wüsste nicht, wogegen ich mich zu verteidigen hätte.“ Wäre die Apfeltheorie jetzt nicht angebracht gewesen? Nun, vermutlich lieber doch nicht…
„Ach nein? Und… und… verdammt was hab ich eigentlich falsch gemacht?“
„Was du falsch gemacht hast? Gute Frage. Vielleicht liegt’s daran, dass ich ein Einzelkind bin. Oder dass du allein erziehend bist. Keine Ahnung.“
„Jane! Verdammt noch mal!“, wieder stockte sie. Sie versuchte sich zu beherrschen- aber ich glaube, sie hatte nicht allzu viel Erfolg damit.
„Okay. Also“, sie gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, aber was dabei herauskam, sah irgendwie seltsam angespannt und verzerrt aus. „Ich glaube, ich habe falsch angefangen.“, meine Mutter setzte sich neben mich auf das Bett.
„Hab ich das eigentlich von dir gelernt, die Leute so nett anzulächeln, wenn ich sauer auf sie bin, Mama?“ Ich hatte mir die Frage einfach nicht verkneifen können. Aber als ich sah, wie sich ihre Augen einen Moment schlossen, als sei sie völlig am Ende, beließ ich es dabei und fügte das ‚ich glaube aber, dass ich das noch etwas perfektioniert habe’ doch nicht mehr hinzu. Mir war klar, dass ein einfaches ‚tut mir Leid’, zumindest für den Moment, alles zum Guten gewandt hätte. Doch die Worte wollten mir einfach nicht über die Lippen kommen, obwohl ich es versuchte- und ich versuchte es wirklich!
„Schatz. Also Sven und ich. Das ist diesmal wirklich etwas Ernstes. Anders als sonst, verstehst du? Ich liebe ihn wirklich.“
„Na toll. Wolltest du mir mit dieser Schreckensnachricht jetzt den Tag vermiesen oder was soll das? Unausgesprochen ist das ja schon schlimm genug, aber…“, ich unterbrach mich als meine Mutter aufsprang und es einen dumpfen Schlag tat. „Scheiße!“, entfuhr es ihr und sie hielt sich wütend den Kopf, den sie sich an dem Wandregal gestoßen haben musste. Ich war mir sicher, dass sie den Tränen nahe war, doch sie schrie mich nur an. „Gott!“ Sie hob die Arme in einer verzweifelten Geste und ließ sie dann wieder sinken, als sie nicht wusste, was sie mit ihnen anfangen sollte. „Immer dein grässlicher Zynismus! Ich muss einfach irgendetwas falsch gemacht haben! Weißt du, ich versuche wirklich, Rücksicht auf dich zu nehmen, aber was ist eigentlich mit mir? Ja, was ist mit mir, Jane? Hast du dich jemals gefragt, was ich eigentlich will? Was mich glücklich macht? Nur weil ich deine Mutter bin, musst du mich doch nicht wie ein Stück Dreck behandeln, verdammt noch mal!“ Sie lief aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
So außer sich hatte ich sie noch nie erlebt. Und ehrlich gesagt, war ich auch nicht gerade erpicht darauf, das noch einmal zu tun.
Ich ließ mich nach hinten auf das Bett fallen und starrte auf das dunkelbraune Holz des Ahornregals über mir. „Das hast du ganz toll gemacht, Jane, wirklich, du bist echt ein Genie!“, sagte ich grimmig ins Leere. „Aber weißt du, du hast es auch nicht gerade besser gemacht!“, erklärte ich dem Regal wütend. Oh Gott, ich redete mit einem an die Wand geschraubten Brett- wie tief konnte ein Mensch eigentlich sinken?
2
„Und, kannst du mit?“
Stella war von hinten auf mich zu gesprungen und hatte die Arme um meine Schultern gelegt, womit sie mich aus meinen düsteren Gedanken gerissen hatte.
„Weiß nicht.“ Was machte sie denn glücklich? Würde es wirklich etwas bringen, netter zu ihrem Seelenklempner zu sein? Schon allein sein Name machte einem das schwer: Sven Ilias Dorn. Grässlich.
„Was soll das heißen, du weißt es nicht? Ich dachte, du hast deine Mum gefragt.“ Stella kam um mich herum gelaufen und sah mich fragend an.
„Ach, ich bin nicht dazu gekommen. Äußere Umstände, verstehst du?“ Und wenn ich einfach abhauen würde? Vielleicht wäre sie ja froh mich los zu sein.
„Äußere Umstände, Jane? Was soll das denn heißen?“
Und wenn ich einfach mit Stella wegfahre, ohne ihr Bescheid zu sagen? Was würde sie wohl tun?
„Das soll heißen dass ich etwas Stress mit ihr hatte, okay?“
„Oh… Sven?“ Stella hatte, im Gegensatz zu mir, nicht die Angewohnheit, ihn bei seinem Nachnamen zu nennen. Außerdem hatte ich bei ihr manchmal das Gefühl, dass ihr der Kerl sympathisch war.
„Ja, Sven. Mann, was findet sie nur an ihm, kannst du mir dass vielleicht mal sagen?“
„Ach komm, Jane, er sieht nicht übel aus, dass muss selbst dir aufgefallen sein. Und wenn du mich fragst, ist er auch gar nicht so schlimm, wie du immer tust.“ Sie lächelte mich aufmunternd an und tätschelte mir neckend die Wange.
„So? Ist er nicht? Na, ich kann das wohl besser beurteilen als du, oder? Schließlich könnte man fast meinen, er wäre bei uns eingezogen, so oft wie der da ist.“ Beinahe hätte ich Stella angeschrien, es wäre weitaus hilfreicher, würde sie mich nicht mitleidig ansehen, wie ein Kind, dass die Wahrheit über den Lauf des Lebens noch nicht so recht verstanden hat und deswegen lauter dumme Fragen stellt.
„Er ist mit ihr zusammen, ja? So, und wenn Mann und Frau sich lieben, wollen sie manchmal eine Familie gründen und dann ziehen sie dafür zusammen. Verstehst du das?“ Okay, sie sah mich nicht nur so an, sie redete auch noch mit mir wie mit einem Kleinkind.
„Halt einfach die Fresse, Stella.“ Ich machte einen Schritt von ihr weg und bedachte sie nochmals eines wütenden Blickes. Als ihr Lächeln weiterhin so unverschämt auf ihren Lippen verweilte, drehte ich mich um und ging.
„Ach komm, Jane, jetzt stell dich doch nicht so an!“, hörte ich sie hinter mir herrufen, aber ich beschloss sie einfach zu ignorieren und lief weiter, ohne zu wissen, wohin überhaupt. Wir hatten noch zehn Minuten, bis der Unterricht beginnen würde, meine Mitschüler würden alle noch auf dem Gang stehen und auf dieses Gedränge hatte ich nun wirklich keine Lust. Also rannte ich die grauen Steintreppen hinunter und aus dem Schulgebäude hinaus. Auf diese Weise konnte ich außerdem Stella aus dem Weg gehen.
Für einen Moment stand ich nur unschlüssig auf dem Pausenhof herum. Ich wusste eigentlich genau, dass ich nicht einfach so abhauen konnte. Nicht nur, weil es meine Mutter verletzen könnte, sondern auch, weil ich Angst hätte, es wäre ihr tatsächlich recht.
Ich setzte mich auf eine der kleinen Holzbänke, von denen mehrere auf dem Schulgelände verteilt waren. Aber kurz darauf sprang ich wieder auf, als ich bemerkte, dass sie nass war. Genervt wischte ich mir den Dreck von der Hose, der sich in Form von Schlamm auf der Sitzfläche befunden haben muss und starrte in den von grauen Wolken bedeckten Himmel.
Es hatte wohl keinen Zweck hier draußen zu sein. Wenn auch keine Stella hier war, um mich zu nerven, dann hatte wohl dennoch das Schicksal etwas an mir auszusetzen.
Das Gedränge auf dem Gang hatte sich etwas gelegt und die meisten Schüler saßen in den Klassenzimmern auf den Tischen und Stühlen und unterhielten sich dort weiter. Obwohl ich das eigentlich nicht vorhatte zu tun, blickte ich mich suchend nach Stella um. Ich erspähte sie zwischen zwei anderen Mädchen, denen sie wild gestikulierend irgendetwas zu erzählen schien.
Ich hatte mich gerade, nach kurzem Überlegen, dazu entschieden, mich einfach auf meinen Platz zu setzen, als sie mich ebenfalls entdeckte und zu sich winkte. Ich verdrehte die Augen und kam langsam auf sie zu. Die beiden Mädchen neben Stella, Lucille und Rebecca, warfen mir abschätzende Blicke zu, die ich ausdruckslos erwiderte.
„Kannst du diese zwei Möchtegern-Tussis vielleicht dazu bringen, sich zu entfernen, Stella? Ich denke, das wäre zu unser aller Wohl.“ Ich grinste als ich hörte, wie die beiden scharf und empört einatmeten. Aber sie bewegten sich keinen Zentimeter, wahrscheinlich, weil sie glaubten, dadurch könnten sie ihre Ehre retten, die im Grunde genommen überhaupt nie vorhanden war. „Nö, die können ruhig da bleiben. Beccy und Lucy sind gute Zuhörer, weißt du? Sie unterbrechen mich nicht nach jedem halben Satz mit ‚ist mir doch scheiß egal!’“
Die beiden kicherten triumphierend, während ich nur die Brauen hob.
„Ich hab ihnen gerade erzählt, dass wir beide bald nach Italien gehen. Übrigens…“
„Du weißt aber schon, dass es überhaupt noch nicht sicher ist, ob ich mitkomme, oder?“ Wofür wedelte sie eigentlich so viel mit den Armen in der Luft herum, um ihnen von ihrem Gewinn und der Reise zu erzählen?
„Schau, du hast mich schon wieder unterbrochen!“
„Gott, haltet doch mal die Klappe, wenn sich die großen Leute unterhalten“ Ich warf Stellas gestörten Freundinnen einen wütenden Blick zu, als sie schon wieder losprusteten.
„Mann, Jane, jetzt reg dich doch nicht gleich so auf. Dir kann man ja gar nichts mehr sagen.“ Obwohl Stella damit eigentlich etwas Schlechtes gegen mich genannt hatte, warf sie den Lachenden neben sich nun ebenfalls einen wütenden Blick zu. So vernünftig hatte ich sie ja schon lange nicht mehr gesehen.
„Jane, du solltest deiner Mutter wirklich bald Bescheid sagen, dass du gehst…“-
„Aber ich gehe vielleicht gar nicht!“, warf ich ein weiteres Mal ein. Aber Stella achtete nicht darauf und redete einfach weiter.
„…denn, das hab ich dir noch gar nicht gesagt, aber wir fliegen schon Ende der Woche, nicht erst zu Ferienbeginn.“
„Ende der Woche?“ Ich starrte sie ungläubig an. Das war doch wohl etwas zu kurzfristig, oder? „Aber, Stella, heute ist Donnerstag!“
„Deswegen solltest du dich auch damit beeilen, die Sache mit deiner Mutter hinzubekommen und dich für die nächste halbe Woche beurlauben zu lassen.“
„Aber das geht nicht! Sie ist stinksauer auf mich. Die lässt mich nie gehen.“ So sicher war ich mir da eigentlich gar nicht, vielleicht hatte sie sich ja schon wieder beruhigt.
„Frag sie- und dann reden wir weiter. Aber zuerst tust du mit ihr reden, und wenn sie ‚nein’ sagt, dann entschuldigst du dich bei ihr, klar?“
„Aber…“ Stella brachte mich mit einem Blick zum Schweigen und deutete nach vorne. In der Klasse war es bis auf mich still geworden und Herr Pilwald, unser Mathelehrer, der wohl inzwischen ins Zimmer gekommen war, stand am Pult und sah mich abwartend an. Schnell huschte ich zu meinem Platz und setzte mich.
Ich versuchte noch einmal verzweifelt zu Stella zu sehen, doch sie hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder nach vorne gerichtet. . Na super, so einfach war für Stella diese ganze Geschichte. Man gesteht seine Schuld ein und schon ist alles wieder in Ordnung. Obwohl, wenn ich sie mir genau betrachtete, wie sie konzentriert auf die Tafel starrte, drängte sich mir doch der Verdacht auf, dass sie meinem Blick eigentlich nur auswich.
3
Während ich die schwere Haustüre aufschloss, überlegte ich mir, wie ich mit meiner Mutter reden sollte. Wie wäre es mit „Hey, Mama, tut mir leid, dass ich gestern so unverschämt war- kommt nicht wieder vor.“ Nein, dass würde sie mir nicht abkaufen. Wahrscheinlich würde sie denken, ich würde das ironisch meinen, und außerdem wäre es wirklich eine glatte Lüge, zu sagen, so etwas würde sich nicht wiederholen. Aber mit „Du weißt doch wie ich bin, hast dich inzwischen ja wohl dran gewöhnt“ werde ich wohl auch nicht sehr weit kommen.
Wahrscheinlich wäre es einfach das Beste, gar nichts über gestern Abend zu sagen.
Ich streifte mir die schwarzen Turnschuhe ab und lief in die Küche um mir ein Glas Orangensaft einzuschenken.
„Ich weiß nicht was ich tut soll, Sven.“
Die Stimme kam von nebenan aus dem Wohnzimmer. Die Worte meiner Mutter schockierten mich, und obwohl ich wusste, dass das eigentlich falsch war, beschloss ich, mich einfach auf einen Stuhl zu setzen und zuzuhören, was sie Dorn zu sagen hatte. Vielleicht machte sie ja Schluss mit ihm und befreite mich von seiner Anwesenheit.
„Jana, wir finden da bestimmt eine Lösung“, versuchte Dorn sie zu beruhigen. Gott, schon allein der Klang seiner Stimme, ließ keinen Zweifel daran, welchen Beruf er Tag für Tag ausübte.
„Ach ja? Und was sollte das für eine Lösung sein? Ein Psychiater?“ Psychiater? Was hatte sie denn für Probleme? Wegen mir würde sie doch nicht dorthin müssen, oder? Vielleicht meinte sie einen Ehe-Berater? Die beiden waren zwar nicht verheiratet, aber so etwas gab es doch sicher auch für andere Paare.
„Ich will ehrlich zu dir sein, Schatz.“, begann er ruhig, „ Ich hab die Möglichkeit, einen Kollegen hinzuzuziehen tatsächlich nicht ausgeschlossen.“
„So, hast du nicht? Und was ist mit dir? Wir brauchen doch eigentlich gar keinen Kollegen, schließlich bin ich mit dir zusammen!“
„Natürlich, aber du weißt, dass ich hier nicht viel ausrichten kann.“ Worum ging es hier denn verdammt noch mal?
„Nein, das weiß ich nicht!“
„Jana. Mit einem Psychiater muss man reden. Und zwar über seine Probleme.“ Nein wirklich? Mann, Dorn, du hast’s ja echt drauf. Ich dachte immer die sind nur zur Unterhaltung gedacht…
„Aber das tut sie doch- jeden Tag hält sie dir doch ihre Probleme mit dir vor…“ Was? Von wem reden die beiden? ‚Sie’? Gibt es noch jemanden anderes von dem ich nichts weiß? Tja, wenn ja, ist mir dieser Jemand schon mal sympathisch- eine Abneigung gegen Dorn- endlich mal jemand der mich versteht.
„Eben. Sie vertraut mir nicht. Jana, versteh doch. Jane würde niemals offen mit mir sprechen.“ Oh mein Gott. Meine Mutter wollte mich zum Psychiater schicken? Aber wieso das denn? Ein Streit zwischen Mutter und Tochter war doch ganz normal, oder etwa nicht? Und ich konnte doch auch nichts dafür, dass ich ihren Sven nun mal nicht mag. Manche Menschen sind einem eben einfach unsympathisch. Ich…
„Meine Tochter setze ich keinem wildfremden Kerl vor. So verzweifelt bin ich noch nicht, Sven.“, ihr Tonfall erinnerte mich daran, wie sie mich immer zurechtwies. Streng und scharf, aber noch nicht laut. Ich konnte mir förmlich vorstellen, dass Sven heftig schlucken musste. Man konnte echt Angst vor ihr bekommen, wenn sie so redete. Aber darum ging es jetzt nicht. Sie hatte irgendein Problem mit mir. Aber was war los, verdammt?
„Ich habe mich immer bemüht, mehr auf freundschaftlicher Basis mit ihr zu sein, und ich werde jetzt nicht meine ganze Beziehung zu meiner Tochter zerstören. Was glaubst du würde sie tun, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich es auch nur in Anbetracht gezogen habe, sie zum Seelenklempner zu schicken?“ Tja, ehrliche Frage? Also als erstes hätte ich Dorn so richtig eine gescheuert und ihn gefragt, was er mit ihr angestellt hat…
„Es war auch nur ein Vorschlag, also beruhige dich bitte wieder, Jana. Du hast ja Recht. Und vielleicht können wir das ja auch nutzen. Indem du mit ihr redest. Frag sie nach ihren Problemen, in der Schule zum Beispiel.“
„Weißt du was, Sven? Du kannst mich mit deinen Ideen so was von! Glaubst du, darauf wäre ich selbst nicht schon gekommen? Du hast keine Kinder, also glaub nicht, dass du etwas davon verstehst! Vielleicht meinst du es nur gut, aber bei dir hat man immer das Gefühl, dass du dich für etwas Besseres hältst.“ Jetzt schrie sie tatsächlich beinahe.
„Schatz, sieh doch: Willst du denn wirklich, dass sie mich weiterhin fertig macht? Kein Kind sollte so zynisch sein. Deine Tochter ist unglücklich, sie braucht Hilfe. So kann es doch nicht weitergehen.“
„Stimmt. Aber du weißt, dass meine Tochter das Wichtigste in meinem Leben ist. Und das bleibt sie auch. Und sie mag ja sarkastisch und nicht gerade ständig überall euphorisches Glück verteilen, aber sie ist nicht verrückt!
Ich werde deine Bedürfnisse nicht vor ihre stellen. Das kann ich nicht und das will ich auch nicht.“
„Aber das weiß ich doch! Ich habe doch nie verlangt, dass du das tust. Tatjana hörst du mir denn nicht zu?“, Svens Stimme klang verzweifelt, aber meiner Mutter schien das gar nicht aufzufallen, im Gegenteil: Sie schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen.
Trotzdem, ihre Stimme war wieder ruhig, als sie weiter sprach.
„Ich habe nachgedacht.“
„Ja. Ja das ist gut- nachzudenken ist immer gut, Jan…“, er wurde von meiner Mutter harsch unterbrochen.
„Und bin zu den Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn wir noch nicht heiraten. Im Gegenteil, sollten wir vielleicht lieber… einen Schritt zurücktreten.“
„Soll das heißen, es ist aus? Willst du das damit sagen? Jana, deine Tochter kann mich nicht leiden, und vielleicht drängt sich mir tatsächlich der Eindruck auf, sie könnte psychische Probleme haben. Aber ich kann mich ja auch irren. Das ist doch noch lange kein Grund, mich zu verlassen.“
„Ich denke einfach, wir sollten eine Pause machen. Ich muss mir über einige Dinge klar werden. Seit ich mit dir zusammen bin, habe ich mich viel öfters mit Jane gestritten, als vor dir. Ich weiß auch nicht… Es tut mir Leid, Sven.“
Die Freude und der Triumph, den ich bei ihren Worten eigentlich hätte verspüren müssen, blieben aus. Vielleicht wurden sie auch von gewissen anderen Dingen verdrängt, die ich soeben erfahren hatte.
Ich meine: heiraten? Ich wusste überhaupt nicht, dass sie das vorhatten. Mir hat doch niemand etwas gesagt, verdammt. Ich kann das doch nicht riechen! Und jetzt hatte ich die Beziehung meiner Mutter zerstört. Außerdem denkt ihr Freund, der anscheinend sogar ihr Verlobter ist- oder war-, dass ich gestört bin! Bloß weil ich nicht ständig wie ein Honigkuchenpferd strahle? Das ist doch verrückt!
Aber vor allem freue ich mich auch nicht, weil ich genau weiß, wie traurig sie ist. Erst gestern hat sie mir gesagt, dass sie ihn wirklich liebt. Ja, vielleicht kann ich das absolut nicht nachvollziehen, vielleicht kann ich ihn einfach nicht ausstehen. Aber ich will doch auch, dass sie glücklich ist. Sie ist meine Mutter, verdammt. Außerdem vertraut sie mir. Sie liebt mich und würde mich niemals hinter Sven stellen. Und jetzt?
Im Wohnzimmer war es still geworden. Keiner der beiden sagte etwas.
„Bitte, Sven, geh jetzt.“
Ein Rascheln ertönte, als er sich von der Couch erhob und leise aus dem Zimmer schlürfte. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass sein Weg durch die Küche führen würde.
Alarmiert suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden. Aber die einzigen Wege, die in die Küche, und auch aus ihr hinaus, führten, waren der ins Wohnzimmer, und in den Flur, den er ebenfalls passieren würde.
Ich hatte keine Wahl. Ich rannte zum Kühlschrank, öffnete ihn und tat so, als würde ich neugierig nachsehen, ob noch etwas Anständiges zum Essen darin war.
Das es sich bei seinem Inhalt im Großen und Ganzen nur um Käse, Ketchup und vielleicht noch eine halbe Gurke und etwas anderes Gemüse handelte, was alles mit nur einem Blick erkennbar gewesen wäre, ignorierte ich dabei einfach mal. Ich hörte wie Dorns Lederschuhe auf den Fliesen auftraten, und leise quietschten. Ich wollte es nicht, aber es wäre seltsam unnatürlich gewesen, hätte ich nicht irgendeine bissige Bemerkung gemacht oder mich wenigstens zu ihm umgedreht. Doch die Worte sparte ich mir und wandte mich nur kurz um, sah in sein trauriges Gesicht, das mir abgewandt war und widmete mich dann wieder dem spärlichen Inhalt des Kühlschranks.
Und als die Haustüre mit einem lauten Knall zuschlug, hörte ich, wie meine Mutter sich auf das alte, abgesessene Sofa setzte und leise zu schluchzen begann.
4
Und jetzt? Am Besten einfach in mein Zimmer abhauen und so tun, als hätte ich von allem nichts mitbekommen. Nur leider ließ mein Gewissen, das anscheinend durchaus vorhanden war, das nicht so ganz zu. Stattdessen zwang es mich, leise- beinahe schleichend- ins Wohnzimmer zu gehen und mich neben meine Mutter auf die Lehne der alten Couch zu setzten.
„Hey, Mama?“, sagte ich flüsternd.
„Lass mich allein, Jane, bitte. Mir geht es gerade nicht so gut.“
„Das sehe ich. Schließlich weinst du.“ Ich schaffte es tatsächlich, ihr zärtlich über den Kopf zu streichen. Aber sie schlug meine Hand mit einer schwachen Geste beiseite.
„Was ist los?“, fragte ich, um wenigstens so zu tun, als wüsste ich es nicht.
„Nichts, was dich interessieren würde, Schatz.“ Wow, der hat gesessen. Was dachte sie denn von mir.
„Ist was mit Dorn?“, erkundigte ich mich, um mich bei ihrer Enthüllung von der Trennung etwas vorzutasten. Sie setzte sich auf und sah mich mit geschwollenen Augen an. Einige Zeit schwiegen wir beide. Dann sagte sie, in einem Ton, der vermutlich genervt klingen sollte, der aber durch das Zittern in ihrer Stimme vielmehr erbärmlich klang: „Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen. Ich will jetzt nicht darüber reden. Und außerdem heißt er Sven, verdammt noch mal!“
„Schon gut, schon gut. Was regst du dich gleich so auf? Ich hab doch nur gefragt!“ Wieso regte ich mich denn jetzt auch noch selbst auf? Dadurch wurde doch auch nichts besser.
„Und ich habe dir gesagt, du sollst verschwinden. Ich will jetzt mit niemandem reden, und schon gar nicht mit dir.“
„Aber… Was hab ich denn getan? Ja, was habe ich getan, dass du mir einen Psychiater aufdrängen willst? Los, sag’s mir doch einfach! Keine Sorge in ein paar Tagen bist du mich sowieso los.“, schrie ich sie verzweifelt an. Meine Mutter starrte mich entsetzt an. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen und schloss ihn wieder. Sie stand auf und lief zum Fenster. Als sie schließlich doch etwas sagte, klang sie seltsam rau.
„Ich gehe also davon aus, dass du alles gehört hast, richtig?“ Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach ohne Pause weiter. „Dann weißt du auch, dass ich das nicht vorhabe. Und du weißt, was passiert ist. Du weißt, dass ich mich von Sven getrennt habe. Was willst du eigentlich noch? Sei doch glücklich, das war es doch was du wolltest.“ Sie schrie noch immer nicht. Redete nur leise und betrübt. Aber sie schien auch enttäuscht zu sein. Aber ob von mir, von sich, oder von Sven, dass war mir nicht klar.
„Ich fahre nach Italien. Samstag oder Sonntag. Mit Stella. Sie hat diese Reise gewonnen, für zwei Personen. Und mich will sie mitnehmen.“, sagte ich und ließ damit ihre Frage in der Luft hängen. Ich sah meine Mutter erwartungsvoll an. Doch sie zeigte keinerlei Reaktion auf meine Worte.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte ich daher unsicher. Sie nickte. „In Ordnung.“
„Aber… weißt du, es ist vielleicht nicht so gut, wenn ich dich jetzt diese zwei Wochen allein lasse. Ich denke…“, ich wurde von einer herrischen Bewegung ihrer Hand unterbrochen.
„Nein. Ich glaube, es ist sogar das Beste, wenn wir uns eine Weile nicht sehen. Ich möchte, dass du gehst.“
„Was?“ Ich hatte ja erwartet, dass sie mich hinschicken würde, aber das war, als sie noch mit Dorn zusammen war. Nun gut, wenn sie es so wollte.
„Gut. Du musst mir eine Beurlaubung schreiben. Für die letzten drei Schultage.“
„Sie liegt morgen auf dem Tisch wenn du zum Frühstück runterkommst.“, erwiderte sie kalt.
„Das ist alles? Mehr willst du nicht wissen? Kein ‚Wann fahrt ihr genau?’, ‚Wo fahrt ihr überhaupt hin?’? Erstaunt blickte ich sie an. Doch in ihrem Gesicht regte sich nichts. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt blinzelte.
„Nein. Nichts weiter. Du wirst schon wissen was du tust, bist ja alt genug.“ Fassungslos stand ich da und sah in ihre Augen. Sie hatten die gleiche Form wie meine, aber sie waren himmelblau, statt türkisgrün. Ich hatte diese Augenfarbe von meinem Vater, dass hatte sie immer gesagt.
„Weißt du, im Moment frage ich mich wirklich, ob nicht vielleicht eher du eine Therapie nötig hättest.“, erklärte ich noch immer erstaunt über die Kälte, die auf einmal von ihr ausging.
Ich sah sie noch einen Moment lang an, in ihr ausdrucksloses Gesicht, doch dann drehte ich mich auf dem Absatz herum, versuchte gar nicht erst, mit Würde hinaus zu schreiten, sondern rannte sofort in mein Zimmer.
Der Abschied von meiner Mutter war wenig herzlich vonstatten gegangen. In den vergangenen zwei Tagen, hatte ich sie kaum zu Gesicht bekommen, und wenn doch, dann nur, während sie schweigsam vor sich hinstarrte. Bevor ich samt meines Gepäcks aus der Tür gegangen war, hatte sie mir nur einmal kurz zugenickt.
Im krassen Gegensatz dazu stand Stellas Begrüßung, als sie mir vor dem Haus den Rucksack abnahm und mich überglücklich und lachend umarmte. Wahrscheinlich war der Schock, über diesen plötzlichen Unterschied, wie mir die Leute entgegenkamen, der Grund, für mein Schweigen während der ganzen Fahrt zum Flughafen.
„Ach Jane, jetzt mach dir doch nicht so einen Kopf wegen deiner Mum. Die kommt schon klar. Das ist sie doch sonst auch immer.“, versuchte Stella mich aufzumuntern, während wir am Schalter standen, um unser Gepäck abzugeben.
„Das kannst aber auch nur du denken, schließlich hast du sie in den letzten Tagen nicht gesehen.“ Ich selbst ja übrigens auch kaum.
Ein mitleidiges „Hm“ schien das einzige zu sein, was Stella darauf zu sagen hatte, denn sie drehte sich wieder um. Vielleicht konnte sie aber auch nur nichts mehr erwidern, da sie bereits vorne stand, ihren Pass vorlegte und das Gepäck auf das Laufband stellte. 19,6 Kilo zeigte die Anzeige an. Was hatte sie denn alles dabei, fragte ich mich, aber eigentlich überraschte das mich nur recht wenig. Stella nahm ihren Ausweis wieder entgegen und trat einen Schritt zur Seite, ich tat einen nach vorne.
„Pass?“ Auf die Bitte der jungen Blondine am Schalter reichte ich ihr das grüne zusammengefaltete Papier, auf dem dick und fett „Kinderausweis“ geschrieben stand. Wurde man nicht mit 13 oder 14 Jahren als Jugendlicher angesehen? Wieso musste ich mit fünfzehn eigentlich denselben Fetzen mit mir rumschleppen wie mit drei? Oh Mann, worüber dachte ich schon wieder nach? Was spielte das denn bitte für eine Rolle?
Verdammt, das war doch alles scheiße! Ich sollte hier bleiben, und mich nicht in Italien rumquälen.
Das Problem war nur, dass mich meine Mutter zu Hause auch nicht haben wollte. Seufzend warf ich einen kurzen Blick auf die Anzeige: Mein Koffer wog nur 13,4 Kilo. Dann nahm ich den grünen Zettel zurück und stellte mich zu Stella.
„Ich geh schnell auf’s Klo. Geh schon mal vor.“, erklärte ich ihr kurz und verschwand dann in die Richtung, in die das Schild mit den Männchen wies, das immer zur Toilette führte.
Während ich mir die Hände wusch, musterte ich mich in dem hohen Spiegel, der mir Gegenüber an der Wand hing. Ich machte irgendwie einen ziemlich erbärmlichen Eindruck. Aus müden Augen blickte ich mir entgegen, die schulterlangen rotbraunen Haare hingen mir wild ins Gesicht und das dunkelbraune T-Shirt wurde von einem nicht sehr großen, aber doch vorhandenen, braunem Colafleck geziert, den ich Stellas Ungeschicklichkeit zu verdanken hatte. Mürrisch hielt ich die Hände unter eines dieser Blasteile, deren warme Luft, die sie ausströmten, angeblich dafür sorgen sollte, dass man trocken wurde. Nach einigen Sekunden gab ich es auf, zu versuchen, dieser Theorie zu folgen und wischte die Nässe an meiner Jeans ab.
Während ich noch einmal einen kurzen Blick in einen der Spiegel warf, drückte ich seufzend die quietschende Toilettentüre auf. Doch noch bevor ich mich wieder nach vorne gewandt hatte, stockte die Tür plötzlich durch irgendeinen Widerstand, ein kurzer Schrei ertönte und darauf ein dumpfer Schlag. Erschrocken lugte ich durch die Glasscheibe. Viel konnte ich aber nicht erkennen, denn diese war viel zu stark geriffelt, so dass ich nur einen schwachen kleinen Schatten dahinter erkennen konnte. Erst als ich mich mühsam nach draußen quetschte, sah ich, was passiert war. Ein braunhaariger Junge kniete gerade vor mir auf dem Boden und stopfte seine überall verstreuten Sachen in seinen Rucksack. Eine Computerzeitschrift, ein Handy und ein Mp3-Player waren unter anderem darunter, wie ich nach einem kurzen Blick feststellte. Der Junge, der höchstens ein bis zwei Jahre älter als ich zu sein schien, sah mich einen Moment ärgerlich an, bevor er fortfuhr, seine Sachen einzupacken. Ich überlegte kurz, ob ich ihm vielleicht dabei helfen sollte, aber eigentlich war er doch derjenige gewesen, der direkt vor der Toilettentür gestanden hatte- und das anscheinend mit offenem Rucksack.
„Kannst du nicht besser aufpassen und dich das nächste Mal woanders hinstellen?“, fuhr ich ihn genervt an, gefasst einen weiteren wütenden Blick zu ernten. Doch er sah mich nur mit hochgezogenen Brauen an. „Was hast du denn für ein Problem? Dir ist ja nichts passiert.“, fragte er anscheinend ehrlich etwas erstaunt.
Doch ich verdrehte nur die Augen und ließ ihn mit seinen Sachen allein, indem ich einfach davonlief.
5
„Oh mein Gott, oh Gott… Hilfe!“. Stellas angstverzerrtes Gesicht starrte von mir, nach oben, dann wieder zurück auf den grauen Boden. „Meinst du nicht, du übertreibst etwas?“, fragte ich sie lächelnd.
Stella sah mich einen Moment lang aus großen Augen an, dann schüttelte sie ganz leicht den Kopf und drehte sich wieder um.
„Okay, tief einatmen. Alles wird gut.“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Und tatsächlich folgte sie auch noch ihrer eigenen Empfehlung und holte tief Luft, die sie dann langsam wieder aus ihren Lungen hinauspresste. Ich seufzte. Wenn das noch lange so weiterging, hatte ich bald nichts mehr zu lachen. Dann wäre ich nur noch ein Frack, am Ende mit den Nerven und kaum besser dran als Stella. Die schien sich auf irgendeinen Punkt auf dem Sitz vor ihr zu konzentrieren und gab sich weiterhin alle Mühe mit ihren Atemübungen.
„Stella, jetzt beruhig dich aber mal wieder!“ Ich versuchte ihr damit klar zu machen, dass sie sich- und mich- damit eigentlich nur noch mehr verrückt machte, aber sie atmete nur weiter angestrengt ein und aus und sagte, zwischen ihren zusammengepressten Zähnen hervor: „Was glaubst du, was ich gerade versuche?“
„Ach komm. Wir sitzen doch nur in einem Flugzeug, dass…“
„Willst du mir das auch noch unter die Nase reiben? Sei einfach still, Jane.“ Das sagte sie so leicht. Wie sollte ich still sein, wenn sie neben mir zitterte und nervte.
„Schau mal: es fliegen täglich so viele Flieger und inzwischen ist man so weit mit der Technik, dass kaum noch was passiert. Also stell deine Flugangst mal zurück, okay.“ Wenn sie jetzt schon so verstört war, was würde dann erst passieren, wenn wir tatsächlich in der Luft waren. Bis jetzt standen wir nämlich eigentlich noch auf der Startbahn und warteten.
„Du gibst also zu, dass schon Unfälle passiert sind, richtig?“
Ich kniff irritiert die Augen zusammen. „Ähm, ja. Aber…“
„All die Leute, die da abgestürzt sind, glaubst du, die haben damit gerechnet, dass sie sterben werden?“
„Nein, aber…“ Schon wieder unterbrach sie mich. Von wegen, ich lies sie keine ganzen Sätze sagen. „Siehst du?“, sagte Stella mit schriller Stimme. Der ältere Mann mit grauem Schnurrbart und Glatze, der vor mir saß, sah lächelnd zu uns nach hinten. Ich gab ihm mit einem genervten Blick zu verstehen, dass er sich lieber wieder umdrehen sollte. Zu Stella sah ich gar nicht mehr. Ich wusste genau wie sie mich anschaute. Wenn Blicke töten könnten... Das ist vielleicht eine ganz gute Veranschaulichung dessen, was mir gerade durch den Kopf ging. Stella bewegte sich neben mir und ich wusste, dass sie sich endlich von mir abgewandt hatte und ich sicher sein konnte, ihrem Giftblick nicht zu begegnen, sollte ich es riskieren, an ihr vorbei aus dem Fenster zu sehen.
Trotzdem wagte ich das erst, nachdem die Stewardessen ihre Sicherheitseinweisungen gemacht hatten und sich das Flugzeug in Bewegung setzte. Während ich auf meinem Kaugummi herumkaute, um den Druck auf den Ohren beim Start zu vermeiden, sah ich aus dem Bullauge nach draußen und beobachtete, wie alles immer kleiner zu werden schien unter uns. Der Start war sowieso das Beste am Fliegen. Oder eigentlich der Übergang von der Steilaufwärts- in die horizontale Lage. Wenn man, nach dem man in seinen Sitz hineingepresst worden ist, plötzlich so ein Gefühl von Schwerelosigkeit verspürte. Ich seufzte einen Moment behaglich auf und versuchte, die zitternde Stella zu ignorieren, die sich neben mir verkrampfte und angestrengt nach vorne starrte. Wenigstens drückte sie sich dabei so sehr in ihren Sitz hinein, dass ich problemlos an ihr vorbeisehen konnte, während wir durch die dichte Wolkendecke stießen.
Dann kam der Moment, in dem es sich kurz so anfühlte, als würde die Schwerkraft aufgehoben, was Stella dazu veranlasste, einen kurzen Schrei auszustoßen, und anschließend folgte nur noch das Dröhnen der Motoren, die Lichter gingen wieder an und die Anschnallzeichen erloschen.
„Übrigens, wenn dir schlecht werden sollte: du weißt ja, dass sich die Kotztüte an dem Sitz vor dir befindet.“ Stella machte einen so üblen Eindruck, dass ich mir die Bemerkung einfach nicht verkneifen konnte, schon allein aus Sicherheitsgründen für die in der Nähe sitzenden Menschen- insbesondere für mich. Aber meine Freundin zeigte überhaupt keine Reaktion, sodass ich mich wieder abwandte und auf die Stewardess wartete, die gerade ihre Runde machte. Ich bestellte schwarzen Tee, um meine Müdigkeit wenigstens etwas zu vertreiben und lehnte mich anschließend zurück in den Sitz. Wenigstens waren die gemütlich. Schließlich hatten wir jetzt an die drei oder vier Stunden Flugzeit vor uns.
„Einmal Schwarztee mit Milch, ohne Zucker, richtig?“ Ich nickte, streckte der Stewardess die ein Euro fünfzig entgegen und wollte ihr den kleinen Becher abnehmen, als ein Ruck durch das Flugzeug ging. Ein Luftloch, oder was auch immer es war, genau in dem Moment, indem die dunkelhaarige Frau mir den Tee reichte. Sie hatte ihn nur mit zwei Fingern in der Hand, oder besser gesagt, sie hatte ihn in der Hand gehabt. Denn bei der Bewegung rutsche ihr der Becher aus der Hand und sein gesamter Inhalt- zugegeben, für den Preis recht wenig, aber immer noch genug- ergoss sich über meine Hose.
„Scheiße!“, schrie ich erschrocken auf. Bei der Hitze wich mir beinahe das Gefühl aus den Oberschenkeln.
„Oh Gott, dass tut mir leid, ich…“, stotterte die Stewardess entschuldigend herum. Aber dafür hatte ich im Moment wirklich nicht die Nerven. Ich drängte mich an ihr vorbei, um auf die Toilette zur rennen- und landete, alle viere von mir gestreckt und von einem dumpfen Schlag begleitet, auf dem Gang. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen, oder?, fragte ich mich erschrocken. Im ersten Moment blieb ich einfach nur liegen, dann versuchte ich meinen Fuß zu befreien. Ich war irgendwo hängen geblieben. Als ich es so nicht schaffte, drehte ich doch den Kopf. Ich war am Träger eines schwarzen Rucksacks hängen geblieben. Die Stewardess kam herbei gerannt und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Sah ich so aus, als wäre es das? Ich hantierte an dem Stoff des Rucksacks herum, aber plötzlich stutzte ich. Irgendwie kam mir das Teil bekannt vor. Während die Stewardess einfach wieder davon trottete, hob ich langsam den Kopf. Das Gesicht in das ich erstaunt blickte, und somit auch der Rucksack, gehörten dem braunhaarigen Jungen, den ich zuvor auf dem Flughafen versehentlich mit der Toilettentüre zu Boden gestoßen hatte. Musste der Kerl ausgerechnet in diesem Flug sitzen?
Er grinste mich erst nur an, doch dann schien auch er sich an mich zu erinnern. „Wow, jetzt verstehe ich den Begriff ‚Ironie des Schicksals’ endlich auch mal.“, lachte er.
„Kannst du deinen Rucksack nicht so hinstellen, dass er keine Gefahr für die Menschheit birgt? Du hast echt Talent, alles und bestimmt auch jeden in den Weg zu stellen, oder?“, wies ich ihn niedergeschlagen zurecht. Als er noch immer lachend den Kopf schüttelte, starrte ich ihn verwundert an. „Halt, halt.“, sagte er dann. „Ich bin mit dem meckern dran, oder? Schließlich liegst du auf dem Boden und nicht ich.“ Ich sog scharf die Luft ein, während es in mir allmählich zu brodeln begann.
„Und übrigens“, fuhr er fort, „bis jetzt ist dieses Talent von mir noch niemandem aufgefallen. Und, du wolltest gerade auf die Toilette, nehme ich an? Wobei, jetzt ist es dafür wohl eher zu spät.“, er ließ ein mitleidiges Seufzen von sich, dann grinste er mich wieder an. Im ersten Moment wusste ich nicht einmal wovon er sprach, dann viel mir der Tee wieder ein. Oh Gott. Das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Denn ich sah tatsächlich so aus, als hätte ich... sagen wir, es sah so aus als wäre mir ein kleines Missgeschick passiert. Was ja auch stimmte, nur ein etwas anderes eben. „Das ist Tee.“, klärte ich ihn auf, was den Jungen nur noch mehr zum Lachen brachte.
„Komisch, also ich trinke den für gewöhnlich mit dem Mund. Aber, hey…“, er hob beschwichtigend die Hände, als er meinen wütenden Gesichtsausdruck sah, „Jedem das seine, dass muss dir doch nicht peinlich sein.“ Ich hätte ihm wohl eine mächtige Schimpftirade gehalten, hätte er in diesem Moment nicht eine kleine Bewegung mit der Hand gemacht und mich damit erinnert, wo ich eigentlich war. Ich schloss für einen Moment die Augen, dann wandte ich mich um und sah, dass beinahe alle Passagiere zu uns hinüberstarrten. Sogar Stella konnte ich sehen, die auf meinen Platz, und damit näher an den Gang, gerutscht war, und sich die Seele aus dem Leib lachte. Ihre Flugangst hatte sie darüber anscheinend völlig vergessen.
Doch mein Stolz, und es wunderte mich wirklich, dass davon nach diesen paar Minuten ärgster Pein noch irgendetwas vorhanden war, ließ nicht zu, dass ich mich dadurch restlos entmutigen ließ. Ich zog meinen Fuß endlich vollständig aus der Schlaufe, wobei ich mich mit größter Mühe beherrschte, nicht gegen den Rucksack- oder gar seinen Besitzer- zu treten, dann stand ich auf und eilte zur Toilette. Nur der warnende Blick einer weiteren Stewardess hielt mich davon ab, die Tür hinter mir zuzuschlagen.
6
Eigentlich wäre ich am Liebsten gar nicht mehr aus dem kleinen weißen Raum heraus gekommen, sondern hätte mich ewig, oder zumindest noch bis zur Landung, darin verkrochen.
Allerdings hatte bereits jemand versucht die Tür zu öffnen und ich wollte jetzt auch nicht unbedingt Grund für solch ein wirkliches Unglück sein. Also hastete ich beinahe auf meinen Platz zurück, während ich mich bemühte, starr geradeaus zu sehen und nicht dem Blick irgendeines Passagiers zu Begegnen. Stella wechselte schnell wieder auf ihren Sitz zurück, als sie mein Kommen bemerkte. Sie grinste mich schief an, unsicher, ob ein Lächeln jetzt auch wirklich sehr klug war, oder ob es nur dazu führen würde, dass ich ihr gleich den Kopf abzureisen versuche. Aber obwohl mir das ei-gentlich schon recht verlockend schien, ließ ich von der Idee ab. Das wäre wahrscheinlich irgend-wie nicht fair gewesen, sie konnte für meine eigene Dummheit schließlich auch nichts für. Stattdes-sen nickte ich ihr also nur kurz zu, und nahm dann neben ihr Platz. Einige Zeit sagte keine von uns etwas. Erleichtert stellte ich fest, dass die Leute das Interesse an mir verloren hatten und sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten.
„Ähm, also Jane?“, zu meiner Enttäuschung hatte Stella wohl beschlossen, sich doch zu dem vorigen Tumult im Gang zu äußern.
„Was?“
„Das war echt geil eben.“, erklärte sie mir und fing wieder an zu kichern.
„Aha. Wenn du das sagst.“, antwortete ich knapp.
„Wer war denn der Typ eigentlich?“
„Keine Ahnung.“, sagte ich wahrheitsgemäß. Stella hingegen wollte mir das nicht glauben. „Ach komm“, fing sie an in leicht ärgerlichem Ton, „es sah aber ziemlich danach aus, als würdet ihr euch kennen.“ Ich verzog seufzend den Mund. „Dafür kann ich nichts. Aber übrigens, ich will dich ja echt nicht beunruhigen, aber ich glaube, ich habe auf der Toilette vorhin so seltsame knatternde Geräusche gehört. Ich glaub nicht, dass die normal waren.“
Triumphierend sah ich, dass Stella unsicher schluckte. „Quatsch... Jane, ich weiß, dass du mir nur Angst machen willst, damit ich aufhöre dich auszufragen.“
„Nein, Stella, ich meins ernst.“, versicherte ich ihr scheinheilig. Es erstaunte mich schon ein wenig, wie schnell ihre Angst zurückkehrte. Doch als ich sah, wie ihr Atem anfing, hektischer zu werden, merkte ich, dass ich so lieber nicht so weitermachen sollte. „Ja, okay, ich geb’s zu: da war nichts.“ Stella musterte mich vorsichtig und ich versuchte ihr mit dem wärmsten und aufmunterndsten Lächeln zu begegnen, zu dem ich fähig war. „Und das sagst du jetzt nicht nur, um mich wieder zu beruhigen?“
„Na ja, ich versuche schon dich zu beruhigen, allerdings nur, weil ich dir davor unnötig Angst gemacht hab.“, ich nickte bekräftigend.
„Hmm.“, Stella schwieg einen Moment. Aber zu meinem Leiden war es auch wirklich nur ein äußerst kurzer Moment. „Tja, dann möchte ich jetzt trotzdem wissen, wer das war.“
Mir war klar, dass ich keine Wahl hatte und alles Rausreden zwecklos wäre. Mindestens ebenso klar war mir aber auch, dass ich das danach unweigerlich bereuen würde. Trotzdem erzählte ich ihr, von meiner kurzen Begegnung mit dem Jungen. „Hey, Jane, du weißt, dass solche Begegnungen, vor allem, wenn es dann auch noch gleich zwei sind, in Büchern und Filmen immer in eine Liebesgeschichte ausarten, oder?“, brachte Jane noch immer kichernd hervor, nachdem sie sich immerhin soweit von ihrem Lachanfall erholt hatte, dass sie mehr oder vielleicht auch weniger reden konnte.
„Also, das kannst du gleich vergessen, ich kann ihn nicht leiden, und dabei kenne ich ihn noch nicht mal.“, versicherte ich ihr schnell.
„Klar, aber auch das kommt in so mancher Geschichte vor, und am Ende gibt es doch noch ein Happy End.“ Stella lachte, aber ich schüttelte nur den Kopf. „Mein Happy End besteht darin, nicht völlig zu Tode genervt von dir nach Hause zu kommen.“, murmelte ich. Und dort meine Mutter nicht so vorzufinden, wie ich sie zuletzt gesehen habe, nämlich als zu Stein erstarrtes Etwas, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Nichte so betrübt sein, kleine Mädchen.“, hörte ich eine raue Stimme sagen.
Der glatzköpfige Alte vor mir hatte sich wieder zu uns umgedreht. Er grinste breit und ich konnte deutlich sehen, dass sein Gebiss seine besten Tage bereits vor langer Zeit gezählt haben musste. An mehreren Stellen waren statt der Zähne nur noch schwarze Löcher, und die meisten anderen, noch vorhandenen, Zähne waren schwarz angefressen oder gelblich gefärbt. Stella neben mir prustete bei diesem Anblick ungeniert los, ich lächelte dem Mann jedoch sogar kurz zu, während ich meinen Blick auf seine dunkelbraunen Augen konzentrierte und fragte dann: „Wieso?“ Ich hätte erwartet, dass er mich erstaunt über meine Frage ansehen würde, aber er lächelte nur weiter und antwortete mir in einem, trotz seiner kratzigen Stimme, beruhigendem Tonfall: „Italien ist eine schöne Land. Braune Hauser, gelbes Felder, Wetter heiß.“ Der Mann war Ausländer, keine Frage. Mir war das nicht sofort aufgefallen, aber seine Sprache ließ daran keinen Zweifel, außerdem hatte er eine eher dunkle Hautfarbe.
„Ich glaube ja auch nicht, dass es dort nicht schön ist. Aber ich würde eben lieber zu Hause blei-ben.“ Der Mann legte den Kopf schief und sah mich einen Moment nachdenklich an. Ich fragte mich, ob er sich darüber im Klaren war, wie sehr er sich dabei verrenkte, und vor allem, wie ko-misch er dabei aussah.
„I komme von dort. Mi machte auch glücklich Heimat.“, stimmte er mir dann zu. Italiener also. Stella hatte sich neben mir bereits wieder einigermaßen beruhigt. „Wieso leben sie dann nicht dort?“, fragte sie neugierig. Der Alte lächelte verträumt. Er machte wirklich einen etwas dümmli-chen Eindruck, was ihn fast schon niedlich wirken ließ. „Manchemale i tue. Aber meine Frau und Sohn ist in Deutscheland. Dort ist auch Heimat, aber andere. Gerner bin i in Italia.“ Aus den Au-genwinkeln sah ich Stella lächeln. Vermutlich malte sie sich in ihrem Kopf gerade eine romantische Geschichte aus, bei der der Italiener vor vielen Jahren seine Frau kennen gelernt hat, und ihr ewige Treue geschworen hat, und dass er für sie sogar seine Heimat aufgeben und ein vollkommen neues Leben beginnen würde. Das Gesicht des Mannes verzog sich einen Moment zu einer schmerzverzerrten Grimasse und er fasste sich an den Rücken. „I musse umdrehen“, sagte er, „Schmerzen hinten.“
Wir nickten ihm lächelnd zu und er wandte sich wieder ab und setzte sich richtig hin.
Seltsamer Kauz, dachte ich schmunzelnd. Dann lehnte ich mich zurück und starrte schweigend aus dem kleinen runden Fenster.
„Huhu, Jane.“, Stellas Stimme klang noch seltsam dumpf. Ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter und schließlich öffnete ich meine schweren Lider. „Wir landen in Kürze.“, zitierte sie den Piloten. „Oh.“, murmelte ich leise, noch immer etwas benommen. Ich blinzelte einige Male, bis sich mein Blick wieder etwas schärfte. Das Anschnallzeichen leuchtete wieder und die Lichter im gesamten Gang erloschen. Ich ließ den Gurt zuschnappen, dann schaute ich zu Stella, die es mir mit leicht zittrigen Händen nachtat. Was hatte sie wohl in der Zeit getan, in der ich geschlafen hatte? Ein Blick auf das dicke Buch, das noch halb aus ihrem Rucksack lugte, beantwortete mir diese Frage jedoch sofort. Wir landeten grob auf der Landebahn des italienischen Flughafens. Als wir schließ-lich endgültig stoppten, hörte ich Stella erleichtert ausatmen. „Wir leben.“, stellte sie lachend fest, bevor wir unsere Taschen nahmen und die leicht rutschige Metalltreppe hinab- und aus dem Flugzeug hinausstiegen.
„Wir müssen jetzt da rein, dann unsere Koffer holen und dann mit dem Bus zum Camp fahren.“, klärte meine Freundin mich auf.
Meine Tasche war eine der Ersten, die auf dem schwarzen Band angerollt kamen. Ich zog sie hin-unter und stellte mich nach hinten, um die Leute, die ihr Gepäck noch nicht hatten, nach vorne zu lassen. Stella stand noch immer dort und hielt Ausschau nach ihrem Koffer. Doch das knallgrüne Teil war selbst nach mehreren Minuten noch nicht in Sichtweite. Der Raum leerte sich langsam und nur noch an die zehn Menschen standen da und suchten ihre Koffer. „Wann kommt der Bus?“, er-kundigte ich mich bei Stella. „Äh“, sie kramte in ihrer Jackentasche und zog einen zusammengefal-teten Zettel daraus hervor. „Oh, scheiße!“, sagte sie dann, nachdem sie einen Blick auf das Papier geworfen hatte. „Was?“, fragte ich alarmiert. „Wir haben noch ziemlich genau zwei Minuten bis Abfahrt.“, sagte sie. Ich atmete tief durch. So etwas musste ja passieren. Als wäre nicht schon ge-nug schief gelaufen. „Können wir deinen Koffer nicht später abholen?“ Stella starrte mich scho-ckiert an. „Bist du verrückt? Weißt du was da alles drin ist?“
„Nein. Aber was willst du denn tun.“
„Warten.“, sagte sie und blickte wieder nach vorne. Und tatsächlich kam ihr Koffer langsam auf uns zu. Er war ja auch nicht gerade unauffällig in seiner Farbe. Stella schnappte ihn und wollte ihn ei-nen Moment an sich drücken. Allerdings hatte sie diese Rechnung wohl ohne das Gewicht ihres Gepäcks gemacht, denn der grüne Kasten rutschte ihr aus den Armen und landete geradewegs auf… meinem Fuß. „Gott! Kannst du dein Zeug nicht auf dich selbst fallen lassen?“, schrie ich er-schrocken auf, als ich die 20 Kilo schmerzhaft auf meinen Zehen spürte. Stella biss sich auf die Lippen, doch ich wusste trotzdem genau, dass sie sich damit anstrengte, ein Lachen zu verkneifen. Ich hob den Koffer von mir und ließ ihn auf den Boden knallen. Einige der Leute hatten kurz aufgesehen, sich dann aber wieder dem Rollband zugewandt. „Vielleicht sollten wir jetzt… zum Bus gehen?“, fragte Stella vorsichtig. „Was? Soll ich da jetzt auch noch hinrennen?“, fragte ich sie genervt. Ich presste mir die Hand an den Kopf, als könnte ich den Schmerz und die Verzweiflung dadurch vertreiben. Das wäre ja auch zu schön gewesen. „Tut mir leid, Jane. Aber was willst du denn sonst tun?“, fragte Stella kleinlaut. Sie hob ihren Koffer auf und wollte auch noch meine Tasche nehmen, aber ich riss sie ihr wieder aus der Hand. „Gib schon her.“, sagte ich wütend und humpelte auf den Ausgang zu. Stella folgte mir. Wir wussten beide nicht so genau was wir jetzt eigentlich tun sollten. Also liefen wir trotzdem noch zur Bushaltestelle, wo wir uns zu allem Überfluss auch noch der Demütigung hingaben, unseren Bus gerade um die Ecke biegen zu sehen. Wir standen noch eine Weile da und starrten in die Richtung, in die er verschwunden war, während sämtliche Autos an uns vorbei rasten.
„Kleine Mädchen? Biste du schon wieder traurig?“
Ich zuckte zusammen, als ich die raue Stimme hörte. Stella drehte sich ruckartig um und lachte. Auch ich wendete mich dem Italiener zu. Er grinste wieder, aber diesmal waren wir beide, ich und Stella, auf diesen Anblick gefasst, außerdem waren wir noch viel zu erschrocken, um jetzt irgendwie darauf zu reagieren. Stella plapperte sofort auf ihn ein: „Mein Koffer ist nicht gekommen, und dann haben wir gewartet, obwohl unser Bus gleich abgefahren wäre und dann hab ich meinen Koffer gefunden, aber ist mir runtergefallen, auf Janes Fuß. Und deswegen ist sie dann nur noch gehumpelt und dann waren wir hier und der Bus ist gerade weggefahren.“ Der alte Mann blinzelte verständnislos, dann lachte er.
„Bus iste weg?“, fragte er nach. Stella nickte heftig. „Soll ich mitnehmen? Wenne ihr haben Adresse kann i hinbringe.“ Sollten wir etwa tatsächlich noch heil ankommen?, fragte ich mich er-staunt. „Das wäre fantastisch. Fabelhaft, grandios!“, rief Stella begeistert. Er lächelte vergnügt und bedeutete uns ihm zu folgen. Er führte uns zu einem großen Parkplatz, in dessen Mitte sich eine kleine Insel befand, auf der eine gewaltige Pinie gepflanzt worden war. Dann zeigte er auf einen kleinen blauen Wagen, aus dem gerade ein junger Italiener ausstieg. „Dario!“, rief er lachend und kam auf uns zugestürmt. Unser Helfer, der anscheinend Dario hieß, umarmte den schwarzhaarigen Mann. Sie wechselten einige Worte auf Italienisch, dann nickte der Jüngere der beiden, nahm uns unsere Taschen ab und verstaute sie in dem kleinen Kofferraum des Wagens. Währenddessen stellte sich Dario uns vor. Er hieß Dario Vilotti, und war 68 Jahre alt. Dass er hier war, um seine Familie zu besuchen, wussten wir ja bereits. Und zu dieser Familie gehörte Sante, der, wenn ich das richtig verstanden habe, der Sohn von Darios Cousine war und beauftragt worden ist, ihn hier abzuholen.
Stella drückte Dario ihren zerknitterten Zettel in die Hand und zeigte auf die Adresse. Er las sie sich kurz durch, dann lachte er. Wir sahen ihn verständnislos an, bis er es uns erklärte: „Wir wohnen in Nähe von da. Nur wenig weiter weg.“
7
Mit Verdruss hatte ich festgestellt, dass Santes kleines Auto wohl leider nicht über so etwas wie eine Klimaanlage zu verfügen schien. Die Hitze hatte sich während der etwa halbstündigen Fahrt darin angesammelt, sodass ich froh war, endlich die Türe zu öffnen und aus dem Wagen zu steigen. Es wehte eine seichte lauwarme Brise, die wenigstens ein bisschen zur Abkühlung besteuerte. Über uns raschelte der Wind in den saftig grünen Baumkronen.
Nachdem wir uns von unserem Fahrer und dem lachend winkenden Dario verabschiedet hatten, gingen wir langsam auf die breite Einfahrt zu.
„Und wir sind hier ganz sicher richtig?“, fragte ich Stella, etwas verwirrt über die Stille, die hier herrschte.
„Ich denke schon.“, meinte sie, „Schließlich ist das hier die richtige Adresse und was soll das riesi-ge Teil vor uns auch anderes sein?“ Stella deutete auf das weite Gelände, das sich hinter der Ein-fahrt mit ihrer kleinen Rezeption befand. Von hier aus konnte ich nicht alles erkennen, doch immerhin schon mehrere Hütten, die einzeln verstreut herumstanden. Wir kamen an dem kleinen, weiß gestrichenen Häuschen an, und lugten durch die Glasscheibe. Der Raum dahinter war nicht beleuchtet, weswegen wir die Augen mit den Händen abschirmen mussten, damit es nicht zu sehr spiegelte. Als ich dann richtig in das kleine Zimmer sehen konnte, schreckte ich überrascht zurück, als ich direkt in zwei blaue Augen starrte. Stella lachte lauthals los, während ich, ärgerlich über meine eigene Dummheit, wieder nach vorne gelaufen kam und mich neben sie stellte. Irgendwie hatte ich einfach nicht erwartet, dass jemand da drin hockte, schließlich sah alles andere so einsam hier aus, und außerdem war ja das Licht ausgeschaltet gewesen.
Stella erklärte der kleinen, untersetzten Frau, die mich kurz stirnrunzelnd durch die Scheibe musterte, bereits unsere Situation.
„Der Bus und die Chefin sind noch nicht da.“, erwidert diese ruhig, „Ich kann euch deshalb erstmal nur hier warten lassen, tut mir leid. Aber sie kommen bestimmt bald.“ Sie nickte uns noch einmal zu, dann wandte sie sich irgendwelchen Papierstapeln und ihrem Computerbildschirm zu. Stella und ich sahen uns einen Moment fragend an, dann setzten wir uns an den Rand der Straße auf ihren Koffer, der vermutlich schon in einiger Entfernung grellgrün leuchtend zu erkennen war. Wenigstens hatte sie beim Einkaufen nicht den Pinken gewählt, dachte ich erleichtert. Während Stella die meiste Zeit vor sich hin plapperte- oder vielleicht redete sie auch mit mir, aber da ich ihr eigentlich von Anfang an nicht zugehört hatte, war ich mir da nicht so sicher- starrte ich schweigend auf die staubige Straße, die quer zu der Einfahrt verlief. Sie führte eine ziemlich lange Strecke geradeaus, sodass ich das Gefühl hatte, ich müsste den Bus eigentlich schon Ewigkeiten bevor er bei uns ankommen würde, als kleinen, immer größer werdenden Punkt am Horizont erken-nen können. Trotzdem geschah lange Zeit überhaupt nichts. Nicht einmal ein anderes Auto fuhr an uns vorbei. Alles war in eine –eigentlich ziemlich angenehme- Stille getaucht, die nur durch das sanfte Rauschen des Windes in den Bäumen und Stellas Worten, die ich inzwischen zu ignorieren gelernt hatte, unterbrochen wurde. Vielleicht sollte ich das also wirklich genießen, denn wer weiß, wann ich das nächste Mal meine Ruhe haben würde, war der Bus, mit all seinen Fahrgästen erst einmal angekommen.
„…ist dann doch noch mal alles gut gegangen. Naja…“, Stella beendete gerade irgendeine Geschichte, bei der es, glaube ich, angesichts der wenigen Worte, die ich davon mitbekommen hatte, um eine Bootstour ging, bei der sie mit ihren Eltern, und ihrer allesamt fragwürdigen Intelligenz, gekentert war, als sie plötzlich stockte, mich anschaute und mir dann mit ihrer Hand vor dem Ge-sicht herumwedelte. Ich schlug ihren Arm zur Seite. „Hast du irgendwelche Zuckungen, oder was soll das?“, fragte ich in einem Tonfall, der nicht annähernd so genervt rüber kam, wie er sollte. „Ich wollte nur überprüfen, ob du noch lebst, geschweige denn in der Lage bist, mir zuzuhören.“, konter-te Stella gelassen und lächelte. „Nein, bin ich nicht. Aber hab ich was Interessantes verpasst?“
Stella seufzte und blickte mich einen Moment prüfend an, dann sah auch sie die Straße entlang und atmete erschöpft aus. „Komisch“, meinte sie schließlich, „dass der Bus so lange braucht, oder?“
„Hm, ich weiß nicht.“ Obwohl, eigentlich musste ich ihr schon recht geben. Es wäre kein Wunder gewesen, dass wir den Bus abgehängt hätten, wären wir mit einem Ferrari, oder zumindest einem neueren Wagen gefahren. Aber Santes Schrottkiste? Eigentlich hatte ich eher das Gefühl, von allen anderen Autos überholt worden zu sein- und ist nicht sogar einmal ein Fahrradfahrer mit Leichtigkeit an uns vorbeigefahren?- als dass ich auch nur in Anbetracht hätte ziehen können, wir wären auf irgendeine Weise schnell gewesen. Andererseits hatte uns die Frau an der Rezeption doch vor wenigen Minuten, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, bestätigt, dass wir hier richtig waren. Ich zuckte also nur die Schultern, während sich Stella bereits wieder erhoben hatte und durch das kleine, runde Loch in der Glasscheibe sprach. Schweigend beobachtete ich, wie sie nickend dastand, lächelte, wild mit den Händen gestikulierte, wieder nickte und mir dann den Kopf zuwandte. „Ihr ist eben eingefallen, dass der Bus noch vorher einen kleinen Ausflug macht.“ Ich seufzte kurz auf, als Stella fortfuhr. „Aber die Leiterin des Lagers müsste eigentlich schon früher kommen. Die kann uns dann bestimmt helfen.“, Stella kam wieder auf mich zugelaufen, doch sie setzte sich nicht wieder hin, sondern ging weiter bis auf die Straße. „Wenn du das sagst.“, murmelte ich leise und sah Stella an, die inzwischen in der Mitte der schmalen Landstraße stand und starr geradeaus blickte. „Was tust du da?“, fragte ich verwundert.
„Ausschauhalten.“, antwortete sie knapp. Ich hob die Brauen, schließlich konnte man von dort wo sie stand nicht mehr sehen, als von meinem Sitzplatz auf ihrem Koffer.
Gelangweilt hob ich einen kleinen Stock vom Boden auf und stocherte damit hinter mir im Gras herum. Allerdings nicht sehr lange, denn das dünne Holz brach plötzlich mit einem Knirschen auf. Ich warf es beiseite und fixierte irgendeinen Punkt auf der grünen Fläche, rupfte einen grünen Halm aus und zerriss ihn in kleine Stücke, ohne so richtig mitzubekommen, was ich da eigentlich tat.
„Hey, ich glaub sie kommt.“, rief Stella, und riss mich damit aus meinem gelangweilten Trancezustand. Ich sah auf und folgte ihrem Blick, und tatsächlich entdeckte ich einen dunkelroten Wagen, der immer weiter auf uns zurollte.
„Hoffentlich ist sie das auch wirklich.“, sagte ich misstrauisch. Doch gegen Stellas Optimismus kam ich nicht an. „Klar. Oder glaubst du im Ernst noch, dass hier mal ein anderes Auto vorbei-fährt?“, sie lachte triumphierend auf, als ich ihr widerwillig zustimmen musste. Das Auto war in-zwischen näher gekommen und lenkte in die Einfahrt ein. Kein schlechter Wagen, überlegte ich, obwohl ich eigentlich keine Ahnung hatte, von welcher Marke, geschweige denn welchem Modell, er war. Trotzdem sah er einfach blank und neu aus, und hatte eine abgerundete, elegante Form. Darüber hinaus hatte ich überhaupt nicht darauf geachtet, wer nun eigentlich am Steuer des Wagens saß. Erst als dieser vor der kleinen Empfangsstelle stehen blieb und jemand, wie Stella zuvor, mit der Frau sprach, hörte ich eine helle, weibliche Stimme. Dann fuhr er weiter vor und parkte hinter der Rezeption, sodass er kurz aus unserem Blickfeld verschwand. Ich hörte wie eine Türe zuge-schlagen wurde und dann Schritte, die immer näher kamen.
„So, ihr habt also den Bus verpasst?“, fragte sie. Seltsam, diese hellbraunen Augen, die uns freundlich, ein wenig neckend anblickten und gleichzeitig auch noch irgendwie intelligent wirkten, erinnerten mich an irgendwen. Doch ich schob den Gedanken beiseite: Es gab Dinge- und vor allem Menschen- über die ich hier erst einmal nicht nachdenken wollte. Stella nickte und fasste wieder einmal kurz zusammen, was passiert war. Die blonde Frau hörte ihr geduldig zu, dann nickte sie. „Vera hat euch ja schon erzählt, dass die anderen erst später kommen.“, sagte sie, womit sie vermut-lich die Frau meinte, die in dem kleinen Raum der Rezeption saß, der nach außen offen war. Stella und ich nickten wieder. „Gut, also ich kann euch einfach schon mal in eure Hütte bringen, damit ihr eure Koffer zumindest mal abgeliefert habt. Danach könnt ihr euch ja überlegen, ob ihr dort bleiben oder uns noch ein wenig dabei helfen wollt, alles vorzubereiten.“
„Klar, machen wir.“, rief Stella sofort. Ich stimmte ihr einfach mal zu, schließlich käme das jetzt ziemlich dumm, würde ich das nicht tun. Die Campleiterin lachte kurz auf.
„Ich bin übrigens Mia.“, sagte sie dann.
8
Schon von außen gefiel mir das kleine Blockhaus, in dem wir die nächsten Wochen wohnen würden. Stella kam zuerst dort an und schloss auf. „Bereit?“, fragte sie. Ich nickte lächelnd und Stella öffne-te langsam die Tür. Dann ergriff sie meinen Arm und zog mich in den wohlig eingerichteten Raum. Stella ließ einen entzückten Schrei von sich, und auch ich konnte mein Staunen nicht sonderlich gut verbergen.
Es bestand so gut wie alles aus Holz, wodurch der gemütliche Eindruck wohl hervorgerufen wurde. Auf dem Boden vor uns lag ein langer, beigefarbener Teppich, der etwas Fellartiges an sich hatte, so flauschig sah er aus. Links und rechts des Raumes befanden sich jeweils zwei Betten. Am uns gegenüberliegenden Teil der Wand konnte ich einen kleinen, runden Tisch erkennen, der von vier Stühlen umringt wurde und der von dem dahinter liegenden Fenster beleuchtet wurde. Auch auf Seiten der Betten befand sich jeweils ein Fenster in der Mitte, sie alle waren mit naturweißen Vorhängen ausgestattet, die gut mit dem dunklen Holz harmonierten. Von dort glitt mein Blick wieder hinab zu den Betten, und diesmal begutachtete ich sie genauer: Jedes von ihnen sah genau gleich aus, besaß dieselbe helle Bettwäsche und neben jedem befand sich ein schmaler, aber dafür hoher Holzschrank. Oben und unten gab es Schranktüren, nur beim Mittelteil, der sich auf Höhe des Bettes befand, war keine, sondern stattdessen nur ein Regal, sodass man dieses als kleinen Nachttisch verwenden konnte. „Die müssen ganz schön Kohle haben, wenn die jedes Haus so einrichten können, dass jeder einen eigenen Schrank hat.“, stellte Stella fest.
„Klar“, stimmte ich ihr zu, „Du hast doch auch das Auto gesehen- sehr billig sah das ja auch nicht gerade aus.“
„Stimmt.“, Stella nickte, dann sah sie nach rechts, links und wieder rechts. „Was meinst du“, fragte sie lächelnd, „Welche Seite sollen wir nehmen?“ Ich zuckte irritiert die Achseln. „Also für mich sehen beide gleich aus, entscheide also lieber du.“, gab ich zu.
Stella entschied sich für die rechte Seite. Während sie auf das Bett sprang, das weiter in der Mitte des Raumes stand, und sich hineinlegte, ging ich auf das Fenster zu. Von hier aus konnte man direkt auf den etwas entfernt liegenden Platz sehen, der vermutlich später immer eine Art Treffpunkt sein würde. In seiner Mitte entdeckte ich eine kleine Feuerstelle, darum herum waren mehrere Bänke verteilt. Von hier aus gesehen links war ein etwas größeres längliches Gebäude, rechts von dem Platz, also weiter an der Straße, befand sich ein etwas größeres Haus, das sogar ein Obergeschoss besaß. Einen Moment überlegte ich, wofür das wohl gut sei, dann wandte ich mich ab und sah zu Stella. „Wundervolles Bett.“, seufzte sie, „keine Sprungfedern, nicht zu dünne Matratze, einfach schön.“
„Na dann.“, lachte ich, und öffnete die obere Schranktür an meinem Bett. Der Raum, der sich da-durch freigab, wurde durch ein Brett unterteilt, sodass man im unteren zusammengelegte Sachen platzieren konnte und im oberen Teil etwas an der angeschraubten Stange und den dabei liegenden Kleiderhaken aufhängen konnte. Ich fuhr mit dem Zeigefinger kurz an der Oberfläche des Brettes entlang, dann musterte ich ihn kurz überrascht. „Wow, nicht mal ein bisschen Staub.“, rief ich Stella erstaunt zu. „Wahrscheinlich werden auch die Putzkräfte gut bezahlt.“, meinte sie. Ich grinste, dann hievte ich meine Tasche auf das Bett und begann meine Klamotten in den Schrank einzuräumen. „Willst du nicht auch mal damit anfangen?“, erkundigte ich mich bei Stella, die noch immer, nun bäuchlings, auf ihrer Matratze lag. „Oh, doch, sollte ich vielleicht.“, mühsam erhob sie sich, machte sich jedoch nicht die Mühe, ihren Koffer ebenfalls auf das Bett zu schleppen, sondern öffnete ihn bereits am Boden. „Weißt du, ich war ja nicht diejenige, die so bereitwillig unsere Hilfe angeboten hat.“, wies ich sie zurecht.
„Ja schon. Aber alles andere wäre ja wohl unhöflich gewesen, oder?“ Ich brummte darauf irgendet-was vor mich hin, von wegen, sie hätte mich ja auch noch fragen können davor, dann wandte ich mich wieder einem Kleiderbügel zu und stülpte eine Jacke darüber. Nachdem ich das wichtigste ausgepackt hatte, kickte ich die Tasche unter das Bett und wartete auf Stella, die gemächlich vor sich hinsummend einräumte.
„Kommst du endlich?“, fragte ich sie einige Minuten später ungeduldig. „Ja, ja.“, erwiderte sie hastig und schob ihren Koffer, der inzwischen um einiges leichter war, ebenfalls unters Bett. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, wozu sie all das Zeug eigentlich brauchte, dass sie nach und nach daraus ans Tageslicht befördert hatte. Das meiste davon waren Klamotten- und Schuhe-, wie ich seufzend festgestellt hatte. Aber das war nicht alles: Neben dem Handy hatte sie auch noch ihren Laptop mitnehmen müssen. Wahrscheinlich gibt es hier nicht mal W-Lan, überlegte ich mir, geschweige denn ungesichertes. „Was willst du mit dem Teil eigentlich anfangen?“, fragte ich daher. „Das sieht sich dann.“, antwortete Stella mir. „Schadet ja wohl nicht, oder?“ Wie sie meint. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war jetzt etwa vier, den Worten der Campleiterin nach würde der Bus also in etwa einer halben bis ganzen Stunde ankommen. Zeit, noch ein wenig die Ruhe zu genießen, blieb mir also nicht, wenn wir der Frau noch helfen wollten.
„Also los.“, rief Stella enthusiastisch und sprang zur Tür. Ich beschloss ihr einfach hinterherzulau-fen, da ich selbst nämlich keine Ahnung hatte, wo wir jetzt hinsollten. Aber irgendwie schaffte ich es dann doch nicht, Stella vollständig zu vertrauen: „Weißt du überhaupt, wo wir hinmüssen?“
Stella warf mir einen kurzen Blick zu. „Mia hat doch gesagt, dass wir sie entweder in der Rezeption finden können, oder uns dort zumindest jemand sagen kann, wo sie ist. Mal wieder nicht zugehört?“, fragte sie lachend. Ich dachte einen Moment darüber nach, wann sie das denn gesagt haben sollte, trotzdem ging ich nicht weiter darauf ein, was Stella wieder zum kichern brachte. Wir mussten nicht weit gehen, bis wir angekommen waren. Zielsicher strebte sie auf die Glastüre zu, anstatt wieder auf die Einfahrt zuzulaufen, an der wir uns vorhin erkundigt hatten.
„Mia?“, rief Stella, als wir eingetreten waren. Sie schien kein Problem damit zu haben, die Frau, die wir nicht einmal wirklich kannten, sofort beim Vornamen zu nennen. Auch wenn sie sich zwar vorhin so vorgestellt hatte, fand ich diese Vorstellung noch immer etwas seltsam, und stand damit wohl vollkommen im Gegensatz zu meiner Freundin. Die sah sich inzwischen aufmerksam in dem Raum um, als sie keine Antwort hörte. Der Raum, in dem wir standen, war in einem hellen beige gehalten. Damit wirkte er nicht abweisend und vornehm, wie viele andere Rezeptionen, die oft mehr an die Vorräume von Arztpraxen erinnerten. Aber dennoch strahlte er eine gewisse Autorität aus, soweit man das von einem Zimmer eben erwarten konnte. In den Ecken standen mehrere hohe Pflanzen, und vor uns ein breiter Tresen. Links schien es durch eine Türe zu dem der Einfahrt zugewandten Zimmer zu gehen. Ein weiterer Durchgang befand sich hinter dem Tresen, aber auch hier war die Tür verschlossen, sodass ich nicht erkennen konnte was sich dahinter befand, allerdings glaubte ich Schritte dahinter zu hören. Ansonsten blieb es still.
„Und jetzt?“, fragte ich Stella unsicher. Doch sie ließ sich nicht irritieren. Zu meinem Schrecken schrie sie jetzt wirklich. „Hallo? Ist da jemand? Wir…“, als die Tür vor uns aufgerissen wurde, brach sie abrupt ab. Die etwas beleibtere Frau, die mich vorhin so erschreckt hatte, stand auf der Schwelle und blickte Stella fragend an. „Kann ich euch helfen, dass ihr so rumbrüllt?“, erkundigte sich in freundlichem Tonfall. Stella räusperte sich. Das Erscheinen der Frau hatte sie irgendwie völ-lig aus der Bahn geworfen. Womit hatte sie denn gerechnet, wenn sie hier so rumschrie. „Äh… wir wollten...“, stotterte sie erst einmal herum. Vielleicht sollte ich ihr helfen, die richtigen Worte zu finden. Ich lächelte. „Wir sollten noch helfen, bis die anderen kommen. Man hat uns gesagt, dass man hier wüsste, wo… die Leiterin ist.“, erklärte ich der Frau. Sie nickte. „Klar, schaut einfach mal am großen Platz da vorne vorbei.“, sie deutete auf den gefliesten runden Bereich, mit der Feuerstel-le, der mir zuvor bereits aufgefallen war. Wir nickten und wollten bereits wieder aus der Rezeption hinausgehen, als sie uns noch einmal zurückhielt. „Wenn sie da nicht sein sollte, dann seht ihr am besten mal im Wohnhaus nach.“
„Geht klar.“, sagte Stella, die sich wohl wieder gefasst hatte. Als wir draußen waren und die Tür hinter uns zugezogen hatten, fing Stella an zu prusten. „Scheiße, war das peinlich.“, stellte sie fest.
„Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich wusste übrigens nicht, dass du so laut brüllen kannst.“, fügte ich hinzu.
„Oh, ja ich mach heimlich Karate. Da lernt man das.“, sagte sie grinsend.
„Sicher.“, erwiderte ich ironisch. Stella biss sich auf die Lippe, vermutlich um wieder mal zu verhindern, dass sie wieder loslachen musste, und ich schüttelte lächelnd den Kopf.
9
Der große Platz, wie die Frau, Vera, ihn genannt hatte, lag verlassen da, als wir ihn erreichten. „Sieht nicht so aus, als wäre sie hier.“, fasste ich das Offensichtliche in Worte.
„Wohl eher nicht.“, stimmte mir auch Stella zu.
„Tja, und wo ist jetzt das Wohnhaus? Weißt du das auch zufällig?“, erkundigte ich mich, obwohl ich eigentlich nicht daran glaubte, dass Stella wirklich eine Ahnung hatte. Doch sie drehte nur den Kopf in Richtung Straße. Ich folgte ihrem Blick fragend. Natürlich, das Haus, dass ich vom Fenster aus gesehen hatte. Das wäre doch kein schlechter Ort, für die Wohnung der Leiterin. Während ich noch immer dastand und auf das Haus vor mir starrte, war Stella bereits darauf zugelaufen. „Kommst du?“, fragte sie, als sie beinahe direkt vor der Tür stand. Ich nickte holte zu ihr auf. Da war sogar eine Klingel neben der Tür. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie überraschte mich das. Stella zögerte nicht, sondern drückte sofort auf den kleinen Knopf. Kurz darauf öffnete sich die Tür bereits. „Oh, hey, ihr seid’s.“, begrüßte uns die blonde Frau, der das Camp gehörte. „Hi, Mia.“, sag-te Stella, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Ich nickte ihr nur kurz zu. „Kommt doch rein.“, forderte Mia uns auf.
„Also, wo können wir helfen?“, fragte Stella sofort. Unsere Campleiterin lachte. „Nicht so eilig. Noch haben wir etwas Zeit. Wollt ihr was trinken?“ Wir haben Zeit? Also eine halbe Stunde ist fin-de ich jetzt nicht sonderlich viel Zeit, aber okay, wenn sie meint, dachte ich erstaunt. Wir wurden durch einen ländlich eingerichteten Flur in eine kleine, ebenso eingerichtete Küche geführt. Auf ihre Aufforderung setzten wir uns an den kleinen, ovalen Holztisch. Hier war ebenfalls viel aus Holz, wie in unseren kleinen Hütten, doch es war helleres. Als es einen Moment etwas ruhiger wurde, weil niemand etwas sagte, während Mia uns zwei Gläser Orangensaft einschenkte, hörte ich etwas. Musik. Sie musste aus dem oberen Stockwerk kommen; ich konnte nicht genau hören, was es war, doch sie musste voll aufgedreht worden sein, denn der Bass dröhnte in meinen Ohren. Vermutlich Rockmusik, überlegte ich.
„Entschuldige, das muss mein Sohn sein. Ich sage ihm ständig, er soll das Zeug leiser machen, aber… tja, da habe ich irgendwie nicht so viel Erfolg mit.“ Mia musste meinen kurzen Blick zur Decke bemerkt haben, und daraus gedeutet haben, worüber ich mich wunderte. Auch Stella spitzte nun die Ohren.
„Kein Problem“, antwortete ich der Frau, „ich kann ihren Sohn verstehen.“ Mia lächelte kurz, dann stellte sie die Gläser vor uns ab. Aber ich konnte ihn wirklich verstehen. Es ging doch nichts dar-über, sich von lauter Musik einlullen zu lassen. Ich griff nach meinem Glas und trank einen großen Schluck davon. Erst jetzt wurde mir klar, wie durstig ich eigentlich war. Ich hatte das letzte Mal vor dem Flug etwas getrunken, denn nach dem ‚Unfall’ im Flugzeug, hatte ich mich nicht mehr getraut, etwas Neues zu bestellen. Wahrscheinlich war es sowieso bescheuert, dass ich Tee bestellt hatte. Man konnte ja sehen, was ich jetzt davon hatte. Mir wäre sicher auch so wieder warm geworden. Bloß weil in diesem scheiß Flieger die Klimaanlage voll aufgedreht gewesen war. Wobei, in Santes Auto hätten wir die gut gebrauchen können, fiel mir bei diesem Gedanken ein. Na ja, jedenfalls war es nicht sehr klug, bei dieser Hitze fünf Stunden lang nichts zu trinken. Kurz nachdem ich diesen Gedanken gedacht hatte, war mein Glas auch schon leer. Stella warf mir daraufhin einen erstaunten Blick zu, dann grinste sie.
„Also, ihr könnt mir nachher helfen, die Tische im Speisesaal zu decken. Aber das machen wir besser erst, wenn die anderen ihr Zeug auspacken.“, überlegte Mia laut, „Okay, wie wär’s… was haltet ihr davon, mir auf dem großen Platz etwas zu helfen.“
„Klar!“, stimmte Stella sofort zu, während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, wieso das Teil ‚großer Platz’ hieß. Ich meine, er hatte vielleicht einen Durchmesser von zwanzig Metern, soweit ich das mit bloßen Augen Einschätzen konnte. Das war zwar nicht wenig- aber auch nicht gerade viel.
Einige Minuten später standen wir bereits auf dem mit grauen Steinfliesen bedeckten Teil des Fe-rienlagers.
„Und, was sollen wir jetzt machen?“, erkundigte ich mich, obwohl ich danach das Gefühl hatte, dass mein Ton irgendwie unverschämt geklungen hatte. Aber was soll’s. Daran lässt sich jetzt auch nichts mehr ändern, war ja keine Absicht, befreite ich mich innerlich von dem kleinen Funken Schuldgefühl der in mir aufstieg. Aber Mia lächelte nur. Ob ihr der Unterton überhaupt aufgefallen war?
„Wir brauchen noch dringend Holz. Ich hab mir gedacht, ein kleines Lagerfeuer wäre doch schön, als Einstieg in die Zeit hier. Und das Wetter ist heute auch ideal dafür.“, sagte sie begeistert. Wir wollten ihr schon zustimmen, als sie gedankenverloren weiter murmelte. „Bloß weiß ich nicht, ob ich euch einfach so in den Wald gehen lassen kann.“
„Ach was.“, winkte Stella ab, „das ist kein Problem. Wir werden schon heil wieder zurückkommen.“ Mia biss sich nachdenklich auf der Unterlippe herum. „Also gut.“, willigte sie schließlich ein. „Aber bleibt immer in der Nähe des Weges. Dort ist dann alles ausgeschrieben.“, bat sie uns noch.
„Gut. Und wie kommen wir am besten zum Wald?“, fragte ich mich, wobei ich mich ein bisschen darüber aufregte, dass ich immer die Fragen stellen musste, wo es nun lang ging. Mia lachte, und auch Stella kicherte schon wieder.
„Wie wäre es…“, brachte sie prustend hervor, „wenn wir einfach da lang laufen, wo das grüne Zeug aufragt? Der Wald ist bestimmt da in der Nähe.“ Ich verdrehte genervt die Augen.
„Es hätte ja auch sein können, dass es einen richtigen Weg dorthin gibt.“, verteidigte ich mich. Mia lächelte mir aufmunternd zu. Sie hatte so seltsam jung ausgesehen, wie sie vorhin losgelacht hatte, nicht so, wie eine Mutter. Aber dann erinnerte sie mich wieder an eine vernünftig denkende, geduldige erwachsene Frau, die im Umgang mit Kindern deutliche Erfahrung vorweisen zu können schien. „Den gibt es nicht.“, erklärte sie sanft, „Stella hat schon Recht, einfach geradeaus laufen, und dabei am besten trotzdem den Hütten ausweichen.“, fügte sie grinsend hinzu. Seufzend drehte ich mich um, und ließ die beiden mit einem „Bis dann, Mia.“ zurück. Mir fiel auf, dass ich plötzlich gar kein Problem mehr damit hatte, sie zu duzen und beim Vornamen zu nennen, jetzt wo sie sich über mich lustig gemacht hatte und mir damit zwar noch immer autoritär, aber doch irgend-wie…nett vorkam? Ich war schon einige Meter gelaufen, doch trotzdem hörte ich Stellas Antwort auf Mias gewitzelte Warnung: „Keine Sorge, ich pass schon auf, dass sie nirgends dagegen rennt.“ Dann stolperte sie mir auch schon hinterher.
Wir hatten kaum mehr als fünf Schritte in den Wald hinein gemacht, als es bereits dunkler zu wer-den schien um uns herum. Das dichte Blätterdach schirmte uns vor der Sonne ab. Wenigstens wurde es dadurch auch angenehm kühl.
Stella blickte sich neben mir suchend um. „Äh, Jane?“, wandte sie sich schließlich an mich. „Was für Äste braucht man eigentlich für ein Lagerfeuer?“ Ich lachte. „Tja, sieht so aus, als wärst du diesmal dran gewesen, die dumme Frage zu stellen.“, sagte ich triumphierend.
„Oh, tja, ich kann das ja nicht immer nur dir überlassen.“, lachte Stella, „aber, weißt du’s jetzt, oder nicht?“, fragte sie noch einmal. Ich dachte einen Moment darüber nach, aber eigentlich konnte ich nur raten. „Nicht so direkt“, antwortete ich deshalb ausweichend..
„Ha!“, rief Stella, „also ich wusste die Antworten auf deine Fragen ja immer.“ Ich nickte, denn da hatte sie wohl oder übel recht. Aber ich war ja auch noch nicht fertig. „Ich könnte mir allerdings denken“, fuhr ich also langsam fort, „dass es möglichst trockene und morsche sein sollten. Und vielleicht auch nicht so dünne Zweige, weil von denen hat man ja nicht viel. Aber von zu großen können wir nicht viele tragen, also…“
„…suchen wir jetzt nach etwas, das nicht zu klein, und nicht unbedingt zu groß ist. Genial, Jane.“, lachte Stella ironisch, nachdem sie meinen Satz vollendet hatte. Ich grinste und sah mich suchend um. Hier am Wegrand würden wir wohl nichts finden. Auch Stella schien zu diesem Schluss ge-kommen zu sein, denn sie verließ den schmalen, mit Mulch bestreuten Pfad und ging weiter ins Dickicht hinein. „Warte, Stella!“, rief ich ihr noch hinterher, doch dann folgte ich ihr. Nach und nach nahmen wir immer wieder einige Äste mit, während wir uns unseren Weg durch den immer dichter werdenden Wald bahnten.
„Pass doch mal auf!“, schrie ich erschrocken auf, als mich beinahe ein weiterer Tannenzweig getroffen hätte, den Stella achtlos hinter sich wegfetzen ließ. „Sorry.“, rief sie mir über die Schulter hinweg zu. Ich seufzte und bückte mich nach einem weiteren Ast. Gerade als ich mich wieder auf-richtete, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz an der rechten Wange und fand mich kurzerhand bäuchlings mit dem Kopf im dreckigen Waldboden liegend wieder. Kurz darauf erkann-te ich auch, was passiert sein musste: Stella hatte wieder mal keine Vorsicht walten und versehentlich den Ast nach hinten schleudern lassen. Der befand sich natürlich auf genau der Höhe, auf welcher er gerade gleich mit meinem Kopf war, und, wie hätte es also anders sein können, er hatte mich genau ins Gesicht getroffen, mich aus dem Gleichgewicht gebracht und zu Boden fallen lassen.
„Jane, alles klar bei dir? Ich dachte ich hätte was ge… hört.“, hörte ich Stellas Stimme gedämpft vor mir. Vermutlich hatte sie sich eben umgedreht und mich gesehen, weshalb sie die letzte Silbe, be-gleitet von einem erschrockenen Schrei, etwas dehnte. Mir viel auf einmal auf, dass ich den Kopf ja immer noch auf dem feuchten Erdboden liegen hatte. Und zwar mit der Nase voraus. Mühsam setz-te ich mich auf und spuckte erst einmal einige Brocken Erde aus. „Iih“, sagte Stella schockiert. Dann prustete sie los. Na fantastisch. Die hatte gut lachen, schließlich lag sie ja nicht im Dreck, sondern war nur daran schuld. „Gott, wie du aussiehst.“, kicherte sie. Ich starrte sie ausdruckslos an, während ich mir mit der Hand an die schmerzende Wange fasste. Nicht, dass mir sonst von dem Sturz nichts wehgetan hätte, doch dort, wo der Ast mich gestreift hatte, brannte es verdammt arg. Und irrte ich mich, oder waren meine Fingerspitzen, mit denen ich die Wange berührt hatte, leicht rot angefärbt? Scheiße, ich musste echt fürchterlich aussehen, aber genauso ging es mir ja auch. Und das alles nur, wegen einem kleinen Ast? Wie dämlich ist das denn?
Stella hatte mit einem Mal zu Lachen aufgehört. „Hey, Jane, ist alles in Ordnung?“, fragte sie etwas unsicher. Nein, ist es nicht! Aber trotzdem freute es mich, dass sie wohl anscheinend auch endlich verstanden hatte, dass das gar nicht so witzig war wie sie dachte. Stella kam langsam auf mich zu und kniete sich neben mir nieder. Sie legte ihre Äste beiseite und begutachtete meine Wange. „Oh je. Wir müssen das auswaschen. Gott, war ich das?“, fragte sie schockiert. Ach nein, wirklich? Wer sollte es denn bitteschön sonst gewesen sein? Ich nickte, ob als antwort auf ihre Frage, oder ihre Anweisung, die Wunde zu säubern, konnte sie sich selbst aussuchen. Stella half mir hoch und drückte mir ihre Äste und Stöcke unter den Arm. Meine, die überall um uns herum auf dem Boden verstreut lagen, suchte sie zusammen und nahm sie dann selbst.
Wenigstens war sonst nichts weiter passiert. Ich hätte mit dem Kopf statt im Boden auf einem Stein landen können, oder mir sonst was verstauchen können. Zwar tat mir mein Fuß etwas weh- ich musste ihn wohl leicht verdreht haben- aber das war nicht weiter schlimm, ich konnte trotzdem laufen. Nur die Striemen auf meinem Gesicht brannten.
Vielleicht, kam mir auf einmal, wäre es klüger gewesen, den Dreck gleich abzuklopfen und etwas aus dem Gesicht zu reiben. Mit dem Bündel Holz in der Hand konnte ich das nämlich nicht mehr.
Stella fand den Weg aus dem Wald hinaus sofort, ich brauchte ihr nur zu folgen. Als es wieder hel-ler und leider auch heißer wurde, nachdem wir draußen waren, hielt sie sofort auf den großen- oder auch weniger großen- Platz zu. Mia stand noch immer dort und unterhielt sich gerade mit einer vielleicht 25-jährigen Frau in weißen Shorts. Hätte sie nicht wenigstens allein sein können? Ich wollte mich schon wieder verdrücken und kehrt machen, da hatte Mia mich bereits entdeckt. Sie starrte mich im ersten Moment nur aus großen Augen an, dann kam sie auf uns zugelaufen. Auch die junge Frau sah mich etwas verwirrt an, blieb aber abseits stehen.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie und musterte mich von allen Seiten. „Nichts.“, antworte-te ich knapp. Mia zog die Brauen hoch, dann zeigte sie auf die Kratzer in meinem Gesicht. „Bist du von einem Bären angegriffen worden, oder was? Na ja, die Wunde müsst ihr auf jeden Fall auswa-schen. Ich gebe euch gleich Desinfektionsmittel.“, wiederholte sie, was auch Stella vorhin zu mir sagte. Wir nickten. „Und dann solltest du vielleicht am besten gleich duschen. Du siehst… etwas mitgenommen aus.“, wieder hatte sie dieses sanfte Lächeln aufgesetzt, mit dem sie so vernünftig aussah, und gleichzeitig als wollte sie jemanden beruhigen, und ihn dabei etwas ärgern. Ich seufzte.
„Könnten wir erst mal das Zeug loswerden?“, fragte ich, diesmal in wirklich etwas unfreundlichem Ton. Mia nickte und ich überreichte ihr Stellas gesammeltes Brennholz. Als auch die schließlich mit leeren Händen dastand, und daraufhin die kleine Flasche zum desinfizieren überreicht bekam, liefen wir auf das achteckige Gebäude in der Mitte des Lagers zu. Denn dort befanden sich die Sanitäran-lagen, und die könnten jetzt ja wohl recht sinnvoll sein.
10
„Au!“, schrie ich ein weiteres Mal auf. Hätte mich Stella das wenigstens selbst machen lassen, aber nein, sie musste ja darauf bestehen, die Wunde zu säubern.
„Es tut mir so leid, Jane.“, entschuldigte sie sich jetzt zum bestimmt hundertsten Mal bei mir, weil sie vorhin mit dem Zweig nicht aufgepasst hatte. „Das hilft mir jetzt auch nichts mehr.“, stellte ich grimmig fest.
„Ich weiß doch. Aber ich meine, was soll ich denn machen? Gott, und ich Idiot lach auch noch erstmal los, während du da liegst und Erde ausspuckst.“, erwiderte Stella mit schuldbewusster Mie-ne.
„Stimmt. Das war etwas…deprimierend.“
Stellas braune Augen glänzten mitleidig, bevor sie sie wieder auf die Kratzer richtete. Ich hatte mir das Gesicht gewaschen, doch meine Haare waren immer noch verfilzt und von Erde überseht. Außerdem machten auch die drei langen roten Striche, die sich über meine Wange zogen, nicht gerade den besten Eindruck. Sie waren nicht tief, zu bluten hatten sie bereits kurz nach dem Sturz aufgehört, doch sie brannten wie die Hölle.
„Keine Sorge, in ein paar Tagen kann man bestimmt nichts mehr davon sehen.“, versicherte mir Stella, die meinen Blick in den Spiegel bemerkt haben musste. Ich würde es überleben, so auszuse-hen, hätte ich nicht die Sorge, mich würde jeder fragen, wie das passiert sei. Denn eigentlich war ich nicht so scharf drauf, das preiszugeben. Es klang- und war- einfach zu lächerlich. Ich würde fürs Erste zum Gespött aller werden.
Ich seufzte und zuckte ein weiteres Mal zusammen, als Stella zu fest aufdrückte.
„Und, freust du dich schon, alle anderen zu sehn? Ich bin gespannt, wer mit uns in der Hütte wohnt.“, fragte Stella, allerdings vermutlich nur, um mich etwas abzulenken.
„Das einzige, worauf ich mich im Moment freue, Stella, ist, endlich unter die Dusche zu können und den ganzen Dreck abzuwaschen, nachdem du hier fertig bist.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Stellas Gesicht, dann nickte sie.
„Das würde ich mir in deiner Situation vermutlich auch wünschen.“ Wow, irgendwie überraschte es mich, dass sie das sagte. Aber gut, vielleicht stimmte das ja. „Ich glaube das reicht. Beim duschen spülst du ja auch noch etwas raus. Desinfizieren können wir das nachher.“, kamen endlich die lang ersehnten Worte aus Stellas Mund. Erleichtert atmete ich aus, stand auf, schnappte mir die frischen Klamotten von einem Stuhl in der Nähe, die ich zuvor aus der Hütte geholt hatte, samt dem Sham-poo und Duschgel, und huschte in eine der kleinen Kabinen, nachdem ich Stella noch einmal dan-kend angegrinst hatte. Und zwar dankend dafür, dass sie fertig war, versteht sich, auch wenn sie das vermutlich anders interpretierte, im Sinne von „Danke, dass du mir die Wunde ausgewaschen und mich damit vor Schmerzen fast umgebracht hast.“- auch wenn das vielleicht jetzt doch etwas über-trieben war. Ich lächelte bei dem Gedanken, dann drehte ich die Dusche auf und ließ das angeneh-me, lauwarme Wasser über mich laufen. Nach und nach fühlte ich mich lebendiger und- was noch viel schöner war- sauberer. Auch wenn das herab laufende Shampoo in die Wunde drang und diesmal wirklich extrem brannte, genoss ich die viertel Stunde unter dem fließenden Wasser, als hätte ich so etwas seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt.
Ich schlüpfte gerade in das dünne braune Top, als ich hörte wie die Tür zum Waschraum aufgeris-sen wurde.
„Der Bus ist da!“, rief Stella mir aufgeregt zu. „Komm, beeil dich, Jane.“ Ich antwortete ihr nicht, sondern packte bereits mein Zeug zusammen, da ich ohnehin fertig war. „Jane?“, fragte Stella, unsi-cher, ob ich überhaupt noch da war. „Ja, warte ich komm gleich.“, rief ich ihr zu. Dann öffnete ich die Kabinentür und trat nach draußen. „Hier.“ Verwirrt starrte ich auf die kleine Sprühflasche, die Stella mir eben in die Hand gedrückt hatte. „Ich dachte, ich nehme das gleich mit. Dann können wir’s Mia gleich zurückgeben.“ Noch immer verständnislos las ich schnell das kleine Etikett auf der Sprühflasche. Erst einmal fiel mir das in großen Buchstaben geschriebene Wort ‚Spray’ ins Auge. Ja, das sehe ich auch, seufzte ich. Aber eigentlich kam mir die Lösung noch bevor ich genauer hin-sah und das ‚zur Desinfektion von Schürf- und Schnittwunden’ las. Was sollte es auch sonst sein? „Ähm, und jetzt?“, fragte ich Stella unsicher. Das musste doch jetzt nicht sein, oder? Ich spürte es gerade gar nicht mehr. Stella riss mir die Flasche wieder aus der Hand, drehte meinen Kopf so, dass die Kratzer ihr zugewandt waren und setzte die Flasche, bereit zum Sprühen, an. „Augen zu!“, sagte sie noch, worauf ich ihr leider Folge leisten musste, wenn ich nicht wollte, dass ich auch noch er-blindete. Stella drückte den Sprühknauf durch, und ich spürte die Nässe an der Wange. Vor Schmerzen zuckte ich zurück. „Scheiße, Stella!“, schrie ich sie an. Sie konnte nichts dafür, aber ich hatte eben nicht damit gerechnet, dass es so arg wehtat. Ich schloss für einen Moment die Augen, um den Schmerz zu verdrängen. Als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, öffnete ich sie wieder und lächelte Stella mühsam an. „Dann gehen wir mal.“, presste ich hervor.
„Jetzt stell dich mal nicht so an. Das sind doch nur ein paar Kratzer.“ Stimmt, aber irgendwie waren es ein paar extrem schmerzhafte Kratzer.
Der Bus stand auf dem dafür vorgesehenen Platz auf der breiten Einfahrt. Noch immer strömten Kinder und Jugendliche daraus hervor. Nein, stellte ich betrübt fest, ich würde ganz sicher keine ruhigen Stunden mehr verbringen können. Jedenfalls nicht hier. Der Lärm schwoll an, überall rede-ten sie oder schrieen sich über einige Meter Entfernung irgendetwas zu.
Ich warf einen Blick zu Stella, die interessiert in die Menge sah. „Suchst du irgendwen?“, erkundig-te ich mich bei ihr neugierig. Stella schüttelte den Kopf. „Nö, aber man kann ja mal schauen, wer so alles hier ankommt, findest du nicht?“
„Doch, doch.“ Und damit wandten wir uns beide wieder dem Schauspiel vor unserer Nase zu. Ich starrte eigentlich mehr vor mich hin. Es interessierte mich nicht wirklich, wer hier alles ankam oder wie, das würde ich wohl noch alles früh genug erfahren. Trotzdem konnte ich nicht anders, als den einen oder anderen kurz zu mustern. Was sollte ich auch tun, wenn ich schon mit Stella hier stehen und warten musste?
Aber die meisten interessierten mich nicht wirklich, weil sie einfach nur normale Menschen waren, die nicht weiter auffielen, solange man sie nicht besser kannte. Alle, die ausstiegen, waren zwischen vielleicht zwölf und siebzehn. Zumindest wenn man der Broschüre des Camps glaubte, die Stella mir einmal vorgelegt hatte. Einige der Jugendlichen fielen mir jedoch schon auf. Da war zum Bei-spiel ein blondes Mädchen, deren grellroter Lippenstift einfach ins Auge fallen musste. Schon der Blick mit dem sie das Mädchen neben sich musterte, mit dem sie gerade redete, ließ eindeutig dar-auf schließen, dass das eine absolute Zicke war, die sich wohl für etwas Besseres hielt.
Dann waren da noch zwei schwarzhaarige Jungen, die zwar an zwei völlig verschiedenen Punkten standen, aber wohl eindeutig Brüder waren- genau genommen eineiige Zwillinge.
Weit hinten entdeckte ich ein jüngeres Mädchen, vielleicht höchstens dreizehn, aber eher noch das Jahr drunter, das einen Katzenkorb fest an sich gedrückt hielt. Was darin verborgen war, konnte ich nicht erkennen, da mir die Rückseite zugewandt war- aber vermutlich handelte es sich um eine… Katze?
Direkt vor uns stand eine kleine Gruppe von Jungen und Mädchen, deren Alter, soweit ich das ein-schätzen konnte, etwa von dreizehn bis vielleicht sechzehn Jahren reichte, die sich lachend über die bevorstehende Zeit hier unterhielten.
„Ich war schon öfters in so einem Camp, das ist jedes Mal total krass!“, sagte ein jüngerer dunkelhaariger Junge gerade begeistert.
„Ach ja?“, fragte das Mädchen, das neben ihm stand daraufhin, „sicher, dass das solche Camps wa-ren, und keine für Kleinkinder?“ Sie lachten wieder alle, außer dem Jungen, der zuvor gesprochen hatte.
„Ja, sicher!“, erwiderte er trotzig, was die anderen noch mehr zum prusten brachte.
„Aber hey, hoffentlich schmeckt das Essen hier.“, sagte ein anderes Mädchen, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.
„Stimmt. Ich war mal in so einem Ferienlager, da…“
„Hey, Jane, hast du den Typen eigentlich entdeckt?“, fragte Stella und unterbrach mich damit beim Lauschen.
„Wen meinst du?“, fragte ich irritiert. Stella kicherte und sah mich an, als wäre ich im Kopf nicht ganz richtig, um es nett auszudrücken. „Komm, du weißt schon. Den vom Flughafen und im Flugzeug.“, fügte sie hinzu, als ich sie immer noch verständnislos ansah. Ach, den meinte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, wieso sollte ich auch nach ihm suchen?“, fragte ich, obwohl ich tatsächlich kurz einen prüfenden Blick in die Menge geworfen hatte. Aber als ich ihn nicht erblickt hatte, hatte ich nur kurz aufgeatmet und die anderen gemustert.
„Na, weil du ihn jetzt vielleicht nie wieder sehen wirst.“, sagte Stella erschrocken.
„Scheiße, stimmt.“, ich nickte und Stella sah mich triumphierend an. „Siehst du, es macht dir doch etwas, dass du dein Happy End jetzt nicht bekommst.“
Ich lachte. „Nein, eigentlich wollte ich sagen, dass ich jetzt niemanden mehr hab, an dem ich meine Aggressionen auslassen kann. Aber du tust’s ja auch, von daher.“, sagte ich grinsend, worauf Stella mir einen kurzen, wenig begeisterten Blick zuwarf.
„Komm, wir sollten doch noch mal zu Mia gehen.“, lenkte ich ab und schleifte sie mit mir zurück zum großen Platz.
11
Noch bevor wir die Feuerstelle erreicht hatten, kam uns Mia entgegen. „Ah, da seid ihr.“, rief sie uns bereits von weitem zu. Sie hatte uns also gesucht. „Wo können wir helfen?“, fragte Stella wie-der mal sofort. „Wie ich vorhin schon gesagt habe: Der Speisesaal muss gedeckt werden. Silly ist schon dort, sie kann euch alles erklären. Ich muss schnell vor und die andern schon mal kurz begrü-ßen, bis dann.“ Sie wollte schon davonhuschen, als mir doch noch ein kurzes „Und wo…“ raus-rutschte, dass ich jedoch sofort abbrach. Ich würde nicht schon wieder die dumme Frage stellen, das hatte ich mir geschworen. Stella prustete mal wieder los und Mia lächelte zwar, deutete jedoch auch auf das längliche, ebenfalls aus Holz bestehende Gebäude, dass auf der Seite des Platzes, gegenüber von ihrem Wohnhaus, stand, und dass ich vom Fenster unserer Hütte aus ebenfalls gesehen hatte. „Ah.“, sagte ich grinsend, doch Mia war schon längst verschwunden.
„Oh Mann, du stellst echt immer diese Fragen, oder?“, lachte Stella, während wir auf das Haus zuliefen. Ich warf ihr nur einen ärgerlichen Blick zu, bevor ich die Tür öffnete und eintrat. Ganz klar, was vor uns lag, war eindeutig ein Speisesaal: Aneinandergereihte Tische und Stühle- und davon Unmengen-, eine große Theke, dahinter ein ebenso großer Schrank mit allerlei Geschirr und Besteck, und wiederum hinter der Wand dahinter, soweit ich das durch das kleine Fenster in der Tür erkennen und mir ohnehin denken konnte, eine Küche.
„Hallo?“, rief Stella, was in mir die Erinnerung an ihren Auftritt in der Rezeption wachrief, und mich warnte, ihr bloß schnell den Mund zuzuhalten. „Oh, bitte nicht noch einmal, Stella!“, bat ich sie inständig. Meine Freundin warf mir einen verwirrten Blick zu, dann grinste sie und ging auf die Küchentür zu. Und, faszinierend irgendwie, die sonst so stürmische und tatkräftige Stella, streckte ihre Hand aus und… klopfte. Erst dann riss sie die Tür auf und lugte in den gefliesten Raum.
„Kann ich dir helfen?“, hörte ich eine helle Stimme. Ich konnte niemanden erkennen, dafür stand mir Stella zu sehr im Weg. Erst als sie antwortete, trat sie einen Schritt beiseite und deutete auf mich. „Nein, eigentlich hat Mia uns aufgefordert, dass wir hier noch etwas helfen sollen. Tische decken, glaub ich.“
Die Frau, die wie ich bemerkt hatte, diejenige war, die zuvor mit Mia gesprochen hatte, als ich über und über mit Dreck bedeckt bei ihr angekommen war, nickte.
„Ja, richtig. Ihr habt doch vorhin das Holz gebracht.“, sagte sie und warf mir einen kurzen, prüfen-den Blick zu. „Ist wieder alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich freundlich. Also konnte auch sie sich noch ziemlich genau an mich erinnern, und an meinen Auftritt vorhin. „Ging mir nie besser.“, sagte ich abweisend.
Wieder nickte sie nur. „Ich bin jedenfalls Silly.“, fuhr sie dann fort.
„Stella. Und das ist…“
„Jane.“, vollendete ich Stellas Satz.
„Ich weiß, Mia hat mir gesagt, dass ihr kommt.“ Was sollte dann dieses ganze Spielchen mit dem Rumgequatsche? Nur um mich fertig zu machen und auf die Kratzer anzusprechen?
„Also“, begann Silly- was für ein lächerlicher Name, selbst für eine Abkürzung- uns endlich unsere Aufgabe zu erklären, „stellt einfach vor jeden Stuhl einen großen Teller, darauf einen Suppenteller, und daneben dann das Besteck, und zwar so, dass rechts vom Teller Messer und Löffel sind und links die Gabel. Dann hinten über dem Messer das Glas und auf die andere Seite eine Dessertschüssel. Verstanden?“, fragte sie lächelnd. Ich riss die Augen auf, hatte mich aber recht schnell wieder gefasst. Klang doch ganz einfach…oder nicht? Stella und ich wollten uns gerade jeweils einen Stapel Teller nehmen, als Silly es sich doch anders zu überlegen schien und uns noch einmal zurückhielt.
„Ach, Stella, könntest du mir in der Küche noch helfen? Die andern kommen auch gleich, aber fürs Erste?“ Stella nickte und warf mir einen kurzen, Glück wünschenden Blick zu.
Ich nahm meine vielleicht zehn Teller wieder auf und ging zu einem der hinteren Tische. Dann ver-teilte sie auf den Plätzen. Vielleicht war es am Besten, erst einmal einen ganz zu decken, solange ich die Anweisungen noch einigermaßen im Kopf hatte. Das hoffte ich jedenfalls, während ich mir Teller, Glas und Besteck schnappte. Also… wie war das jetzt? Der Suppenteller kommt auf den andern. Soviel war ja schon mal logisch. Und dann? Also Messer rechts, Gabel und Löffel links? Oder die Gabel zum Messer nach rechts? Oder Messer und Löffel links? Ich entschied mich schließlich für die Kombination Messer und Gabel links, Löffel rechts. Dann sollte das Glas…über die Gabel? Warum nicht? Und die kleine Schüssel da kommt dann auf die andere Seite. Zufrieden mit meinem Werk, nickte ich, und lief zurück hinter die Theke, um den nächsten Stapel Teller zu holen. Vielleicht sollte ich gleich ein paar mehr nehmen, überlegte ich nachdenklich. Immer nur zehn Teller und dann auch noch später Gläser und das Zeug, damit wäre ich ja noch Stunden beschäftigt. Wieso ließ man mich das überhaupt allein machen? Ich seufzte und nahm diesmal etwa die doppelte Anzahl, oder vielleicht auch etwas mehr. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass die so schwer waren. Bis zum Tisch ist es ja nicht weit, versuchte ich mich anzuspornen. „Du schaffst das, Jane.“, feuerte ich mich angespannt murmelnd an. Langsam taumelte ich auf den Tisch zu. Er kam immer näher, immer näher…
„Brauchst du vielleicht Hilfe?“ Ich fuhr erschrocken zusammen, machte einen Schritt nach hinten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Tellerturm, den ich fest umklammert auf den Armen trug, wankte dabei erbärmlich und ich versuchte ihn mit weiteren Schritten wieder ruhig zu stellen. Plötzlich sah ich, wie zwei geschickte Hände auf mich zugerauscht kamen und mir, während ich noch immer hin und her taumelte, erst einmal die Hälfte der Teller abnahmen. Erleichtert hastete ich zu dem nächstgelegenen Tisch und stellte den übrig gebliebenen Stapel schnell dort ab. Dann wandte ich mich um. „Hast du nicht gesehen, dass ich…“ Ich brach ab, als ich sah, wer mich gerade so erschrocken hatte. Einen Moment konnte ich einfach nicht anders und blickte zur Seite, um mich wieder einigermaßen zu fassen. „So sieht man sich wieder.“, stellte mein Gegenüber lachend fest.
„Und ich dachte schon, ich wäre dich endlich losgeworden.“, seufzte ich, noch immer schockiert, aber vor allem verwirrt.
„Bevor du mich überhaupt kennen gelernt hast? Ach komm, das hast du nicht wirklich gedacht, oder?“, fragte der braunhaarige Junge grinsend. Flughafen, Flugzeug, und jetzt hier, am Ziel der Reise. Er war nicht im Bus gewesen. Er konnte überhaupt nicht hier sein. Das war doch verrückt! Oh mein Gott, vielleicht bin ich mit den Tellern gestolpert, hingefallen und bewusstlos geworden. Und jetzt träumte ich. Oder vielleicht hatte ich irgendetwas Falsches gegessen, oder war noch von meinem vorigen Unfall im Wald so mitgenommen, dass ich jetzt halluzinierte.
„Äh, hallo?“, fragte er und blickte mich besorgt an. „Alles in Ordnung?“
„Seh’ ich so aus?“, fragte ich ihn wütend, nachdem er mich aus meinen Gedanken gerissen und mir somit klar gemacht hatte, dass er wohl doch echt war. So ein Mist…
„Nein.“, er kam um mich herumgelaufen, „du hast da irgendwie ne ziemlich üble Schramme im Gesicht“ Er streckte die Hand nach meiner Wange aus und ich wich schnell einen Schritt zurück, damit er sie, und vor allem die Kratzer, nicht berühren konnte. Zu unser beider Besten: Er wollte ja wohl nicht, dass ich plötzlich vor Schmerz nach hinten taumelte und die Teller wieder vom Tisch stieß, oder? Ich drehte den Kopf zur Seite, sodass er meine rechte Seite nicht mehr sehen konnte.
„Was machst du hier?“, fuhr ich ihn wütend an. Er kratzte sich grinsend am Kopf.
„Was ich hier mache?“, wiederholte er meine Frage, „na ja, vermutlich das Gleiche wie du. Ich will hier meine Ferien verbringen.“ Das hieß dann wohl, ich hatte ihn tatsächlich die nächsten zwei Wo-chen am Hals. Vermutlich sollte ich mich freuen, ich wollte doch jemanden, auf dem ich meinen Ärger auslassen konnte, um Stella mal eine Pause zu gönnen. Tja, ich fing ja auch schon gut damit an.
„Ich will hier nicht meine Ferien verbringen.“, sagte ich schließlich mit einer deutlichen Betonung auf dem ‚will’.
„Wieso bist du dann hier?“, erkundigte er sich, wobei sein Interesse sogar ehrlich gemeint schien.
„Meine Freundin hat mich mitgeschleppt.“, antwortete ich mürrisch. „Warum warst du nicht im Bus?“, fragte ich, doch ich bereute es schon, noch bevor ich es ganz ausgesprochen hatte.
„Hast du mich etwa gesucht, als du die anderen beim Aussteigen beobachtet hast?“ Er lachte und sah mich erstaunt an.
„Nein!“, sagte ich schnell.
„Nein?“, wiederholte er zu einer Frage geformt.
„Nein. Ich hab mich nur kurz gefragt, ob ich dich vielleicht endlich los bin, und dachte schon meine Hoffnungen wären…“, ich brach abrupt ab, als mir etwas auffiel. „Woher weißt du überhaupt, dass ich den anderen zugesehen habe. Du warst nicht im Bus, aber ich habe nie gesagt, dass ich das auch nicht war.“, sagte ich misstrauisch. Der Junge lachte.
„Stimmt. Tja, ich würde sagen, ich besitze einfach einen sechsten Sinn.“, scherzte er. Ein mieser Witz. Das hätte ich ihm auch nur zu gern ins Gesicht gesagt, doch mir fehlte nach dem heutigen Tag einfach die Kraft, für so eine Unterhaltung.
„Schon gut. Ich helfe dir, die ganzen Tische hier zu decken.“, sagte er schließlich, nachdem wir beide einige Sekunden geschwiegen hatten. Ich sah ihn schockiert an. Hatte er gerade… Ich hatte doch eben noch gedacht… Verdammt, drehte ich jetzt völlig durch? Ich hatte mich gerade doch tatsächlich gefragt, ob dieser Kerl da vor mir meine Gedanken gelesen hatte, nur weil er schlagartig eingelenkt hatte und mir seine Hilfe anbot.
„Danke.“, sagte ich, noch immer etwas durcheinander. Er musterte mich wieder mit diesem halb besorgten, halb amüsierten Blick, dann nahm er die Teller, die er mir zuvor abgenommen und ebenfalls abgestellt hatte, wieder auf und ging zu den hinteren Tischen. Ich folgte ihm, ging jedoch zu einem anderen Tisch. Plötzlich hörte ich, wie er anfing zu lachen und hob fragend den Kopf. Er stand vor meinem ‚Muster-Gedeck’. Ich seufzte.
„Sag mal, hattest du irgendeinen Grund, das so zu decken, oder war das reines Bauchgefühl?“, frag-te er grinsend. Ich kam ärgerlich auf ihn zu. „Glaubst du, es interessiert hier irgendjemanden, ob das Messer links oder rechts von diesem verdammten Teller liegt?“, fragte ich ihn wütend. „Oder, viel-leicht sollten wir es dir lieber zwischen die Rippen stechen.“, fügte ich mit einem zuckersüßen Lä-cheln hinzu. Er starrte mich einen Moment erstaunt an, dann erwiderte er ruhig: „Meine Mutter interessiert das, soweit ich weiß.“
„Aber deine Mutter ist nicht hier, oder?“, fragte ich immer noch ärgerlich.
„Oh, nein, stimmt. Das hatte ich vergessen.“
Er nickte, dann wandte er sich dem Teller und seinen lieben Freunden zu und legte so gut wie alles, abgesehen von den Tellern, um. „Gabel links, Messer rechts. Klingt doch logisch, oder? So isst man ja schließlich auch.“, erklärte er dabei. Ich blinzelte kurz. Vielleicht hatte er da tatsächlich recht, es klang logisch. „Der Löffel kommt neben das Messer, schließlich hat man den Löffel auch in der rechten Hand. Trinken tust du auch so, also darüber das Glas. Auf die andere Seite dann die Des-sertschüssel. Verstanden?“ Ja, seltsamerweise hatte ich tatsächlich das Gefühl, es einigermaßen geblickt zu haben. Trotzdem, woher wusste der so was?
„Klugscheißer.“, murmelte ich ärgerlich.
12
Zu zweit waren wir mit allen Tischen in vielleicht kaum zwanzig Minuten fertig. Und sie waren sogar alle, das hoffte ich zumindest, richtig gedeckt. Zwischendurch hatte ich immer wieder einen Blick in Richtung Küche geworfen, doch Stella hatte ich nicht zu Gesicht bekommen. Die Tür wur-de in der ganzen Zeit nur genau zwei Mal geöffnet- und das waren nur die von Silly zuvor ange-kündigten Hilfen, die noch kommen würden und eingetreten waren.
Nachdem ich das letzte Glas an seinen Platz gestellt hatte, stand ich einen Moment nur fragend da.
„Siehst du, ist doch gar nicht so schwer.“, lobte der Junge, nachdem er neben mich getreten war und seinen Blick kurz kontrollierend über alle Tische hatte schweifen lassen.
„Und was nun?“, fragte ich ihn schließlich. Erst jetzt viel mir auf, dass wir in der letzten viertel Stunde kein Wort miteinander gewechselt hatten. „Keine Ahnung, geh einfach mal in die Küche.“, schlug er vor.
„Und was machst du?“, fragte ich verwundert.
„Ich geh zurück.“, antwortete er lachend. Ja, drück dich vor der Arbeit, Junge, echt nett.
„Aha.“, erwiderte ich knapp. Er nickte und ging bereits auf den Ausgang zu. Als er schon die Hand auf der Klinke hatte, drehte er sich doch noch einmal zu mir um.
„Ich hab ja noch gar nicht gefragt, mit wem ich eigentlich die Ehre habe.“, meinte er belustigt und sah mich fragend an.
„Jane.“, antwortete ich ihm.
„Ben.“, stellte auch er sich, wenn auch ungefragt vor, und hielt mir seine Hand hin. Ich zögerte ei-nen kleinen Augenblick, doch schließlich ergriff ich sie. Dann nickte er mir noch einmal zu, und verschwand endgültig durch die Tür.
Ich wandte mich ab und beschloss, seinen Ratschlag zu befolgen und erst einmal in der Küche vor-beizuschauen. Ich klopfte, dann öffnete ich die Tür unaufgefordert. Obwohl sich nur vier Personen in dem Raum aufhielten, herrschte eine rege Hektik, wegen der ich tatsächlich einige Sekunden brauchte, bis ich Stella entdeckte. Sie stand mit dem Rücken zu mir und schien gerade irgendetwas zu schneiden. Was, konnte ich von hier aus nicht erkennen, aber das war mich eigentlich auch rela-tiv egal. Ich wunderte mich, dass sich niemand für mich zu interessieren schien, falls sie mich über-haupt bemerkten. Selbst als ich mich kurz räusperte hob niemand den Kopf. Ich klopfte gegen den Türrahmen, doch noch immer keine Reaktion. Vielleicht war ich zu leise? Ich schlug mit der Faust ein weiteres Mal, diesmal jedoch heftiger, dagegen, doch das einzige was ich damit erreichte, war, dass mir jetzt die Knöchel wehtaten. Ich rieb mir die schmerzende Hand, dann trat ich in die Küche und ging auf Stella zu. Ich musste dafür einmal quer durch den ganzen Raum laufen, doch trotzdem ignorierten mich alle, obwohl sie mich inzwischen mit Sicherheit bemerkt hatten, da ich beinahe mit einer der Frauen zusammengestoßen wäre. „Stella?“, fragte ich, während ich ihr über die Schulter lugte. Auf einem Holzschneidebrett vor ihr befanden sich geschnittene Tomaten, Karotten und Pap-rika.
Im ersten Moment dachte ich, sie würde nicht reagieren, denn sie rührte sich absolut nicht. Doch dann antwortete sie mir doch, kaum hörbar, mit einem gemurmelten „Hm?“.
„Kannst du mal jemanden fragen, ob ich noch was tun soll? Mich scheint hier nämlich niemand zu bemerken.“, erklärte ich ihr, doch wieder reagierte sie nicht, sondern schnitt einfach weiter ihr Ge-müse. Ich seufzte und wandte mich wieder ab. Ich würde nicht so schreien wie Stella, als sie sich bemerkbar machen wollte, soviel stand für mich schon mal fest. Die Köchinnen huschten hin und her, rührten hier in einem Topf, und schmissen dort in einen anderen irgendetwas hinein. Es kochte und brodelte, der Dampf stieg nach oben und wurde von den dröhnenden Abzugshauben aufgefan-gen und verschluckt. Niemand sprach ein Wort, trotzdem war es laut. Und außerdem warm. Wenn sie meine Hilfe nicht wollten, dann eben nicht, dachte ich mir schließlich und verzog mich wieder in die Speisehalle. Und jetzt? Einen Moment erwog ich es, Mia zu suchen, doch dann verwarf ich den Gedanken wieder. Ich hatte meine Aufgabe, nämlich hier alles zu decken, anständig erledigt, also war ich wohl fertig.
Schlendernd und reinen Gewissens machte ich mich daher auf den Weg zurück zu unserer Hütte. Um mich herum herrschte tatsächlich wieder Stille, vermutlich waren alle gerade in ihrem neuen Zweiwochenheim und packten ihre Sachen aus. Ehrlich gesagt, war auch ich ein wenig neugierig darauf, wer denn nun zu uns kommen würde und wen ich die nächsten zwei Wochen jede Nacht am Hals haben würde.
Ich öffnete die Tür, die zum Glück auch wirklich aufgeschlossen war, denn unseren Schlüssel hatte noch immer Stella. Vorsichtig lugte ich schon mal durch die Tür, doch erkennen konnte ich nichts, da sie sich nach links öffnete und ich somit durch den kleinen Spalt nur einen Blick auf unsere Bet-ten rechts des Raumes hatte. Nur die Stimmen zweier Mädchen konnte ich bereits hören.
Ich kam schließlich ganz in den Raum und warf einen Blick auf die andere Seite. Als ich die beiden Mädchen sah, atmete ich ärgerlich aus. Als erstes fiel mir der pinke Koffer auf dem vorderen Bett ins Auge. Dann dessen Besitzerin, die sich zu mir umgedreht hatte und ihren Blick an mir hinab-gleiten ließ. Es war das blonde Mädchen, das ich bereits gesehen hatte, als sie ausgestiegen war. Tatsächlich, sie war genauso eingebildet, wie ich es mir gedacht hatte. „Bist du fertig damit, mich anzustarren?“, fragte ich sie unbeeindruckt. Sie hob überrascht den Kopf und sah mir einen Moment in die Augen. „Ja, bin ich.“, antwortete sie mir mit ihrer, irgendwie seltsamen Stimme. Nicht schrill, aber seltsam…hell. Ihre Stimme hatte einen seltsam freundlichen Unterton, der überhaupt nicht zu ihren Worten passte, und vermutlich auch nicht beabsichtigt war.
Ich ließ meinen Blick, weg von ihr, zu dem auf dem Bett sitzenden Mädchen wandern. Mit ihr hatte die Blondine zuvor geredet- und mich dadurch auf ihre Überheblichkeit aufmerksam gemacht. „Hey.“, sagte ich möglichst nett, um der anderen mit ihrem pinken Koffer deutlich meine Abnei-gung zu zeigen.
„Hallo.“, erwiderte sie lächelnd. Ich legte den Kopf schräg und musterte sie, allerdings weniger auffallend, wie die andere es zuvor bei mir tat. Irgendwie sah sie etwas unsicher aus. Wurde sie von dieser aufgeblasenen Ziege neben sich etwa derart eingeschüchtert?
„Ich bin Jane.“, sagte ich schließlich, obwohl es eigentlich nicht meine Art war, mich einfach vor-zustellen. Allerdings sahen beide nicht so aus, als würden sie mir einfach ihren Namen sagen, sei es aus Trotz und Überheblichkeit, oder aus Schüchternheit. Und es war auch keine Stella da, die danach gefragt hätte.
„Violetta. Aber du kannst ruhig Vivi zu mir sagen.“, bot die Blondine mir an. Wäre es mir nicht zu dumm gewesen, die ganze Zeit ihren langen Namen auszusprechen, hätte ich das vermutlich abgeschlagen, vor allem wenn man ihren spitzen Ton bedachte.
Ich wandte mich dem braunhaarigen Mädchen zu.
„Romina“, antwortete sie leise. Ich nickte. Vielleicht wäre es den beiden ja am liebsten gewesen, hätte ich sie wieder allein gelassen. Allerdings hatte ich keine Lust, mich von ihnen verscheuchen zu lassen. Diese Genugtuung wollte ich dieser Vivi nicht schenken. Andererseits wusste ich aber auch überhaupt nicht, was ich jetzt tun sollte. Stella, der sicher etwas eingefallen wäre, schien noch immer in der Küche beschäftigt.
„Was hast du da gemacht?“, fragte Vivi und deutete auf ihre Wange, um mir klar zu machen, was sie meinte. Bildete ich mir das nur ein, oder klang ihre Stimme tatsächlich irgendwie angeekelt? Verdutzt fuhr ich mit den Fingern selbst über meine Schrammen, bereute es jedoch sofort wieder, als es zu brennen begann. Ich ließ mir die Schmerzen nicht anmerken, und dachte einen Moment darüber nach, was ich Vivi zur Antwort geben sollte. Mit der Wahrheit wollte ich, vor allem ihr gegenüber, nämlich noch immer nicht rausrücken. Aber war ich ihr überhaupt eine Antwort schul-dig? Wobei, wenn ich abwinkte, würde sie wissen, dass ich etwas zu verbergen hatte. Ach, verdammt. „Hast du mich nicht gehört?“, fragte sie ungeduldig, „ich habe gefragt, was du da im Gesicht hast.“
„Doch, ich habe dich schon verstanden. Das sind Kratzer, siehst du doch.“, versuchte ich meine Antwort noch ein wenig hinauszuzögern.
„Das sehe ich auch.“, erwiderte die Blondine. Als ich weiterhin schwieg, begann sie plötzlich hä-misch zu grinsen. „Hast du vielleicht etwas zu verheimlichen?“, fragte sie und schürzte die Lippen.
„Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf, „tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen muss. Genau genommen war das eine Katze. Sie… Ich hab sie hochgenommen, und da hat sie mich plötzlich gekratzt.“, antwortete ich ihr schließlich in der Hoffnung, dass das halbwegs realistisch klag. „Aha.“, Vivi nickte und machte ein verständnisvolles Gesicht. „Weißt du, das ist dann wohl ein Beweis da-für, dass auch Katzen Geschmack haben.“ Sie lächelte mich gespielt unschuldig an, was mich beinahe verrückt machte. Ab liebsten hätte ich ihr den Hals umgedreht. Vielleicht hätte ich das sogar versucht, wäre in diesem Moment nicht hinter mir die Tür geöffnet worden, sodass ich einen Schritt beiseite treten musste. Es war Stella. Wenn mir vor ein paar Minuten noch jemand gesagt hätte, dass ich gleich erleichtert sein würde, sie zu sehen, überlegte ich kurz, ich hätte ihn glatt ausgelacht.
Als meine Freundin mich entdeckte, lächelte sie. „Ah, hier bist du, Jane.“
Vivi warf mir einen überraschten Blick zu. Vermutlich hatte sie nicht erwartet, dass es Menschen gab, die nach mir suchten und scheinbar mit mir befreundet waren. Tja, ansonsten wäre ich ja ei-gentlich nicht einmal hier, oder dachte sie, das wäre mein freier Wille gewesen? Ich grinste sie tri-umphierend an.
„Hi, ich bin Stella.“, stellte Stella sich vor und nickte sowohl Vivi, als auch Romina heiter zu. Die beiden anderen Mädchen taten es ihr gleich, wobei Vivi sie betont freundlich anlächelte.
Ich wandte mich von ihr ab und blickte Stella fragend an. „Sag mal, hast du mich vorhin eigentlich nicht bemerkt?“
„Wann? In der Küche?“, fragte sie verwirrt. Ich nickte heftig. Dann hatte sie mich also tatsächlich absichtlich ignoriert?
„Aber ich hab doch was zu dir gesagt.“, meinte sie bestimmt. Ja, sie hatte ein kurzes „Hm“, gemur-melt und dann schien ihr Geist schon wieder in irgendwelchen fernen Welten herumzuirren. Trotz-dem beschloss ich, einfach nicht weiter darauf einzugehen. Jeder Streit, den ich mit Stella führte, oder schon jede kleine Diskussion, würde für Vivi nur ein Grund zur Freude sein. Und ihr die zu bereiten, darauf konnte ich wirklich verzichten. Ich hob kurz die Schultern, senkte sie wieder und schüttelte den Kopf. „Schon okay. War wohl mein Fehler.“, winkte ich ab. Stella riss die Augen auf und starrte mich völlig perplex an. „Hast du gerade…“, sie brach abrupt ab, sah mich noch einen Moment erstaunt an, dann lächelte sie. „Wow.“ Ich verdrehte die Augen. Mal im Ernst, war es denn so überraschend, wenn ich mir mal einen Fehler eingestand?
Romina, die die ganze Zeit über nur geschwiegen hatte, erhob sich plötzlich von ihrem Bett, und sagte zum ersten Mal, seit ich sie in dieser Hütte angetroffen hatte, ohne Aufforderung etwas. Im Gegenteil: sie forderte uns sogar zu etwas auf.
„Wir sollten jetzt vielleicht mal nach hinten gehen. Um achtzehn Uhr ist Abendessen, also gleich.“
Sie hatte Recht, stellte ich mit einem Blick auf mein Handy fest.
„Tja, dann los.“, rief Stella, mal wieder viel zu begeistert, wenn man bedachte, dass wir jetzt nur zum Abendessen gehen würden. Stella hätte das natürlich so begründet, dass es unser Erstes war, das wir hier verbrachten. Aber letztendlich war Essen ja wohl Essen, wo war da doch eigentlich relativ egal.
13
„Hab ich schon erwähnt, dass ich Lagerfeuer einfach liebe?“, fragte Stella mich, während sie verträumt in die Flammen starrte. Ich nickte. „Ja, ungefähr fünf mal, seit wir hier sitzen und dann noch als wir im Wald waren und zu Hause auch schon einige Male, als du gesagt hast, dass du hoffst, dass wir so was hier haben.“, klärte ich sie auf. Übrigens war das demnach fünfmal innerhalb von vielleicht ebenso vielen Minuten. So lange saßen wir nämlich nun hier, gemeinsam mit allen anderen aus dem Camp, auf den Bänken um das Feuer herum. Ich begann mich allmählich sogar zu fragen, ob wir nur hier zusammengerufen worden sind, um einfach mal die Atmosphäre zu genießen. Doch diese Theorie gab ich auf, als ich bemerkte, wie es um mich herum allmählich ruhiger zu werden schien. Ich hob den Kopf und erkannte, dass Mia aufgestanden war und allen mit einer Armbewegung bedeutete, still zu sein. Dann begann sie mit dem, was wohl die eigentliche Begrü-ßung für uns alle war:
„Ich möchte euch alle herzlich willkommen heißen.“, sagte sie mit erhobener Stimme, um die teil-weiße noch immer redenden Jugendlichen zu übertönen. „Meinen Namen, Mia, kennt ihr ja bereits. Aber ich denke, es wird Zeit, euch noch einige andere Menschen vorzustellen.“ Neben ihr erhob sich ein großer, schlanker Mann, vielleicht um die dreißig. Er hatte etwas längeres, dunkles Haar und war eindeutig Italiener.
Noch einmal erklang Mias Stimme, wenn auch nur für einen letzten kurzen Satz: „Ich denke, dass sollten sie alle selbst tun.“
„Ich bin Mirko, der stellvertretende Leiter hier im Camp. Ich werde hier ebenfalls ein Auge auf euch alle haben, es wäre mir also recht, wenn ihr doch ein wenig auf mich hören würdet.“ Er lächel-te, doch trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er manchmal absolut keinen Spaß verstand. Mirko nahm Platz, und Vera erhob sich neben ihm. Sie war die Helferin am Rande, erledigte einen Teil der Büroarbeit und stand nun mal mit dem Rest der Welt in Verbindung. Silly war hauptsächlich für die Küche zuständig, außerdem die beiden anderen Köchinnen, Ella und Lea.
Dann erfuhren wir noch von drei weiteren Betreuern, die ich hier zum ersten Mal sah. Sie alle schienen zwischen fünfundzwanzig und dreißig zu sein. Zwei Männer, Jens und Boris, eine Frau, Amelia. Nachdem auch sie sich wieder gesetzt hatten, wandte sich wieder Mia an uns. „Und, bevor ihr wieder in eure Gespräche versinkt, möchte ich noch zwei Dinge sagen. Zum einen, dass ihr jedem, den ihr eben vorgestellt bekommen habt, gehorcht und ihm Respekt entgegenbringt, zum anderen möchte ich euch noch jemanden vorstellen, für den das in den wenigsten Fällen gelten wird.“ Wir alle warteten einige Sekunden gespannt, na ja, oder auch nicht so gespannt, doch nichts geschah. Mia seufzte. „Nämlich meinen Sohn.“, fügte sie mehr als Aufforderung, denn als an uns gerichtete Erklärung hinzu. Etwas von ihr entfernt erhob sich schließlich eine Gestalt und kam um die Bänke herum ins Licht der Flammen gelaufen. Das war also der Junge, der bei ihr im Haus so laut Musik gehört hatte, überlegte ich noch kurz, dann blinzelte ich. Durch das Licht der Flammen konnte ich ihn nicht so genau erkennen, doch nachdem ich mich mehrmals vergewissert hatte, sog ich scharf die Luft ein. „Was ist?“, fragte Stella ahnungslos. Sie hatte Ben ja auch kein einziges Mal zuvor zu Gesicht bekommen. Im Flugzeug hatte sie ja nur den Blick auf mich, im Gang liegend, gehabt und im Speisesaal war sie in der Küche verschwunden. „Nichts“, krächzte ich leise und schüttelte benommen den Kopf. Das hatte er also gemeint, als er mir, auf die Frage, wen die Art und Weise, wie der Tisch gedeckt wurde, interessierte, mit seiner Mutter geantwortet hatte, schoss es mir plötzlich durch den Kopf.
Ben stand vorne und ließ seinen Blick über die Menge gleiten, die ihn beobachtete. Und dessen war er sich mit Sicherheit bewusst. Ich hatte das Gefühl, er blieb einen Moment länger an dem einen oder anderen Gesicht hängen, und auch mir sah er direkt in die Augen. Bildete ich mir das nur ein, oder verzog sich sein Mund einen Moment zu einem zufriedenen Grinsen.
„Benjamin, wärst du so nett, und stellst dich vielleicht auch noch kurz vor?“, erkundigte sich seine Mutter genervt.
„Benjamin?“, fragte Stella und kicherte. „Mit dem Namen muss er ja echt gestraft sein.“ Stimmt, endlich hatte ich etwas gegen ihn in der Hand. Vielleicht konnte auch ich endlich mal mit etwas triumphieren. Interessiert blickte ich nach vorn. Ben öffnete den Mund und grinste uns erst einmal alle an.
„Tja, was soll ich sagen? Ich bin Ben. Und falls es jemanden interessiert“, fügte er hinzu und lachte, „ich habe immer Recht. Und ihr dürft gerne tun was ich euch sage.“ Die meisten lachten bei seinen Worten auf.
„Oh, und was ich noch vergessen hatte“, sagte er, diesmal jedoch freundlich lächelnd, „ich wünsche euch allen eine schöne Zeit hier.“ Er warf seiner Mutter einen kurzen Blick zu- vermutlich hatte sie ihm befohlen diesen Satz zu sagen-, dann verschwand er aus dem Feuerschein und verschwand in Richtung Wohnhaus.
„Angeber.“, lachte Stella, „doch irgendwie ist er ganz nett, findest du nicht?“ Ich sah sie mit hoch-gezogenen Brauen an.
„Der? Oh nein, ganz sicher nicht.“ Stella warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich stand auf, noch bevor sie etwas sagen konnte. Irgendwie hielt ich es hier nicht mehr aus: das Feuer war sau heiß, mit Stella zu quatschen hatte ich sowieso keine Lust, und die Ruhe, bevor sie alle zurück kommen würden, sollte ich vielleicht noch nutzen. Ich war die einzige, die sich erhob und einige sahen mir auch fragend nach, doch ich versuchte ihre Blicke zu ignorieren. Ich hasste es, in der Aufmerksamkeit zu stehen, doch da sitzen zu bleiben, hätte mich noch mehr verrückt gemacht.
Einen Moment zögerte ich noch, ob ich nicht noch wenigstens warten sollte, bis das Programm für Morgen aufgelistet wurde, aber Stella würde schon für mich zuhören.
Daher lief ich schnellen Schrittes zu unserer Hütte zurück. Den Schlüssel, der für mich und Stella bestimmt war, hatte ich zum Glück an mich genommen, als wir sie zum Essen verlassen hatten. Neben mir raschelte es im Gebüsch. Ich blieb kurz stehen und sah mich danach um. Einen Moment geschah überhaupt nichts. Dann huschte ein kleiner, schwarzer Schatten daraus hervor und sprang auf mich zu. Alarmiert zuckte ich zusammen und trat einen Schritt zur Seite. In dem schwachen Dämmerlicht, das von einer kleinen Lampe etwas abseits zu mir hinüber drang, konnte ich zuerst kaum etwas erkennen. Plötzlich spürte ich etwas Weiches an meinen Beinen. Ich senkte erschro-cken den Kopf. Nach und nach hatten sich meine Augen an das wenige Licht gewöhnt, und schließlich konnte ich die Katze erkennen. Sie war pechschwarz, von oben bis unten. Nur die Augen hoben sich leuchtend gelbgrün hervor. Dass Katzen immer diese Angewohnheit hatten, fremden Menschen um die Beine zu streifen. Ich ging in die Knie. Das Tier sah mit einem seltsam flehenden Blick zu mir auf. Ich seufzte. Dann fuhr ich dem Tier leicht mit der Hand über das weiche Fell. Sie legte den Kopf in meine Hand, während ich sie an den Ohren kraulte und ich konnte nicht anders als zu lächeln. Gehörte sie dem Mädchen, das zuvor mit dem Katzenkorb unter dem Arm herumgelaufen ist? War es Absicht, dass sie hier frei durch die Gegend streunte? Vermutlich schon. Ich streichelte dem Tier ein letztes Mal den Rücken, dann erhob ich mich langsam wieder. Ich wollte so nicht gesehen werden. Wie ich ruhig lächelnd eine Katze streichelte? Das würde ja wohl nicht zu meinem ‚Image’ passen, dachte ich lachend. Ich sah ein letztes Mal auf sie herab, dann gingen wir beide wieder unseres Weges, jede in eine andere Richtung.
Es war seltsam, in die dunkle Hütte zu kommen. Meine Augen hatten sich schnell daran gewöhnt, im Gegenteil musste ich sie sogar kurz fest schließen, als ich das Licht anknipste und die Tür hinter mir schloss. Doch hier drin war es eiskalt. Und seltsam einsam. Ich fühlte mich beinahe abgeschnit-ten von der Umwelt. Zuerst schaltete ich die Heizung an, die an einer Wand befestigt war. Dann ging ich zu dem Fenster neben meinem Bett und blickte nach draußen. Ich konnte kaum etwas er-kennen, da es hier drin so hell war, außerdem hatte ich das Gefühl, total aufzufallen, schließlich war es sonst überall dunkel. Ich ließ die Lampe also wieder verlöschen und starrte auf das Lagerfeuer, das leicht in der Ferne hell aufloderte. Mia erzählte gerade irgendetwas, und alle anderen hörten ihr zu. Von hier aus konnte ich ihre Mienen nicht genau erkennen, doch ich hatte den Eindruck, einige von ihnen lachend zu sehen. Stella konnte ich nicht erkennen, dafür war sie zu weit in der Mitte und wurde somit von den anderen verdeckt. Mein Blick wanderte flüchtig nach rechts, zu dem zweistö-ckigen Gebäude. In einem der oberen Zimmer brannte Licht. Ob Ben sich darin verschanzt hatte? Ich verdrängte den Gedanken sofort wieder. Was hatte mich das schon zu interessieren. Außerdem war seine Vorstellung vorhin irgendwie total daneben gewesen. Wie er versucht hatte, cool zu sein. Ich grinste.
Ich weiß nicht, wie lange ich dagestanden und mit einem Buch in der Hand immer wieder gelesen und aus dem Fenster gestarrt hatte, doch es musste eine ganze Weile gewesen sein, denn schließlich sah ich, wie Mia noch einmal die Stimme zu erheben schien und darauf alle aufstanden und sich in verschiedene Richtungen zu zerstreuen begannen, vermutlich auf dem Weg in ihre Hütten. Ich konnte auch Stella, Romina und Vivi beobachten, wie sie immer näher schlenderten, bis ich sie letztlich aus dem Blickfeld verlor und sich die Tür hinter mir zu öffnen begann. Ich drehte mich um und sah ihnen zu, wie sie ins Zimmer kamen.
„Jane?“, hörte ich Stellas helle Stimme.
„Hm?“, antwortete ich ihr. Sie knipste das Licht an und entdeckte mich. „Ach, ich hab mich nur gewundert, wieso das Licht aus ist.“
Ich nickte, antwortete ihr aber nicht darauf, sondern sah sie stattdessen nur fragend an. Stella verstand sofort.
„Morgen ist um zehn Frühstück. Aber nur morgen, sonst immer um neun. Sie meint nur, dass wir an unserem ersten Tag vielleicht nicht sofort schlafen werden oder können. Übrigens sollen wir spätes-tens um zwölf in unseren Hütten sein, wann wir pennen ist egal.“, sprudelte sie sofort los. „Außer-dem hat sie uns noch erzählt, was wir so machen werden. Mehrere Ausflüge zu verschiedenen Or-ten. Berge oder Farmen, und auch ein Museum. Dann gehen wir, klar, auch mal an irgend so einen See. Und sonst sind wir hier und machen irgendwas. Wieso bist du denn so schnell abgehauen?“, wechselte Stella plötzlich völlig unvorhergesehen das Thema.
„Hatte keine Lust mehr.“, sagte ich knapp. Stella bedachte mich mit einem zweifelnden Blick und ich wusste, das ich früher oder später sowieso erzählen musste, dass ihr ‚Märchenprinz’ für mich der Sohn unserer Campleiterin war, doch das musste ja nun nicht gerade vor Vivi sein. Die würde sich nur über meine Missgeschicke lustig machen. Außerdem hatte das sowieso nichts zu bedeuten, auch wenn Stella das gerne so hätte. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, warf sie einen kurzen Blick auf die Blondine und nickte mir dann verständnisvoll zu. Ich rollte trotzdem mit den Augen.
Mit einem kurzen Blick auf mein Handy stellte ich fest, dass es erst kurz vor zwölf war. An Schlafen war also vermutlich für keine von uns zu denken. Aber was sollten wir bitteschön sonst noch die ganze Zeit machen?
„Hat jemand was zu erzählen?“, überlegte ich laut, „Ich denke, ihr wollt noch nicht ins Bett.“
„Sagt mal“, fragte Stella plötzlich, bevor Vivi irgendeine abfällige Bemerkung machen konnte, „findet ihr nicht, dass dieser Ben schon ziemlich gut aussieht?“ Ich verzog das Gesicht. Also das hatte ich mir jetzt nicht unter so einer Unterhaltung vorgestellt.
„Doch, da hast du ganz recht. Er sieht schon ganz süß aus.“, stimmte Vivi ihr zu. Ach ja? Fanden sie das? Ich stutzte, als sogar Romina ein Nicken andeutete. Oh Mann…
„Was meinst du, Jane?“, fragte mich ausgerechnet Vivi. Ich warf ihr einen vor Verachtung strot-zenden Blick zu.
„Nicht wirklich. Im Schein der Flammen macht noch jeder einen halbwegs anständigen Eindruck, aber so?“, erwiderte ich, und fing mir dafür einen fragenden Blick von den anderen ein.
„Das kannst du ja nicht wissen, wenn du ihn so noch nicht gesehen hast.“, widersprach mir Stella. Okay, ich konnte jetzt aufgeben und nachlassen, oder meinen Stolz behalten und weiterreden.
„Hab ich aber.“, sagte ich schließlich.
„Wo?“, fragte Romina. Also von ihr hätte ich mir schon ein wenig mehr Verständnis erhofft…
„Ach, ich bin ihm schon das ein oder andere Mal begegnet.“, sagte ich und bereute es sofort. Ich hatte gerade gestanden, dass ich ihm öfters begegnet war. Und so viele Möglichkeiten konnte ich hier doch gar nicht dafür gehabt haben. „Also, genau genommen ein Mal“, verbesserte ich mich schnell, selbst wenn es nun eine Lüge war. Als mich die anderen noch immer abwartend ansahen, fügte ich noch hinzu, dass ich ihn vom Speisesaal aus gesehen hatte. Alles andere wäre mal wieder zu schlecht für mich ausgegangen. Dann hätte ich schließlich erzählen müssen, dass ich den Tisch falsch gedeckt hatte, oder dass er mir dabei geholfen, und ich mit ihm gesprochen hatte, was für die anderen nur wieder mehr Fragen aufgeworfen hätte. Stella schien noch immer an meinen Antworten zu zweifeln, doch sie hielt freundlicherweise den Mund. Vivi hingegen gab sich damit zwar inso-fern zufrieden, dass sie mir glaubte, konnte aber nicht davon ablassen, mir doch noch meinen Tri-umph zu nehmen.
„Du kannst ihn nicht richtig gesehen haben, so flüchtig durchs Fenster, da erkennt man das nicht. Ich glaube nicht, dass er im Licht sonderlich schlechter aussehen könnte.“ Sie lächelte und machte sich daran den Vorhang zuzuziehen, danach bedeutete sie uns, es ihr gleich zu tun. Damit beendeten wir endlich unser Gespräch und ich konnte mich beruhigt schlafen legen, in dem Wissen, dass auch Stella für die nächsten paar Stunden nicht weiterfragen würde.
14
„Was?“, rief Stella bestürzt, „Das ist der Typ?“
Nickend drehte ich den Schlüssel um und trat ein. Musste sie das so in alle Welt herausschreien? Vielleicht hätte ich ihr davon erst jetzt erzählen sollen, solange wir wirklich allein waren.
Es war halb zwölf, Vivi und Romina waren noch immer in den Waschräumen. Auf unserem Rück-weg hatte Stella mich gefragt, ob ich Ben wirklich zuvor gesehen hatte. So richtig geglaubt hatte sie mir das ja nicht, konnte sich aber auch keinen Grund vorstellen, wieso ich hätte lügen sollen. Also hatte ich es ihr erzählt.
„Und weiter? Seit wann weißt du, dass er hier ist?“, fragte sie begeistert. Also berichtete ich ihr knapp von seiner Hilfe beim Tisch decken, was sie sofort mit einem kichernden „Süß!“ bedachte. Plötzlich hielt sie inne und starrte mich geschockt an.
„Was ist los?“ Irritiert legte ich den Kopf schräg und musterte sie.
„Gott, und ich Idiot habe sogar gesagt, wie süß ich ihn finde. Das tut mir so Leid, Jane.“ Stella machte den Eindruck eines geprügelten Hundes, wie sie so dastand und mich flehend ansah. Ich blinzelte mehrmals erstaunt.
„Quatsch, das ist mir doch egal.“
„Nein, ist es nicht. Das tut mir echt Leid. Ich sag so was nicht mehr. Er ist schließlich dein Happy End.“ Stella machte ein vollkommen ernstes Gesicht, während sie das sagte, und ich konnte nicht anders als zu lachen.
„Verdammt, Stella!“, sagte ich grinsend und musste mich ein weiteres Mal erst wieder fangen und beruhigen, als ich ihren ängstlichen Blick sah. „Hör auf, so viele Schnulzen zu lesen und zu gu-cken.“, riet ich ihr. Stella riss erstaunt die Augen auf, dann lächelte sie. „Sag mal, willst du mir deinen Schatz eigentlich mal vorstellen?“
„Er ist nicht mein Schatz und ich kenne ihn nicht.“, wies ich sie zurecht. Stella schürzte beleidigt die Lippen. „Wir werden ja sehn. Wann gibt’s eigentlich Essen?“, wechselte sie völlig abrupt das Thema. Aber ehrlich gesagt war ich ihr dankbar dafür.
„Puh, ähm ich glaube Mia hat bei ihrer kleinen „Guten-Morgen-allerseits-ich-hoffe-ihr-seid-bereit-für-den-heutigen-Tag“-Rede gesagt, dass wir um halb eins wieder dort sein sollen.“
Stella nickte. „Und was hast du vor, sollen wir bis dahin machen?“ Das fragte sie ausgerechnet mich? War mir eigentlich mal wieder ziemlich egal. Ich zuckte mit den Schultern, ließ mich auf das weiche Bett fallen und schnappte mir mein Buch vom Nachttisch. „Was liest du?“, fragte Stella und kam näher, um mir über die Schulter zu sehen. Ich drehte ihr den Buchrücken zu. „Das Teil, das du so toll fandest.“ Stella lächelte begeistert. Hoffentlich rief sie mir nicht gleich noch einmal zu, wie fantastisch das war und dass ich das unbedingt lesen muss. Mit diesen Worten hatte sie mir das Buch nämlich in die Hand gedrückt und mich verdutzt stehen lassen. Es ging um irgendeinen Fantasy-Quatsch mit Drachen und den ganzen anderen Viechern.
Alles ziemlich gestörtes Zeugs, aber das schlimmste waren immer noch die intelligenten Sprüche, die der Autor ständig zu bringen versuchte:
„‚Ich kann dir nicht sagen, wer du bist. Niemand wäre dazu berechtigt.’ Vemor beugte sich zu ihr hinab und seine beruhigenden Augen leuchteten. ‚Dazu musst du in dir selbst suchen.’ Er deutete mit dem Finger auf ihre Brust, an die Stelle, unter der ihr Herz lag. ‚Hier drin.’, wisperte er dann, ‚hier drin.’ Und Inora sah ihm in die Augen, und fühlte sich so hilflos, wie nie zuvor in ihrem Le-ben.“
Das ist ja wohl der Standartspruch Nummer eins, in allen Geschichten, bei denen es irgendeinen weisen Kerl geben soll. Echt, ein wenig mehr Fantasie und Einfallsreichtum könnte man schon ver-langen. Tja, aber wenn dieser Autor dann mal was Eigenes bringt, kommt auch nichts sehr schlaues dabei raus- fand ich jedenfalls.
„‚Nein! Bitte, Inora, tu das nicht.’, schrie der Elf ihr zu, ‚Du darfst dein Leben nicht wegwerfen.’ Inora starrte ihn einen Moment mit wirrem Blick an. ‚Wieso nicht?’, fragte sie plötzlich. Er wusste nicht was er sagen sollte, er schaffte es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie legte sein Schweigen als Zögern aus, da er keine Antwort hatte, und wandte sich wieder ab und starrte in die Tiefe. ‚Das Leben’, setzte er an, ohne genau zu wissen, was nun folgen würde. Dann sprudelte es aus ihm hinaus, er dachte nicht mehr darüber nach, was er sagen sollte, er tat es nur noch. ‚es ist wie ein Feuer. Ein einzelnes Feuer, das vor der vollkommenen Dunkelheit schützt. Ohne dieses Feuer würden Angst, Kälte und ewige Finsternis die Welt in ihre Verdammnis treiben. Und deswegen… deswegen darfst du dieses Feuer nicht einfach verlöschen lassen. Du musst es hüten und die Flam-me erhalten. Die Glut musst du wieder aufbrausen lassen, denn ist auch sie vollständig erloschen, gibt es keine Rettung mehr, keinen Weg mehr zu entkommen und alles wird ihn den Untergang gerissen.’ Das Mädchen hatte sich wieder umgewandt. Was sagte er da?’“
Ja, das habe ich mich allerdings auch gefragt. Konnte er das ganze nicht etwas kürzer machen? Man konnte dem Jungen vielleicht noch zu Gute halten, das er zum einen ein Elf war, und zum anderen ja anscheinend nicht wusste was er sagte, und vermutlich hoffte solche komischen Worte könnten das Mädchen abhalten, zu springen, aber von dem Autor konnte man nichts sagen, was begründete, dass ihm so Zeug einfällt. Das ist doch wohl vollkommen schwachsinnig. ‚Das Leben’, meinte er damit jetzt das einzelne Leben von ihr? Das wäre wohl kaum fähig, alles in den Untergang zu reißen, wie da so schön steht. Aber wieso sollten alle Menschen plötzlich sterben. Bescheuert, be-schloss ich daher, kein Wunder also, wenn Stella so was gefiel.
Trotzdem hatte ich ihr versprochen, das Buch zu Ende zu lesen. Bis jetzt hatte ich noch immer mehr als die Hälfte vor mir. Stella trommelte gelangweilt auf dem Fensterbrett herum. Ich versuchte sie zu ignorieren und weiter zu lesen. „Jane?“, fragte sie mich plötzlich.
„Ja“, antwortete ich genervt.
„Ach nichts.“
„Gut.“ Ich wandte mich wieder dem Buch zu, doch nach allerhöchstens zwei Sätzen meldete sich Stella bereits wieder zu Wort.
„Du?“
„Was?“, fragte ich, diesmal schon lauter.
„Wann glaubst du, kommen Vivi und Romina wieder?“
„Ist mir doch egal.“, antwortete ich ihr, „Ich hoffe Vivi lässt sich Zeit.“
Die nächsten vier Sätze konnte ich sogar am Stück lesen, ohne dass Stella etwas sagte. Doch schließlich hielt ich es nicht mehr aus und knallte das Buch neben mir auf das Bett.
„Stella!“, fuhr ich sie so wütend an, dass sie zusammenzuckte und mich aus aufgerissenen Augen anstarrte. Doch sie hatte sich leider schnell wieder gefasst. „Was ist?“, fragte sie verwundert und klopfte wieder mit den Fingern auf den Sims.
„Sei still.“, bat ich und bemühte mich sogar um einen möglichst ruhigen Ton.
„Aber ich sag doch gar nichts.“, meinte sie mit einem scheinheiligen Lächeln. Ich erwiderte dieses Lächeln, allerdings weniger unschuldig, sondern vielmehr deutlich übertrieben und ironisch. „Nein, aber dein Geklopfe macht mich verrückt!“
„Dafür kann ich nichts.“, verteidigte sie sich, „mir ist halt langweilig.“
„Dann hol dir ein Buch… oder so.“, schlug ich grimmig vor.
„Keine Lust zu lesen.“, klärte sie mich knapp auf.
„Und was soll ich da machen?“, erkundigte ich mich, ohne eine wirkliche Antwort zu erwarten. Dummerweise schien Stella jedoch darauf zu bestehen, mir eine zu geben.
„Lass uns spazieren gehen.“, sagte sie, plötzlich wieder in ihrem gewohnt freundlichen Tonfall, und zog mich am Arm nach oben.
„Na, toll.“, sagte ich mürrisch. Stella grinste mich an und schleifte mich nach draußen. „Und wo willst du hier jetzt bitteschön spazieren gehen?“, fragte ich sie.
„Wald.“, erklärte sie.
„Was anderes gibt es hier ja auch nicht.“, murmelte ich.
„Was fragst du dann?“, lachte Stella. Wie konnte sie nur immer so verdammt gut drauf sein? Das war doch nicht normal. Damit hätten wir also noch einen Fall für die Psychiatrie.
Während wir den Weg zum Wald einschlugen, diesmal jedoch an der anderen Seite des Sanitärge-bäudes vorbei, als am Tag zuvor, entdeckte ich Ben, der gerade aus dem Essensraum trat. Ihm woll-te ich gerade nun wirklich nicht begegnen. Ich drückte Stella näher an die Wand der Waschräume und zog sie am Arm schneller hinter mir her. Dass das eigentlich noch auffälliger war und außer-dem auch noch Stella alarmierte, in der Gegend umherzuschauen, fiel mir erst kurz darauf auf, als es nun mal schon zu spät war.
„Hey, ist das nicht Ben?“, fragte Stella mich und starrte in seine Richtung. Ich wandte nicht einmal den Kopf. „Nein, ist er nicht.“, erklärte ich ihr schroff.
„Doch klar. Schau mal, er kommt her.“ Na wunderbar. Ich blickte aus den Augenwinkeln nach links, und tatsächlich konnte ich ihn auf uns zulaufen sehen.
„Hey, Jane.“, rief er mir bereits zu, obwohl er noch einige Meter entfernt war.
„Hey, Benjamin.“, sagte ich abweisend, doch trotzdem konnte ich nicht widerstehen, seinen Namen zu betonen.
Genüsslich beobachtete ich, wie er sich etwas peinlich berührt auf die Lippe biss.
„Das musste sein, oder?“, fragte er mich. Ich nickte, obwohl ich innerlich leicht geschockt war. War ich denn so durchschaubar?
Ach ja, sein sechster Sinn, überlegte ich, innerlich grinsend.
„Du hättest mir ruhig sagen können, dass Mia deine Mutter ist.“, sagte ich betont ruhig, doch mit einem ärgerlichen Unterton, den er unmöglich überhören konnte.
„Hab ich ja. Das heißt, hätte ich fast getan, wenn ich nicht im letzten Moment beschlossen hätte, dich mal nicht aus deinen Träumen zu reißen.“ Witzig, wirklich.
„Und was sollen das bitte für Träume gewesen sein?“, erwiderte ich genervt, „Weißt du, ich kann nun mal nicht hellsehen, und damit wissen, dass deine Mutter tatsächlich hier ist!“
„Ich aber.“, antwortete er mir grinsend.
„Bei deinem Namen würde ich nicht immer so großkotzig tun. Benjamin. Nett, wirklich. Ehrlich, süß.“, wechselte ich das Thema, um von mir abzulenken. Er ließ sich davon nicht irritieren und grinste nur weiter. „Du findest mich nett?“, fragte er, „Und süß?“
Ich rollte mit den Augen. „Ja, ungefähr so, wie man einen sprechenden Elefanten süß findet.“
Ben setzte eine verständnisvolle Miene auf. „Natürlich.“, sagte er, genüsslich lächelnd. Ich seufzte.
„Das ist übrigens Stella.“, erklärte ich und wollte hinter mich deuten. Doch Stella war verschwunden. „Oder, das war sie zumindest.“, fügte ich murmelnd hinzu.
„Deine Freundin hat sich irgendwann bei ‚ich kann nicht hellsehen’ aus dem Staub gemacht. Kluges Kind.“, lachte er. Ich presste wütend die Lippen zusammen. „Reg dich nicht auf.“, sagte er schnell und hob abwehrend die Hände. „Ich kann doch auch nichts dafür, dass uns das Schicksal zusam-mengeführt hat.“ Drehte er jetzt völlig durch?, wunderte ich mich erstaunt.
„Was hast du gerade gesagt?“, fragte ich sicherheitshalber nochmals nach und runzelte die Stirn.
„Na klar.“, redete er weiter, „Hast du Lust auf einen Spaziergang im Wald?“ Ich blinzelte verwundert über seinen Gedankensprung.
„Nein.“, antwortete ich ruhig. Ben zuckte gleichgültig die Achseln.
„Okay, dann nicht. Na ja, jedenfalls, wie würdest du es dir denn sonst erklären, dass wir uns so oft begegnet sind?“ Ich lachte auf, um ihm damit klarzumachen, für wie bescheuert ich das Ganze hielt.
„Tja, ich glaube nicht an Schicksal, diese Erklärung scheidet also schon mal aus.“
„Du weichst meiner Frage aus.“
„Tu ich nicht.“, wies ich ihn zurecht. „Das war Zufall.“
„Alles? Ganz schön viele Zufälle, wenn du mich fragst.“, meinte er lächelnd.
„Nein, das denke ich nicht. Es war zum Beispiel kein Zufall, dich im gleichen Flugzeug anzutreffen, schließlich war das die Toilette des Bereiches im Flughafen, der für diesen Flug zugeteilt war. Au-ßerdem ist es nicht allzu verwunderlich, dass du hier bist, schließlich gehen die wenigsten Leute kurz vor den Ferien in den Urlaub oder auf Geschäftsreise, und es sind bestimmt einige von dort hier. Und dass du, wenn du auch so dämlich bist, dich direkt vor die Toilettentür zu stellen, auch deinen Rucksack halb im Gang liegen hast, passt auch zusammen.“, erklärte ich ihm.
„Und was ist damit, dass ich der Sohn der Chefin hier bin?“, warf er sogar ein wenig beeindruckt ein.
„Tja, das wäre dann genau ein Zufall, hat jedoch nichts damit zu tun, dass wir beide hier sind. Übri-gens, nach deiner Theorie, hätte das Schicksal mich dann auch zu Dario geführt.“, fügte ich grin-send hinzu.
„Wer ist Dario?“, fragte Ben irritiert. Ich lächelte.
„Er ist Italiener.“, klärte ich ihn auf, als wäre das genügend Wissen, das er brauchte. Und dass Dario fast siebzig war, verschwieg ich ihm ebenfalls mit voller Absicht.
15
Nachdem ich mich schnell von Ben verabschiedet hatte, unter dem Vorwand, Stella suchen zu müssen, hatte ich sie schließlich direkt am Waldrand aufgefunden. Vermutlich wäre mir das nicht ganz so schnell gelungen, hätte Ben mir nicht noch hinterher gerufen, dass sie in diese Richtung verschwunden war. Doch so entdeckte ich sie schon von weitem, während sie sich mit Vivi und Romina unterhielt. Wirklich Lust, jetzt zu diesem Gespräch hinzu zu stoßen, hatte ich eigentlich nicht. Allerdings war ich mir auch nicht bewusst darüber was ich sonst hätte tun sollen, und wenn ich mich zwischen einem Gespräch mit Ben und einem mit Vivi hätte entscheiden müssen, dann hätte ich doch eher letzteres bevorzugt. Obwohl, überlegte ich bereits kurz nach diesem Gedanken. Eigentlich doch nicht.
Trotzdem würde ich jetzt mit Sicherheit nicht zu Ben zurückkehren. Ich ging also auf die kleine Gruppe, die bereits im Schatten der Bäume stand, zu und begrüßte sie mit einem dahin gemurmel-ten „Hey“. Während die anderen beiden mir nur kurz zunickten, grinste mich Stella an. Vermutlich hätte sie am Liebsten gleich gefragt, warum wir unser Gespräch denn schon beendet hatten. Doch Vivis Anwesenheit bewahrte mich davor. Ich konnte ihr also wirklich dankbar sein, stellte ich gera-dezu schockiert fest. Nach kurzem Schweige begannen die drei ihre Unterhaltung weiterzuführen und achteten dabei weitgehend nicht auf mich. Sollte ich mich irgendwie angegriffen fühlen? Nein, wohl eher nicht. Von Vivi hatte ich nichts anderes erwartet, Romina beteiligte sich ebenfalls reich-lich wenig am Gespräch und Stella wusste, das mich das Gerede über irgendwelche Promis sowieso nicht interessierte, geschweige denn, dass ich überhaupt hätte mitreden können. Ich stand also still daneben, betrachtete den großen Baum, der uns Schatten spendete und warf immer wieder einen kurzen Blick auf mein Handy, um zu überprüfen, wie spät es war. Nach ganzen zehn Minuten, die ich so verbracht hatte, räusperte ich mich schließlich und nickte in Richtung des großen Gebäudes, in dem bekanntermaßen das Essen serviert wurde. Ich überlegte einen Moment, wer dieses Mal die ganzen Tische gedeckt haben könnte, als mir einfiel, dass Ben doch zuvor in der Tür gestanden hat-te, durch die wir in diesem Moment traten.
Wir waren nicht die Ersten, die hereinkamen. Genau genommen, saßen so gut wie alle bereits brav auf ihren Stühlen, und schrieen sich irgendwelche Sachen zu. Vivi und Romina trennten sich von uns und setzten sich direkt an einen der vorderen Tische. Ich folgte Stella zu einem anderen, der sich weiter in der Mitte befand und an dem fast alle Plätze belegt waren. Nur noch die hinteren vier Plätze, also zwei auf der einen Seite, zwei auf der anderen, waren noch frei. Das waren sie bereits heute Morgen, und gestern, denn die meisten setzten sich immer an den gleichen Platz. Ich setzte mich also neben Stella und blickte einige Sekunden auf den nutzlosen Teller an der anderen Tisch-seite. Auf einmal ging ein kleines Raunen durch die Menge und ich spürte Stellas spitzen Ellenbo-gen in den Rippen.
„Mein Gott, was ist denn los?“, fragte ich erschrocken. Stella nickte nach vorne. Das konnte doch echt nicht wahr sein. Vielleicht war es keine Verwunderung, dass Ben hier auch mal auftauchte, auch wenn er sonst nie hier aß, sondern vermutlich immer in dem Haus an der Straße, doch trotz-dem hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen, als ahnte ich, was er vorhatte. Er lief ungefähr bis zur Mitte des Raumes und sah sich um, wobei er, wie er es bereits am Lagerfeuer getan hatte, nicht auf die anderen achtete, von denen ihn einige gespannt beobachteten und ihm teilweise sogar zurie-fen, er solle sich doch zu ihnen setzen. Hör auf sie, bettelte ich still. Ich glaube, ich hatte sogar Vi-vis Stimme unter ihnen wahrnehmen können. Doch Ben ließ seinen Blick nur weiter über alle Sit-zenden schweifen, bis er mich schließlich entdeckt hatte und grinste. Ich hätte ihm den Hals umdre-hen können. Er konnte es meinetwegen gerne genießen, hier in der Aufmerksamkeit aller zu stehen, aber er sollte mich da gefälligst nicht mit reinziehen. Innerlich flehte ich, doch bevor ich so viel Stolz abbauen konnte, um ihm mit einem ebenso bettelnden Blick zu begegnen, brachte ich nur ei-nen äußerst feindseligen zustande. Er schien ihn nicht einmal zu bemerken, sondern kam einfach nur zielsicher an unseren Tisch gelaufen. Musste er wirklich so ein Theater hier machen? Er lächel-te mich freundlich an. „Darf ich?“, fragte er und deutete auf den Stuhl, der sich mir gegenüber be-fand.
„Nein.“, antwortete ich ihm. Er nickte nur, dann warf er Stella einen Blick zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Hey, ich bin Ben. Und du musst Stella sein.“, lächelte er sie an. Stella starrte ihn einen Moment erstaunt an, dann ergriff sie sie. War das Zufall oder hatte er sich ihren Namen extra gemerkt, nachdem ich vergeblich versucht hatte, sie ihm vorzustellen, um mich hier jetzt fertig zu machen?
„Setz dich ruhig.“, bot Stella ihm an. Verräterin, schoss es mir durch den Kopf. Ben tat wie ihm geheißen und der vielleicht dreizehnjährige Junge, der das Ganze über den zwischen ihm und Ben liegenden Platz beobachtet hatte, warf ihm einen bewundernden Blick zu, ehe er sich wieder seinen eigenen Gesprächen zuwandte.
„Zählt meine Meinung eigentlich nicht mehr?“, erkundigte ich mich bei Stella. Sie lächelte.
„Ich handle nur zu deinem Besten. Du scheinst mir manchmal einfach… etwas unzurechnungsfähig zu sein.“
„Oh, Dankeschön.“, erwiderte ich.
„Klar, kein Problem, Jane.“, sagte Stella, als hätte sie den sarkastischen Unterton nicht bemerkt.
„Und was dich betrifft“, wandte ich mich an Ben, „wieso fragst du überhaupt, wenn es dich eh nicht interessiert, was ich antworte?“
Er grinste. „Wer sagt, dass mich das nicht interessiert. Aber deswegen muss ich ja noch lange nicht darauf hören.“
Stella kicherte, aber ich verdrehte nur genervt die Augen.
„Deswegen musst du mich nicht vor allen Leuten hier bloßstellen. Es macht nicht jedem so viel Freude wie dir, wenn einen alle anstarren.“, wies ich ihn zurecht. Wenn Vivi das mitbekommen hatte, und davon war ich beinahe überzeugt, würde sie mich mit Sicherheit bald dafür zur Rede stellen. Aber eigentlich war ich ihr doch keine Rechtfertigung schuldig, oder?
„Ich habe mich nur hierhin gesetzt. Daran ist doch nichts auffällig.“
„Nein, aber daran, dass du erst einmal eine Minute dastehst und dich hier umsiehst, bevor du her-kommst, schon.“, klärte ich ihn auf.
„Ach so.“, meinte er nur und grinste. Mia meldete sich diesmal nicht zu Wort. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt hier war. Wenn ja, hätte sich Ben dann überhaupt zu so einem Auftritt getraut? Die Schüsseln wurden auf den Tischen verteilt und sofort fielen sämtliche Jungen und Mädchen darüber her. Wir bekamen die auf unserem Tisch als letzte in die Finger.
„Na, viel ist nicht mehr übrig geblieben.“, stellte Stella mit einem Blick in die Nudelschüssel fest. Ich nickte zustimmend, nachdem ich einen Blick in die mit der Tomatensoße geworfen hatte.
„Das“, sagte Ben ernst, „ist der Grund, wieso ich lieber im Haus esse.“
„Ja, deshalb ist es mir auch ein Rätsel, weshalb du dich heute dagegen entschieden hast.“, murmelte ich.
„Na ja, ich dachte ein wenig Abwechslung schadet schon nicht.“, erläuterte er lächelnd. Ich antwortete ihm nicht, sondern nahm mir stattdessen eine Portion Spagetti und ein wenig Soße, dann schob ich die beiden Schüsseln Ben entgegen, der sich seinen Teil davon nahm.
„Wie kommt es eigentlich“, fragte Ben plötzlich, „dass du immer mit mir redest, als würdest du mich schon ewig kennen. Oder zumindest etwas besser. Ich meine“, fügte er auf meinen ratlosen Blick hinzu, „das hat mich schon beim ersten Mal an der Toilette gewundert und später im Flug-zeug war das noch extremer.“ Ich konnte erst einmal überhaupt nichts sagen. Ich selbst hatte mir nie darüber Gedanken gemacht. Ich mochte ihn nicht, er hat mich genervt, er war im Weg, er war schuld daran, das es mich hingehauen hatte und ich zur Lachnummer für alle Passagiere geworden war. Wie konnte man jemanden anmotzen und dabei auch noch so reden, wie man mit fremden Menschen meistens redete?, fragte ich mich erstaunt. Ich nahm einen großen Schluck Orangensaft, als Stella ihm an meinerseits antwortete und ich mich beinahe verschluckt hätte.
„Ich glaube, das liegt daran“, begann sie, „dass sie im ersten Moment, nämlich da, als sie dich auf der Toilette zu Boden gestoßen hatte, beschlossen hat, dass sie dich nicht leiden kann. Und ab da hat sie sich ein Bild von dir gemacht, dass dann auch noch zu ihrem Missgeschick im Flugzeug, wo sie sowieso schon vollkommen durch den Wind war, weil die Stewardess ihr Tee über die Hose geschüttet hatte, passte.“ Was sollte das denn Bitteschön heißen?
„Hey, Stella. Ich hätte nicht gedacht, dass du das mit dem Tee mitbekommen hast, so wie du gezit-tert.“, sagte ich erstaunt, während ich deutlich Bens gemurmeltes „Dann war das also wirklich Tee“ hören konnte. Arsch, dachte ich nur. Doch Stella ließ sich von keinem von uns beirren und fuhr mit ihrem Psychologiegequatsche fort. „Jedenfalls denke ich, dass sie durch dieses Bild von dir, denkt, sie würde dich besser kennen, als sie in Wirklichkeit tut, oder zumindest gaukelt ihr Gehirn ihr das vor.“ Ich blinzelte. Seit wann konnte sich Stella denn so ausdrücken. Und seit wann stellte sie überhaupt solche Theorien auf.
„Ah verstehe.“, antwortete Ben und warf mir einen verständnisvollen Blick zu, als wäre ich irgendwie geisteskrank. Na wunderbar. Danke, Stella.
„Hast du irgendwie vor, später mal den Beruf von einem gewissen Arschloch auszuüben?“, erkun-digte ich mich bei Stella. Wir wussten beide, dass ich von Sven sprach. Sie lächelte. „Vielleicht.“, sagte sie zu meinem Erstaunen. Na ja, wem’s Spaß macht…
„Und, wie findet ihr es bis jetzt hier?“, fragte Ben plötzlich.
„Schön.“, antwortete Stella ihm, „Eigentlich genauso wie ich es mir vorgestellt habe- also wirklich schön. Das Lagerfeuer, die Hütten, alles ist so perfekt.“
„Find ich cool. Meine Mutter hat sich auch ziemlich viel Mühe gegeben. Wie findest du’s, Jane?“, wandte Ben sich an mich. Wow, sie hatten mich also doch noch nicht vergessen. Ich nickte.
„Nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.“, sagte ich leise und stocherte gedankenverloren in mei-nen Spagetti herum. Mein unbedachter Satz von Sven hatte mich zum ersten Mal seit wir hier waren an meine Mutter denken lassen. Ich klinkte mich aus dem Gespräch aus- die beiden kamen so ohnehin besser klar, als wenn sie meine Kommentare ertragen müssten- und fragte mich, wie es ihr wohl gerade ging. War sie noch immer in diesem seltsamen Zustand, der mir irgendwie Angst machte. In dem sie nichts sagte, nicht weinte, nicht wütend zu sein schien, oder überhaupt irgendetwas tat, außer herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren. Vielleicht war ja auch wieder alles im Reinen. Sie hatte sich mit Sven ausgesprochen, und beschlossen ihm noch eine Chance zu geben. Vielleicht genoss sie es, mich los zu sein. Der Gedanke schmerzte, doch ich versuchte es zu verdrängen. Vielleicht war es besser für sie, mich nicht sehen zu müssen.
Was, überlegt ich plötzlich, wäre, wenn sie sich endgültig von ihm getrennt hatte? Wenn ich Sven nie wieder sehen würde? Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was ich davon halten würde. Es würde sie doch sicher unglücklich machen. Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte ja, dass sie endlich glücklich war. Aber musste ausgerechnet Sven derjenige sein, der ihr dabei half? Ich seufzte und nahm eine weitere Gabel von meinen Nudeln, während ich vor mich hinstarrte.
„Alles klar, Jane?“, riss mich Bens Stimme wieder aus meinen Gedanken. Ich nickte.
„Klar, was soll los sein?“, sagte ich, doch mir fehlte der begeisterte, unbetrübte Tonfall, der meine Aussage glaubhaft gemacht hätte. Trotzdem erwiderte er nichts weiter, sondern drehte sich stattdes-sen wieder Stella zu.
„Sag mal, glaubst du eigentlich an Schicksal?“, fragte er sie. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, das Glas an meine Lippen zu setzen. Das hatte er gerade nicht wirklich gesagt… Ich hörte, wie Stel-la neben mir begeistert auflachte.
„Klar“, rief sie. „Ich meine, ist doch logisch!“
„Dann erklär das mal deiner Freundin.“, bat Ben sie grinsend. „Die glaubt nämlich nur an Zufälle.“
Ich kniff wütend die Augen zusammen.
„Ich weiß.“, sagte Stella lächelnd. „Ich sag ihr immer, dass das ganz sicher keine Zufälle waren, so oft wie ihr euch schon begegnet seid.“ Oh mein Gott…
„Ich weiß, genau darum geht es. Und ich dachte, das reibt sie nur mir unter die Nase.“
„Nein, nein. Dabei weiß doch jeder, dass so was immer irgendeine Bedeutung hat. Es muss doch irgendeinen Grund geben, wieso so was oft in Liebesgeschichten vorkommt.“, lachte Stella. Was sollte das? Hallo, Leute, sieht mich irgendjemand?, rief ich verzweifelt in Gedanken um Hilfe, ich sitze hier, genau neben euch. Ich kann euch hören, verdammt noch mal!
Doch niemand hörte mich. Ben grinste, Stella kicherte. Seit wann war meine beste Freundin so un-einfühlsam und redete über so etwas einfach so? Das war doch nicht normal.
„Ach, sie muss mir ja nicht gleich zu Füßen fallen, aber sie könnte wenigstens mal etwas netter zu mir sein.“, meinte Ben und lachte auf. Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die aufsteigende Wut zurückzuhalten.
„Oh, das muss nichts zu bedeuten haben. Jane ist eben…“
Weiter kam sie nichts. Ich stand zornig vom Tisch auf, warf beiden einen eisigen Blick zu und lief ohne ein weiteres Wort so schnell ich konnte aus dem Raum. Es war mir egal, dass sämtliche Au-genpaare dabei auf mich gerichtet waren, ich wollte nur noch nach draußen in die Hitze. Dort ange-kommen rannte ich weiter, betete, dass keiner der beiden auf die Idee kam, mir zu folgen und fand mich schließlich am Rand des Waldes wieder. Ohne zu zögern rannte ich mitten hinein, rannte im-mer weiter und weiter, ohne auf den Weg zu achten. Ich wollte einfach nur noch weg. Und dabei wusste ich nicht einmal so genau, weshalb. Ich floh, und wusste nicht, wovor.
16
Ich lag in der weichen Erde, über mir schienen sich die großen, dichten Baumkronen wild zu drehen, was nicht gerade dazu beitrug, dass das Schwindelgefühl nachließ. Ich schloss die Augen. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Wenn jetzt wenigstens die Walderde kühl ge-wesen wäre, doch diesen kleinen Wunsch wollte mir wohl niemand erfüllen. Es war, als läge ich auf einem alten, weichen und doch etwas stacheligen Teppich, unter dem sich ganz eindeutig eine Fuß-bodenheizung befinden musste.
Einige Sekunden überlegte ich, wie ich noch gleich hierher geraten war. Ich war gerannt, weiter und immer weiter. Ich hatte gespürt, wie die trockene Erde an meinen Beinen hoch spritzte, oder wie sie von morschen Ästen gestreift wurden. Auch meine Arme waren von mehreren leichten Kratzern übersäht, kaum spürbar, und vermutlich nicht einmal zu sehen, denn mit ihnen hatte ich diesmal mein Gesicht abgeschirmt. Das wiederum hatte dazu geführt, dass ich nur die Hälfte meiner Umgebung sehen konnte. Das hat mich nicht wirklich aufgehalten, bis ich eben plötzlich an einer herausragenden Wurzel hängen geblieben war. Ich stürzte, landete hart auf der Erde, was wohl meine Kopfschmerzen verursacht hatte, und das Schwindelgefühl, und beschloss erst einmal liegen zu bleiben.
Und nun lag ich hier. Seit mehreren Minuten. Glaubte ich jedenfalls. Allmählich ließ der dumpfe Schmerz in meinem Kopf nach und ich beschloss mein Glück noch einmal zu versuchen und öffne-te die Augen. Noch immer wankte über mir alles, jedoch nur noch hin und her, sodass ich mir nicht einmal sicher war, ob das nicht vielleicht der Wind war. In welchem Fall auch immer, der Schwindel hatte zumindest einmal nachgelassen und mein Blick, der bis jetzt noch leicht verschwommen gewesen war, klärte sich allmählich. Ich lag noch einige Sekunden reglos da, bis ich das Gefühl hatte, mich gefahrlos aufsetzen zu können.
Und dann sah ich mich um und stellte fest, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo genau ich mich befand. Wohin ich auch blickte, konnte ich nur Baumstämme, Blätter, Äste und Unmengen von Erde erkennen. Und bei genauerem Hinsehen wären mir garantiert auch noch die einen oder anderen kleinen Krabbeltierchen ins Auge gefallen, aber das wollte ich mir jetzt doch nicht antun.
Ich hatte mich verlaufen. Diese Erkenntnis ließ mich ruckartig aufspringen, was vermutlich nicht sehr intelligent war, denn schon begann es in meinem Kopf wieder zu pochen. Doch diesmal igno-rierte ich es. Was konnte ich tun?
Im Grunde gab es genau zwei Möglichkeiten. Ich konnte hier sitzen bleiben und warten bis mich entweder jemand findet und zurückbringt, oder bis ich verhungere und vielleicht sogar noch davor von irgendwelchen Vögeln angepickt und von Käfern aufgefressen werde.
Andererseits konnte ich auch einfach in irgendeine Richtung laufen und hoffen irgendwo an den Rand des Waldes zu kommen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie groß der war.
Da mir die erste Möglichkeit nicht sonderlich gefiel- die Sache mit dem angeknabbert werden behagte mir nicht so ganz- entschied ich mich für letzteres.
Tja, dann mal los, dachte ich tatkräftig und drehte mich einmal im Kreis, um die beste Richtung zu finden. Dumm nur, dass sie alle ziemlich gleich aussahen. Ich hätte ja versuchen können, mich an der Sonne zu orientieren, die ja zuvor noch so gestanden hatte, dass der Schatten der Bäume in Richtung Camp gefallen war. Leider schien es Gott, oder sonst wer, einfach nicht gut mit mir zu meinen. Hier im Wald war das Blätterdach so dicht, dass weder ein Sonnenstrahl hindurch drang und Schatten warf, noch dass ich den Stand der Sonne somit hätte erkennen können. Seufzend wählte ich so wie ich gerade stand vier Richtungen aus- also vor mir, hinter mir, links und rechts- und zählte mit irgendeinem dämlichen Spruch aus, wie wir es früher immer getan hatten, um bei irgendwelchen Spielen den ersten Fänger zu ermitteln.
Und so wandte ich mich also nach links und schlenderte los, darauf bedacht, möglichst geradeaus zu laufen.
Nach und nach verlor ich jegliches Zeitgefühl. Ich hatte das Gefühl, dass es allmählich dunkler wurde, andererseits wurde es dann plötzlich wieder etwas heller, da sich das Dach aus Blättern für einige Sekunden etwas lichtete. Meine Hoffnung, vielleicht einfach mal an eine kleine Waldlich-tung zu gelangen, wurde mal wieder nicht erfüllt.
Ich fragte mich gerade, ob ich vielleicht sogar die ganze Zeit unbewusst im Kreis lief, wie man es in Filmen so oft erlebte, als ich vor mir plötzlich Licht erspähte. Ich beschleunigte meine Schritte und tatsächlich wurden es um mich herum immer weniger Bäume, bis ich schließlich, in vielleicht noch zwanzig Metern Entfernung, die staubtrockene Straße erkennen konnte. Ich schrie auf vor Erleichte-rung. Endlich schien mal etwas nicht schief zu laufen. Ich rannte das letzte Stück, bis ich völlig er-schöpft auf dem hellen Teerboden stand und lachte. Ich konnte nicht anders, ich hatte einfach aus heiterem Himmel zu lachen begonnen. Dann hatte ich mich an die Straße auf einen großen Stein gesetzt und gewartet, bis sich mein Atem wenigstens etwas beruhigt hatte. Es dauerte einige weitere Sekunden, bis mir auffiel, dass mein Umherirren damit nicht unbedingt vorbei war. Ich erinnerte mich daran, wie selten hier Autos vorbeifuhren, und selbst wenn ich einem begegnen würde, so wusste ich nicht die Adresse des Ferienlagers und war mir nicht sicher, ob mein zweifelhaftes Eng-lisch dazu ausreichen würde, es zu beschreiben. Dennoch hielt ich mich an der Hoffnung fest, die Straße sei auch in dieser Richtung so gerade gebaut und ich befand mich nicht an einer Abzweigung. Dann konnte ich nämlich einfach nach links laufen, wo ich das Camp vermutete, da sich dort der Wald rechts von der Auffahrt befand.
Also lief ich einfach weiter. Wenigstens, dachte ich nebenher, musste ich mich hier nicht mehr darauf konzentrieren, geradeaus zu gehen, da ich schließlich einfach dem Straßenverlauf folgen konnte. Neugierig sah ich mich um. Auf der einen Seite befand sich der dichte Wald, auf der anderen mehrere Felder, an die ab und zu ein kleines Häuschen angrenzte. Menschen sah ich keine, vermutlich war es für die Feldarbeit einfach zu heiß. Dann stockte ich plötzlich. Ich stand da und starrte auf den alten Wagen, dessen mattblaue Farbe an mehreren Stellen bereits abbröckelte. Und dann viel mein Blick auf die geöffnete Motorhaube und den jungen Mann, der davor stand und darin herumschraubte: Sante.
„Hey!“, rief ich ihm zu, auch wenn es sonst ja eigentlich nicht so meine Art war, einfach fröhlich jemandem etwas zuzurufen. Aber diesmal konnte ich einfach nicht anders, als dem Italiener, der fragend den Kopf hob, freundlich zuzulächeln. Er erwiderte das Lächeln, dann wandte er sich dem kleinen Haus neben sich zu und rief durch ein geöffnetes Fenster: „Dario!“ Und dazu noch einige Italienische Wörter. Ich grinste, als Darios glatzköpfiges Gesicht daraus hervor erschien. Als er mich entdeckte lachte er erfreut, verschwand vom Fenster und kam kurz darauf durch die Türe auf mich zugelaufen. Zu meinem Erstaunen nahm er mich in seine Arme und ich fühlte mich, als zer-quetsche er mich gleich. Allerdings war das bei seinen teilweise etwas überschüssigen Pfunden vermutlich nicht so ganz möglich, da er dadurch nachgab. Ich grinste, während Dario mich fragend musterte.
„Jane? Biste ja so dreckig, kleine Mädchen?“, fragte er mich nachdenklich. Ich dachte darüber nach, ob ich ihm davon erzählen sollte, wie ich aus dem Speisesaal geflüchtet war, entschied mich jedoch schließlich dagegen und sagte nur:
„Ich hab mich im Wald verlaufen und bin gestolpert.“
„Oh“, machte Dario und lächelte aufmunternd. „Findeste du zurück hier?“, fragte er mich dann. Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß nicht so genau. Vielleicht, wenn du mir sagst, wie…“, antwortete ich ihm leise. Dario lachte. „Wir helfen. Sante kommte mit.“, sagte er schließlich, mehr als Feststellung, denn als Ange-bot. Er rief Sante etwas zu, der seufzend nickte, sich die vom Öl schmierigen Hände an einem be-reits mehr schwarzen, als weißen Geschirrtuch abwischte und zu uns kam. Er erklärte Dario irgend-etwas, deutete mit der Hand nach vorne, dann nach links. Dario blinzelte leicht verstört, und antwortete ihm mit irgendetwas, bis Sante die Augen verdrehte und wieder nickte.
„Avanti!“, rief er und bedeutete uns ihm zu folgen, während er die Straße entlanglief. Nach einiger Zeit, die wir schweigend verbracht hatten, fragte Dario mich plötzlich, weshalb ich allein im Wald gewesen war. Ich zuckte die Schultern, doch als ich ihm ins Gesicht sah, begegnete ich einem mit-fühlenden Blick.
„Schon wieder traurig?“, fragte er sanft. Ich zögerte, doch schließlich fasste ich das ganze kurz zu-sammen.
„Stella hat mit so einem Typen, den ich eigentlich überhaupt nicht kenne- worüber ich auch dankbar bin- über mich geredet. Und über Schicksal, und so… Das war mir dann irgendwann zu blöd und ich bin einfach abgehauen.“
Dario sah mich so betroffen an, dass ich mich fragte, ob er mich überhaupt verstanden, oder ob er sich nur zusammengereimt hatte, was ich gesagt habe.
„Wie viel Uhr ist es eigentlich?“, fragte ich Dario schließlich, nachdem er mich nur eine Weile an-gesehen hatte. Als hätte ich ihn damit aus seinen Gedanken gerissen, zuckte Dario kurz zusammen und warf einen Blick auf seine Uhr.
„Siebsehne Uhr.“
„Scheiße!“, schrie ich erschrocken auf. Ich war fast vier Stunden im Wald umhergelaufen? Stella musste sich fürchterliche Sorgen machen. Oder doch nicht? Dario stupste mich in die Seite und ich erblickte vor uns die breite Einfahrt. Was hatten sie denn heute gemacht? Hatten sie Bescheid gesagt, dass ich verschwunden war? Würde ich Ärger bekommen?
Ich bog mit meinen beiden Begleitern in die Auffahrt ein und blieb stehen, um mich erst einmal unsicher umzusehen. Alles war seltsam ruhig. Sie schienen nicht da zu sein…
Ich bezweifelte, dass Stella mich vergessen haben könnte, aber es war auf jeden Fall niemand da. Dachte ich jedenfalls, bis ich plötzlich polternde Schritte hörte und Ben auf uns zugestürmt kam. Ich seufzte. Diesmal würde auch er mich sehen, wie ich dastand, als hätte ich mich zuvor im Dreck gewälzt- was ich ja eigentlich auch irgendwie getan hatte.
„Jane!“, rief er mir zu. Klang er tatsächlich erleichtert? Dann entdeckte er auch Dario und Sante hinter mir. „Wo bist du gewesen?“, fragte er überrascht.
„Im Wald“, antwortete ich ihm knapp. „Das hinter mir sind übrigens Dario und Sante.“, stellte ich die beiden vor, und deutete in ihre Richtung. Mit einem kurzen Blick versicherte ich mich, dass diesmal auch wirklich jemand da stand. Ben kam auf Sante zugelaufen. „Das ist also Dario?“, fragte er, und es schien eine leichte Bewunderung in seiner Stimme mitzuschwingen. Kein Wunder: Sante war muskulös, braungebrannt und sah alles in allem eigentlich wirklich nicht schlecht aus. Al-lerdings war er immer noch zehn Jahre älter als ich. Sante hatte ihn nicht verstanden und blickte verständnislos zu Dario, der ebenso wie ich zu lachen begonnen hatte.
„I binne Dario!“, sagte er, mit seinem italienischen Akzent. Ben starrte ihn schockiert an und brach-te mich damit noch mehr zum Lachen. Ich nickte.
„Ich dachte…“, brachte er stotternd hervor, bevor er in unser Lachen einfiel. „Tja, wenn das so ist.“, erwiderte er schließlich und fing sich damit sofort wieder einen warnenden Blick von mir ein. Ich verabschiedete mich von Dario und Sante, wobei Dario mich wieder fest drückte, während Sante mich nur flüchtig umarmte, um es seinem Großcousin- das war Dario doch für ihn, oder?- nachzu-tun. Ich lächelte beide an, bevor sie sich umdrehten und wieder die Straße hinunter verschwanden.
„Wo warst du, verdammt noch mal?“, wiederholte Ben. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
„Ach nein?“, fragte er wütend, „einiges, schließlich hat sich deine beste Freundin einiges an Sorgen und Schuldgefühlen gemacht!“ Sie hatte mich also nicht vergessen. Aber wo war sie?
„Sie ist mit den anderen zur Wanderung mitgegangen.“, erklärte er mir, nachdem ich eine entsprechende Frage gestellt hatte, und dabei versuchte, möglichst gelassen zu klingen.
„Und wo warst du jetzt?“, fragte er ein drittes Mal und setzte noch einen drauf, „du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du die ganze Zeit im Wald herumspaziert bist, oder?“
Ich lachte grimmig. „Nein, natürlich nicht. Ich war bei Dario und Sante und hab ein kleines Kaffeekränzchen abgehalten.“, erwiderte ich genervt. Ben sah mich zweifelnd an. „Verdammt, nach was seh’ ich denn aus, bitteschön?“
Als Ben doch tatsächlich damit begann, mich von oben bis unten zu mustern, verdrehte ich genervt die Augen.
„Ich hab ein Weilchen gebraucht, bis ich nach draußen gefunden hab, okay? Jetzt zufrieden?“, frag-te ich ihn wütend. Ben biss sich auf die Lippe, wie ich zufrieden bemerkte. Er schien das aus Unsi-cherheit zu tun, oder wenn ihm etwas peinlich war, das hatte ich inzwischen schon öfters beobachtet, während Stella sich damit immer das Lachen zu verkneifen versuchte.
„Okay, sorry.“, entschuldigte er sich kleinlaut, sodass ich zufrieden nickte.
„Was habt ihr den anderen erzählt, wieso ich nicht da bin?“, fiel mir plötzlich ein.
„Das du Kopfweh hast, und dich lieber etwas ausruhen willst.“
Ich nickte. Gar nicht mal so dumm, die beiden.
17
„Jane, wo warst du denn?“, hörte ich diese Frage nun schon zum vierten Mal an diesem Tag. Min-destens.
„Hab mich verlaufen.“, antwortete ich ihr, während ich weiter auf dem Bett liegen blieb, den Kopf auf den verschränkten Armen, und die Decke anstarrte.
„Oh.“, war alles was Stella herausbrachte, ehe sie sich neben mich auf das Bett setzte. „Es tut mir so Leid, Jane.“, sagte Stella plötzlich kleinlaut. Ich rührte mich erst einmal nicht. Ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte. „Weißt du“, fuhr Stella, die mein Schweigen wohl als Trotz und Wut gedeutet haben musste, fort, „ich hab irgendwie nicht darüber nachgedacht, dass dich das verletzen könnte, und so. Ich hab mir solche Sorgen gemacht.“ Ich seufzte.
„Ist schon okay, Stella. Wirklich.“, fügte ich auf ihren besorgten Blick hinzu. Stella sah aus, als würde sie gleich losweinen.
„Was dir alles hätte passieren können… du hättest… ach ich weiß auch nicht.“, seufzte sie. Ich gab mir alle Mühe, irgendwie aufbauend zu lächeln.
„Ist es aber nicht. Dario war ja dann schließlich da. Ich bin auch schön blöd, einfach völlig kopflos in den Wald zu rennen. Keine Ahnung, wie ich nur so dumm sein konnte…“, gestand ich murmelnd. Stella sah mich noch einen Moment an, dann lächelte sie. „Ich hab Ben zurückgehalten, weißt du das eigentlich? Er wollte dir nachlaufen und sich entschuldigen, aber ich hab mir gedacht, dass es besser wäre, dich jetzt allein zu lassen. Dass das ein Fehler war, hab ich ja später auch bemerkt.“, sagte sie und murmelte den letzten Satz wieder schuldbewusst. Ich grinste. Er wollte sich entschuldigen? Er wollte mir hinterherlaufen? Irgendwie hätte ich ihm das nicht zugetraut. Er hatte ja auch nichts gesagt, von wegen, er habe sich auch Sorgen gemacht. Na ja, was soll’s, beließ ich es schließlich dabei und wandte mich wieder Stella zu.
„Glaub mir, Stella, du hast das einzig Richtige getan. Ich hätte ihn vermutlich zerfleischt, wenn er versucht hätte, mich aufzuhalten.“
„Ja, eben das hab ich mir ja auch gedacht.“, seufzte sie und lachte. „Wenigstens hast du ja hierher zurückgefunden.“, meinte sie dann erleichtert. Ich nickte und setzte mich auf. Eigentlich hätte ich es mir ja denken können, doch trotzdem überraschte es mich, als Stella das ausnutzte und mir um den Hals fiel. Im ersten Moment saß ich nur starr da, doch dann erwiderte ich ihre Umarmung schließ-lich doch.
Ein Klopfen brachte Stella dazu, sich von mir zu lösen.
„Stör ich?“, hörte ich Mias Stimme von der Tür aus. Wir schüttelten den Kopf. „Gut. Ich wollte nur einmal nach dir sehen, Jane. Und anscheinend, geht’s dir besser.“, sagte Mia und lächelte.
„Ja, es tut mir echt Leid, dass ich nicht mit konnte.“, sagte ich freundlich. Auch wenn es wahr-scheinlich keinen großen Unterschied gemacht hätte- eigentlich bin ich heute doch auch gewan-dert…
„Na ja, solange es dir jetzt wieder besser geht.“ Mia kam etwas näher und musterte mich genau. „Irre ich mich, oder wirkst du doch ein wenig blass?“, fragte sie verwundert. Stella beugte sich über mich und sah mich nachdenklich an. „Stimmt, ein wenig bleich ist sie schon.“ Wirklich?, wunderte ich mich und fuhr mit den Fingern an meine Wange, als könnte ich deren Farbe dadurch erkennen. Doch alles was ich spürte, waren die schwachen, linienförmigen Erhebungen, an den Stellen, an denen sich die Kratzer befanden. Erstaunt stellte ich fest, dass sie kaum noch brannten. Dann ließ ich die Hand wieder sinken. Wenn ich blass war, dann lag es vermutlich daran, dass ich Ewigkeiten allein durch den Wald geirrt war. Das schien auch Stella zu erkennen, denn sie wandte sich Mia wieder zu und sagte ruhig: „Vermutlich ist sie eben doch noch nicht vollständig auf den Beinen. Etwas schlapp eben.“ Sie lächelte und auch Mia schien das einzusehen. „Jane, du willst also keinen Arzt, wenn ich das richtig verstehe.“
„Nein, ich denke nicht. Ich komme auch nachher zum Essen.“, sagte ich und dachte daran, dass Mia wohl nicht bemerkt hatte, wie ich beim Mittagessen aus dem Raum geflüchtet war. Ich hatte sie dort ja schließlich auch gar nicht gesehen.
Hinter Mia wurde die Tür ein weiteres Mal geöffnet und Vivi, wie immer mit Romina im Schlepp-tau, tauchte auf. Sie warf unserer Campleiterin einen fragenden Blick zu, mir hingegen einen eiskal-ten, dem ich ausdruckslos begegnete.
„Gute Besserung dann nochmals.“, sagte Mia schließlich, nickte uns zu und verschwand dann durch die Tür.
„Was hast du mit Ben zu tun?“, fuhr Vivi mich wütend an, kaum dass die Tür sich hinter Mia geschlossen hatte. Ich hob die Schultern und senkte sie wieder. „Nichts.“, antwortete ich ihr und setzte eine ahnungslose Miene auf. Stella grinste.
„So, nichts also?“, wiederholte Vivi. Ich nickte.
„Wieso fragst du?“, erkundigte ich mich lächelnd. Vivis wütendes Gesicht war einfach wunderbar anzusehen.
„Weil er sich ganz deutlich umgesehen hat und sich dann zu euch gesetzt hat! Ich hab’s doch genau gesehen.“, rief sie empört.
„Stimmt. Das hat er. Aber deswegen habe ich noch längst nichts mit ihm zu tun.“
„Ach nein?“, fragte Vivi.
„Glaub mir, ich für meinen Teil kann ihn nicht ausstehen.“
„Bist du deswegen abgehauen?“, wies sie auf meinen fürchterlichen Abgang hin. Ich seufzte.
„Das hatte nichts mit ihm zu tun. Mir ging es einfach nicht so gut.“, erklärte ich ihr.
„Ach komm. Es ist vollkommen klar, dass du nicht mit Kopfschmerzen hier lagst. Du warst nämlich nicht da, als ich vorbeigeschaut habe.“, sagte sie triumphierend. Ich wandte mich Hilfe suchend an Stella.
„Da war sie vermutlich gerade auf dem Klo.“, half sie mir schnell. Vivi zog die Brauen hoch.
„Sicher. Dann ist es also nur Zufall, dass sowohl Jane, als auch Ben hier waren?“, fragte sie miss-trauisch.
Ich nickte. „Ich hab ihn in den ganzen vier Stunden nicht zu Gesicht bekommen.“, antwortete ich ihr und diesmal war es ja wirklich nicht gelogen.
„Aha.“, antwortete Vivi knapp. „Mir kann’s ja egal sein. Du wärst sowieso nichts für ihn.“, sagte sie und begann zu lächeln.
„Tja, da sind wir uns ausnahmsweise mal einig.“, grinste ich und warf Stella einen Blick zu, der meine Aussage nochmals unterstreichen sollte. Auch ohne, dass sie ein Wort sagte, wusste ich, dass ihr die Worte „Wir werden sehen.“ wieder mal auf der Zunge lagen.
Diesmal erschien Ben nicht zum Essen. Es wunderte mich eigentlich auch nicht wirklich. An seiner Stelle würde ich vermutlich auch immer zu Hause essen, wo mir meine Portion sicher war und wo ich keine brüllenden Sechzehnjährigen um mich hatte, die sich wie Kleinkinder verhielten. Stella war mir da wirklich keine Hilfe- sie gehörte immerhin zu diesen Sechzehnjährigen dazu. Sie unter-hielt sich nämlich mit Tristan, oder Josha? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Stella hatte irgend-wann mal etwas erwähnt, dass sie sich mit einem der Zwillinge angefreundet hatte, und sie hatte mir ihre Namen gesagt- von wem sie aber nun genau gesprochen hatte, das hatte sie mir nicht erzählt. Der schwarzhaarige Junge, der neben ihr saß, hatte ihr gerade irgendetwas erzählt, was wohl total komisch gewesen sein musste, denn schließlich hatte sie lautstark zu lachen begonnen. Vielleicht wollte sie ihn damit aber auch nur glücklich machen, da sie sich vorgenommen hatte, ihn zu ‚erobern’. Wie auch immer, ich interessierte sie im Moment jedenfalls gar nicht. War aber auch nicht nötig, entschied ich, während ich mein Brot mit einer dünnen Schicht Butter bestrich. Dann belegte ich es noch mit drei Salamischeiben und begutachtete mein Werk zufrieden, bevor ich es hochnahm. Gerade, als ich den ersten Bissen davon nehmen wollte, beugte Stella sich zu mir: „Jane, stell dir vor, Tris hat mir gerade erzählt…“
Ich hatte mich wieder völlig sinnlos erschrocken, nur leider fiel mir dabei auch noch das Brot her-unter. Wie es nun mal üblich war, landete es mit der bestrichenen Seite unten schön auf meinen schwarzen Shorts. „Danke.“, murmelte ich an Stella gerichtet, während ich vorsichtig die Salami-scheiben von der Hose sammelte. Wenig überrascht stellte ich fest, dass sie dunkle Flecken darauf hinterließen, denn eigentlich musste es mich ja nicht wundern: Wann ging denn bei mir bitte mal nicht alles schief? Zumindest wusste ich jetzt, dass es sich bei dem Jungen wohl um Tristan zu han-deln schien.
Stella kicherte, nachdem sie ein kurzes „’tschuldigung.“ genuschelt hatte. „Jedenfalls“, begann sie weiter zusprechen, „hat Tris mir eben erzählt, dass Josh mit Ben befreundet ist. Die drei kennen sich schon seit Ewigkeiten. Deshalb sind sie auch schon letztes Jahr hier dabei gewesen.“ Ich nickte möglichst desinteressiert und wandte mich einer wichtigeren Aufgabe zu:
meinem Abendessen.
Also legte ich die Salamischeiben mit äußerst konzentriertem Gesichtsausdruck wieder auf ihren Platz am Brot zurück.
„Jane?“, fragte Stella und zog meinen Namen dabei unnatürlich in die Länge.
„Hm?“, wandte ich mich um, als hätte ich sie nicht gehört. Musste sie eigentlich immer von Ben anfangen? Ich seufzte.
„Schön für Josh. Er tut mir ehrlich Leid.“, antwortete ich schließlich. Stella und Tristan begannen so synchron zu grinsen, dass ich erstaunt die Stirn runzelte und die beiden musterte.
„Alles klar bei euch?“, fragte ich verwirrt.
„Klar“, antwortete Tris mir, „übrigens würde ich kein Mitleid für meinen Bruder aufbringen. Au-ßerdem ist Ben echt okay.“
Ich sah den Jungen aus müde wirkenden Augen an. Verstand er nicht, dass mich das nicht interes-sierte? Ob Ben ‚okay war’ oder auch ein Riesenidiot- auch wenn ich mehr an letzteres glaubte. Doch, er schien es zu bemerken. Etwas eingeschüchtert wandte er sich wieder Stella zu, die mir einen bösen Blick zuwarf. Ich grinste zufrieden vor mich hin- die beiden achteten ab jetzt sowieso nicht mehr auf mich- und biss endlich doch noch in mein Salamibrot.
18
Ich stopfte die Zahnpasta in den kleinen schwarzen Kulturbeutel und warf dann noch einen schnel-len Blick in den Spiegel. Ich machte vielleicht immer noch nicht den besten Eindruck, aber be-stimmt einen mindestens zehnmal besseren, als vor wenigen Tagen noch am Flughafen. Meine Klamotten hatten zurzeit keine Flecken, meine Haare waren relativ ordentlich gekämmt, wie sie offen bis zu den Schultern herabfielen, und auch meine Augen wirkte nicht mehr so schläfrig. Das einzige, was mich jetzt vielleicht noch etwas hätte stören können, waren die noch immer als blassrote Striemen erkennbaren drei Kratzer.
„Wie spät ist es?“, fragte ich Vivi, die gerade damit beschäftigt war, sich Wimperntusche aufzutra-gen. Wie gut, dass ich mir dieses Geschäft ersparen konnte. Ich schminkte mich sowieso fast nie, wenn es nicht einen besonderen Grund dafür gab, oder mich irgendwer dazu zwang. So viel wert legte ich nun auch wieder nicht auf mein Äußeres.
„Halbe Stunde noch.“, antwortete sie mir auf die darin versteckte Frage, wie lange wir noch bis zum Mittagessen hatten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Ich beschloss, sie einfach mal nicht danach zu fragen, woher sie das wusste- vermutlich hatte sie einfach kurz zuvor auf die Uhr gesehen.
Ohne mich zu verabschieden- warum sollte ich auch, es handelte sich hier schließlich immer noch um Vivi- ging ich auf den Ausgang zu, stockte jedoch plötzlich mitten in der Bewegung. Ich starrte auf eine Fläche direkt vor meinen Füßen, wo eine kleine Pfütze schimmerte, in der sich mein Ge-sicht und ein Teil der Decke spiegelten. Nein, diesmal würde ich nicht auf die Nase fallen, dachte ich innerlich lachend und machte einen breiten Schritt über sie hinweg. Stolz, endlich mal nicht auszurutschen, obwohl die Möglichkeit dazu vorhanden gewesen war, rannte ich nach draußen. Dann drehte ich mich nochmals um, warf der Wasserlache einen gewinnenden Blick zu und streckte ihr sogar noch kurz die Zunge raus, was mir den fragenden Blick eines Mädchens einhandelte, das gerade aus dem Raum mit den Toiletten gekommen war. Ich hätte mich beinahe peinlich berührt geräuspert, schließlich war es sonst nicht meine Art, anderen Menschen, geschweige denn einer Pfütze, eine Grimasse zu schneiden. Doch so tief, genau das zu tun, war ich glücklicherweise noch nicht gesunken. Während ich rückwärts weiter nach hinten lief und mich gerade wieder umdrehen wollte, rannte ich plötzlich gegen irgendetwas. Wer oder was es auch war bewegte sich nach hinten und, ohne etwas das mich aufhielt, taumelte geradewegs hinterher, bis ich mein Gleichgewicht schließlich gar nicht mehr halten konnte und, innerhalb dieser paar Minuten, doch noch zu Boden fiel. Durch den erschrockenen Schrei wurde mir, auch ohne dass ich mich umdrehte, klar, dass ich nicht die einzige war, die es hingehauen hatte.
„Was sollte das denn?“, fragte eine bekannte Stimme, die mich zusammenfahren ließ. Ich rappelte mich hastig wieder auf und sah auf Ben herab, den es etwas schlechter getroffen hatte, was ich je-doch einfach mal ignorierte und mir trotzdem alle Mühe machte, ihn fertig zu machen.
„Du hast echt ein Talent, vor Toilettentüren mitten im Weg zu steh’n, oder?“, fragte ich ihn genervt. Die Stellung, in der sich Bens Arme und Beine befanden, so wie er dalag, sah irgendwie seltsam kompliziert- und dadurch auch ziemlich schmerzhaft- aus, ganz davon abgesehen, dass ich für we-nige Sekunden zusätzlich auch noch halb auf ihm gelegen hatte. Mühsam versuchte er sich aus die-ser Haltung zu befreien und streckte mir Hilfe suchend eine Hand entgegen, doch ich dachte gar nicht daran, sie zu ergreifen und er ließ sie schlapp wieder sinken.
Kurz darauf hatten sich seine Gliedmaßen zwar wieder mehr oder weniger entwirrt, trotzdem schien er beschlossen zu haben, sich nur auf den Armen abzustützen und sich aufzusetzen.
„Was gab’s zu sehen, dass du so konzentriert da hingestarrt hast, statt in die Richtung, in die du läufst?“, fragte er grinsend.
„Nichts.“, antwortete ich ausweichend, schließlich wollte ich mich nicht so weit Herhabbegeben, ihm zu erzählen, dass ich einer Pfütze die Zunge rausgestreckt hatte. Er lachte, als ahne er irgend-etwas, dann sah er mich noch einmal nachdenklich an und legte den Kopf schief. „Aha, na wenn das so ist.“, schien er es schließlich aufzugeben, als ich nichts weiter sagte. „Na schön, ich wollte dich ja sowieso suchen.“
Ich sah in fragend an. Warum das denn?
„Ich wüsste nicht, weswegen du das tun solltest.“, sagte ich betont hochgestochen, und hoffte, dass ihm der abwertende Tonfall auffiel. Doch falls er ihn bemerkte, dann ging er zumindest nicht darauf ein.
„Tja, weil ich mit dir reden wollte.“, antwortete er mir.
„Oh, jetzt weiß ich genau, was du meinst.“
Er lächelte mich mit einem so mitleidigen Gesichtsausdruck an, dass ich ihm am liebsten eine run-tergehauen hätte. Als hätte er das bemerkt, wurde er mit von einer Sekunde auf die andere wieder todernst und sah mich an.
„Das mit gestern tut mir leid.“, sagte er dann.
„Muss es nicht.“, erwiderte ich schnell, um ihm klar zu machen, dass ich darüber jetzt wirklich nicht reden wollte. Er schien mich zu verstehen, dass glaubte ich zumindest an seinem Blick zu er-kennen, doch er sprach trotzdem weiter darüber.
„Jedenfalls hat Stella doch gemeint, du würdest glauben, mich besser zu kennen, als du es tust, und könntest mich deswegen nicht ausstehen.“, fasste er ihre Worte zusammen. Ich verdrehte die Augen.
„Das glaubst du ihr doch wohl nicht wirklich, oder? Gott, dann bist du noch dümmer, als ich ge-dacht hatte.“
„Siehst du, du tust es schon wieder.“
„Was?“, fragte ich verständnislos.
„Du urteilst über mich. Obwohl du mich nicht kennst.“
„Ich urteile nicht. Oder… vielleicht schon, aber das ist eben Intuition. Ich kenne dich nicht, und habe auch nicht das Bedürfnis, es zu tun.“
„Aber woher“, fragte er weiter, „willst du das wissen, wenn du doch nicht weißt, wie es wäre, mich zu kennen.“
„Da ich das aber auch nicht will, werde ich es nie herausfinden, und bin darüber logischerweise auch nicht traurig, da es mich ja nicht interessiert.“
„Aber vielleicht würdest du es ja gar nicht bereuen. Vielleicht wärst du später froh, dass du mich besser kennen gelernt hast, auch wenn du jetzt denkst, dass du das nicht willst.“
„Das ist doch scheiß egal!“, fuhr ich ihn wütend an. Was sollte dieses Gelaber von wegen, ‚was wäre wenn…’? Das war sinnlos. Und vor allem war es verwirrend. Ben lachte.
„Findest du?“ Ich nickte zur Antwort nur und warf ihm einen eisigen Blick zu. „Wie auch immer: Ich habe jedenfalls beschlossen, dir zu zeigen, dass ich vielleicht weniger unausstehlich bin, als du denkst.“
„Das glaube ich kaum. Ich denke, du kannst dir die Mühe gleich sparen.“, riet ich ihm. Doch er schien meine unmotivierenden Worte einfach nicht hören zu wollen.
„Wir werden ja sehen.“, sagte er, und setzte ein unverschämtes Grinsen auf. Ich schloss einen Mo-ment genervt die Augen, schwieg aber. Es hätte keinen Sinn, jetzt noch länger mit ihm darüber zu reden. Er würde sich von seinem komischen Plan sowieso nicht abbringen lassen.
„Du willst mir nicht zufällig doch aufhelfen?“, fragte er nach einiger Zeit plötzlich und durchbrach damit die Stille.
„Nein.“, antwortete ich knapp. Er nickte.
„Das hatte ich mir irgendwie schon gedacht.“, meinte er dann und stand mühsam alleine auf.
„Hey, Jane.“, hörte ich Vivis begeisterte Stimme mit einem Mal und ihre Schritte, als sie auf uns zugestürmt kam, während Ben sich den Dreck von der Hose abklopfte. Er warf mir einen fragenden Blick zu, den ich möglichst genervt erwiderte. Ich drehte mich nicht nach Vivi um, sondern fragte mich nur im Stillen, was sie vorhatte, dass ihre Stimme so freundlich klang und so, als seien wir die besten Freundinnen der Welt. Wir warteten bis sie neben uns getreten war und lächelnd von mir zu Ben sah.
„Wer ist das?“, fragte sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ich ihn ihr vorstellte. Ich seufzte.
„Du weißt wer das ist, Vivi.“, sagte ich genervt.
„Was bist du denn so schlecht drauf?“, fragte sie mit sorgenvollem Blick.
„Das geht dich gar nichts an.“, antwortete ich und schenkte ihr ein artiges Lächeln, bei dem jedoch nicht zu übersehen war, wie ironisch es im Grunde gemeint war. Doch als Vivi dieses Lächeln um einige Grade freundlicher erwiderte, näher zu mir trat und sich dann auch noch auf meiner Schulter auflehnte, reichte es mir endgültig.
Ich trat ruckartig zur Seite, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und starrte sie wü-tend an.
„Hast du den Verstand verloren?“, fuhr ich sie an und begegnete in ihrem Gesicht einer wahren Unschuldsmiene. Sie blinzelte mich einige Male gespielt verwundert an, bis ich es nicht mehr aus-hielt und genau das tat, was sie von mir verlangte.
„Okay!“, sagte ich wütend. „Ben, das ist Vivi. Vivi, das da ist Ben, wie du wohl weißt. Unternehmt ihr bitte irgendwas zusammen, womit ich euch beide möglichst lange vom Hals habe?“
Sowohl Vivi, als auch Ben starrten mich erstaunt an.
Ich verdrehte die Augen. Die beiden hatten sich wirklich verdient: einer schlimmer als der andere.
„Was hast du denn auf einmal?“, fragte nun auch Ben. Das wollte er wirklich wissen? Er war doch mindestens genauso an meiner schlechten Laune schuld, wie die brav lächelnde Blondine neben ihm. Ich sah ihm einen Moment fest in die Augen, in der Hoffnung, er würde es schließlich aufgeben und wegsehen. Doch als das nicht geschah, kam mir doch tatsächlich Vivi zu Hilfe- auch wenn sie wohl mehr aus Eigennutzen handelte. Sie stupste Ben mit ihrem Zeigefinger in die Seite und sah ihn lächelnd an.
„Bist du nicht Mias Sohn?“, erkundigte sie sich lächelnd, um ihn abzulenken.
„Ja“, antwortete er ihr und drehte sich wieder nach mir um, „aber…“
Er brach ab, als er bemerkte, dass ich schon diesen kleinen Augenblick, den er von mir abgewandt war, genutzt hatte. Ich hatte mich auf dem Absatz umgedreht und lief nun möglichst schnell, aber immer noch ohne zu rennen, auf unsere Hütte zu, froh endlich weg von den beiden zu kommen. Bens „Jane, jetzt warte doch mal!“ ignorierte ich dabei zufrieden lächelnd. Einige Sekunde fragte ich mich tatsächlich, wer von ihnen das größere Übel war. Doch ich konnte irgendwie zu keinem richtigen Schluss kommen. Am besten hielt ich mir einfach alle beide vom Hals, damit konnte ich vermutlich am besten Leben.
19
Gut, ich hatte ein Problem, gestand ich mir schließlich ein, als ich auf der Wiese einige Meter neben dem großen Platz im Gras saß und in das grellweiße Licht der Nachmittagssonne starrte, während Stella und Tris sich neben mir begeistert über Gott und die Welt zu unterhalten schienen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Die beiden kannten sich kaum mehr als zwei Tage und schon führten sie angeregte Gespräche über ihre Meinungen zu Themen wie Schicksal, Religionen, die Frage, was denn nun stimmte- die Evolutionstheorie und der Urknall, oder die Schöpfungsgeschichte-, Hexerei und Zauberei und die mit diesem Glauben verbundenen Gemetzel und Verbrennungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit, die Klimakatastrophe und die Erder-wärmung- wobei Stella ständig von dem Schicksal der armen Eisbären klagte, und schließlich begannen sie sogar über Schule und- was am schlimmsten war- über Politik zu reden. Ich hatte von letzterem nicht die geringste Ahnung und auch Stella hörte hauptsächlich zu, oder warf irgendetwas ein, das sie im Fernsehen einmal aufgeschnappt hatte, doch Tris war in dieser Sache ganz eindeutig in seinem Element. Stella hatte mir zwar erzählt, dass seine Mutter irgendeine Politikerin bei den Grünen- kein Wunder also, dass er mit den armen Eisbären ebenso litt wie Stella- war, doch trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass er sich in diesem Thema derart gut auskannte.
Irgendwann hatte ich jedenfalls aufgehört, den beiden auch noch mit halbem Ohr zuzuhören und begonnen, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Und dabei hatte ich mein Problem erkannt.
Ich hatte darüber nachgedacht, ob es manchmal nicht besser wäre, ein wenig mehr wie Stella zu sein. Unbeschwert über irgendwelche Dinge zu reden, anstatt in mich gekehrt vor mich hinzutrödeln und mich von jedem, der mich dabei störte, angegriffen zu fühlen, erschien mir eigentlich tatsächlich etwas besser. Allerdings hasste ich es, über irgendwelche belanglosen Angelegenheiten zu sinnieren, was die Sache nun mal nicht gerade vereinfachen würde. Doch wenn ich, wie in diesem Moment, an für mich wichtigere Dinge dachte, dann waren es meist welche, über die nachzudenken mich eigentlich auch nicht glücklich machen konnte. Da waren zum Beispiel all die Erinnerungen, die mir dabei oftmals aus heiterem Himmel wieder ins Gedächtnis sprangen, als wollten sie mich einfach nur an den Rande eines Nervenzusammenbruchs bringen. Oder die Gedanken an meine Mutter, an Sven, an eben alles, was mit meinem derzeitigen Leben zu tun hatte. Und manches kam mir so kompliziert vor, dass ich allein beim Nachdenken Kopfschmerzen bekam. Auch wenn die vielleicht auch daher rühren konnten, dass ich seit mehreren Minuten ununterbro-chen in den runden Kreis der Sonne blickte. Konnte man davon nicht blind werden? Schnell wandte ich den Kopf zur Seite und blinzelte einige Male, bis die schwarzen Flecken einigermaßen verschwunden waren. Noch immer sah alles ein wenig… dunkler und verschwommener aus, als es eigentlich hätte sein sollen, aber blind schien ich immerhin nicht zu sein. Ich sah einen Moment lang zu Stella, die noch immer neben Tris im Gras lag und munter drauflos redete. Diesmal ging es um seine Familie.
„Ich hab nichts gegen meinen Bruder, Stella. Aber deswegen muss ich doch nicht die ganze Zeit mit ihm rumhängen, oder?“, fragte er sie lächelnd. Stella verzog das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse.
„Ich wäre froh, wenn meine Schwester so alt wäre wie ich, und nicht erst acht. Ich hab mir immer eine Zwillingsschwester gewünscht. Schau mal, ihr könntet die besten Freunde sein, aber stattdessen steht ihr immer so weit wie möglich voneinander entfernt.“
Ich hörte, wie Tris leise und genervt seufzte.
„Ich sehe ihn jeden Tag und ich wohne auch noch mit Josh unter einem Dach. Das ist doch wohl genug. Außerdem stehen wir nicht so weit wie möglich voneinander entfernt. Glaub mir, wir sind einfach froh, dass wir wenigstens hier unterschiedliche Hütten haben.“
Doch Stella schien nicht nachgeben zu wollen. Es stimmte, sie hatte sich früher immer beschwert, wie gerne sie Lissy gegen eine gleichaltrige, weniger quenglige Schwester eingetauscht hätte.
„Aber das ist doch einfach nur dumm. Ich finde, ihr solltet total befreundet sein. Dann hättet ihr doch einfach ein super Leben.“
Tris machte ein so verzweifeltes Gesicht, dass ich mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen konnte und kurz auflachte. Stella warf mir einen warnenden Blick zu, doch ich wusste, dass sie es nicht wirklich ernst meinte- welche Gefahr sollte mir auch von ihr drohen? Tris jedoch, der sich ebenfalls zu mir umgewandt hatte, schien mich vielmehr um Hilfe anzuflehen. Warum auch nicht, überlegte ich schließlich. Es würde mich wenigstens einmal ablenken.
„Stella.“, sagte ich, während ich näher zu ihr rückte und ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern legte. „Du kannst doch gar nicht wissen, wie das ist. Schließlich hast du nur deine süße, kleine Lissy.“
Stella sah mich irritiert an.
„Hast du gerade ‚süß’ gesagt?“, fragte sie so schockiert, dass ich mir ernsthaft überlegen musste, welches ihrer Worte sie mehr betont hatte: Das ‚süß’- oder das ‚du’. Als ich mir nach einigen Sekunden immer noch nicht sicher war, beschloss ich, sie einfach nur anzugrinsen, ansonsten aber lieber zu schweigen, bis sie sich schließlich wieder Tris zuwenden würde. Meine Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, sodass ich mir eingestehen musste, dass mein Plan eindeutig nicht funktioniert hatte. Stella starrte mich weiterhin verwirrt an und wartete, doch sie drehte sich einfach nicht wieder um.
„Alles in Ordnung, Stella?“, fragte Tris schließlich vollkommen perplex, als nichts geschah. Stella starrte ihn abrupt an, und nach und nach schien sie wieder etwas zu sich zu kommen. War ich wirklich so schlimm, dass meine Worte derart verstörend auf sie wirken konnten? Keiner von uns sagte etwas, dafür war jeder für sich viel zu verdutzt: Stella, weil sie sich vermutlich über meine Worte gewundert hatte; Tris, weil er nicht wusste, worum es überhaupt ging; und ich, weil mir nicht klar war, was genau Stellas Reaktion hervorgerufen hatte und warum. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Stella unwohl auf ihrer Unterlippe herumkaute, bis sie das Schweigen schließlich nicht mehr auszuhalten schien.
„Also, wo waren wir noch gleich?“, fragte sie, wobei ihre Stimme viel schriller klang, als es wohl beabsichtigt war. Tris warf mir einen fragenden Blick zu, den ich mit einem Schulterzucken er-widerte.
„Ich glaube, wir haben von… ähm, von deiner Schwester geredet?“ Tris Worte waren mehr eine Frage, als eine Feststellung. Stella nickte.
„Ja, kann sein.“ Wieso, verdammt noch mal, zitterte ihre Stimme? Was war denn los, bitteschön?
„Jane, du… du hast doch was gesagt. Von… Lissy, oder?“, begann sie, den Faden wieder aufzunehmen. Ich blinzelte verwirrt, doch dann nickte ich.
„Ich sagte, dass du nicht wissen kannst, wie es wäre, eine Zwillingsschwester zu haben, weil du ja… weil du doch nur Lissy hast, und so.“, antwortete ich leise. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich gehört hatten, ehe Stella stoßweise einatmete und schließlich den letzten Rest Verwirrung aus ihrem Geist zu verbannen schien. „Ja, richtig. Da waren wir.“, sagte sie schnell und diesmal war ihre Stimme ruhig und gleichzeitig leicht aufgedreht, wie ich es gewohnt war. Auch Tris An-spannung schien mit ihren Worten schlagartig von ihm abzufallen, und seine gerunzelte Stirn glättete sich allmählich. Während ich noch immer einige Sekunden verwirrt vor mich hinstarrte, wobei ich abermals den Fehler machte, die Sonne zu betrachten, nahmen die beiden ihr Gespräch wieder auf, auch wenn sie nun das Thema wechselten und darüber sprachen, wie Tris mit einer Politikerin zur Mutter eigentlich klar kam…
Wieder verbannte ich ihre Stimmen in den hintersten Teil meines Hirns und bekam kaum mehr et-was davon mit. Von dem grellen Licht wurde mir abermals schwindelig, doch das viel mir erst auf, als es bereits soweit war. Zittrig legte ich mich nach hinten ins Gras. Es war unerwartet kühl und tat meinem schmerzenden, verwirrten Kopf tatsächlich gut. Langsam schloss ich die Augen und lauschte dem beruhigenden Zwitschern der vielen Vögel in den Bäumen und dem sanften Brausen des Windes in ihren Kronen, die über und über mit saftigen grünen Blättern bedeckt war. Es dauerte nicht lange, und ich war mir nicht einmal mehr darüber bewusst wo ich war: nämlich in einem Fe-rienlager in Italien, neben der tratschenden und kichernden Stella und dem nachsichtig lächelnden Zwilling Tris. Ich fühlte mich vielmehr, als wäre ich irgendwo auf einer riesigen Waldlichtung, umgeben von Natur und vollkommen allein. Und schließlich sank ich tatsächlich immer tiefer und tiefer in einen tiefschwarzen Abgrund, bis ich zum ersten mal, seit mehreren Jahren, wieder davon träumte…
Ich starrte aus dem Fenster, hinaus auf den vom Regen dunkel gefärbten Asphalt. An all den ande-ren Wagen rasten wir so schnell vorbei, dass ich jeden nur für einen kurzen Moment erblickte, ehe er weit hinter uns aus meinem Blickfeld verschwand. Schließlich konzentrierte ich meinen Blick nicht mehr auf die Spur der Autobahn, rechts von uns, sondern direkt auf die schwach getönte Scheibe meines Fensters. Ich sah den Wassertropfen zu, wie sie, ebenso rasend schnell, wie wir fuhren, ihre Bahnen zogen, sich meistens in die bereits von anderen Tropfen gezogenen Läufe einreihten, oder sich zuweilen auch ihre eigenen Wege bahnten. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Tropfen erblickte, konzentrierte ich mich nur auf ihn, und schloss innerlich mit mir Wetten ab, wo er entlang fließen würde. Es vertrieb mir zumindest eine Zeit lang die Langeweile. Die zweite Art, mit der ich gegen sie ankommen konnte, war mit ihm zu reden. Allerdings konnte ich mir eher selten aussuchen, welche Möglichkeit ich gerade wählen sollte, denn entweder er sagte einfach etwas, oder er tat es eben nicht.
„Schatz, weißt du zufällig, ob deine Mutter heute Abend kocht?“, fragte er mich und warf mir einen schnellen Blick zu. Ich grinste. Wie konnte er eigentlich so schlank bleiben? Wenn ich mir die Väter einiger meiner Freundinnen anschaute, dann war es doch immer wieder erstaunlich, dass meiner es schaffen konnte, trotz seines ständigen Hungers so dünn zu bleiben.
„Nö, keine Ahnung.“, antwortete ich ihm schließlich. Er seufzte.
„Ich hoffe doch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich für einen Mordshunger hab!“ Ich zog die Augenbrauen hoch und lachte.
„Oh doch. Ich vermute, den gleichen wie sonst auch.“ Mein Vater holte scharf Luft, doch ich wuss-te, dass er es nicht ernst meinte.
„Du bist ganz schön gemein, findest du nicht?“, fragte er und ein leichtes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Hastig versuchte er es zu verbergen, doch er scheiterte kläglich. Ich lachte auf, als ich die Grimasse erblickte, die er stattdessen zustande gebracht hatte. „Jetzt machst du mich auch noch fertig? Wer hat dich eigentlich so erzogen?“, fragte er.
„Du, Paps. So was hab ich ganz eindeutig von dir.“, sagte ich, noch immer prustend.
„Das glaube ich aber nicht.“, erwiderte er. Doch sein beinahe schon trotziger Tonfall stimmte einfach nicht mit seinem Gesichtsausdruck überein, was die ganze Sache noch komischer machte. Denn diesmal versuchte er nicht, seine Belustigung zu verstecken und sein breites Grinsen, trug nicht gerade dazu bei, dass ich Erfolg damit hätte haben können, meinen Lachanfall zurückzuhalten. Und ich schaffte es tatsächlich nicht. „Hör auf, zu lachen!“, sagte er, und noch immer passten sein Grinsen und sein wütender Tonfall einfach nicht zusammen. Sie widersprachen einander einfach viel zu sehr, als dass es nicht vollkommen verwirrend wirken könnte. Lachend rang ich nach Luft und versuchte mich allmählich zu beruhigen, indem ich den Blick von ihm abwandte und wieder nach draußen auf die triste, graue Autobahn richtete.
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2011
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