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Manche Menschen sagen, ein Kuss sei ein Augenblick reiner Liebe und Lust. Aber wenn es doch ein Augen

blick ist, warum habe ich dann meine Augen geschlossen. Warum sehe ich ihn nicht an? Werfe keinen Blick auf ihn. Ich spüre seine Lippen auf den meinen, aber ich sehe nichts. Ich fühle. Aber vor allem denke ich. Will ich das wirklich? Will ich, dass dieser Junge mich küsst? Er will es, das weiß ich. Aber dass Phil in mich verliebt ist, das weiß ich nicht erst seit heute, oder seit gestern. Macht es einen Unterschied, dass er es mir gesagt hat? Macht das wirklich so einen großen Unterschied? Ich spüre, wie er sanft mit der rechten Hand über meinen Rücken streicht. Es macht ihn glücklich – ich

mache ihn glücklich. Aber kann er mich je glücklich machen. Ich wollte ihn doch immer. Ihn

, den sportlichen, beliebten, smarten Jungen, den eigentlich alle wollten. Ich wollte nur eben, dass er auf mich

zukommt, nicht anders herum, damit alle sehen können, dass er mich begehrt, mich liebt, mich will. Aber war es richtig, seinen Kuss zuzulassen. Ja, ja

, das war es, was ich wollte. Nein – Nein! Das ist

es doch noch immer, was ich noch immer will. Seine Lippen, seine Zunge mit den unzähligen Sinneszellen meines Mundes zu ertasten, das habe ich mir immer vorgestellt, und jetzt endlich kann ich es spüren. Hier und jetzt. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als darüber nachzudenken

? Das kann doch nicht richtig sein. Und dennoch – es gefällt mir. Es fühlt sich nicht… schlecht an. Also schlinge ich meine Arme um Ben und… um Phil. Nicht um Ben. Es ist Phil, den ich gerade küsse! Ist es doch, oder? Mein Traum ist doch wahr geworden? Gott, wie kann ich jetzt an Ben denken. Meinen besten Freund. Meinen besten Freund, der sich auf einmal in den Kopf gesetzt hat, mein fester Freund werden zu wollen. Und der damit alles durcheinander gebracht hat, und mir ein Gefühl geschenkt hat, als hätte jemand meinen Kopf in eine Betonrührmaschine gesteckt und ihn mir zwei Stunden später als Klotz wieder aufgesetzt. Mit einem Inhalt, so glitschig und klebrig wie Götterspeise – nur, das nichts daran göttlich ist. Ich küsse Phil, dessen linke Hand in meinem Haar vergraben ist als wollte sie nie wieder fort von dort, meine eigenen Arme berühren dabei nur leicht seinen Körper, und in Gedanken stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, einen anderen zu küssen. Wie lange hängt er nun schon an meinen Lippen, oder ich an den seinen? Ich glaube, es ist kaum eine halbe Minute vergangen, auch wenn es sich nach viel mehr anfühlt. Und ich versuche, den Stecker zu ziehen und die Gedanken abzuschalten, die Bilder einzusperren, die mir plötzlich erscheinen. Bens Lächeln. Die braunen Augen, denen ich nie etwas hatte abgewinnen können, doch nun scheint mir, als könnte ich mich darin verlieren wie in einem großen…braunen…Ozean? Wie romantisch. Doch es hört trotzdem nicht auf. Die Schaufel, die er mir geklaut hat, als wir noch Kinder waren und dann aus Angst ich wäre ihm böse in seinem Zimmer gehortet hat, bis ich sie mit zehn irgendwann einmal verwirrt aus einer Schublade gezogen habe. Ich kann seine Stimme hören, wie er für mich singt, um mich aufzuheitern. Schräg und der falsche Text, aber es hat mich zum Lachen gebracht.
Doch diese Bilder sind falsch, sie gehören nicht hierher. Ich will

sie jetzt nicht sehen, darf

es nicht. Es ist der falsche Zeitpunkt, um nachzudenken. Doch es strömen immer mehr auf mich ein, Bilder, Worte, Gedanken, ein Sog, der mich immer weiter nach unten zieht, weg von dem Kuss, weg von Phils Lippen, bis ich in einer Verzweiflung die Augen öffne, sodass ich ihn sehen kann. Die Augen mit der schönen blauen Iris, die verborgen ist hinter geschlossenen Lidern. Es ist nur ein Augenblick.

Manche Menschen sagen, ein Kuss sei ein Augenblick reiner Liebe und Lust. Aber es heißt doch auch, dass ein Augenblick alles verändern kann. Kann ein Kuss alles verändern? Es scheint so. Denn in diesem Moment, in diesen zwei Sekunden, in denen ich Phil sehe, spüre ich auch, wie enttäuscht ich darüber bin. Nicht darüber, dass ich den Kuss zerstört und die Augen geöffnet habe, sondern darüber, dass er es ist.
Ich löse mich von Phil und warte, bis er langsam die Augen öffnet. Ein Lächeln umspielt seine geröteten Lippen. Doch ich sehe ihn nur an, ernst und ein wenig traurig, bis er es von selbst bemerkt und sein Lächeln verschwindet. Da schüttele ich den Kopf, drehe mich um und gehe. Einfach so. Denn es war nur ein Kuss. Nur ein Augenblick. Der alles verändert kann.


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Tag der Veröffentlichung: 12.07.2011

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