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Prolog




Sie fuhr mit ihrem Bleistift über das Papier. Ihre Hand bewegte sich wie von selbst. Sie war wie in Trance. Jedes Detail kannte sie auswendig. So oft schon hatte sie Schneeweiß gezeichnet. Ihre Freundin.
Sie setzte kurz ab und betrachtete ihr Werk. Eine schlanke Frau. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, dessen Saum ihr über die Füße fiel. All das war nicht bemerkenswert, ja man konnte sagen, es war nur schnell da hin gekritzelt. Das, was an der Schwarz-Weiß-Zeichnung wirklich auffiel, war das Gesicht der jungen Frau.
Ihre Augen schienen ihre Seele wiederzuspiegeln. Man sagte zwar “Die Augen sind die Spiegel zur Seele”, aber es war doch nur eine Zeichnung. Dennoch, ihre Augen waren voller Wärme und Licht, sodass man gar nicht anders konnte als sich mit ihnen zu freuen. Die Frau lächelte verschmitzt. Ihre Gesichtszüge waren weich und ihr kecker, asymmetrischer Kurzhaarschnitt verursachte, dass man sie auf den ersten Blick sympathisch fand. Obgleich die Zeichnung schwarz-weiß war strahlte sie ein beinahe blendendes Licht aus.
Zufrieden mit ihrer Arbeit legte das Mädchen ihren Bleistift weg. Sie tauschte ihn durch einen zyanblauen aus, mit welchem sie an der Frau den letzten Akzent setzte. Es war eine Kette mit ineinander verschlungenen Ranken.
Ihre Zeichnung verpackte das Mädchen in eine Klarsichthülle und heftete sie fast schon hingebungsvoll in eine Mappe, die mit Bildern von Limonen bedruckt war.
Dann blätterte sie vorsichtig die anderen Bilder durch und betrachtete diese mit einem prüfenden Blick.
Auf einem Großteil der Bilder war Schneeweiß zu sehen. Auf dem Rest der Bilder gab es andere Personen, deren Gesicht ebenso herausgehoben war, wie das von Schneeweiß, wenn auch lange nicht so detailliert und ausgearbeitet.
Auf weiteren Bildern war ein Schloss dargestellt. Es war nicht sehr groß und hatte auch keinerlei Verteidigungsmöglichkeiten vorzuweisen, doch genau deshalb wirkte es elegant und grazil wie ein Kunstwerk.
Das Mädchen seufzte. Dies war ihre Welt, die sie sich aufgebaut hatte. Ihre Freundin Schneeweiß, die mit vielen anderen Menschen in dem Schloss aus Papier lebte. Immerzu sehnte sie sich in diese Welt einzutauchen, was sie aber nur dann schaffte, wenn sie malte. Immer wieder eröffnete sich ihr dann ein Tor zu Schneeweiß und immer wieder bestanden sie neue Abenteuer…
“Penelope…. Kommst du herunter zum Essen?”, die Stimme ihrer Mutter riss sie so abrupt aus ihren Gedanken, dass sie zusammenzuckte. Die Wirklich keit traf sie wie ein Schlag.
“Ja, Mama. Ich komme sofort!”
Penelope wusste nicht warum, aber ihre Mutter schaffte es wie immer sie auf den, leider harten, Boden der Tatsachen zurückzuholen. Nicht ohne noch einen sehnsüchtigen Blick auf Schneeweiß zu werfen, klappte sie die Mappe zu und stellte sie zurück ins Regal.

Der Traum




Vor ihr ragte ein Schloss hoch auf. Es war aus Papier. Eine Art Magie schien es aufrecht zu halten. Das Schloss war weis, so wie alles um sie herum. So weit Penelope auch blickte es gab nichts als die endlose Weite des hellen weißen Lichts.
Da es nicht zu sehen gab beschloss sie in das Schloss zu gehen. Penelope hatte Angst die zarte Tür zu verletzen, also legte sie erst einmal leicht ihre Handflächen auf das Papier. Sofort schwang die Tür auf, als hätte Penelope sie aufgetreten.
Der Raum der sich dahinter befand war nicht nur aus Papier. Feine graue und auch schwarze Bleistiftstriche deuteten das Mobiliar an. Es gab einen Sekretär mit einem Stuhl davor, vier Sofas, die in die Ecken des Raumes verteilt waren, in der Mitte des Raumes einen runden Tisch und an der Seite des Raumes, die am weitesten von Penelope entfernt lag eine weitere Tür.
Penelope trat vorsichtig in den Raum ein und durchschritt ihn, überrascht, dass ihre Schritte keinerlei Geräusche verursachten.
Die Tür öffnete Penelope auf die selbe Weise, wie die letzte.
Der dahinter liegende Raum sollte wohl ein Kinderzimmer darstellen. Auf dem Boden lag Spielzeug und obwohl es dort nur aufgezeichnet war ließ sich eine Puppe mühelos von Penelope ablösen. In ihren Händen nahm sie sogar eine plastisch Form an.
“Das ist meine!”, sagte eine leise wispernde Stimme. Penelope blickte auf und bemerkte erst jetzt die kleine Gestalt, die ihr den Rücken zugewandt hatte.
“Das ist meine!”, wiederholte die Stimme: ”Ich möchte jetzt mit ihr spielen.”
Dies sagte die Gestalt zwar, bewegte sich aber nicht in Penelopes Richtung. Es folgte eine lange Stille und Penelope beschloss, dass es sinnlos sei, noch länger hier herum zu stehen.
Sie begann sich der Gestalt zu nähern. Die Gestalt hatte lange schwarze Haare und trug ein langes weißes Kleid. Ein kleines Mädchen, dachte Penelope.
Das Mädchen saß, vornübergebeugt über einer weiteren kleinen Puppe und war gerade dabei diese umzuziehen.
Penelope räusperte sich: “Hier ist deine Puppe.”, sagte sie und hielt sie dem Mädchen hin. Doch es machte keine Anstalten sich umzudrehen. Ignoriert sie mich?
Penelope startete einen neuen Versuch, indem sie um das Mädchen herum ging und sich vor sie kniete.
“Hier ist deine Puppe.”, wiederholte sie. Das Mädchen schien sie nun gehört so haben, denn sie hörte auf ihre Puppe anzuziehen. Sie hat so weiße Hände, dachte Penelope.
Sie versuchte dem Mädchen ins Gesicht zu schauen, doch da es sich immer noch vorne überbeugte fielen ihm die langen Haare ins Gesicht.
Penelope fühlte sich nicht ganz wohl und sie sprach erneut das Kind an: “Du hast sehr schöne Puppen. Ich hatte auch einmal eine.”
Wieder breitete sich Stille im Raum aus.
“Wie heißt du eigentlich?”, Penelope sprach nun ein wenig lauter und langsamer, denn es konnte ja durchaus möglich sein, dass das Mädchen nicht sehr gut hörte, “Ich heiße…”,
Penelope wurde unterbrochen, “Ich weiß wie du heißt. Du heißt Penelope.”, wisperte das Mädchen. Penelope schreckte zurück. Woher wusste das Mädchen, wer sie war?
Sie begann sich immer unwohler zu fühlen. Doch warum sollte sie. Sie brauchte keine Angst vor einem Mädchen zu haben.
“Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst!”, fuhr Penelope das Mädchen nun leicht gereizt an.
Das Mädchen bewegte sich leicht, erstarrte dann wieder, als zögere sie und hob dann den Kopf um Penelope anzusehen, nur das sie genau dies nicht konnte.
Penelope stieß einen kurzen Schrei aus, der in dem Raum widerhallte und wich fluchtartig zurück.
“Gibst du mir meine Puppe?”, das Mädchen sprach aus einem Loch mitten in ihrem Gesicht. Sie hatte weder Augen, noch Nase, noch irgendetwas anderes, das entfernt einem Gesicht ähnelte. Nur ein Loch, das ins Nichts zu führen schien.
Penelope gab ihr vorsichtig die Puppe. Das Mädchen nahm sie sich und ging damit zu einem Puppenbett, um sie schlafen zu legen.
Penelope richtete sich langsam wieder auf. Wo war sie hier überhaupt? Und warum hatte das Mädchen kein Gesicht?
Plötzlich verschwamm alles um sie herum. Das Zimmer schien sich aufzulösen.
Penelope schlang sie Arme um ihren Körper, als hätte sie Angst mit dem Raum zu verschwinden.
Als sich alles wieder verfestigte befand sie sich in einem viel größeren, aber auch dunkleren Raum.
Soweit sie es sah, war er leer. Vorsichtig drehte sie sich um und zuckte sofort zurück.
Vor ihr stand eine bildhübsche Frau und zu Penelopes Freude hatte sie ein Gesicht.
Die Frau grinste höhnisch und ihre Augen lächelten kalt. Es war als würden ihre Augen für sich sprechen.
“Da hast du dich wohl ziemlich erschreckt.”, stellte die eiskalte Stimme der Frau fest, “Du hast es auch nicht anders verdient. Schließlich warst du es, die die kleine Magenta so verunstaltet hat.
Magenta war wohl der Name des kleinen Mädchens, aber was meinte die Frau damit, dass sie das Kind so verunstaltet hat. Noch zu keiner Erwiderung fähig, fragte Penelope piepsig: ”Wer sind sie?”
“Erinnerst du dich nicht mehr? Wir waren früher die Besten Freunde. Seit du uns weggesperrt hast, verkommt diese Welt immer mehr. Aber jetzt bist du ja wieder da.”
Obwohl die Frau lächelte, blieben ihre Augen kalt und hart. Penelope wich einen Schritt zurück. Sie wollte hier weg.
“Ich bin doch deine Freundin, Penelope.”, die Frau kam auf sie zu, “Ich bin Schneeweiß!”

Die Erinnerung




Schweißgebadet wachte Penelope in ihrem Bett auf. Sie sah sich um. Sie befand sich nicht mehr in dem Papierschloss und erblickte weder die Frau noch das Kind ohne Gesicht. Sie atmete erleichtert aus. Sie lag immer noch in dem Bett, in welchem sie eingeschlafen war. Sie lächelte. Wo sollte sie auch sonst sein? Obwohl ihr ihr Herz noch immer bis zum Hals schlug drehte sie sich auf die Seite und wollte wieder einschlafen.
Kurze Zeit später stöhnte sie genervt und schwang ihre Beine über den Bettrand. An Schlaf war gar nicht zu denken. Sie schloss die Augen und verbarg ihr Gesicht mit den Händen. Ihr Traum ging ihr nicht aus dem Kopf.
Penelope schlich die Treppe zu der Küche ihrer Eltern hinunter. Ihr Rucksack stand immer noch neben dem Esstisch. Sie war den Abend zuvor erst angekommen, denn als Penelope erfahren hatte, dass sie die nächste Woche Urlaub bekommen würde hat sie sofort ihre Sachen gepackt und war zu ihren Eltern gefahren.
Seitdem sie vor drei Jahren als Innenarchitektin in einem großen Bauunternehmen angefangen hatte kam sie kaum dazu ihre Eltern länger als ein paar Stunden zu besuchen.
Sie nahm sich ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank und stellte sich ans Fenster. Draußen war es stockdunkel. Wie sollte es auch anders sein um drei Uhr nachts.
Warum hatte sie dieser Traum nur so aufgewühlt? Sie hätte gut und gerne noch ein paar Stunden Schlaf bekommen.
Sie schloss die Augen und sah sofort wieder die Bilder vor sich. Penelope hatte das Gefühl das Papierschloss und auch die bildhübsche Frau schon einmal gesehen zu haben. Wie hieß sie noch? Schneeweißchen…, nein. Schneeweiß! Was für ein seltsamer Name. Und das Mädchen ohne Gesicht, Magenta.
Ziemlich unpassend ,wenn man bedenkt, dass das Mädchen schwarz-weiß war, wie eine Zeichnung. Nur ohne Gesicht.
Gedankenverloren ließ sie ihren Blick im Zimmer umherschweifen und blieb bei einem Bild am Kühlschrank hängen. Darauf war ein Schloss abgebildet…. Moment mal, ein Schloss?!
Penelope ging zum Kühlschrank und nahm es ab. Es war das Schloss aus ihrem Traum. Ein graziles und elegantes Schloss, das aus Papier zu bestehen stand.
“Was machst du denn um diese zeit hier unten?”, die Stimme ihrer Mutter ließ sie zusammenfahren. Sie stand fest in ihren Morgenmantel geschlungen in der Küchentür und sah ihre Tochter verwirrt an.
“Mum, wer hat das Bild hier gezeichnet?”, fragte Penelope und hielt es ihrer Mutter hin. Diese nahm es und sah es sich an.
“Das hast du gezeichnet. Nachdem du mal einen Zeichenkurs besucht hast, warst du nicht mehr vom Zeichnen wegzukriegen und …. Warum guckst du mich so an. Weißt du das denn nicht mehr?”
Penelope hatte ihre Mutter bei ihrer Erzählung immer ungläubiger angestarrt. Sie nahm das Bild wieder an sich und betrachtete es erneut.
“Ist alles ob Penelope?”, ihre Mum wirkte besorgt. Sie blickte noch mal auf das Bild: ”Ja, aber … Habe ich noch etwas gezeichnet, ich meine außer das Schloss? Vielleicht eine Frau?”
“Ja natürlich.”, sagte ihre Mutter. Bei ihren nächsten Worten deutete sie an die Decke: “Du hast eine ganze Zeichenmappe. Die ist noch oben auf dem Dachboden. Du hast wirklich viele Sachen gezeichnet, aber am liebsten so eine Frau. Die hatte ein sehr schönes Gesicht. Du hast gesagt sie sei deine Freundin.”, sie lächelte Penelope an, “Du warst ganz vernarrt in sie. Immer und immer wieder hast du sie gemalt. Sie hieß… ähm… Schnee….”
“Schneeweiß vielleicht?”, Penelopes Stimme klang zögerlich.
“Ja, richtig. Sie war immer so hübsch anzusehen. Aber als du deine Schule beendet hattest, hast du mit dem Malen aufgehört. Was ich übrigens sehr Schade finde. Penelope, wo willst du hin?”
“Ich muss die Zeichenmappe finden.”, rief sie ihrer Mutter noch im Vorbeigehen zu. Penelope hatte es so eilig die Treppe hochzukommen, dass ihre Mutter nichts erwidern konnte.

Eine halbe Stunde später saß Penelope wieder in ihrem Bett. Sie war auf den Dachboden gegangen und hatte dort allerhand Kisten durchwühlt. Schließlich war sie auf ihre Zeichenmappe gestoßen.
Penelope hatte sie an ihrem Limonenmuster sofort erkannt. Alle Erinnerungen waren plötzlich wieder hochgekommen und sie hatte sich gefragt, wie sie so einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens vergessen konnte. Sie war so aufgeregt gewesen sich ihre Bilder anzugucken. Vielleicht könnte sie auch wieder in ihre Welteintauchen, doch nun saß sie neben ihrer Mappe und traute sich kaum sie anzusehen. Was, wenn der Traum eine Art Warnung gewesen war? Sie wollte Magenta auf keinen Fall wiedersehen. Und was war mit Schneeweiß? Wenn sie wirklich ihre Freundin ist oder war, warum hatte sie Penelope mit so kalten Augen und einem Höhnischen Grinsen angeguckt?
Es hilft Nichts, redete sie sich ermutigend zu, irgendwann musst du dir die Bilder angucken.
Behutsam nahm sie die Mappe auf ihren Schoss und schlug sie auf. Auf dem ersten Bild war Schneeweiß zu sehen, wie sei einen verführerischen Blick über die Schulter warf. Auf dem nächsten lächelte sie kocket, danach zog sie einen Flunsch, auf dem darauffolgenden, Schneeweiß, wie sie so herzhaft lachte, dass man sich sofort mit ihr freute und so ging es immer weiter. Zwischendurch zeigten die Bilder auch das Schloss aus Papier und ihre Innenräume, die sie noch aus ihrem Traum kannte und auch noch andere Personen, unter welchen sie das Mädchen ohne Gesicht (allerdings noch mit Gesicht) wieder erkannte.
Doch die meisten Zeichnungen zeigten Schneeweiß mit ihren sprechenden Augen.
Penelope konnte es nun nicht mehr leugnen. Schneeweiß war einmal ihre allerbeste und auch einzige Freundin gewesen. In ihrem Traum hatte sie zu Penelope gesagt, dass diese Traumwelt immer mehr verkomme, seitdem sie von Penelope weggesperrt wurde.
Es war schon richtig, dass Penelope seit zehn Jahren kein einziges Bild gemalt und ihre Zeichenmappe nicht mehr gesehen hat. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie seufzte, Schneeweiß hatte seitdem keine Rolle mehr gespielt. Penelope hatte sie wirklich vernachlässigt.
Aber trotzdem, so war es doch nur ihre kleine Traumwelt gewesen mit unrealen Figuren. Diese konnten ihr doch nicht vorwerfen erwachsen geworden zu sein und arbeiten zu gehen. Zur Bekräftigung klappte sie die Mappe zu. Genau genommen konnten sie gar nichts, weil sie nicht real waren. Oder?
Nein, Penelope, hör auf dachte sie und laut sagte sie: “Sowohl Schneeweiß, als auch das Schloss aus Papier als auch all die Dinge dich ich mir als Kind zusammen gereimt habe haben nie existiert und das werden sie auch nie!”
Plötzlich spürte sie einen Ruck und sie sah gerade noch wie die Mappe weit offen stand, als sie der Sog erfasste.

Wieder im Schloss aus Papier




Als das Wirbeln um sie herum aufhörte, brauchte sie einen Moment, um ihre Augen an das grelle weiße Licht zu gewöhnen.
Penelope wusste sofort, wo sie war und verfluchte sich dafür, ihre Zeichenmappe auch nur berührt zu haben.
Sie blickte sich um. Wie in ihrem Traum ragte das Schloss aus Papier majestätisch vor ihr auf. Sie schluckte. Warum war sie wieder hier und vor allem wie konnte sie hier wieder weg?
Tatsache war erstens: Sie träumte nicht und zweitens: Wenn die erste Tatsache stimmte war diese Welt hier real. Wenn sie das auch nur für Penelope war.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es hörte sich so an als würde eine große Elefantenherde auf sie zu marschieren. Sie drehte sich um, doch nichts und niemand war zu sehen.
Jetzt begann auch noch der Boden leicht zu vibrieren. Da tauchte in der endlosen Weite plötzlich ein Portal auf. Es war nicht sofort da, sondern schien von unten nach oben gezeichnet zu werden. Als es fertig war schwang es auf und ließ an die fünfzig Menschen hindurch.
Penelope konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und zuzusehen.
Die Menschen marschierten in Zweierreihen in einer langen Schlange hintereinander her direkt auf Penelope zu.
Bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass keiner von ihnen ein Gesicht hatte. Nun hielt sie nichts mehr an Ort und Stelle.
Um den Anblick der Gesichtslosen nicht mehr ertragen zu müssen rannte sie in das endlose Weiß. Weg von dem Schloss und weg von den Menschen.
Sie rannte immer weiter und irgendwann sah sie einen schwarzen Fleck vor sich. Sie rannte nur noch schneller darauf zu und verausgabte sich vollends.
Kurz bevor sie den Schwarzen Fleck erreichte blieb sie verwundert und schockiert zugleich stehen.
Vor ihr lag das Schloss aus Papier und die Menschenmenge ohne Gesichter war gerade dabei geordnet in das Schloss zu gehen.
Plötzlich packten sie von hinten zwei Paar starker Hände. Penelope drehte sich um. Sie wurde von zwei identisch aussehenden Männern ohne Gesichter festgehalten. Sie wehrte sich so sehr sie konnte, aber die Männer nahmen sie mit in das Schloss. Penelopes Tritte und ihre Versuche sich zu wehren schienen sie gar nicht wahrzunehmen.
Schließlich hörte sie auf sich zu wehren. Es nützte ja doch nichts. Stattdessen betrachtete sie die Umgebung. Der erste Raum de Schlosses hatte sich völlig verändert. Er war nun doppelt so hoch, so breit und so lang.
An den Wänden waren schmuckvolle Gemälde aufgezeichnet. Am Ende des Raumes gab es ein riesiges Podium mit eine Art Thron darauf. Die Menschenmenge verteilte sich im Raum und es wurde ganz still. Sie scheinen auf etwas, oder jemanden zu warten. Sie warteten doch nicht etwa auf…? Schneeweiß trat aus einer Seitentür auf das Podium. Eine Welle aus Verbeugungen folgten seitens der Menschenmenge auf ihr Erscheinen. Schneeweiß betrachtete das Treiben zufrieden, ging langsam aber sehr sicher zu ihrem Thron und setzte sich.
Es war doch wundersam, obgleich alles nur aufgezeichnet war konnte Schneeweiß sich auf das Podium stellen und auf den Thron setzen.
Unsanft wurde Penelope nun in den Rücken gestoßen und nach vorne gedrängt. Die Menge machte ihr Platz.
Vorne angekommen blickte Penelope zu Schneeweiß auf, welche sich nicht über ihre Anwesenheit zu wundern schien. Im Gegenteil. Hatte sie Penelope etwa wieder erwartet oder noch schlimmer, hatte sie Penelope wieder in diese Welt zurückgeholt? Möglich war es ja.
Immer noch schwiegen alle. Sie schienen zu erwarten, dass Schneeweiß etwas sagte, was sie auch tat, mit einer klaren und eisigen Stimme, die eine Gänsehaut auf Penelopes ganzem Körper verursachte: “Guten Tag meine Freunde. Guten Tag auch Penelope. Wie ihr seht, hat sie sich endlich erbarmt wieder zu uns zu kommen. Nach zehn Jahren völliger Vernachlässigung!”, den letzten Satz schrie sie förmlich heraus, bekräftigte ihn, indem sie mit der Faust in die Luft stieß und forderte ihre “Freund” (wohl eher ihr Volk) auf, es ihr gleich zu tun. Alle stießen nun mit der Hand ihn die Luft und schrien ihren Zorn heraus.
Penelope war verunsichert. Sollte das heißen, dass alle gegen sie waren? Was wollten sie von ihr? Und vor allem, was würden sie tun, um das zu kriegen, was sie wollten?
Schneeweiß bat mit einem Wink der Hand um Ruhe. Sie sprach weiter: “Ihr alle, meine Freunde, hattet einmal eine Persönlichkeit. Ein Gesicht.”, sie machte eine kurze Pause und seufzte gekünstelt. Dann verhärtete sich ihr Blick und sie sprach mit kaum unterdrückter Wut: “Sie hat euch alles genommen! Sie ist schuld! Sie soll dafür büßen!”, befriedigt stellte sie die Reaktion fest, die ihre Worte ausgelöst haben. Alle schrien wild durcheinander, deuteten mit wüsten Gesten auf Penelope und stürmten sogar auf sie zu. Ein Schlag traf sie auf den Kopf und ihr wurde schwarz vor Augen.

Gefangen




Das erste was Penelope spürte, als sie zu sich kam, war ein sehr starker Kopfschmerz. Sie stöhnte und verzog das Gesicht. Penelope versuchte, sich langsam zu bewegen. Ihre Glieder fühlten sich steif an. Um sie herum war alles dunkel. Neben ihr ertastete sie eine kühle Fläche. Penelope setzte sich auf und lehnte sich gegen die Fläche, die sie für eine Wand hielt.
Dann versuchte sie zu ergründen woher ihr Kopfschmerz kam, indem sie vorsichtig ihren Kopf betastete.
“Aua!”, entfuhr es ihr. An ihrem Hinterkopf gab es eine Stelle, an der ihre Haare verklebt waren. Darunter hatte sie eine geschwollene Platzwunde.
Penelope sah sich um. Jetzt, da ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie mehr Einzelheiten erkennen, was ihr aber auch nicht viel nützte. Sie saß an einer Wand in einem Raum, ohne jegliches Mobiliar. Anstelle der vierten Wand waren in die Öffnung Gitterstäbe eingelassen.
Penelope stand auf und ging darauf zu. Hinter den Stäben lag ebenfalls völlige Dunkelheit. Penelope versuchte angestrengt irgendetwas zu erkennen, doch sie gab es schon sehr bald wieder auf.
Resigniert setzte sie sich in eine Ecke. Sie zog die Beine an sich und machte sich ganz klein.
Warum war sie nur hier? Sie hatte doch nichts verbrochen.
Schneeweiß sagte zwar in ihrer Rede, dass sie büßen sollte, aber wofür? Konnte es sein, dass sie den Menschen die Gesichter genommen hatte? Aber wie?
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es waren Schritte, noch sehr weit entfernt, aber sie kamen in ihre Richtung. Penelope sprang auf und lief wieder zu den Gitterstäben. Nun nahm sie einen kleinen Lichtschimmer war, der sich durch einen langen Gang auf sie zu bewegte.
Penelope wartete ungeduldig.
Es war eine Frau, die auf sie zu kam. Sie hielt etwas in der Hand, dass die Form einer Kugel hatte, gerade so groß, wie eine Murmel, das aber heller strahlte, als es eine Lampe es in diesem Verließ vermochte.
Von der Helligkeit geblendet, wich Penelope ein Paar Schritte zurück und hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Die Frau hantierte an den Gitterstäben herum, woraufhin sich eine Tür öffnete. Sie trat ein, schloss die Tür wieder hinter sich und tat vor Penelope.
Penelope hatte längst erkannt, um wen es sich handelte.
Schneeweiß tippte auf die Kugel in ihrer Hand und das Licht wurde leicht gedämmt.
Stille breitete sich aus und Penelope wartete darauf, dass Schneeweiß etwas sagt. Allerdings schien sie dies nicht für nötig zu halten, sodass Penelope beschloss, den Anfang zu machen.
“Warum hältst du mich hier gefangen?”
Schneeweiß sah sie mit ausdruckslosen Augen an.
“Weil du…”, sie schien kurz nachzudenken, “… eine Verbrecherin bist.”
“Was?”, Penelope riss die Augen auf. Sie hatte in ihrem Leben noch nichts getan, was einem Verbrechen ähnelte. Okay, sie war vielleicht ein- zweimal zu schnell gefahren, aber darauf konnte Schneeweiß hier doch unmöglich anspielen, oder?
“Du hast schon richtig gehört.”, fuhr Schneeweiß fort, “Eine Verbrecherin. Du warst es, die uns vergessen hat. Wir waren deine Freunde. Ich war sogar deine beste Freundin. Ich war für dich etwas so Besonderes und dann…”, Schneeweiß blickte Penelope in die Augen und spuckte ihr die nächsten Worte förmlich ins Geseicht, “hast du nur an dich gedacht. Du hast diese wunderbare Welt vergessen. Sie wäre beinahe gestorben. Du hast doch gesehen, was du deinen Freunden (dieses Wort betonte sie besonders) angetan hast. Sie haben keine Gesichter und auch keine Seele mehr.”, ihre Stimme versagte und sie blickte auf den Boden. Lange Zeit sagte niemand etwas.
Penelope kaute an ihrer Unterlippe. Stimmte das? Schneeweiß wirkte wirklich betroffen. Aber selbst wenn, sie mit dem Zeichnen doch nicht aufgehört, weil sie diese Welt sterben sehen wollte, sie hatte einfach keine Zeit mehr. Schließlich musste sie studieren und arbeiten und Geld verdienen. Zaghaft berührte sie Schneeweiß’ Hand mit der ihren.
Schneeweiß blickte auf: “Nur ich wurde irgendwie durch diese Zerstörung verschont, vielleicht war ich einfach Stärker.”
Nur einen kleinen Moment funkelten ihre Augen siegessicher, dann lag in ihnen wieder unendliche Traurigkeit. Doch Penelope hatte das Funkeln bemerkt und runzelte die Stirn. Sie zog ihre Hand weg und wurde zornig.
“Du lügst! Ich habe dieser Welt nichts angetan. Du warst es!”
Schneeweiß guckte sie erst erstaunt und überrascht an, doch als sie merkte, dass ihre Schauspielerei nichts half, wurden ihre Augen wieder hart und kalt. Dadurch bestärkt redete Penelope weiter: “Als du gemerkt hast, dass ich nicht mehr komme um dir durch meine Zeichnungen mehr Macht zu geben, hast du sie dir von den anderen genommen. Aber warum nur? Du warst doch immer so nett.”
Penelope konnte nicht mehr weiter reden. Sie hatte an Schneeweiß’ Gesichtsausdruck bemerkt, dass alles, was sie sagte, richtig war.
Nun war es Penelope, die erschöpft den Kopf sinken ließ.
“Ich habe den anderen genommen, was du mir schuldig warst. Und als ich deinen kleinen Fehler bemerkt habe, war diese kleine Welt fast perfekt. Zumindest für mich.”
Schneeweiß lächelte, als Penelope aufsah. Sie hielt etwas in der Hand und als Penelope es genauer in Augenschein nahm fragte sie: ”Ein Bleistift, was soll daran fehlerhaft sein?”
Schneeweiß lächelte triumphierend und ging auf eine Wand zu. Sie malte dort etwas auf. Penelope trat näher heran und sah, dass die Zeichnung ein Messer darstellte.
“Was ist jetzt dami…?”
Penelope kam nicht mehr dazu die Frage zu Ende zu stellen, da hatte Schneeweiß schon in die Wand gegriffen, das Messer herausgezogen und ihr die Klinge quer über den Unterarm gezogen. Sofort quoll Blut aus dem Schnitt und Penelope Keuchte vor Schmerz auf. Sie presste ihren verletzten Arm schützend an ihren Bauch.
“Diesen Fehler. Du hast auf eine Kommode einen Bleistift gezeichnet. Ich habe ihn genommen und ein Strichmännchen an die Wand gemalt. Da ist es herausgesprungen und hat angefangen zu tanzen. Alles in diesem Schloss, was wie gemalt aussieht, wird plastisch. Natürlich kann man es auch wieder auslöschen.”, sprach sie und zog ein Radiergummi aus ihrer Tasche. Sie fuhr damit über das Messer und es war weg.
Penelopes Arm brannte und sie presste die Zähne zusammen um keine Schmerzenslaute von sich zu geben.
“Was willst du jetzt noch von mir?”, presste sie schließlich hervor.
Schneeweiß lächelte.
“Was wohl? Sie mich doch an. Ich bin nur eine Zeichnung Aber ich will ein richtiges Leben! Hier in dieser Papierwelt wird es mir zu langweilig. Ich habe beschlossen in deine Welt zu wechseln. Doch dafür brauchte ich dich. Hier bist du nun. Du wirst hier bleiben und ich werde deinen Platz einnehmen.”
Sie drehte sich um, schloss die Tür auf und trat hinaus.
“Heute Abend noch wirst du ein Portal für mich zeichnen, durch das ich gehen kann um endlich frei zu sein.”
Sie schloss die Gittertür wieder und ging fort, das Licht nahm sie mit sich.
Penelope sank auf die Knie.
Trotz ihrer Schmerzen lächelte sie. Wenn sie ein Portal in die normale Welt zeichnen sollte, hieß das, dass Schneeweiß es nicht konnte. Ohne Penelope würde sie für immer in dieser Papierwelt festsitzen müssen.
Sie fragte sich was Schneeweiß wohl tun würde, wenn Penelope weg wäre. Plötzlich Verschwunden.
Noch breiter grinsend zog sie einen Bleistift aus ihrer Hosentasche.

Auf der Flucht




Nachdem Penelope die Tür aufgeschlossen hatte, dankte sie Gott dafür, dass sie so einen komischen Tick hatte, immer nur ihre Bleistifte zu benutzen, die dann auch nur den Härtegrad HB haben durften. Falls sie in der Zeit bei ihren Eltern also einen Gedankenblitz für eine neues Häuserdesign gehabt hätte, hätte sie ihn, natürlich nur mit ihrem Bleistift, sofort festhalten können.
Penelope schloss leise die Tür hinter sich. Um den Schlüssel für die Gittertür zu zeichnen, hatte sie etwas länger gebraucht als geplant, aber sie hatte es geschafft.
Da sie keine Ahnung hatte wo genau sie sich im Schloss befand ging sie erst einmal durch den langen Gang, durch den schon Schneeweiß gekommen war. Penelope tastete sich an den Wänden entlang, da sie fürchtete mit einer gezeichneten Kerze in der Dunkelheit zu leicht entdeckt werden zu können.
Sie bog jetzt nach rechts ab. In der Ferne sah sie einen Lichtschimmer und ihr Herz begann wild zu klopfen. Kam Schneeweiß jetzt schon zurück? Sie presste sich an die Wand und wartete ab, doch der Lichtschimmer bewegte sich nicht. Vielleicht war dort ja ein Fenster.
Penelope begann sich dem Licht zu nähern. Der Gang führte ausschließlich geradeaus und als sie dem Lichtschein näher kam nahm sie ein Flimmern wahr, wie bei einer Kerze. Sie schaute in die Abzweigung hinein und wirklich, dort stand eine Kerze auf einem groben Holztisch. Der Raum war leer.
Sie atmete erleichtert aus, denn sie hatte sich noch keinen Plan zurecht gelegt, wie sie reagieren sollte wenn sie jemandem begegnet. Sollte sie sich vielleicht eine Waffe zeichnen, ein Messer?
Doch sie hatte keine Zeit zu überlegen, schon hörte sie in dem Gang hinter sich Schritte. Sie waren noch weit entfernt, aber doch näherten sie sich ihr. Ohne Nachzudenken zog sie ihren Bleistift aus der Tasche und zeichnete ein Messer, was vielleicht ein wenig zu lang geraten war. Es ähnelte eher einem Schwert, aber sie wusste noch nicht ob sie es einsetzen konnte. Sie wollte schließlich keinen umbringen und doch gab ihr das Schwert ein sicheres Gefühl.
Penelope rannte nun. Sie rannte weiter, in der Hoffnung auf einen Ausgang zu stoßen.
Sie wusste nicht wie lange aber als sie auf eine Tür traf war sie völlig fertig. Sie erlaubte es sich ein Paar mal tief durchzuatmen. Dann legte sie ihre Hand auf den Türgriff und drückte ihn langsam, leise und vor allem sehr vorsichtig hinunter. Penelope öffnete sie nur einen Spalt breit. Licht schimmerte in den dunklen Gang und sie lugte durch den Spalt. Hinter der Tür befand sich ein Raum und nicht wie es sich Penelope erhoffte die Freiheit. Aber was bedeutete in dieser Welt schon Freiheit?
Penelope schlüpfte durch die Tür, da sie niemanden auf der anderen Seite sah und fand sich in dem Saal wieder, in dem Schneeweiß ihre Rede gehalten hatte und sie selbst niedergeschlagen wurde.
Da sie dort nicht allzu lange verweilen wollte durchquerte sie schnell den Raum und erreichte die Tür hinter der sie das endlose Weiß vermutete, denn sie wollte nichts lieber als weg von diesem Schloss. Draußen hatte sie vor sich ein Versteck zu suchen oder zu zeichnen und dann zu versuchen ihre eigene Tür nach hause zu malen.
Penelope zog an der Tür aber sie ließ sich nicht öffnen. Sie drückte. Nichts bewegte sich.
“Oh, ist die Tür etwa zu?”, Schneeweiß klang sarkastisch, “Hast du geglaubt, dass ich nicht merke, wenn du plötzlich weg bist? Ich weiß zwar nicht, wie du es gemacht hast aber naja, jetzt bist du hier.”
Sie tat so als würde sie die Arme zu einer Umarmung ausbreiten, aber Penelope blieb wo sie war. War es möglich, dass Schneeweiß nichts von ihrem Bleistift wusste oder tat sie nur so? Aber das ist jetzt wohl auch egal. Ihrem Fluchtplan hatte Schneeweiß mal eben so in den Arsch getreten.
Schneeweiß streckte fordernd die Hand aus.
“Gib mir das Schwert!”
Das Schwert, Penelope hatte es ganz vergessen. Doch jetzt, da sie sich dessen Anwesenheit wieder bewusste war, nahm sie es fest in beide Hände und stellte sich in Angriffspose vor ihre Feindin.
Schneeweiß lächelte nur spöttisch. Sie drehte sich um und ging zu der nächsten Wand, an der sie gleich anfing ebenfalls eine Waffe zu zeichnen.
Penelope war verunsichert. Schneeweiß erwartete anscheinend nicht von ihr angegriffen zu werden. Schneeweiß war früher ihre beste Freundin gewesen und hatte sie in- und auswendig gekannt. Wusste sie, dass Penelope nicht den Mumm hatte sie anzugreifen oder wollte sie sie nur verunsichern? Was sie geschafft hat!
Wütend stürmte Penelope auf Schneeweiß zu, die immer noch mit dem Rücken zu ihr stand.
Doch sie war zu langsam. Schneeweiß hatte sich bereits umgedreht und griff ihrerseits mit einem, leider viel schärferen, längerem und gefährlicherem, Schwert an. Innerlich verfluchte Penelope dafür, dass sie gezögert hatte, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt sich wegen seiner eigenen Dummheit zu bemitleiden, denn schon zischte Schneeweiß’ erster Schwerthieb durch die Luft. Penelope konnte ihn zwar abwehren, aber die Wucht des Schlages war so enorm, dass sie für einen Moment fürchtete, ihre Handgelenke seien gebrochen. Sie hatte jedoch keine Zeit um das Gegenteil beweisen zu können, den der nächste Schlag folgte sofort. Penelopes verletzter Am begann wieder zu bluten. Schwerthieb um Schwerthieb musste sie einstecken. Schneeweiß griff mit einer solchen Kraft an, dass Penelope nur die Möglichkeit hatte ihre Schläge abzuwehren und nicht um selbst anzugreifen. Wie ein Wirbelsturm prasselten ihre Schwertstreiche auf sie nieder und jeder von ihnen setzte Penelope mehr zu. Weiter und weiter wich sie zurück. Ihre Kräfte erlahmten. Das Blut aus ihrer Wunde am Arm topfte auf den Boden. Leuchtendes rot auf weiß .
Plötzlich stand sie mit dem Rücken zur Wand. Schneeweiß nächster Schlag kam und sie duckte sich.
Penelope erwartete Schmerzen, aber sie kamen nicht. Sie blickte nach oben und sah. Dass Schneeweiß’ Schwert in der Wand steckte und sie dabei war es heraus zu ziehen.
Eine bessere Chance bekomme ich nicht, dachte Penelope und sprang auf. Anstatt Schneeweiß anzugreifen lief sie zu der Wand mit der verschlossenen Tür und zeichnete eine offene. Sie trat hinaus in das Licht.
Sie radierte die Tür weg und hörte noch einen Zornesschrei von der anderen Seite.
Penelope verbannte das, was gerade passiert war, aus ihren Gedanken und rannte mit solch einer Kraft in das endlose weiß, als ob sie sich nicht gerade völlig verausgabt hätte.
An eine weiße Papierwand, zeichnete sie schließlich ein Loch und verschloss es, als sie hindurch gekrabbelt war wieder. Hier herrschte ein leicht graues Licht. Das ist ein viel zu leichtes Versteck, dachte sie. So zeichnete sie noch eine Öffnung, diesmal in den Boden, ließ sich hindurch gleiten und radierte es wieder aus. In der Hoffnung, dass man sie hier nicht finden würde, glitt sie erschöpft in einen traumlosen Schlaf.

Das Versteck




Penelope erwachte und war erst völlig verwirrt. Um sie herum herrschte gedämpftes Licht und sonst nahm sie nichts wahr. Wo war sie? Sie blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. Ein Schmerzenslaut entfuhr ihr. Ihr Arm… Sie blickte zu ihm hinunter. Überall klebte getrocknetes Blut, das aus ihrer Arm wund gesickert sein musste.
Penelope sah sich um. Bevor sie eingeschlafen war, wann auch immer das gewesen sein mag, hatte sie nicht mehr die Möglichkeit gehabt, da sie viel zu erschöpft gewesen war. Eigentlich war es dumm von ihr gewesen. Schließlich hätte sie auch neben einem hungrigen Krokodil liegen können. Sie nahm sich also fest vor, immer vor dem Einschlafen nachzusehen, wo sie eigentlich einschlief. Diesmal war sie in einer Art Höhle eingeschlafen, zumindest glaubte sie das. Sie befand sich auf jedenfalls unter dem Boden, weil sie sich gestern schließlich selbst hierhin gebracht hat.
Sie stand auf und betrachtete dabei ihren Arm. Da hier sowieso niemand war, versuchte sie gar nicht erst sich Wasser zu zeichnen (wenn das überhaupt möglich war) um sich das getrocknete Blut abzuwaschen. Vielmehr ignorierte sie es und auch den Schmerz, da sie jetzt größere Probleme hatte.Sie holte ihren Bleistift aus der Tasche und betrachtete ihn nachdenklich. Würde sie es schaffen, ein Portal zu zeichnen, das nach Hause führte? Ja, sie würde! Sie durfte jetzt nicht zweifeln, denn dann brauchte sie es gar nicht erst versuchen.
Penelope trat an die Wand und setzte den Stift an. Als erstes zeichnete sie einen Rundbogen. Sie ergänzte ein Holzmuster und einen runden Türknauf.
Sie atmete durch und drehte den Knauf um. Der Ort hinter der Tür sah so aus, wie die Höhle, in der sie stand. Enttäuscht zog sie die Tür wieder zu.
Penelope betrachtete ihr Werk. Es war eine normale Tür. Sie führte einfach nur durch die Wand. Natürlich, wohin auch sonst?
Nachdenklich zog sich ihre Nase kraus. Vielleicht wusste die Tür nicht, wo sie sonst hinführen sollte. Also schrieb sie auf die Tür: NACH HAUSE.
Auch dieser Versuch schlug fehl.
Als nächstes malte sie persönliche Dinge, wie ihre liebste Perlenkette und ihren Teddybären auf die Tür. Wieder war dahinter nur die leere graue Höhle.
Penelope konnte nicht mehr. Sie setzte sich an eine Höhlenwand und umschlang ihre Beine. Sie unterdrückte den Drang sofort in Tränen auszubrechen. Wie kam sie denn jetzt nach hause? Sie wollte nicht für immer hier bleiben, an diesem schwarz-weißen Ort, so trist und einengend. Hier würde sie für immer auf der Flucht vor Schneeweiß und den gesichtslosen Menschen sein. Ein Schauer lief über Penelopes Rücken. Für immer hier? Eher würde sie sterben!
Sterben? War das der einzige Ausweg? Jetzt konnte Penelope nicht mehr anders. Die Tränen rannen in Bächen ihre Wange hinunter. Ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Sie wollte wieder nach Hause. Was dachte wohl ihre Mutter wo sie war? Machte sie sich viele Sorgen?
“Bitte weine nicht!”

Magenta




Penelope blickte erschrocken auf. Ihr entfuhr ein Schreckenslaut und sie wich blitzartig zurück.
Vor ihr stand das kleine schwarzhaarige Mädchen aus ihrem Traum.
“Bitte weine nicht!”, wiederholte Magenta flehentlich. sie trat näher zu Penelope und streckte ihre kleine Hand nach ihr aus. Wollte es ihr aufhelfen?
Obgleich es keine gefährliche Geste war, beschloss Penelope nicht darauf einzugehen, sondern stand ohne ihre Hilfe auf.
Magenta schien es nicht zu stören. Sie ließ ihre einfach ihre Hand sinken.
Das schwarze Loch starrte Penelope aus Magentas Gesicht an. Warum nur hatten diese Menschen keine Augen? Penelope verkrampfte sich.
“Warum weinst du?”, fragte Magenta mit ihrer piepsigen Stimme.
Penelope überlegte ob sie ihr antworten sollte und entschied sich dagegen. Hatte Schneeweiß Magenta losgeschickt, um sie zu finden? Oder konnte sie ihr trauen?
Magenta schien ihre Gedanken lesen zu können, denn sie sagte: ”Keine Sorge. Die weiße Frau hat mich nicht geschickt. Sie war sehr….verstimmt, dass du ihr entwischt bist. Wenn sie verstimmt ist, lässt sie ihre Wut an anderen aus.”, ihre sonst schon so leise Stimme brach völlig ab und nun war es and ihr zu schluchzen. Sie konnte zwar nicht weinen, da sie keine Augen besaß, aber ihr Schluchzen war so herzergreifend, dass Penelope all ihre Vorsicht vergas und zu dem Mädchen ging. Sie ergriff Magentas linke Hand und drückte sie fest.
“Was hat Schneeweiß dir angetan?”
Magenta zögerte, dann flüsterte: ”Sie hat mir weh getan. Sie…”
Langsam und vorsichtig holte sie ihren Rechten Arm, den sie die ganze Zeit hinter ihrem Rücken verborgen hatte, hervor und Penelope riss die Augen auf.
“Sie hat sie langsam und Stück für Stück wegradiert.”
Magentas rechte Hand war weg. Sie schluchzte noch heftiger.
“Es hat so weh getan. Ich habe geschrien, aber sie hat einfach nicht aufgehört.”
Penelope hörte zwar, was das kleine Mädchen sagte, aber sie konnte es nicht glauben. War Schneeweiß etwa von ihrer besten Freundin zu einer herzlosen Tyrannin geworden?
Sie schloss Magenta in die Arme und hielt sie fest.
Nach einer Zeit löste sie sich aus der Umarmung und strich Dem Mädchen zärtlich über die Haare.
Magenta seufzte.
“Ich will hier weg. Warum bin ich bloß hier?”
Penelope sah Magenta an.
“Weil ich dich gezeichnet habe.”
Magenta zeigte keine Reaktion, dann setzte sie sich. Sie deutete neben sich auf den Boden. Penelope setzte sich neben sie.
“Ich weiß, dass du meine Welt und alles hier gemacht hast, aber warum hast du die böse weiße Frau gemacht. Keiner kann hier leben. Sie sagt etwas und alle müssen es tun.”
Ihre kindliche Stimme und ihre Worte berührten Penelope sehr. Sie schluckte betreten und erklärte dann: “Als ich diese Welt und auch Schneeweiß gezeichnet habe, war ich noch ganz klein. Schneeweiß war meine beste Freundin und ich war glücklich. Aber dann habe ich die Schule beendet und hatte keine Zeit mehr zum Zeichnen. Ich habe aufgehört und das hat Ihr wohl nicht gefallen. Sie war es immer gewohnt gewesen, von mir verwöhnt und geliebt zu werden. Als sie gemerkt hat, dass ich das nicht mehr tat, hat sie die Macht, die ich ihr immer gegeben habe von euch genommen. Sie nahm euch eure Seelen und den Rest weißt du ja.”
“Mhm.”, Magenta schien in Gedanken versunken, da blickte sie plötzlich auf und sagte mit fester Stimme: ”Es gibt einen Weg um aus dieser Welt wegzukommen. Die weiße Lady hat einen besonderen Stift. Mit ihm kann man ein Portal in deine Welt zeichnen. Ich habe oft gesehen, wie sie selbst es versuchte, aber sie hat nicht das Talent dazu. Nur mit deiner Hilfe kann sie es vollbringen.”
Sie verstummte, als hätte sie schon zu viel gesagt. Penelope blickte sie erstaunt an. Wenn das, was sie sagte stimmte, dann gab es einen Weg, um von hier wegzukommen.
“Weißt du, wo sich der Schlüssel befindet?”, Penelope versuchte ruhig zu bleiben, dennoch zitterte ihre Stimme vor Aufregung.
“Ja natürlich, er befindet sich im obersten Turm des Schlosses.”, Magenta senkte kurz den Kopf.
”Ich kann dir helfen ihn zu stehlen, Aber du musst mir versprechen mich mit dir zu nehmen.”

Im Turm des Schlosses




“Komm schon. Hier entlang.”, Magentas Stimme klang nun sicher und professionell. Penelope und das kleine Mädchen (das nun sehr viel reifer wirkte) pressten sich an die Wand eines Treppenhauses. Sie hatten es wirklich geschafft. Sie waren in das Schloss aus Papier eingedrungen ohne bemerkt zu werden. Es war fast schon zu einfach gewesen.
Magenta und sie hatten an einer Seite des Schlosses eine Tür an die Wand gezeichnet, waren hindurch gegangen, ohne jemandem zu begegnen. Das kleine Mädchen wusste sofort, wo sie waren und Führte sie zielsicher durch die verzweigten Gänge.
Jetzt bog sie nach rechts ab und winkte Penelope eilig hinter sich her.
“Komm schon!”, forderte sie.
Sie folgte Magenta, jedoch nicht ohne sich hin und wieder prüfend umzusehen.
Plötzlich wurde sie heftig in einen engen Seitengang gezerrt.
“Psst, da kommt jemand.”
Magenta und sie zogen sich vorsichtig weiter zurück. Ein Mann eilte an ihrem Gang vorbei, bemerkte sie jedoch nicht.
Penelope bedeutete dem Mädchen, dass es jetzt Zeit sei die Schwerter zu ziehen. Sie selbst hatte das, mit dem sie gegen Schneeweiß gekämpft hat behalten und für Magenta ein kleineres gezeichnet, das leicht genug für sie war.
Ihre Freundin verstand sofort (auch, wenn Penelope nie dahinter kommen würde, wie Magenta sie auch ohne Augen “sehen” konnte) und die beiden traten bewaffnet aus dem Gang hinaus.
Bis zu den Stufen des Turmes war es nicht mehr weit und sie trafen auf niemanden. Kalt durchzuckte es Penelope, es war wirklich zu leicht, eigentlich hätten sie doch schon längst daran gehindert werden müssen, zu dem Turm vorzudringen. Aber andererseits war es so viel einfacher.
“Komm schon. Wir sind gleich da!”, Magentas Stimme klang ungeduldig. Penelope sagte nichts, sondern nickte nur und beeilte sich ihre Freundin einzuholen.
Diese setzte bereits einen Fuß auf die erste Stufe und winkte Penelope energisch zu sich.
Penelope atmete tief ein und zusammen gingen sie die gewundene Treppe hinauf. Ängstlich drehte sich Penelope immer wieder um, doch ihre Angst war unnötig, niemand war da oder schlich ihnen hinterher.
Treppenstufe folgte auf Treppenstufe.
Das ewige Hinaufsteigen schien nicht zu enden.
Hinauf, Hinauf, Hinauf. Penelope atmete nun schwerer. Einhundert Stufen später glich ihre Atmung einem Keuchen und sie stolperte. Penelope konnte sich zwar fangen, ließ sich dann aber auf eine Stufe sinken. Sie war völlig geschafft.
“Was ist denn? Komm schon, wir sind ja gleich da.”
Magenta schien nicht im mindesten angestrengt zu sein. Ihre Stimme klang klar wie immer. Penelope brachte nur ein Keuchen zustande und verzog das Gesicht. Sie hatte Seitenstechen.
“Komm schon, komm schon, komm schon!”
Magenta war nun sehr ungeduldig und klang wie ein quengeliges Kind.
Penelope stand auf und lehnte sich gegen die Wand. Sie musste mehrmals kräftig durchatmen, dann begann sie wieder Stufe um Stufe hinaufzusteigen.
Magenta war ihr nun immer ein paar Schritte voraus.
Schließlich blieb Magenta stehen. Penelope sah auf.
Vor ihnen war eine schwarzweiße Tür mit Holzmaserung in die Papierwand eingelassen.
Magenta drehte einen kleinen runden Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen. Sie trat ein.
Penelope wartete noch einen Moment. Der Raum hinter der Tür hatte keine Ecken. Er war rund und größer als sie gedacht hatte.
Ungefähr fünfzig Fuß in der Breite und Länge und zwanzig in der Höhe. In der Mitte des Raumes stand ein niedriger runder Tisch. Darauf lag eine kleine Schatulle.
Nun betrat auch Penelope den Raum. Ihre Freundin stand vor dem Tisch, mit dem Rücken zu ihr.
Penelope trat neben sie und betrachtete die Schatulle näher. Sie war rechteckig und etwa so groß wie ihre Hand. Sie war glatt, ohne Holzmaserung und jegliche Verziehrungen.
“Was machen wir jetzt?”, fragte sie.
Magenta antwortete nicht sofort sondern stand reglos vor dem Tisch.
“Darin befindet sich der Stift. Ich denke wir können es öffnen ohne Gefahr zu laufen, dass es einen Alarm auslöst.”
Da Magenta keine Anstalten machte, sich zu rühren, nahm Penelope das Kästchen.
Es war glatt und kühl. Sie legte ihre Hand auf den ebenmäßigen Deckel und klappte ihn auf.
Darin befand sich ein Seidenkissen. Doch darauf befand sich, nicht wie erwartet ein Stift.
Eingebettet in die Seide lag dort ein kleiner Dolch mit einer schmalen und geschwungenen Klinge. Er war gerade so groß, wie ein kleines Küchenmesser, sah jedoch sehr scharf aus. Er glitzerte gefährlich.
“Warum ist darin ein Dolch? Ich dachte es wäre ein Stift.”
Penelope blickte sich verstört nach ihrer Freundin um. Dort stand Magenta stand jetzt neben der Tür. Naben ihr stand…
“Lange nicht gesehen, meine Freundin.”
Schneeweiß blickte sie höhnisch an.

Verrat




Penelope begriff nicht. Sie konnte nur abwechselnd Magenta und Schneeweiß anstarren. Schneeweiß’ Lächeln veränderte sich nicht, sondern wurde nur noch breiter.
“Hast du tatsächlich gedacht, du hättest eine Chance gegen mich? Nicht wirklich.”, mit einem Blick auf Magenta fügte sie hinzu, ”Darf ich dir vorstellen, das hier ist Magenta. Sie ist eine meiner treuesten Untertanen und die Person, die dich zu mir gelockt hat.”
Penelope konnte nichts anderes tun als Magenta anzustarren. Sie war doch ihre Freundin gewesen, immer nett, und sie hatte ihr geholfen, oder? Vielleicht hatte sie die ganze Zeit nur Schneeweiß geholfen. Sie schluckte. Magenta zeigte keine Regung, sie stand einfach nur da.
Penelope schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein.
Schneeweiß blickte sie durch dringlich an.
“Weißt du jetzt, wie es sich anfühlt verraten worden zu sein, wie es sich anfühlt, allein gelassen worden zu sein. Ganz allein, ohne Freunde. Nun eigentlich ist mir egal, ob du es nun verstehst oder nicht. Ich will meine Rache und ich werde sie auch bekommen.”
Schneeweiß’ Blick wanderte nun zu der Schatulle in Penelopes Händen und grinste.
“Du hattest einen Stift erwartet? Oh, ich habe schon so oft versucht ein Portal zu zeichnen, doch es funktionierte nicht. Mir war klar, dass nur der Schöpfer persönlich diesen Ort betreten und auch wieder verlassen kann. Doch was genau unterscheidet uns von einander? Was hast du, was ich nicht habe. Jahrelang stellte ich mir Fragen, bis ich die Lösung fand. So einfach, so plausibel.”
Schneeweiß deutete mit einem ihrer langen Finger auf Penelopes Arm. Sie sah an ihm hinunter und erkannte die Wunde, die ihr Schneeweiß’ im Kerker zugefügt hatte.
Penelope betrachtete noch einmal den Dolch und verstand.
“Mein Blut?”
Schneeweiß lächelte nun noch breiter falls dies möglich war.
Penelopes Starre löste sich. Niemals würden sie ihr Blut bekommen. Sie zog ihr Schwert. Diesmal würde sie nicht diejenige sein, die überrumpelt wurde. Sie würde angreifen.
Also griff sie an.
Doch noch bevor sie das Zimmer durchquert hatte trat etwas durch die geöffnete Tür. Es irritierte Penelope so sehr, dass sie stehen blieb und sie ihren Angriff unvollendet ließ.
Dort stand ein Mann, soweit Penelope es beurteilen konnte. Er war sehr groß und kräftig. In seiner linken Hand lag ein Schwert, länger, größer und schärfer, als sie je gesehen hatte.
Doch das war gar nicht der Grund ihrer Irritation. Der Mann war rabenschwarz. Mann erkannte kein Gesicht, keine Kleidung oder sonst irgendetwas. Es sah aus, als würde er aus einem Stück des dunkelsten Nachthimmels geschnitten worden sein. Seine Bewegungen waren fließend. Neben Schneeweiß blieb er stehen. Es war unmöglich dem Mann auch nur eine Empfindung oder etwas ähnliches abzulesen.
“Darf ich vorstellen. Das ist Pech. Noch ein guter Freund von mir. Wenn du mir dein Blut nicht freiwillig geben willst, wird er das für mich erledigen.”
Schneeweiß legte zärtlich einen Arm um Pech.
“Ist er nicht wunderschön. Ich habe ihn erschaffen. Wenn ich erst einmal aus dieser Welt raus bin, dann wird er zusammen mit mir die Herrschaft übernehmen. Wir werden herrschen, so wie es nur die Götter vermocht haben.”
Schneeweiß’ Stimme klang erregt.
Penelope starrte Pech an. Würde er sie töten? Tot würde sie keinen Widerstand mehr leisten können. Aber wenn sie am Leben bleiben wollte, dann musste sie sowohl Pech, als auch Schneeweiß und Magenta unschädlich machen. Würde sie das schaffen?
Penelope hatte Angst und ihr Körper spannte sich an. Sie sah erst auf ihr eigenes, dann auf Pechs Schwert. Keine Frage, sie war ihm deutlich unterlegen.
Aber sie konnte nicht einfach aufgeben, ohne nicht mit allen Mitteln versucht zu haben sich zur Wehr zu setzen.
“Also, was sagst du. Gibst du mir dein Blut freiwillig, oder soll ich Pech einen Wink geben.”
Penelope tat so als müsse sie darüber nachdenken, doch ihr Entschluss stand fest. Sie atmete tief ein und zählte in Gedanken die Sekunden.
Eins… Zwei…. DREI.
Penelope stürmte auf Pech und Schneeweiß zu, doch schon nach zwei Schritten wusste sie, dass ihr Überraschungsangriff erwartet wurde, denn auch Pech hatte sich anmutig, wie eine Raubkatze in Bewegung gesetzt.
Als die Klingen der Schwerter aufeinandertrafen sprühte es Funken. Die Wucht des Hiebes spürte Penelope in ihrem ganzen Körper. Ihre Wunde am Arm spürte sie nun wieder allzu deutlich. Pechs Klinge blitzte erneut auf und es gelang ihr diesen wieder abzuwehren. An einen Angriff war gar nicht erst zu denken. Denn die Schwerthiebe prasselten auf sie nieder, wovon sie jeden einzelnen durch den ganzen Körper spürte.
Pech griff mit unbändiger Wut an. Penelope hatte seinen Angriffen wenig entgegenzusetzen und so wich sie Schritt um Schritt zurück.
Penelopes Kräfte erlahmten. Nur noch mit größter Mühe konnte sie mit ihrer Waffe gegen die Hiebe halten. Schwertstreich um Schwertstreich ließ Pech erbarmungslos auf sie einregnen.
Ein weiterer Hieb folgte und Penelope wurde ihr Sc wert aus den Händen gerissen. Es landete klirrend zwei Meter weit weg von ihr.
Hinter Pech hörte sie Schneeweiß’ höhnisches Lachen.
Pech trat auf sie zu, doch anstatt ihr mit seinem Schwert den Schädel zu spalten, verharrte er einen Moment, als lausche er auf etwas. Dann schnellte sein Bein vor und traf Penelope in die Magengrube. Sie wurde von den Beinen gerissen und flog gegen eine Wand. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie auf dem Boden und krümmte sich. Sie konnte sich nicht mehr rühren. Auch nicht als Pech zu ihr kam und sich seine Hände um ihren Hals schlossen.
Sie bekam immer weniger Luft, doch Widerstand war zwecklos. Langsam wurde alles schwarz um sie und sie wurde bewusstlos.

Als Penelope wieder zu sich kam, stand Pech nicht mehr bei ihr. Sie setzte sich auf. Neben der Tür stand Schneeweiß, die jetzt verängstigt wirkte. Über ihr ragte Pech mit erhobenem Schwert auf und Magenta, ebenfalls bei der Tür, lachte höhnisch.
Moment mal, Pech deutete mit dem Schwert auf Schneeweiß, was hatte das zu bedeuten?
“Warum tut ihr das? Ich wollte euch doch in die andere Welt mitnehmen. Wir hätten zusammen regiert. Nein, bitte tötet mich nicht!”
Schneeweiß’ Stimme klang jetzt nicht mehr selbstsicher. Im Gegenteil. Sie war nun unterwürfig und verängstigt.
“Du wolltest allein regieren, so wie du es hier auch tust. Wolltest uns hier lassen. Wir hielten nur als seine Werkzeuge hin. Ich habe Penelope hierher gebracht. Mir gebührt die Ehre, in der anderen Welt zu leben. Ich werde regieren!”
Noch niemals hatte sie ein kleines Mädchen so sprechen hören. Es machte Penelope Angst.
Sie blickte zu Schneeweiß. Obwohl sie eigentlich hätte schadenfreudig sein sollen, da sie anscheinend auch verraten und überlistet wurde, fühlte Penelope nichts als Trauer. Sie waren einmal beste Freunde gewesen. Schneeweiß hatte sie zwar töten wollen, aber sie hatte ihr einmal mehr bedeutet, als sie zugeben wollte.
Penelope konnte sie nicht einfach sterben lassen. Sie zog ihren Bleistift aus der Tasche und begann einen großen Radiergummi zu zeichnen. Damit war es möglich Pech unschädlich zu machen.
Darauf bedacht, nicht bemerkt zu werden, schlich Penelope aus dem Blickwinkel von Pech und Magenta. Ihr Plan war es Pech von hinten zu überraschen. Sie war der Meinung erst einmal den gefährlicheren Gegner ausschalten zu müssen. Danach konnte sie sich um das kleine Mädchen kümmern.
Sie war nur noch einen Meter hinter dem schwarzen Mann, als Schneeweiß sie sah. In ihrem Blick lag so viel Hilflosigkeit, Angst und tief unten der Wunsch einer Freundschaft, dass Penelope ihre Entscheidung nicht bedauerte.
Schneeweiß schielte noch einmal auf das Schwert über ihrem Kopf und nickte Penelope dann unmerklich zu.
Das war ihr Zeichen. Sie nahm den Radiergummi (er war sehr viel größer als gewöhnlich) fest in die Hand und überwand dann den letzten Meter zwischen ihr und Pech. Gerade in diesem Moment ließ er sein Schwert zum tödlichen Hieb heruntersausen, als sie anfing ihn auszulöschen.
Penelope achtete nicht wirklich darauf was sie tat. Sie radierte einfach über Pechs Körper. Es funktionierte. Er war einfach weg. Nichts deutete mehr darauf hin, dass dort eben noch ein Mann gestanden hatte, der sie hatte umbringen wollen.
Als Penelope ihr Werk vollendet hatte sah sie sich um.
Magenta stand mit dem Rücken an einer Wand. Zurückgedrängt durch die stille Drohung des Schwertes an ihrem Hals, das ruhig in Schneeweiß’ Hand lag.
Sie blickte Penelope an. Dann zeigte sich ein scheues Lächeln auf ihrem Gesicht.
“Danke, dass du mich gerettet hast.”
Bei ihren nächsten Worten lächelt sie herzlicher.
“Ich bin dir etwas schuldig. Ich hoffe, dass du mich nach alldem nicht zu sehr hasst. Ich will dich nicht töten. Ich will deine Freundin sein.”
Das musste ihr wohl sehr schwer fallen, schließlich wollte sie nichts mehr als ein normaler Mensch sein, wie Penelope.
Sie sah Schneeweiß an. Ihre Freundin.
Sie brachte kein Wort heraus, sondern warf sich ihr um den Hals.
Dieser Moment gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben. Schneeweiß erwiderte die Umarmung, hielt das Schwert jedoch immer noch an Magentas Hals.
Die beiden Freundinnen sahen sich an.
“Ich hasse dich nicht, für das, was du getan hasst.”
Penelopes Stimme klang rau. Eine Träne lief über Schneeweiß’ Wange, doch sie lächelte.
Plötzlich hörte sie ein Flüstern in ihrem Kopf.
“Penelope, kommst du herunter zum Essen?”
Ihre Mutter rief sie.
Die Welt begann sich auf zulösen. Magenta verschwand, die Konturen des Raumes verschwammen. Alles verwandelte sich in einen Strudel.
“Lass mich hier bitte nicht zurück!”
Schneeweiß’ Stimme war bittend. Penelope schlang die Arme um ihre Freundin und zog sie mit in den unendlichen Strom der Farben.

Wieder zu Hause




Der Strudel hörte auf sich zu drehen und Penelope fiel auf die Knie. Langsam hob sie den Kopf und fand sich zuhause in ihrem ehemaligen Kinderzimmer wieder.
Neben ihr lag eine weitere keuchende Gestalt.
Schneeweiß’ blickte sie nun auch an. Ihre ohnehin schon großen Augen weiteten sich als sie begriff, wo wir uns befanden. Sie begann zu strahlen.
“Ich bin wirklich hier. Das hätte ich niemals für möglich gehalten.”
Erst jetzt bemerkte Penelope etwas an Schneeweiß, dass ihr schon viel früher hätte auffallen müssen: Sie war nicht mehr schwarzweiß.
Ihre Haut hatte nun einen rosigen Teint. Lange rote Haare umspielten ihren grazilen Körper und sie trug das Kleid aus der Papierwelt (ein langes schlichtes weißes Kleid), nur war es jetzt dunkelblau und betonte ihre Taille.
Sie musste ein echter Mensch geworden sein.
Auch Schneeweiß bemerkte es nun und sie strahlte mit der Sonne um die Wette.
“Das ist ja unglaublich. Ich…ich…weiß gar nicht was ich sagen soll.”
Sie blickte sich, mit immer noch großen Augen, im Raum um.
Penelope konnte nichts sagen. Sie war so froh wieder in ihrer Welt zu sein.
Sie betrachtete Schneeweiß. Sie war nun ihre Freundin. Penelope lächelte. Wie schnell sich das Blatt doch wenden konnte.
Sie würde Schneeweiß bei sich wohnen lassen und dafür sorgen, dass ihr diese Welt gefiel.
“Du Schneeweiß. Meine Mutter hat uns doch zum Essen gerufen. Lass uns hinunter gehen, dann kann ich dich ihnen gleich vorstellen.”
Die beiden Freundinnen standen auf und gingen in ein neues Leben. Ein Leben ohne Zeichnungen.

Impressum

Texte: by junipahh.queen
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2012

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