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Aber bitte mit Kuss

„Der Roman von Uli Sidka ist ja sooo schön.“ Rebecca klappte das Taschenbuch zu und legte es auf ihre Oberschenkel, die ihre Jeans knackig ausfüllten.

Er beugte sich vor, um seiner Freundin näher zu kommen - aber das ging nicht.

Eine Frau mit wehenden Haaren und einem Laptop unter dem Arm starrte ihn herausfordernd an.

„Das ist doch alles Schwachsinn. Traumtypen in Traumautos, die eine Frau nur einmal anzufassen brauchen, auf dass sie zum Höhepunkt kommt. Die zünden irgendwo ‚ne Kerze an, sehen ihr einmal tief in die Augen, und schon – schwupps, ist er der Held ihres Lebens.“

„Vielleicht sind einfach nicht alle Männer so unromantisch wie du!“ Rebecca richtete sich kerzengerade auf, so dass ihre Brüste nach vorne wippten. „Vielleicht bricht nicht jeder Mann die Massage seiner Freundin ab, um eine Werbemail über Pflegemittel für die dritten Zähne zu lesen.“

Das stimmte so nicht. Er war aufgesprungen, weil er eine Mail von Steffen erwartet hatte. Und das auch nur, weil sie letzte Woche ein Punktspiel hatten und noch nicht feststand, wann und wie sie nach Hannover kommen würden. Hätte er sonst vielleicht freiwillig seinen Laptop inklusive Maus und Tastatur eingefettet? Nein. Aber das hatte Rebecca natürlich ignoriert. War stattdessen aufgestanden und hatte sich mit einem Liebesroman auf die Couch gesetzt – „an seiner Stelle“. Dabei war das Öl seine Idee gewesen, seine.

Er unromantisch? Nein, das musste er sich nicht sagen lassen. Und schon gar nicht wegen so einem Schnulzenschreiber.

„Der Uli Sidka, das bin übrigens ich.“

„Der ... das ... Du?“ Rebecca lachte laut auf und warf dabei den Kopf in den Nacken, so dass ihr zarter Hals sich ihm verführerisch entgegenstreckte.

Aber das ging jetzt nicht.

„Ja. Uli Sidka. Ich brauchte ein Pseudonym. Ein Name, der auch für eine Frau stehen konnte – Welche Frau liest schließlich einen Liebesroman für Frauen, der von einem Mann geschrieben worden ist, hm!?“ Rebecca runzelte die Stirn. „Ich konnte doch nicht zugeben, Liebesromane für Frauen zu schreiben. Ich meine, welche Frau will schon so einen Schnul ... Schreiberling, das ist ja nichts Halbes und nichts Ganzes, das ist ja ...“

„Das ist doch schön! Das zeigt, dass der Autor sich in die Seele einer Frau versetzen kann, dass er einfühlsam ist und ... “

Sein Laptop hatte gepiept. Ganz sicher. Vielleicht eine Mail von Steffen wegen Volleyball morgen Abend. Er sollte nachgucken, mal eben ganz kurz ...

„Hannes? Hörst du mir noch zu?“

„Ja, Schatz. Äh, nein, Schatz. Sorry, ich bin in Gedanken schon bei meinem nächsten Thema, weißt du ... Ich geh’ dann mal ins Arbeitszimmer und halte die ersten Ideen fest ...“

„Dein Laptop hat gepiept.“

„Ach, echt?“

„Bestimmt wieder eine Mail von einem deiner Kumpels.“

„Ja, das wär’ … “

gut

„ … schon möglich.“

 

Er würde ihr schon zeigen, dass in ihm mehr steckte, als der unromantische Mann, für den sie ihn gerade hielt. Und das alles nur, weil er einmal eine Massage abgebrochen hatte. Na gut, vielleicht ein zweites Mal. Aber war das ein Grund, sich seitdem jeden Abend demonstrativ mit einem Liebesroman auf die Couch zu setzen und zu behaupten, frau bräuchte jetzt keinen Mann mehr, denn sie hätte ja Rainer aus „Verzweifelte Leidenschaft“ oder Michael aus „Gefährliche Umarmung“? Nein. Er würde ihr so einen dämlichen Roman schreiben und dann würden sie endlich wieder zusammen ins Bett gehen. Das wäre ja gelacht, wenn er nicht so ein bisschen Liebesgefasel hinkriegen würde.

Schwungvoll setzte er sich an den Schreibtisch und klappte den Laptop auf.

E-Mail von Steffen. Sonntag 16 Uhr, alles klar?

O.k. Alles klar. Und nun der Liebestext. Er doppelklickte auf das Word-Icon.

Idiot! Kein Schriftsteller von Frauenschnulzen benutzt ein Laptop. Das sind Romantiker. Er klappte den Laptop wieder zu. Wie schrieben Romantiker?

Vermutlich auf Papier. Davon hatte er zum Glück genug in seinem Drucker. Er zog zwei Blätter aus dem 500er Pack und legte sie auf den Tisch.

Die sahen allerdings nicht danach aus, als sei er gerade sehr inspiriert. Dann doch besser gleich die ganze Packung. Jetzt noch den Kuli in die Hand und los geht‘s.

Meyers Versicherung. Wir sichern Ihren Haushalt. Weißes Plastik und ein abgebrochener Haltebügel. Und damit sollte ein Romantiker schreiben? Nein, ein Romantiker schrieb vermutlich mit einem Füller, einem möglichst alten Füller. Irgendwo hatte er auch noch einen, aus Schulzeiten ... Wahrscheinlich in der Kiste ganz unten im Regal ... Ja, wer sagt’s denn – Blau und ohne Werbetext. Vielleicht ein bisschen kindlich, na ja, Romantiker waren schließlich auch noch halbe Kinder. Mit Guckfenster für den Tintenstand. Leer. Neue Patrone. Schreibt nicht. Kraxeln auf dem ersten Blatt Papier. Schreibt immer noch nicht. Feder vermutlich eingetrocknet. Also ins Bad zum Ausspülen ... auf-Zeh-en-spit-zen-an-der-Kü-che-vor-bei-in-der-Re-bec-ca-den-Ge-schirr-spü-ler-aus-räumt ...

„Hannes? Ich dachte, du schreibst. - Du gehst so komisch, ist was?“

„Ne, nichts, nichts.“ Der Füller verschwand in seiner linken Hosentasche. „Ich ... Beim letzten Spiel hatte ich so ein bisschen Ziehen in der Wade.“ Hannes massierte sich das Bein. „Auf Zehenspitzenlaufen dehnt die Muskulatur, weißt du. Ich wollte da mal trainieren für Sonntag.“

„Also doch eine Mail von einem deiner Kumpels.“

 

Nachdem er die eingetrocknete Tinte ausgespült und danach das blau gesprenkelte Waschbecken geputzt hatte, setzte er sich wieder an den Schreibtisch.

Glatte hohe Schränke mit Birkefurnier, ein melaminharzbeschichteter Schreibtisch, im gesamten Zimmer gerade und senkrechte Linien.

Schrieb ein Schnulzenschreiber in einer solchen Atmosphäre? Hatte er nicht wenigstens eine Kerze auf dem Schreibtisch stehen?

Hatte er irgendwo noch eine Kerze? Das Einzige, was noch in einer Schublade stecken konnte, war ein altes, halb abgebranntes Teelicht...

 

„Ich wollt’ nur kurz Bescheid sagen, ich fahr noch mal zum Supermarkt, die ... Du schreibst mit Füller?“ Rebecca hatte sich durch den Türrahmen gelehnt, so dass sich ihre weichen Rundungen unter dem himmelblauen T-Shirt verführerisch abzeichneten. „Wo hast du den denn ausgegraben?“ Sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann fiel ihr Blick auf das Teelicht. „Das Stöfchen steht im Küchenschrank bei dem Weihnachtsgeschirr – für den Fall, dass du dir einen Tee machen willst.“

„Äh, nein. Meine Kerzen sind bei dem letzten Projekt alle drauf gegangen, und ich brauche sie zur Inspiration. Damit...“ Wie würde Goethe sagen? „Damit die Flamme das Feuer der Liebe in meinem Herzen entfache, auf dass sie durch meinen Füllfederhalter auf das Papier fließe.“ Oder so ähnlich jedenfalls.

„A-ha. Wenn du meinst.“

„Ja, Schätzchen, das meine ich nicht nur so, das ist so. Wie viele Romane hast du von mir schon gelesen, he...?“ Oh, da musste er raus, ganz schnell, denn er wusste gar nicht, wie viele Romane Uli Sidka überhaupt geschrieben hatte. „Na egal, jetzt muss ich jedenfalls arbeiten.“ Er machte eine Handbewegung zum Rausgehen. „Wenn du mich also bitte entschuldigen würdest und das Zimmer verlassen ...“

„Na, wenn das so ist ... Dann will ich dich nicht länger stören.“ Rebecca zog ihren Schwerpunkt wieder unterhalb des Türrahmens zurück und mit sich ihre weichen Brüste. Verdammt, er hätte sie vielleicht doch nicht so schnell wegschicken sollen.

„Soll ich auch neue Teelichte mitbringen?“

 

Nun ja, Schriftsteller Schicksal. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass die Typen so wehmütiges Zeugs schrieben: Saßen über einem leeren Blatt Papier, die Liebste war gerade zur Tür hinaus gegangen, und ihr einziger Freund in dieser traurigen Zeit war ein kümmerliches Teelicht.

Er zwirbelte den Füller um die eigene Achse.

Die Flamme bewegte sich.

Er zwirbelte den Füller noch einmal um die eigene Achse.

Die Flamme bewegte sich etwas mehr.

Er zwirbelte den Füller schneller um die eigene Achse.

Die Flamme bewegte sich noch mehr.

Würde er es schaffen, sie allein durch den Luftzug auszulöschen?

Er zwirbelte ... – Nein, er durfte seine Inspirationsquelle nicht vernichten.

Also Text, das ganze Ding brauchte einen Text. Was schrieb denn so ein Schnulzer?

Sie sehen sich, sie verlieben sich, sie gehen zusammen ins Bett. Und irgendwann sieht er ihr noch einmal tief in die Augen. So läuft’s doch in etwa, oder?

Er starrte die Flamme an. Blau, orange, hellgelb. Keine Bewegung.

Bett war gut, er würde mit der Bettszene anfangen. Das war sicher am leichtesten.

Sie gingen zusammen ins Bett. Er zog sie aus. Sie hatten Sex. Dreimal in zwei Stunden kam sie zum Höhepunkt. Er siebenmal.

Er hielt eine Hand über die Flamme. Hitze mit der Handfläche in 10cm Abstand aushaltbar für 8 Sekunden. Waren das überhaupt 10 cm...? 12 von der Tischkante aus gemessen. Abzüglich Aluminiumbehälter von 1,5 cm macht 10,5 cm.

Oder müsste es anders herum sein?

Sie gingen zusammen ins Bett. Sie zog ihn aus. Sie hatten Sex. Dreimal in zwei Stunden kam er zum Höhepunkt. Sie siebenmal.

Vermutlich besser für die Frau von heute. Aber ein bisschen kurz. Noch nicht wirklich ein Roman. Und nun?

Er schob den Teelichtbehälter mit seinem Fingernagel über den Tisch. Die Flamme fing an zu flackern. Jetzt verließ ihn auch noch seine Inspirationsquelle.

Vielleicht mochte sie ihn nicht, weil er nicht romantisch genug war? Das Flackern verstärkte sich.

Dann brauchte er eben etwas anderes, etwas Bildlicheres ...

Sein Blick fiel auf das Poster von Fluch der Karibik.

Ein Video, genau. Die Flamme erlosch. Dünner Rauch schlängelte nach oben.

Die neun Pforten mit Johnny Depp hatten Rebecca gefallen. Da waren zwei erotische Szenen drin, die waren vielleicht brauchbar. Mal kurz in der Videokiste nachgucken ... Wo war es denn nur, wo war denn nur ... Oh – Die prüde Mary lernt das Stadtleben kennen. Das hatte er noch? Das war ja aus Teenagerzeiten, er musste dringend mal aufräumen. Rita will es wissen... ganz dringend mal aufräumen... Schulmädchenausflug. Wo war ein Müllsack?

Kein Johnny Depp, dafür drei Erotikvideos. In Notzeiten muss man nehmen, was man bekommen kann.

Hannes verkabelte den Videorekorder mit dem Laptop und drückte auf play.

Eine üppig bestückte Blondine lag rücklings auf dem Bett und schob zwei Laken zwischen ihren Beinen hin und her. Das hatte ihn mal angetörnt? Also nein, nicht wirklich.

Sie öffnete ihre dünne Bluse Knopf für Knopf und ließ sie langsam über ihre nackten Schultern herunter gleiten. Na ja, ein bisschen vielleicht doch. – Aber er wollte ja schreiben.

Dann führte sie ihre Hände von ihrem Bauchnabel nach oben unter ihren BH, öffnete ihn, so dass sich ihre zwei Knospen keck nach oben reckten.

Wollte er schreiben?

Sie schob sich den Rest des BHs vom Körper, und entledigt all ihrer Fesseln, knetete sie wohlig stöhnend ihre vollen Brüste.

… schreiben ... ?

 

Als er einige Minuten später aus dem Bad zurückkam, zog sich eine andere Darstellerin gerade ihr T-Shirt aus. Hannes nahm ein neues Blatt Papier vom Stapel und zog die Kappe vom Füller. Was ihm in diesem entspanntem Zustand einfiele, war sowieso mehr im Interesse der Frauen.

Er schob ihr die Hand unter das T-Shirt und flüsterte: „Ich liebe dich“. Absoluter Kitsch, na ja, was Frauen wollen halt.

Was hast du gesagt?“, brüllte sie, denn sie war schwerhörig.

ICH LIEBE DICH“, brüllte er zurück. Hämmern an der Decke, es kreischt von oben: „Müssen Sie denn immer so einen Lärm machen beim Sex! Lassen Sie das Vorspiel gefälligst weg.“ Genau, gute Idee, gleich einen Schritt weiter gehen.

Hannes zog ein neues Blatt Papier vom Stapel. Auf dem Monitor kniete die Darstellerin gerade im Vierfüßlerstand auf dem Bett – einzig von einem roten Spitzenhöschen bekleidet.

Leidenschaftlich riss er ihr die Jeans von den Hüften, der Knopf sprang ihm ins Auge, er sah nur noch Sterne und ... – ach, die Geschichte gab’s schon mal irgendwann mit einem BH.

Ein schlaksiger Herr näherte sich der Dame auf dem Monitor. Seine sehnigen Bein- und Pomuskeln bewegten sich bei jedem Schritt. Sein Glied wippte in freudiger Erwartung, tropfend vor Lust.

Vielleicht noch einen Schritt weiter.

Er tastete nach ihrer Möse. Hm. Und küsste sie. - Auf den Mund. Mit rehbraunen Augen sah sie zu ihm hoch. Mehr, schrie sie, mehr! Ach nein, soll ja romantisch sein. Mit rehbraunen Augen sah sie zu ihm hoch, während er ...

Da war eine Tür ins Schloss gefallen. Die Darstellerin und der schlaksige Herr bewegten sich inzwischen unzweideutig rhythmisch. Schnell klappte Hannes den Laptop zu und schob die Filmhülle unter den Papierstapel.

„Hi, ich bin wieder da.“ Rebecca steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Und, wie klappt’s mit dem Schreiben?“ Sie lief auf seinen Tisch zu. „Deine Teelichte.“ Der Beutel wurde neben seine drei großzügig beschriebenen Blätter abgelegt.

„... Er tastete nach ihrer Möse. MÖSE?“ Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nicht ganz den richtigen Ton getroffen. Kleinigkeit.

„Nun, das ist ... zum Einschreiben. Ich benenne die Dinge immer erst einmal konkret beim Namen, bevor ich sie dann ... ändere.“

„… und küsste sie auf den Mund. Mit rehbraunen Augen sah sie zu ihm hoch, während er mit ihrer Mö – Mö was? Was steht da? Schon wieder Möse?“

Ja.

„Nein! Möhre. Das soll Möhre heißen. Die Buchstaben sind mir etwas verrutscht, das passiert manchmal, wenn mich die Leidenschaft erfasst und ich ...“

„Aber das macht gar keinen Sinn. Er spielte mit ihrer Möhre ...“

„Oh, gut, dass du mich darauf aufmerksam machst, ich habe mich doch glatt verschrieben, es müsste heißen: seiner. Er spielte mit seiner … “

„Er spielte mit seiner Möhre? Warum denn das? Ich denke, sie sind im Bett und nicht beim Essen?“

„Äh, sie essen im Bett, ja. Bisweilen überspringe ich auch ein paar unwichtige Details, um den Faden nicht zu verlieren. Ich füge sie dann später ein … “

„Hm.“

„Was?“

„Es ist ... dein Stil – er ist so anders als das ... dein Buch.“

Sein Stil war so anders. Okay, dann musste ein anderes Vorbild her. Dann musste er wohl doch mal eine Seite aus einem Liebesroman lesen.

„Wolltest du nicht ins Kino heute?“

 

Als Rebecca ins Kino verschwunden war, betrachtete er ihre Regale. Drei Böden voller Liebesromane. Rebecca hatte einen Hang zu Träumereien. Na ja, eine Seite von ihr hatte einen Hang zu Träumerein, die andere war sehr bodenständig und wieder eine andere ... Aber nicht jetzt. Er wollte ihr schließlich beweisen, dass er durchaus in die Seele einer Frau schauen konnte. Und außerdem musste er wohl den Fauxpas vom letzten Wochenende wieder wett machen. Wenigstens ein bisschen.

Uli Sidka, Rosen zum Frühstück. Er setzte sich mit dem Buch auf das Schlafsofa und fing an, es quer zu lesen.

S. 237 – Das ist ja schon die Buchmitte – Instinktiv stieß er sich mit dem Rücken von der Autotür ab und zog sie mit einem Arm fest an sich. Eine unendliche Zärtlichkeit erfüllte sein Herz, als sich seine andere Hand an ihre gerötete Wange schmiegte.

Gleich küssen sie sich, gut.

S. 238. Ihre Hände vergrüben sich in seinen Schultern, ihr Kopf lag schwer in seinen Armen.

Sie küssen sich noch immer.

Die Sonne stieg höher und höher am Himmel und überschritt den Zenit ...

sowie die nächste Seite im Buch ...

Mark wusste nicht, wie lange ihre leidenschaftliche Umarmung dauerte, bis er schließlich seine Lippen von ihren löste, aber ...

Er wusste es: 2 ¼ Seiten! Zwei einviertel Seiten nur für einen Kuss! Wenn die in dem Tempo weitermachten, würden sie nie im Bett landen. Sie landeten doch wohl irgendwann im Bett?

Der Kuss war vorbei, doch das Feuer in seinen Lenden war noch nicht erloschen. Er musste allein sein.

Allein? Jetzt in diesem Moment? Was für ein Idiot! Er brauchte schließlich die Bettszene.

„Wer ist ein Idiot?“

Rebecca.

„Oh, schon da?!“ Hastig klappte er das Buch zu und quetschte es hinter seinem Rücken zwischen zwei Kissen. „Äh, ich hab’ mich eingestimmt auf das Thema ... Ich meine, ich wollte noch etwas recherchieren. Autoren ... schließlich ... – Wie war der Film?“

 

Die kommende Woche verlief bis auf Donnerstag ohne weitere Zwischenfälle. Er war gerade dabei gewesen, ein Video aus dem Netz zu ziehen, als Rebecca ihn von nebenan rief.

„Der Verlag hat mir geantwortet.“

„Der Verlag?“

„Ich hatte ihnen eine Mail geschickt, weil ich das Buch so toll finde.“

„Aha.“ Das konnte jetzt ein Problem werden. „Und, was haben Sie geschrieben?“

„Hier.“ Rebecca doppelklickte auf die Mail des Verlages.

Sehr geehrte Frau Kampe,

wir freuen uns, dass Ihnen die Romane von Uli Sidka gefallen.

Selbstverständlich haben wir Ihre Mail an die Autorin weitergeleitet.

Wir hoffen, Sie auch weiterhin für unsere Bücher begeistern zu können und verbleiben mit freundlichen Grüßen

Sandra Pollock

Leserbetreuung

Autorin.

„Sie schreiben von einer Autorin.“

„Ja, das habe ich mit Ihnen vereinbart. Schön zu sehen, dass sie sich daran halten.“

Sonst würde ja auch keine Frau die Bücher lesen, oder?

Oder?

Oder doch? Was, wenn das wirklich ein Mann war? Was, wenn das ein Mann war, der sich genau das gleiche dachte, wie er? Wenn das ein gutaussehender Mann war, ein gutaussehender Mann, der sich in die Seele einer Frau versetzen konnte und einfühlsam war, wie Rebecca gesagt hatte, und wenn dieser gutaussehende Mann auf ihre E-Mail antworten würde und Rebecca sich mit diesem gutaussehenden Mann, der vermutlich auch noch in anderen Bereichen gut war, denn schließlich konnte er ja Liebesromane für Frauen schreiben und sich in die Seele einer Frau versetzen, wenn Rebecca sich mit diesem gutaussehenden Mann treffen würde, irgendwo in einem Café, zunächst einmal und dann ...“

„Weißt du übrigens, wer sich noch gemeldet hat?“ Rebecca unterbrach seine Gedanken.

„Wer?“

„Minchen.“

„Minchen? Deine Freundin aus Grundschulzeiten? Wie hat sie dich gefunden? Ihr hattet doch jahrelang keinen Kontakt mehr?“

„Oh, durch Zufall. Ich hab’ sie übrigens Samstag zum Brunchen eingeladen. Hab’ ihr erzählt, dass du schreibst. Sie ist schon total neugierig.“

„Oh – ja.“ Er hatte die Woche über keine einzige Zeile geschrieben. Er hatte zwar Rosen zum Frühstück weitergelesen und festgestellt, dass die Sexszene auf Seite 318 kam – aber er hatte keine Idee, wie er jemals einen ganzen Roman voll Liebesgefasel zustande bringen sollte. Doch irgendetwas musste er jetzt zu Papier bringen. Zum einen kannte er Rebecca. Sie würde ihn drängen, etwas vorzulesen, wenigstens einen Ausschnitt. Die Bettszene war für eine alte Grundschulfreundin an einem Samstagvormittag sicher nicht passend. Zum anderen brauchte er etwas, das Rebecca zeigte, dass er sehr wohl ein romantischer Mann sein konnte, denn wenn sie tatsächlich diesen Schnösel treffen sollte, und wenn der wider Erwarten nicht mit Glubschaugen hinter dicken Brillengläsern hockte ...

„Du hast doch Samstag noch nichts vor, oder?“

„Äh, nein.“

Leider. Keine Arbeit, kein Fußball, kein gar nichts.

 

Er brauchte irgendetwas Kurzes, Abgeschlossenes, Überzeugendes.

Etwas kurzes Abgeschlossenes, Überzeugendes gab es vielleicht im Internet. Internet, natürlich. Warum war er da bloß nicht vorher drauf gekommen.

Doppelklick auf das Icon ... Googlen nach Liebe und Gedicht ... Da war doch eins, das könnte passen. Jetzt hier und da noch ein bisschen abändern ...

 

Die Frau, der er am Samstag in der Küche gegenüber trat, hatte eine Körpergröße von über 1,80m. Ihre kurzen blonden Haare standen frech von ihren Kopf ab, silber gefärbte Strähnen tummelten sich dazwischen. Ihr Blick war klar, direkt und freundlich.

„Hi, du musst Hannes sein. Minchen.“ Ihr Händedruck war genauso kräftig und verbindlich wie ihr Blick. „Du bist also Rebeccas Freund.“

„Ja.“

Wer wusste allerdings, wie lange noch, wenn die Sache aufflog.

Sie zog ihre Umhängetasche von der Schulter. „Rebecca hat erzählt, du schreibst?“

„Er schreibt an einem Liebesroman.“

„Oh! Wie romantisch. Also Heiko, der bekommt ja nicht einmal einen einfachen Vierzeiler hin zu Valentin ... – Lies doch mal etwas vor!“

Er hatte es geahnt. Er hatte es befürchtet. Aus seiner Hosentasche zog er einen mehrfach gefalteten Zettel.

„Doch nicht hier im Stehen im Flur. Dafür braucht es etwas mehr Atmosphäre. Wir setzen uns in euer Wohnzimmer, okay?“

Zu dritt gingen sie ins Wohnzimmer und verteilten sich auf der Couchgarnitur.

„Es ist ein Gedicht, kein Text. Ich lese grundsätzlich keine Auszüge aus unfertigen Romanen vor.“ Das hatte er im Internet in einem Autorenforum gegoogelt. Lies niemals Teile von Geschichten vor, die du noch nicht abgeschlossen hast. „Also … “ Er sah zu den Frauen hinüber. Vielleicht würden sie den Vortrag gnädigerweise doch noch abbrechen. Aber sie nickten stattdessen einvernehmlich.

„Ich ging durch die Straßen so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“

Die beiden Frauen saßen nebeneinander. Rebecca hielt die Hände im Schoß verschränkt, Minchen hatte einen Arm auf die Lehne gelegt.

„An der Tanke sah ich ein Blümchen steh’n, wie Scheinwerfer leuchtend, wie Rosen schön.“

Wollte denn nicht mal schnell sein Laptop piepen?

„Ich wollt’ es pflücken, da sagt es fein: Soll ich zum Welken bestimmet sein?“

Oder das Telephon?

„Drum grub ich’s mit allen den Würzlein aus. Zur Liebsten trug ich's, zu uns nach Haus.“

Fertig. Jetzt bloß nichts wie weg hier.

„Och, der ist ja ... schön.“ Rebecca war sichtlich überrascht.

„Der Text kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Der Gesichtsausdruck von Minchen gefiel ihm gar nicht.

„Goethe, natürlich. Aber ging der nicht irgendwie anders … “ Minchen zog einen Laptop aus ihrer Tasche. „Darf ich mal kurz nachsehen?“

Verteidigungsstrategie Nummer 1: Wenn du noch weglaufen kannst, laufe weg.„Hm, na ja, vielleicht sollte ich die Damen jetzt mal alleine lassen.“

„Hier ist es.“

Zu spät. Er ließ sich wieder auf die Couch fallen.

„Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn. Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n...“

Okay, Goethe war besser als er – aber immerhin hatte er es versucht, oder?

Schweigen.

„Na ja, der Text hat mich wohl sehr beeinflusst. ‚Hatte ihn gar nicht mehr so genau in Erinnerung...“

„Hm.“ Rebecca legte ihren Kopf schief.

„Ich habe ja bloß versucht, einen Text für heute fertig zu bekommen, weil ich geahnt habe, dass ihr etwas hören wollt. Und ich lese nun mal nichts aus meinen Manuskripten vor.“

Immer noch Schweigen.

Verteidigungsstrategie Nummer zwei: Wenn du nicht mehr weglaufen kannst, greife an. „Wisst ihr eigentlich, wie viel Zeit mich das gekostet hat, und wie viel ich statt dessen in meinen nächsten Roman hätte investieren können!?“

„In einen Roman von Uli Sidka, richtig?“

„Ja.“

„Ich habe übrigens geheiratet.“ Minchen strahlte ihn über den Tisch hinweg an.

„Wirklich? Das freut mich für dich.“ Verteidigungsstrategie Nummer drei: Wenn dir deine Gegner plötzlich nicht mehr ganz koscha vorkommen, lenke sie ab. „Heiko, nehme ich an?“

„Ja, Heiko Sidka. Ich habe ihn während meiner Arbeit im Volontariat kennengelernt. Er arbeitet für eine Druckerei.“

„Schön.“ Hannes lehnte sich auf der Couch zurück. Er schien noch einmal davon gekommen zu sein.

„Minchen heißt übrigens Minchen, weil sie früher mit Nachnamen Meinhardt hieß. Ulrike Meinhardt“, ergänzte Rebecca.

Oh, sch ...

„Entsprechend heiße ich heute Ulrike Sidka.“

Hannes sah von Minchen zu Rebecca und von Rebecca zu Minchen.

Verteidigungsregel Nummer vier: Wenn du siehst, dass du verloren hast, gib es zu.

„Du meinst, du bist die Uli Sidka, die die Liebesromane schreibt?“

„Ja.“ Minchen warf sich lachend in die Couch zurück. „Der Verlag hat Rebeccas Mail an mich weitergeleitet. Und ich dachte mir, da frag’ ich doch mal nach, ob das die Rebecca ist. Und siehe da … Aber dass du es mit dem Schreiben probiert hast, finde ich süß. Heiko würde das niemals tun. Schade, dass du uns nicht einen deiner Texte vorlesen willst. Vielleicht hast du ja Talent.“

„Nein!“ Auf gar keinen Fall würde er irgendetwas von der brachliegenden Bettszene vorlesen. Da würde er lieber zwei Monate auf seinen Laptop verzichten.

Einen Monat.

Eine Woche.

Einen Tag.

Na gut, eine Stunde, während er mit Rebecca ... Falls er jemals wieder mit Rebecca ...

 

Fünf Stunden später fiel hinter Minchen die Tür ins Schloss. Hannes und Rebecca räumten das restliche Geschirr in der Küche weg.

„Willst du eigentlich wirklich, dass ich dich erst eine Stunde lang küsse, bevor wir ... “, fragte Hannes Rebecca, als sie die letzten Teller in den Schrank räumten. „Also ich meine, in dem Buch, das du gelesen hast, ging die Kussszene über 2 ¼ Seiten. Ich hab’ das mal hochgerechnet. Im Verhältnis zur Bettszene war das … “

Rebecca starrte ihn an, als würde er direkt vor einem rasenden Güterzug auf den Gleisen stehen. War da etwas hinter ihm? Die Tür, der hohe Schrank, alles wie immer.

„Also im Verhältnis zur Bettszene war die Kussszene nur 10% kürzer.

„Jaaa?“

„Ja. Und ich dachte, wenn wir im Durchschnitt so etwa 50 Minuten … “

Rebecca lachte. Sie lachte so laut, dass sie sich an der Arbeitsplatte festhalten musste, um nicht umzufallen. Dann plötzlich stand sie kerzengerade. Nur ihre angespannten Mundwinkel verrieten, dass sie sich ein Weiterlachen verkneifen musste.

„Okay. Ja, du hast Recht, ich bestehe darauf. In Zukunft werden wir uns erst eine Stunde lang küssen, bevor ...“

Sein Laptop piepte.

„Dein Laptop hat gepiept.“

Steffen. Oder Nils. Wegen Fußball morgen. Vielleicht auch wegen DVD-Abend heute.

„In etwas über zwei Stunden“, sagte sie und kickte die Tür zum Büro zu. „Wenn ich das richtig hochgerechnet habe.“

Impressum

Texte: June F. Duncan
Cover: Bild: Bingo Naranjo, Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2022

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