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Sturmzeit

June F. Duncan

 

Sturmzeit

 

 

 

„Ich will keine Schuhe anziehen! Nein! Nein! Nein!“ Ella wirft ihre Schuhe von sich in den Flur. Hugos Gesicht läuft tomatenrot an.

„Du ziehst jetzt aber die Schuhe an!“ Er sammelt die Schuhe wieder ein und versucht, sie ihr über die Füße zu streifen.

„NEIN!“ Ella, vor ein paar Tagen gerade vier geworden, zieht ihre Füße weg.

„Doch!“ Hugos Gesicht verwandelt sich in altes abgestoßenes Regelblut, seine Stimme donnert bedrohlich.

Ich räume gerade den Esstisch in der Küche ab. Milch hat es dieses Mal nicht bloß auf den Tisch, sondern auf der gegenüberliegenden Seite auch unter den Tisch geschafft, als Ella sie prustend blubbernd ausgespuckt hat. Eine weitere neue Kerbe ist beim heutigen Abendessen an Emmis Platz in den Tisch geritzt worden, als sie das Brotmesser in dem Moment schnappen konnte, als ich gerade dabei war, die gröbsten Milchflecken aufzuwischen.

Ich blicke hastig auf die Uhr: Schon kurz nach acht. Ich muss an die Arbeit und Hugo dafür mit den Mädels raus. Aber es sieht gerade nicht so aus, als würden sie bald aufbrechen.

Emmi taucht mit nacktem Unterkörper in der Küche auf.

„Emmi, wo ist deine Windel?“

Sie muss etwas anhaben, wenn sie raus wollen.

„Bad.“ Emmi strahlt mich an.

„Hugo, gehst du bitte ins Bad, Emmi hat ...“ Aber Hugo streitet sich immer noch mit Ella, also muss ich selbst eingreifen. Ich eile ins Bad, finde die Windel – kleine Fingerspuren ziehen sich durch den Kakaklumpen, der daneben auf den Fliesen liegt.

„Emmi?!“

Verdammt, ich muss an den Schreibtisch, dringend.

Und jetzt muss ich aber noch dringender Emmi waschen, weil Hugo, der Typ, von dem ich irgendwie diese Kinder bekommen habe, es nicht auf die Reihe bekommt, sie für‘s Spazierengehen fertig zu machen.

Emmi steht vor einem geöffneten Küchenschrank mit einer Kaffeetasse in der Hand. Als sie mich sieht, lässt sie sie los.

Ich muss das Geschirr woanders hinräumen.

Aber vorher noch Emmi waschen und anziehen.

„Emmi komm, ich wasche dich schnell.“

Ich packe sie unter den Armen und trage sie über den Flur in Richtung Bad.

„NEIN! NEIN! NEIN!“

„Doch! Doch! Doch!“ Hugo und Ella schreien sich noch immer an, es klingelt an der Wohnungstür.

Egal, nicht jetzt.

Hugo sieht das anders, er läuft hin und öffnet.

Jetzt wird es noch später, bis die drei endlich fort sind.

„Wir haben uns das jetzt vier Tage lang angehört! Ihre Kinder sind zu laut!“, giftet eine nasale Stimme von der Wohnungstür aus.

Wow, wer ist das denn?

Ich drehe meinen Kopf in Richtung Tür. Eine Frau Mitte dreißig mit blondierten langen Haaren, vom Haarspray ganz steif, steht mit arroganter Miene dort. Oder liegt es am vielen Make Up, dass man ihre Lachfalten nicht sehen kann?

Nein, sie hat keine.

Ich habe sie noch nie gesehen.

Aber Moment – am Wochenende ist ein neues Pärchen über uns eingezogen. Das ist wohl sie.

„Es ist nach acht Uhr! Ruhezeit!“

Ruhezeit? Um acht Uhr abends?

Ich blicke auf Emmi mit dem Kakapopo in meinen Händen und auf Ella ohne Schuhe.

Ruhezeit, ja, die hätte ich auch gerne. Ich muss aber gleich arbeiten, dringend.

„Tut mir leid, die Kinder haben keinen Knopf zum Ausschalten“, sage ich entsprechend resigniert und genervt.

„Ab 20 Uhr ist Ruhezeit! Das steht im Mietvertrag!“

In unserem Mietvertrag? Sicher nicht ab 20 Uhr.

„Ruhezeit ist ab 22 Uhr...“, erkläre ich entsprechend, wohl wissend, dass ich auch zu diesem Zeitpunkt ein Kind nicht einfach ausschalten könnte wie ein zu lautes Radio.

„Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder leise sind, sonst werden wir die Verwaltung einschalten.“

„Wie soll das funktionieren?“

So langsam frage ich mich, ob die Tusse da vorne vielleicht einen Sprung in der Schüssel hat. Sieht sie nicht, was gerade los ist? Wie wäre es mit: ‚Hey, ich bin die Neue von oben, ich heiße xy. Es war gerade sehr laut – braucht ihr Hilfe?‘

‚Ja, sehr gerne, Ella mag die Schuhe nicht anziehen, vielleicht könntest du …?‘

„Wenn Sie nicht dafür sorgen, dass Ihre Kinder ruhig sind, werden wir andere Saiten aufziehen!“

Ich zucke mit den Schultern. „Komm, mach die Tür wieder zu“, sagte ich zu Hugo, der noch immer schief lächelnd wie ein Butler mit krummen Rücken hinter der Tür steht.

„Tür zu?!?“, quiekt es.

„Ich muss arbeiten...“

„Das wird ein Nachspiel haben! Das werden wir uns nicht bieten lassen!“

„Hugo, kommst du bitte wieder her und kümmerst dich um die Mädchen“, zische ich nun bedrohlich zwischen den Zähnen. Ich muss nämlich wirklich arbeiten, weil ich quasi nur dann arbeiten kann, wenn Hugo von seiner Arbeit wieder zuhause ist. Und da Hugo das meiste seines Einkommens in seine mit ihm seit Jahrhunderten in Scheidung lebende Ehefrau steckt, muss ich auch arbeiten, um Wohnung, Essen und Krankenkasse für mich und die Mädels bezahlen zu können.

Hugo hingegen ist die Ruhe selbst, lächelt entschuldigend zu Blondie, verbeugt sich fast noch vor ihr und murmelt etwas von: „Ich würde ja … aber ich muss jetzt … Sie sehen ja ...“

 

Ein paar Tage später. Während ich im Wohnzimmer die Wäsche abhänge, sehe ich immer wieder durch das Fenster nach draußen in den Garten. Die Sonne scheint, es ist warm, und Ella und Emmi spielen dort in ihrer Sandkiste. Ich kann tatsächlich mal eine Weile ohne Unterbrechung die Wäsche abhängen. Herrlich!

Ella kippt gerade einen Sandeimer über Kopf, Sand fällt heraus. Sie dreht den Eimer wieder um, sieht hinein – offensichtlich ist noch weiterer Sand im Eimer, denn sie dreht ihn gleich wieder über Kopf, guckt noch mal wieder hinein. Es scheint immer noch Sand drin zu sein, denn jetzt stellt sie den Eimer über Kopf in den Sand, holt eine rote Plastikschaufel und schlägt mit der Schaufel auf den Eimerboden.

Intelligentes Kind, denke ich, und lächle.

„Ist da jetzt wohl mal Ruhe an einem Sonntag!“, brüllt eine Männerstimme von oben.

War das jetzt echt?

Ich falte mein T-Shirt zusammen, blicke wieder von meinem T-Shirt auf und nach draußen. Ella steht wie versteinert in der Sandkiste, der Arm mit der Schaufel hängt ihr schlaff herunter, Tränen stehen in ihren Augen.

Tränen?

Ich haste zur Tür, laufe auf mein Mädchen zu.

„Was ist denn los?“ Ich will sie in den Arm nehmen, da sackt sie in den Knien zusammen. Ich ziehe sie an mich. „Was ist denn bloß los?“

Erst nach ein paar Sekunden merke ich, dass da oben auf dem Balkon noch jemand steht. Ich sehe hoch – in das arrogante und selbstgefällige Gesicht eines geleckten Mittdreißigers, der sich offenbar über seinen vermeintlichen Sieg freut. Wie Julius Cäsar auf der Tribüne. Fehlt nur noch, dass er mit dem Daumen nach unten zeigt.

„Was hast du zu ihr gesagt?!“, fauche ich ihn an.

„Sonntag ist Ruhetag! Sieh zu, dass deine Kinder still sind!“

Ein vierjähriges Kind, das an einem Sonntagnachmittag friedlich im Garten spielt und dabei auf einen Plastikeimer haut …

„Kinder soll man sehen, aber nicht hören!“, tönt es weiter von oben, als hätte er meine Gedanken erraten.

Ist der 35 oder 80 Jahre alt?

Ich würde mich gerne mit ihm anlegen, wenn nicht Ella noch immer voller Verzweiflung wäre. So schlucke ich meine Wut herunter und tröste mein Kind.

 

Am nächsten Tag traut sich Ella nicht mehr in den Garten.

Am übernächsten auch nicht.

Und auch am überübernächsten nicht.

Ich muss jedes Mal mitkommen. Das macht mich fertig. Das Wetter ist gut und der Sandkasten ist eine Möglichkeit gewesen, nahezu die einzige Möglichkeit, die ich habe, dass das eine Kind friedlich im Sand spielt, während das andere schläft. Oder mitspielt. Ein paar wenige Minuten, wo ich die Kinder einfach mal laufen lassen kann und nicht jeden Schritt beobachten muss. Und nun das. Wegen diesem Lackaffen da oben. Mal ganz abgesehen davon, dass meine Tochter, von was auch immer er zu ihr gesagt hat, offensichtlich einen psychischen Schaden erlitten hat.

Drecksack.

Hugo hingegen scheint das nicht weiter zu beunruhigen. Als er abends nach Hause kommt, hat er beste Laune.

„‘Habe mich gerade mit Damian unterhalten.“

„Damian?“

„Der Neue von oben.“

„Aha.“ Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. „Und worüber habt ihr gesprochen?“

„Über Fußball … und Autos ...“

„Aha.“ Meine Begeisterung ist nicht mal ein kleines Flämmchen.

„Damian hat eine schwere Kindheit gehabt.“

„Wer hat die nicht.“

„Hatte wohl einen aggressiven Vater, der bei den kleinsten Anlässen ausgerastet ist und ihn verpügelt hat.“

„Dann muss er das trotzdem nicht weitergeben.“

Aber Hugo hört gar nicht zu, sondern erzählt einfach weiter.

„Damian ist früher wohl regelmäßig von einem anderen Kind in der Grundschule verprügelt worden. Als er das zuhause erzählt hat, haben seine Eltern nur achselzuckend gefragt, warum er sich nicht wehren würde. Am Tag drauf hat er sich gewehrt. Und das so erfolgreich, dass sowohl er und seine Eltern als auch die Eltern des anderen Jungen zu einem gemeinsamen Gespräch mit der Schulleitung eingeladen worden sind.“

„Und der andere Junge?“

„Konnte nicht mitkommen, lag im Krankenhaus.“

Wow, und mit so einem unterhältst du dich angeregt und strahlst ihn mit großen Augen an wie ein dummer Hund seinen Besitzer.

„Dann wundert es mich nicht, wenn er bei unseren Kindern auch mal zuschlägt“, sage ich.

„Ach, pfff...“ Hugo dampft ab in die Küche und schmiert sich ein Salamibrot.

„Ach so, und er arbeitet übrigens bei der Verwaltung.“

 

„Wollen wir raus gehen und den Hof fegen?“ Da Ella nicht mehr alleine in den Garten geht und ich also eh mit raus muss, kann ich draußen auch gleich etwas Sinnvolles tun.

„Au ja, ich nehme den Rechen.“ Und schon rennt sie los zu den Gartengeräten.

Es ist Samstag. Eigentlich müssen wir als eine von sechs Parteien nur ein kleines Stück vorne vor dem Haus fegen, aber da wir schon mal dabei sind und es allen Spaß macht, fegen wir einfach den halben Hof. Das heißt ich fege den Hof mit einem Besen, Ella und Emmi machen sich einen Spaß daraus, mit dem Rechen über den Hof zu laufen und ihn hinter sich her zu ziehen. Hugo hängt drinnen vor seinem PC, das Fenster halb geöffnet. Krrrr macht der Rechen, der über die Steine schrabbt. Die Kinder lachen. Ich bücke mich gerade, um ein Büschel Gras, das zwischen den Ritzen der Steine wächst, herauszuziehen, als ich eine Bewegung im ersten Stock bemerke.

Ein Handy.

Und eine Hand, die das Handy aus einem Fenster hält.

Blondie filmt offensichtlich die Kinder!

Fassungslos gehe ich zu Hugos Fenster.

„Weißt du, was gerade passiert?“

„Hm?“ Er blickt kaum von seinem Monitor auf.

„Die Tusse da oben sitzt hinter dem offenen Fenster und filmt die Kinder.“

„Aha.“

„Ist das alles?!“ Ich bin sprachlos. „Filmen ohne Einverständnis der Eltern ist verboten. Wer weiß, was sie mit den Bildern macht...“

Der Verwaltung vermutlich als Beweis zeigen, dass die Kinder zu laut sind.

„Ach, pfff ...“ Hugo stiert weiterhin seinen Monitor an wie ein Affe seine Banane.

Das darf doch alles nicht wahr sein. Bis vor wenigen Tagen war die Welt noch in Ordnung, die Kids fröhliche und unbeschwerte Kinder und jetzt – werden sie zu Kriminellen, die man einer Straftat überführen will?

„Hör auf, die Kinder zu filmen!“, rufe ich zu dem geöffneten Fenster, aus dem das Handy in rosa Hülle meinen Kindern auf Schritt und Tritt folgt. „Sonst gib‘s ne Anzeige!“

Was sie kann, kann ich auch.

Irgendetwas quiekt empört, doch das Fenster wird geschlossen.

 

Abends ist Emmi, die Kleine, nicht gut drauf. Als es ins Bett gehen soll, will sie nicht. Aber sie ist müde. Jedenfalls weint sie. Ich stehe am Bettende und ziehe mich hastig um.

„Ich bin gleich bei dir, meine Süße, alles gut. Siehst du, ich habe schon den Pulli ausgezogen und die Socken ...“

WUMM

Was ist das denn? Was knallt da oben?

WUMM WUMM WUMM

Das sind trampelnde Füße.

Trampelnde Füße? Wut? Die da oben reagieren mit Wut auf das Weinen eines Kindes? Hat Hugo Damian mal gefragt, wo sie eigentlich herkommen? Vielleicht direkt aus der Psychiatrie?

Nach dem ersten Schreck, bei dem Emmi das Weinen vergessen hat, weint sie nun um so lauter.

„Ignorier sie. Ich bin gleich bei dir“, versuche ich sie durch das WUMM WUMM WUMM zu beruhigen.

Vielleicht versuche ich auch eher, mich selbst zu beruhigen.

 

Die Idioten müssen raus hier, und zwar sofort.

Offensichtlich sind wir wenigstens in diesem Punkt einer Meinung, dass jemand von uns gehen muss. Denn einen Tag später liegt ein Brief von der Verwaltung in unserem Briefkasten.

Abmahnung wegen Kinderlärm. Wie uns … mitgeteilt haben, sind Ihre Kinder zu laut … angedrohte fristlose Kündigung, wenn der Lärm nicht sofort aufhört ...

Kinderlärm, welcher Kinderlärm?

Kann man den messen wie Baustellenlärm? Kann man den Ausschalten wie Baustellenlärm?

Emmi und Ella sind noch keine zwei und gerade mal vier Jahre alt. Sie spielen. Sie lachen. Manchmal weinen sie auch. Es läuft nicht immer rund, nun ja, aber ich lasse sie keine Fußbälle gegen die Wände werfen, mit einem Hammer gegen die Heizung hauen oder Ähnliches. Es sind normale Geräusche, mit denen man in einem Mehrparteienhaus rechnen muss. Außerdem wussten die beiden vorher, dass unter ihnen Kinder wohnen würden.

Kommt die Verwaltung auch aus der Klapse?

Es stresst mich trotzdem. Wer erhält schon gerne die Androhung, dass er fristlos gekündigt und aus seiner Wohnung geworfen wird? Und das noch mit zwei kleinen Kindern?

Ich muss zum Anwalt, mich beraten lassen.

Aber jetzt erst mal raus hier, raus an die frische Luft.

 

Ich schnappe mir die Mädels und wir spielen hinten auf dem Hof. Die Luft ist merklich abgekühlt und ich genieße es, frei atmen zu können. Nach hinten geht unter anderem die Wohnung von Benni und Tanja raus. Supernette Menschen, langjährige Nachbarn, niemand hat sich bisher wegen Kinderlärm beschwert.

Oder trauen die sich nur nicht? Sind die Kinder wirklich zu laut?

Ella und Emmi spielen zwischen den Mülltonnen mit einem Seil. Sie lassen es mal hier hin und dort hin hängen, knoten es fest oder ab …

Der Müll muss heute Abend auch noch an die Straße, morgen ist Leerung.

„Hey, Bine.“ Ich drehe mich um. Tanja steht im Garten mit einem Topf abgeschnittener Petersilie in der Hand.

„Hi, Tanja.“

„Die zwei sind ja süß am Spielen.“ Sie blickt zu den Kindern hinüber. Ella und Emmi spielen noch immer hochkonzentriert mit den Seilen.

„Ja, finde ich auch.“ Ich lächle. „Allerdings, sag mal… Die Neuen über uns meinen, unsere Kinder sind zu laut. - Seht ihr das auch so?“

„Die beiden?“ Tanja lacht. „Nein, die hört man ja fast gar nicht.“

„Gar nicht?“ Das kann nun ja auch nicht sein.

„Na ja, tagsüber, wenn sie draußen sind und wir gerade auf der Terrasse sitzen, oder abends, wenn mal jemand weint. Natürlich hört man da schon mal etwas. Aber das ist doch total normal. Ihr hört uns doch sicher auch, wenn wir draußen sind und uns unterhalten.“

Ich nicke.

„Was aber echt überhaupt nicht geht“, Tanjas Miene verfinstert sich, „ist das Getrampel von gestern Nacht! Die sind ja wohl komplett bescheuert. Das hat durch‘s ganze Haus gehallt.“ Sie geht zum Kompost und wirft die Überbleibsel der Petersilie dort hinein.

„Emmi hat geweint“, sage ich, als sie wieder zurück kommt.

„Was?“

„Emmi hat gestern Nacht geweint, daraufhin haben sie getrampelt.“

„Das gibt‘s ja nicht.“ Verächtlich bläst Tanja die Luft durch die Lippen.

„Habt ihr sie nicht weinen hören?“

„Nein. Und selbst wenn wir es hätten … Man kann doch einem Kind nicht ...“ Tanja hält mitten im Wort inne und blickt an mir vorbei. Ich drehe mich um und folge ihrem Blick. Madame ‚Steifes Haar‘ stolziert zu den Mülltonnen, ihre Nase im 93°-Winkel über dem Boden.

„Sieht sie die ...“ flüstert Tanja mir gerade zu, da knallt und quiekt es auch schon gleichzeitig.

Madame ist über ein Seil gestolpert und hat dabei unsere volle Mülltonne umgerissen. Nun liegt sie am Boden und auf ihr verteilt liegen Emmis volle Windeln.

Ich möchte am liebsten laut losprusten, aber da sehe ich Ella.

„Mama“, haucht sie, starr vor Schreck zwischen zwei Tonnen stehend. Mir vergeht das Lachen. Die Tusse keift und zetert. Emmi läuft auf mich zu.

„Jetzt mach mal halblang, du hättest ja auch gucken können, wohin du läufst“, grummelt Tanja genervt.

Ich muss zu Ella, damit sie dort nicht so alleine ist.

Der Strohkopf blickt uns mit bösen Augen an.

„Vergiss nicht, den Müll aufzuheben, den du verteilt hast“, blaffe ich ihn an, doch er stolziert hoch erhobenen Hauptes davon.

„Mama...“ Ella klammert sich weinend an mich.

„Schon gut, sie ist in einem Seil hängen geblieben, das war nicht schön. Aber deswegen hätte sie dich nicht so anfahren müssen. Kommt, wir legen die Windeln wieder zurück in die Tonne. Wer am meisten Windeln ...“

Ella und Emmi nicken, und im Nu sind alle Windeln wieder da, wo sie hingehören.

 

Wir haben die Mülltonne nach vorne an die Straße geschoben. Inzwischen ist ein leichter Wind aufgekommen, und Ella und Emmi scheinen seine Energie aufzunehmen und flitzen vorne über den Hof. Wuuih, um Hugos Auto herum, wuuih, um Lackaffes Auto herum, wuuih, um Hugos Auto herum, wuuih, um …

„Wenn du nicht sofort deine Kinder von meinem Auto wegholst, komm ich runter und dann sprechen wir uns mal persönlich!“ Oben im ersten Stock des Hauses ist ein Fenster aufgegangen. Lackaffe beugt sich drohend aus selbigem.

Will er mich zusammenschlagen, falls ich nicht tue, was er sagt?

Ich nehme alle Selbstbeherrschung, die ich habe, zusammen und halte seinem Blick stand. 93° Winkel kann ich auch.

Meine Güte, die Kids laufen um sein Auto… Sie haben mindestens einen Meter Abstand, sie haben keinen Gegenstand in der Hand, sie laufen einfach nur und freuen sich dabei …

Aber Ella kommt schon geduckt zu mir geschlichen.

„Ihr dürft hier weiter laufen“, versuche ich sie aufzumuntern. „Ihr müsst Abstand zu den Autos halten, aber das tut ihr ja.“

Doch Ella schüttelt den Kopf.

Arschloch. Macht mein Kind kaputt.

 

Emmi hat unterdessen eine neue Beschäftigung gefunden. Freudestrahlend kommt sie mit einer abgerissenen Blume zu mir gelaufen.

„Oh, die hast du vom Beet.“

Zum Glück sind die da oben keine Gartenfreunde, sonst gäbe es jetzt garantiert die nächste Schimpfe.

„Zeig mal, wo du sie her hast.“ Ich nutze die Gelegenheit, mit den Mädels auf die verkehrsberuhigte Straße zu gehen, aus dem Blickfeld des Lackaffens.

Freudestrahlend läuft Emmi vor und zeigt mir, von welcher Stelle sie die Blume hat.

Ella ist erleichtert über die Ablenkung und dass Lackaffe sie nicht sehen kann, wenn sie sich hinter den Büschen versteckt. Ich sehe zu der alten Eiche hinauf, die an der Hofeinfahrt neben Lackaffes Auto steht und ihre Krone bedächtig im Wind wiegt. So ein schöner alter Baum.

Plopp.

Eine Eichel ist heruntergefallen, knapp neben Lackaffes Auto.

 

„Benni kommt, Benni kommt!“, ruft Ella ein paar Minuten später begeistert.

Ich horche. Tatsächlich, gedämpfte Musik kommt mit Schrittgeschwindigkeit näher.

„Kommt, lasst uns mal zur Seite gehen und ihn durchlassen.“

Als er in der Einfahrt ist, hält Benni an und kurbelt die Scheibe herunter.

„Naaa, Ella?!“

„Hey Benni du glaubst nicht die Frau von oben ist über ein Seil gestolpert und dabei ist die Mülltonne umgekippt und die ganzen Windeln lagen auf dem Boden und sie hat sie nicht aufgehoben!“

„Echt? Na so was!“ Er lächelt Ella an. Dann verzieht er den Mund und wendet sich an mich.

„Die beiden da oben gehen ja mal gar nicht. Hast du das Getrampel gestern Nacht gehört?“

Ich erkläre ihm den Hintergrund.

„Die spinnen doch! Er steht auch jedes Mal hinter dem Fenster, wenn ich auf den Hof fahre, um zu gucken, dass sein Auto ja keinen Kratzer abbekommt.“

Wir blicken beide zu dem Fenster im ersten Stock, hinter dem sich eine schwarze Silouette bewegt. „Als wenn ich wollte, das mein Auto einen Kratzer abbekommt.“

Ich nicke. Benni fährt einen gold-glänzenden Mercedes, den er jeden Freitag zur Waschanlage bringt.

„Dass der sein Auto überhaupt hier vorne parkt, dort, wo jeder vorbei muss...“ Ich schüttel den Kopf. „Warum parkt er es nicht hinten auf dem Hof?“

„Das reicht nicht“, spottet Benni. „Der muss es in einer Garage parken, so heilig wie ihm das Ding ist.“

Plopp.

Wieder eine Eichel, die heruntergefallen ist.

Benni beäugt misstrauisch den Baum. „Soll noch Sturm geben heute.“

„Hm, wir gehen auch gleich rein“, sage ich. Der Wind hat merklich zugenommen.

„Also tschüss dann, man sieht sich.“

„Bis denne...“

Ich bleibe mit den Mädels noch eine halbe Stunde draußen, dann gehen auch wir rein. Ein kleiner Zweig ist von der Eiche gefallen und hat Emmi nur knapp verfehlt. Schluss für heute.

 

„Aber ich will wieder raus“, mault Ella.

„Raus!“, sagt auch Emmi.

„Das geht leider nicht. Seht mal, wie stark es inzwischen stürmt.“ Ich hebe die beiden nacheinander ans Fenster, damit sie sehen können, wie sehr sich die Äste der alten Eiche biegen. Und wie – plong, plong, plong – die Eicheln auf Damians Auto fallen.

„Wollen wir tanzen?“, schlage ich vor. Ella und Emmi sind begeistert. Ich lege Kindermusik ein, wir fassen uns an den Händen und tanzen bzw. hüpfen im Kreis. Links herum – eine Runde, zwei Runden, die Kinder jauchzen und mir wird schwindelig …

„Bitte drehen...“, keuche ich lachend.

Rechts herum: eine Runde, zwei Runden, die Kinder jauchzen wieder …

BUMM BUMM BUMM .

Ach menno, das gibt‘s doch nicht.

Die Musik hat Zimmerlautstärke. Es ist gerade mal sieben Uhr.

„Büddde, drehen“, klage ich gespielt hilflos, um Ellas Konzentration von den trampelten Idioten über uns wieder weg und auf unser Spiel zu lenken.

Es klappt. Sie lacht, und wir drehen uns wieder links herum.

Ich singe zur Musik mit: „Dreh dich um, dreh dich um, dreh dich um, dann kannst du ...“

KAWUMM

Was war das denn? Wieder was von oben?

Nein, das kam von draußen.

„Aaaaaa!“

Und das von oben.

Ich schalte die Musik aus und gehe zum Fenster. Da ist ein ziemlich dicker Ast von der Eiche auf das Auto vom Schnösel gekracht. Hat die Fahrerseite ziemlich eingedrückt.

„Da-mi-aaaaaan!“ Tussens Stimme zischelt durch den Hausflur.

„Auch sehen!“, ruft Emmi.

Ich hebe sie hoch auf die Fensterbank.

„Ich auch!“

Ich hebe auch Ella hoch.

„Ast Auto“, sagt Emmi.

„Hm. Der Wind ist sehr stark. Da sollte man jetzt lieber nicht rausgehen.“

In diesem Moment kommt Blondchen mit immer noch fast stehendem Haar zum Auto gelaufen.

Ist die wahnsinnig? Bei dem Sturm?

Doch in dem Moment segelt er schon von oben herunter. Er fällt fast so langsam, dass ich meine, ihr noch zurufen zu können. Und dann – trifft er sie. Volle Breitseite. Sie knallt auf die Steine wie in einem Actionfilm, mit verdrehtem Hals und offenen Augen.

Ich nehme die Kinder von der Fensterbank. „Ella, holst du mir mal das Telefon.“

„Sehen! Sehen!“, ruft Emmi.

„Jetzt nicht, gleich, ich muss erst kurz telefonieren“, versuche ich Emmi abzulenken.

Ich rufe den Notarzt an, wohl wissend, dass zumindest Tusse nicht mehr rumtussen wird.

„Raus?“, fragt Emmi.

„Nein, nicht jetzt. Sonst liegen wir da gleich auch noch wie die beiden.“

So bleiben wir am Fenster stehen, die Mädels auf der Fensterbank, ich hinter ihnen. Wir sehen, wie der Notarzt kommt und die Feuerwehr – mit ganz viel Blaulicht!

Es fällt kein einziger Ast mehr vom Baum.

Als die beiden leblosen Körper abtransportiert werden, möchte ich am liebsten die Musik laut aufdrehen, tanzen und singen.

Endlich hat der Alptraum ein Ende!

Aber das geht natürlich nicht. Ich möchte ja nicht, dass meine Kinder so kalt werden wie die Verflossenen.

„Tanzen?“, fragt Emmi, als das Blaulicht wieder verschwunden ist.

„Au ja, lass uns tanzen!“, jubelt auch Ella und zieht an meiner Hand.

Was soll ich anderes tun? Sie sind noch zu klein, um es zu verstehen.

Wir drehen uns im Kreis, als plötzlich Hugos rundes Gesicht in der Zimmertür auftaucht.

„Was war denn da los?“ Offensichtlich hat er vor seinem PC mal wieder die Welt vergessen. Warum auch nicht? Arbeiten, abhängen, schlafen ...

Kinder, arbeiten, Kinder - das ist meine Aufgabe.

Kann nicht vielleicht beim nächsten Sturm … ?

 

 

 

 

Impressum

Texte: June F. Duncan
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2022

Alle Rechte vorbehalten

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