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Der Pianist

Planmäßig fuhr der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter unaufhaltsam kleiner wurden.

 

***

 

 

.

Bedächtig vorwärts rollend suchte sich der flüssige Beton seinen Weg über das ausgehöhlte Erdreich, gluggerte, zufrieden, vor sich hin.

Da, klack, ein Feuerzeug, zisch, der Glimmstengel bei seinem ersten Zug aus der Zigarette. Das Gluggern schwoll an, dicke zähe Masse schob sich in das breite Becken.

Wie im Konzert.

Manfred stand still am Rand der Grube und lauschte. Er liebte dieses Geräusch. Er liebte das Gießen des Fundamentes. Es war der Anfang von allen Dingen.

Das ständige Rascheln und Wuseln der Leute hatte aufgehört, träge und doch mit klopfendem Herzen ließen sie sich in die weichen Sessel fallen, da, der erste Taktschlag des Dirigenten, die ersten Hörner, weitere Bläser, Streicher – das ganze Orchester, das darauf wartete, dass es einsetzen würde, der Solist – das Klavier.

 

„Ich glaub’, wir kriegen Besuch.“ Ronnies grummelnde Stimme durchbrach die angenehme Stille, gefolgt von dem leisen Surren eines Mercedes.

Manfred drehte sich zur Seite. Ein dynamischer junger Mann stieg aus dem Oberklassewagen, seine Augen glänzten vor Vaterglück. Der Bauherr. Zielstrebig ging er auf Manfred zu.

„Hallo, freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Er streckte ihm die gepflegte Hand entgegen. „Sie leiten den Bau?“

Manfred schüttelte den Kopf. „Der Chef ist gerade nicht da. Können wir etwas ausrichten?“

Der junge Mann nickte. „Sie sind über die Zimmeraufteilung informiert? Wir haben noch eine Änderung vorgenommen.“

„Wohnzimmer links, Schlafzimmer rechts, Küche in der Mitte“, fiel ihm Ronnie ins Wort.

„Ja, genau.“ Der Bauherr strahlte.

„Obwohl ich an Ihrer Stelle das Wohnzimmer in den Westflügel legen würde“, warf Manfred ein. „Stellen Sie sich vor, wie Sie abends dort sitzen und die Sonne scheint durch das Fenster.“ Oranges Licht durchflutet den geräumigen Raum, schwängert die Luft und umschmeichelt das Herz des Hauses, lässt es leuchten in seiner Schönheit und Glänzen in seiner Reinheit – den Steinway&Sons-Flügel.

„Nun ja, ach –“ Der junge Mann machte eine wegwerfende Handbewegung, „So oft werden wir es wohl gar nicht nutzen. Die Kinder bekommen alle ihr eigenes Zimmer, meine Frau wird bald wieder arbeiten gehen und ich – “ Er lachte. „Ich bin sowieso die meiste Zeit außer Haus. Ich werde nur das Schlafzimmer brauchen.“

Nur das Schlafzimmer. Was für eine Verschwendung.

 

„Das wär’s jetzt gewesen, Manni, bist du wahnsinnig?“ Ronnie kickte wütend seine Kippe in die Grube, kaum dass der Bauherr gegangen war. „Dem Typen anschwatzen, seine Zimmeraufteilung zu ändern.“

„Ne, echt ey. Das könn’ wir nich’ gebrauchen. Da zieht ein Geschäftsmann ein, ey, kein Pianoklimperer.“ Klaus plapperte wie immer alles nach.

Manfred zuckte mit den Schultern. Das Gluggern des Betons verstummte. Die dickflüssige Masse hatte den Erdboden vollständig bedeckt. Übrig blieb nur noch das hässliche Brummen des Betonmischers. „Arbeiten wir weiter.“

 

Das war nicht sein erstes Haus. Manfred war seit Jahren in der Branche. Er sah, wie sie wuchsen, sah, wie aus dem rohen Fundament ein Heim für junge Familien, alte Menschen oder Büroangestellte wurde.

Er sah, wie ihr Skelett gefüllt wurde mit Fleisch, wie Fenster und Türen den heulenden Winden und trommelnden Regen fernhielten, wie Kabel verlegt, sanitäre Anlagen erschlossen und Heizungen nutzbar gemacht wurden. Er wusste, wenn er fortging, würden die Maler die Wände tapezieren und die Männer vom Möbelhaus kommen und den Teppich auf dem blanken Beton ausrollen, die Möbelpacker würden allerlei Kartons und Kisten anschleppen und die neuen Bewohner würden schließlich Gardinen aufhängen und Blumen in die Fenster stellen.

Manchmal, wenn er Pause hatte, stellte er sich vor, wie sie ihre Räume einrichten würden: Das große Mahagonibett ins Schlafzimmer, das kleine Krabbelbettchen in das Kinderzimmer, ein praktischer Allzweckschrank in die Abstellkammer, ein Tisch mit vier Stühlen in die Küche und ein großes gemütliches Sofa mit Flachbildfernseher ins Wohnzimmer.

Wenn er für sich selbst ein Haus bauen würde, dann bräuchte er nur einen einzigen Raum: Das Wohnzimmer. Und in dieses Zimmer käme das einzige Möbelstück, das ihm wichtig wäre: Ein schwarzer Steinway&Sons-Flügel.

 

„Gehst du gleich noch los?“ Gabis Stimme schwappte von der Zimmertür her wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, übertönte für eine Millisekunde das periodische Surren der Mikrowelle, in der seine Nudeln warm wurden.

Manfred nickte. Das abendliche Zusammensitzen an der Bar mit Ronnie und Klaus war inzwischen zur Routine geworden. Und Gabi hatte sowieso viel zu oft Nachtschicht, als dass es Sinn gemacht hätte, dass er zuhause blieb.

„Dann amüsier dich gut.“ Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, dann war sie auch schon verschwunden.

 

Manfred hatte nie im Luxus gelebt. Seine Familie war eine einfache Arbeiterfamilie gewesen, viel zu arm, um dem einen Sohn von sechs Kindern Klavierunterricht zu bezahlen. Mal abgesehen davon, wäre es auch nicht schicklich gewesen. Jungs spielten kein Klavier, es sei denn, sie waren schwul. So war er Bauarbeiter geworden, hatte ein solides Handwerk gelernt, das garantiert nie aussterben würde. Häuser brauchten die Menschen immer.

 

20:00 Uhr, Manfred musste los. Doch bevor er ging, zog er den alten Koffer unter dem Bett hervor. Er war gepackt, wie immer.

„Er hat mir Glück gebracht“, hatte Onkel Paul zu dem kleinen Manfred gesagt, damals, als er von einer seiner langen Reisen heimgekehrt war, und sich zu ihm auf den Boden gekniet. „Robustes Stück, hat mich nie im Stich gelassen. Aber jetzt...“ Er sah zu der jungen Frau hoch, die er dieses Mal von seiner Reise mitgebracht hatte, „...jetzt ist meine Reise beendet. Ich werde hier bleiben. Ich habe gefunden, was ich gesucht habe.“

Dann stand er auf und kniff der jungen Frau unanständig in den Hintern. Lachend gab sie ihm einen Klaps zurück. Als die beiden den Raum verließen, tanzte ihr Lachen mit ihnen davon. Der Koffer jedoch blieb bei Manfred.

 

Manfred stand wieder auf, nahm den Koffer mit und warf sich im Vorbeigehen eine Jacke über. Als wenn er den Koffer für den Spaziergang zur Kneipe brauchen würde.

Eine alte Gewohnheit. Er nahm ihn mit. Jedes Mal.

„Hey, da kommt ja unser Klavierspieler.“ Ronnie und Klaus saßen schon am Tresen, als er ankam. „Willst du immer noch nach Wien?“

„Ein Bier bitte.“ Manfred nickte dem Wirt zu und setzte sich dann auf einen der abgenutzten Hocker, den Koffer neben sich.

„Mensch Manni, was willst du denn da? Musik studieren und Klavier spielen... Ich mein, ich hör’ auch gern mal Musik, aber das is doch nichts Festes...“ Ronnie schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

„Genau, ey, wovon willst de denn leb’n? Oder willst de beim Sozi landen?“ Klaus nickte beflissentlich.

„Ne ehrlich man, verdienst doch jetzt schon nicht genug. Und dann studieren... Woher willst du denn das Geld nehmen?“

„Es gibt Stipendien.“ Manfred nahm das Bier vom Wirt entgegen.

„Stipendien? Für dich? Guck dich mal an, Alter. Wie alt bist du? 43? 47? Und, hey, sieh mal deine Hände...“

Manfred stellte das Glas auf die Bar zurück und drehte seine Handinnenflächen nach oben.

„Das sind Bauarbeiterhände, verstehst du, Bauarbeiterhände. Wie willst du mit denen denn Klavierspielen, he? So schwielig. Und vermutlich ganz steif. Hast du überhaupt noch Gefühl in den Dingern? Ich mein, was sagt denn die Gabi? Nörgelt sie schon, du sollst sie nicht immer so grob anpacken, weil du’s gar nicht mehr fühlst, he?“ Ronnie und Klaus gackerten über den vermeintlich guten Witz.

Manfred umschloss mit seinen Hände wieder fest das Bierglas und starrte an Ronnie vorbei auf das Bild eines Mannes in einem schwarzen Frack, das an der Wand hing.

 

Chopin. Grande Polonaise Brillante, Opus 22. Die Platte war im Koffer gewesen. Er hatte Onkel Paul gefragt, ob er sie zurückhaben wollte, aber der hatte nur gelächelt, sich zu ihm hinunter gebeugt und mit seiner sonoren Stimme gesagt: „Nein, behalt sie ruhig. Ich glaube, sie wird dir gefallen.“ Dann hatte er sich wieder aufgerichtet und ihm verschwörerisch zugezwinkert. „Versteck sie gut, dass sie dir keiner klaut.“

Grande Polonaise Brillante, Opus 22 – Er hörte sie immer, wenn er dieses Bild sah. Wie gerne würde er sie selbst spielen, mit seinen eigenen Händen, anstatt dem Spiel von Janusz Olejniczak zu lauschen. Souverän über die Tasten gleiten, ein Orchester in seinem Rücken, das warme Licht der Scheinwerfer auf dem Gesicht, auf dem schwarzen Flügel.

„Was starrst du denn immer auf das Bild da?“ Ronnie kickte Manfred in die Seite. „Nun hör mal auf und trink dein Bier.“

„Genau, ey.“ Klaus hob prostend sein Glas.

Manfred ließ seinen Blick über seine beiden Kumpel gleiten. Sie würden es nie verstehen. Dann setzte er sein Bier an die Lippen und kippte es in einem Zug hinunter.

 

22:13 Uhr stand auf der gelben Tafel im Bahnhofstunnel, IC nach Wien. Nachtzug, mit Schlafwagenabteil. Einige Minuten zuvor hatte Manfred die Kneipe verlassen und war auf dem Rückweg einen kleinen Umweg über den Bahnhof gelaufen. Ein bisschen die Beine vertreten, ein bisschen was für die Figur tun. Er sah auf die Bahnhofsuhr. 22:10 Uhr. Noch drei Minuten. Er könnte bis München durchfahren. Er bräuchte nur einzusteigen.

Die Lautsprecher knackten über ihm.

„Sehr geehrte Reisende an Gleis vier. An Gleis vier erhält Einfahrt der Zug von Hamburg Hauptbahnhof zur Weiterfahrt nach Wien. Über...“

„...Göttingen, Würzburg Hbf, Nürnberg Hbf...“ Er kannte die Stationen auswendig.

Er bräuchte nur ein Ticket lösen bei dem Automaten dort.

Ein Rumpeln und Quietschen von Metall über ihm kündigte an, dass der Zug einfuhr. Sein Zug.

Aber wer würde dem Bauherrn mit den kleinen Kindern und der jungen Frau sein Haus bauen?

Die ersten Schritte trappelten eilig über den grauen Stein, die Treppe vom Bahnsteig hinunter.

Er könnte zu ihnen gehören. Er bräuchte bloß die Treppe hochlaufen und einsteigen. Er könnte beim Schaffner bezahlen.

Und wie sollte Gabi die Wohnung ohne ihn finanzieren? Sie verdiente doch kaum genug zum Leben.

„Meine Damen und Herren an Gleis vier. Ihr Zug fährt jetzt ab.“

Schwerfällig stieg Manfred die Treppen hoch.

Und wer würde schließlich einem Mann jenseits der 40 ein Stipendium gewähren –

„Bitte Vorsicht an den Türen. Türen schließen selbsttätig. Vorsicht, bei der Abfahrt.“ Das langgezogene Pfiiieeiie der Trillerpfeife, als er gerade den oberen Treppenabsatz erreichte, schrillte in seinen Ohren. Die Türen schlugen knallend zu. Der Zug fuhr ruckelnd an.

– einem Mann, der in seinem ganzen Leben noch nicht eine einzige Klaviertaste gedrückt hatte?

Er fuhr nach Wien.

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Coverfoto: pixaby.com// Denkmal Chopin im Parc Monceau, Paris
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2015

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