„I’m horny, horny, horny, horny.“
Ich bin wach.
Nicht, dass ich eben nicht auch schon halbwach gewesen wäre, als unmissverständliche Geräusche und das Gurgeln von Wasser angedeutet haben, dass die verdauten Pommes und das Bier meines Nachbarn über mir endlich den lang ersehnten Weg in die Kanalisation gefunden haben. Nein, jetzt bin ich so wach, dass ich meine Bettdecke ans Bettende werfe, aus dem Bett springe und ins Bad stolpere.
Christopher ist ein Vampir! Natürlich! Warum bin ich da nicht schon viel eher drauf gekommen.
Der altmodische Name, die Treffen im Dunkeln, die mangelnde Reaktion auf meinen Ellenbogenhieb neulich. Und dann das Indiz, worauf mich gerade der schräg grölende Glatzkopf in der Wohnung über mir gebracht hat: Seine Klospülung. Die höre ich nie! Dabei grenzt sein Bad direkt an meins. Und das kann nur eines bedeuten: Christopher ist ein Vampir, denn Vampire scheißen nicht, oder?
Aufgeregt klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und zwinge mich zur Ruhe.
Eins und eins fügt sich mir plötzlich zusammen.
Wir treffen uns immer nur im Dunkeln. Jeden Abend, wenn ich, nachdem ich ausgiebig geschlafen habe, kurz vor Ladenschluss noch schnell zum Supermarkt spurte, um meine Tiefkühlpizza, den Kaffee und die Brötchen zu ergattern, und er nach Hause kommt.
Zufällig, dachte ich – bis jetzt.
Wir treffen uns immer nur unten an der Kellertreppe. Er wohnt direkt neben mir im zweiten Stock, aber wir begegnen uns immer auf der Treppe, die in den Keller führt. Ich trage gerade mein Fahrrad nach oben, er will hinunter. Jedenfalls sieht er so aus, als wolle er das. Er läuft immer genau zwei Treppenstufen hinunter, nur um sie gleich darauf wieder hinauf zu springen und eine altmodische Verbeugung vor mir zu machen. Solche schleimige Typen sind mir grundsätzlich suspekt – aber mal abgesehen davon: Wer ist im heutigen Zeitalter noch Gentleman? An dem muss die Zeit vorbeigelaufen sein. Oder aber, er hat sie überdauert – als Vampir.
Ich greife nach einem Handtuch und rubbele mir das Gesicht trocken.
Dass mir das alles nicht schon viel früher aufgefallen ist.
Normalerweise hat er sich beim Zurückspringen immer auf die Seite geschlagen, auf der ich mein Fahrrad halte, also auf die rechte. Doch die letzten Male ist es anders gewesen – er ist nach links gesprungen. Da ich mit Fahrrad unterm Arm nicht so wirklich gut ausweichen kann, bedeutete das, dass ich ihn zufällig gestreift habe mit meinem linken Ellenbogen. Okay, es war mehr als ein leichtes Streifen, ich habe ihm den Ellenbogen eher in den Magen gerammt, aber von dieser Kleinigkeit einmal abgesehen: Er ist kalt gewesen! Christopher meine ich natürlich, nicht mein Ellenbogen. Und er ist nicht mal richtig zusammengezuckt, er ist stocksteif stehen geblieben. Dabei ist mein Ellenbogenhieb als ehemalige Karateka nicht ganz ohne. Welcher Lebender ist so abgebrüht?
Hastig greife ich nach der Zahnpasta und schrubbe mir im Eiltempo meine Zähne.
Seine Zähne. Ich habe seine Eckzähne noch nie gesehen.
Die ausgespuckte Zahnpasta verschwindet mit dem Wasser, mit dem ich meinen Mund ausspüle, gurgelnd im Abfluss. Oben geht der Föhn an. Glatzkopf-Mark ist mit Duschen fertig. Nebenan höre ich nichts.
Ich sollte sein Klo checken. Wenn das unbenutzt ist, habe ich den Beweis, dass es sich bei Christopher um einen Vampir handelt. Und dann...
Keine Ahnung, was ich dann mache, aber so einen Vampir überführt man ja nicht alle Tage.
Ich werde berühmt. Die Polizei wird mir danken. Die ganze Stadt wird mir danken. Wildfremde Menschen, die Angst um ihre Töchter hatten, werden mir um den Hals fallen. Man wird mich fragen, ob man mir irgendetwas Gutes tun kann, und ich werde bescheiden ablehnen. Habe ich ja gern gemacht.
Obwohl, ein bisschen Geld, ein Auto und ein Haus, das wäre schon nicht schlecht. Und einen Dauergutschein vom Pizzabringdienst...
Apropos, ich muss los, einkaufen. Dass in meinem Kühlschrank bis auf einen Liter Milch, die ich für den Kaffee brauche, gähnende Leere ist, weiß ich auch ohne hineinzusehen. Also, tatsächlich ist es dort gar nicht so leer, irgendwo im Gemüsefach sind noch ein angebräunter Blumenkohl und drei weiche Möhren – aber die Chance, dass diese Kost heute auf meinem Teller landen wird, ist ungefähr so groß, wie sie es die letzten zwei Wochen gewesen ist, obwohl ich vor zwei Wochen wirklich motiviert gewesen bin, endlich einmal gesund zu essen, um diesen fitten, gut aussehenden Traumbody zu bekommen, der mir in einer Sportzeitung entgegengestrahlt hat.
Ich ziehe mir schnell meinen kurzen kuscheligen Kaschmirpullover über und die Jeans, die unterhalb meiner Hüftknochen zuende ist, weil ich nicht bereit bin, eine neue zu kaufen, schließlich muss ich mich ja irgendwie motivieren, wieder meine Idealmaße zu erlangen, schlüpfe, weil ich spontan keine sauberen farblich passenden Socken finde, barfuß in meine Highheels und stöckele die Treppe nach unten, um mein Fahrrad aus meinem Keller zu holen. Es ist zwanzig Minuten vor acht, wie immer, mir bleiben noch zwanzig Minuten bis Ladenschluss, zehn Minuten sind es bis zum Geschäft – weswegen ich mir nicht wirklich Sorgen darüber mache, dass ich in meinem Outfit bei fünf Grad über Null frieren könnte. Jedenfalls nicht lange.
Ich stecke den Schlüssel ins Vorhängeschloss meiner Kellertür, öffne es, ziehe die knarrende Holztür auf und bugsiere mein Fahrrad rückwärts nach draußen. Dann ziehe ich die Tür wieder zu, hake das Schloss ein, drehe mich schwungvoll um und – pralle gegen etwas Hartes.
Christopher.
Im Keller.
Nicht auf dem Treppenabsatz wie sonst.
Ich starre ihm ungläubig in seine dunklen Augen – waren die neulich nicht noch blau? – und kann mich einem Moment lang nicht vom Fleck rühren. Was daran liegen könnte, dass ich ihm das Vorderrad zwischen die Beine gerammt habe.
Was macht er hier?
Ungünstiger Weise habe ich es mit der Aussicht, ohne Pizza die Nacht verbringen zu müssen, ziemlich eilig, und anstatt ihn in ein Gespräch zu verwickeln, bei dem ich vielleicht einen Blick auf seine Eckzähne werfen könnte, sage ich nur: „Ich muss mal vorbei.“
Seine Augen verengen sich zu Schlitzen und jetzt habe ich es noch eiliger. Ich ziehe das Vorderrad zurück, steuere an ihm vorbei und höre mich ein „Man sieht sich“ rufen, während ich die Treppe nach oben hechte. Blöderweise habe ich vorhin vergessen, die Haustür zu öffnen. Da Christopher mir eigentlich immer oben an der Treppe begegnet, wenn ich mit dem Fahrrad im Dunkeln raus will, und mir jedes Mal die Tür aufhält, muss es sich irgendwie eingeschliffen haben, dass ich die Tür inzwischen gar nicht mehr selbst öffne und auf einrasten stelle. Ich fluche innerlich, dass ich mir gleich einen abbrechen werde, als ich oben angekommen feststelle, dass die Tür offen steht.
Nanu, wollte er mich doch nicht unten im Keller verspeisen?
Verwundert drehe ich mich um und blicke die Treppenflucht hinunter, an dessen Ende Christopher steht – er verbeugt sich schon wieder so dämlich, mit einem Gesichtsausdruck, der sagt: Hast du nicht etwas vergessen?
Ich greife in meine rechte Gesäßtasche – mein Portemonaie ist noch da, wo ich es hineingesteckt habe – nehme etwas irritiert das kurze Flattern in meinem Magen war und schiebe das Fahrrad dann entgültig nach draußen in die dunkle Nacht.
Den Vorteil, den meine nahezu täglichen Kurz-vor-Ladenschluss-Einkauf-Sessions haben, ist, dass ich quasi jeden Tag mein kleines Fitnessprogramm absolviere und somit Pizza, Cappuccino oder andere Nahrhaftigkeiten quasi schon verbraucht sind. Weswegen ich in der Regel keine allzu größeren Probleme bei der schnellen Auswahl meiner nächtlichen Gerichte habe. Nur hin und wieder überkommt mich dann eine so verrückte Idee wie die mit dem Blumenkohl und den Möhren, aus denen ich, glaube ich, eine Suppe hatte machen wollen. Fast immer muss ich dann zuhause angekommen allerdings feststellen, dass ich mitten in der Nacht nicht so einen Lärm mit Töpfen und Pfannen machen kann, schließlich schlafen alle anderen arbeitenden Mitmenschen ja. Oder aber, mindestens genauso oft, ist mein Hunger von meinem Sprint so groß, dass ich die Zeit, die das Kochen dauert, einfach nicht abwarten kann, ich will ja schließlich nicht in meiner Küche aufgrund von Unterzuckerung zusammenbrechen.
So fällt es mir auch heute nicht schwer, mir eine Auswahl nahrhafter Güter unter den Arm zu klemmen – Pizza funghi für das Abendbrot, Lasagne mit Lachs und Spinat für das Frühstück – bzw. eigentlich umgekehrt, denn ich bin ja gerade erst aufgestanden – und eine Tüte Preiselbeermuffins für zwischendurch. Ich eile an der Gemüseabteilung vorbei, weil ich ja noch den Blumenkohl und die Möhren im Kühlschrank habe, und ehe die nicht aufgegessen sind, brauche ich schließlich nichts Neues, als mir aus den Augenwinkeln die Knoblauchkette auffällt, die an einem Holzregal hängt.
Damit könnte ich testen, ob Christopher ein Vampir ist oder nicht. Ich brauche ihm die Knollen nur unter die Nase zu halten, und wenn er zurückweicht, ist der Fall klar.
Ich schnuppere an den Knollen, drehe sie durch meine Finger.
Braucht es die getrockneten oder die frischen Zwiebeln, um ihn zu überführen?
Ich lege in meine andere Hand eine frische Zwiebel – sie fühlt sich wunderbar kühl und doch so fest an – und wäge sie gegeneinander ab.
Trocken oder frisch?
Frisch oder trocken?
Um sicher zu gehen, stecke ich von beiden einige Knollen in eine Plastiktüte und hänge mir die Tüte über den Arm. So gut versorgt schlendere ich zur Kasse, um meinen Einkauf zu bezahlen.
Ich sollte schnellstens herausfinden, ob Christopher nun zu den Untoten gehört oder nicht. Wer weiß, was er das nächste Mal macht, wenn wir uns begegnen. Wer weiß, was er heute gemacht hätte, wenn ich mich nicht rechtzeitig umgedreht hätte. Vermutlich wollte er gerade seine Eckzähne in meinen Nacken graben, als ich mich umgedreht habe. Er hätte mich einfach so von hinten zu Tode gebissen – oder besser: zu Untode – und dann hätte ich für den Rest der Ewigkeit als seine Vampirbraut über die Erde wandeln müssen, und damit meine Verwandlung nicht auffällt, wilde Kaninchen jagen oder in Krankenhäuser einbrechen und Blutkonserven stehlen.
Ich schüttele mich bei dem Gedanken, denn ich mag Tiere, und die Vorstellung, ein zappelndes Kaninchen halbleer zu saugen, gefällt mir nicht.
Mein Blick fällt auf die Lachslasagne auf dem Band.
Vermutlich wäre halbleer saugen allerdings tierfreundlicher, als ein Tier zu töten, um es zu essen.
Ich habe das Fahrrad weggestellt, klemme mir meinen Einkauf wieder unter den Arm und schließe die Kellertür hinter mir.
Christophers Keller ist am Ende des Flures. Ehrlich gesagt wundert mich das jetzt, wo ich so darüber nachdenke, dass sein Keller so weit hinten ist. Immerhin wohnen wir doch nebeneinander.
Was er wohl dort lagert?
Ob da ein Sarg steht?
Das wäre der Beweis dafür, dass er ein Vampir ist.
Neugierig schlendere ich auf die verschlossene Holztür zu.
Ein bisschen aufgeregt bin ich schon, schließlich überführt man ja nicht alle Tage seinen Nachbarn, ein Vampir zu sein.
Ich drücke die Klinke und –
„Was wollen Sie da?“
Hilfe! Er steht hinter mir!
Ruckartig fahre ich herum. Christopher steht einen halben Meter hinter mir, den dunklen Blick auf mich gerichtet.
„Äh, ich...“
... wollte mal nachsehen, ob Sie einen Sarg im Keller stehen haben.
Das geht natürlich nicht.
„Habe Geräusche gehört.“
„In meinem Keller?“
„Ja, es klang so... wie ... ein Stöhnen...“
Christopher zieht eine Augenbraue hoch und ich merke, wie ich gegen meinen Willen rot anlaufe.
Verdammt, was soll das denn jetzt?
„Wie ein Stöhnen...?“, wiederholt er und es zuckt um seinen Mundwinkel, so dass ich mir nicht sicher bin, ob er mich auslacht oder ob er nur kurz davor ist, mich anzuspringen und mir ein „Was fällt Ihnen eigentlich ein!“ entgegen zu brüllen.
„Na jedenfalls habe ich mir Sorgen gemacht“, vollende ich meine schlechte Ausrede.
Er zieht jetzt beide Augenbrauen in die Höhe.
Will er nicht mal einen Schritt zurück gehen? Ich komme hier ja kaum vorbei, wenn er wirklich, also wenn er...
Christopher grinst. „Sie sind süß.“
„Wie bitte?“
„Zum Anbeißen süß.“ Er grinst noch breiter, aber seine Eckzähne sehe ich nicht, was mit daran liegen könnte, dass mein Blick unruhig hin- und herschweift, was er offensichtlich als Verlegenheit von mir fehldeutet, denn er macht plötzlich einen Schritt auf mich zu.
„Äh, ich habe Muffins gekauft für heute Nacht, wollen Sie auch welche?“
Ich könnte mich ohrfeigen! Biete ich meinem Vampirnachbarn Muffins an. Wie blöd ist das denn! Wahrscheinlich lädt er mich jetzt gleich auch noch in seine Wohnung ein und dann... Mir wird schlecht.
Christopher verzieht angewidert das Gesicht und weicht einen Schritt zurück.
Nanu, dass er mein Angebot jetzt so abstoßend findet, hätte ich allerdings nicht erwartet.
Verblüfft sehe ich ihn an.
„Also wenn das Ihre Muffins sind... Nein danke.“ Er deutet auf die Tüte, die in meiner ausgestreckten Hand baumelt.
Der Knoblauch. Ich habe aus Versehen die falsche Tüte hochgerissen.
„Essen Sie keinen Knoblauch?“, fahre ich ihn provokativ an und wage es, mich keck vorzulehnen.
„Nein“, sagt Christopher, tritt wieder einen halben Schritt vor und schiebt meine Hand mit der Tüte beiseite.
Seine Hand, die meine Finger berührt, ist kalt!
Zwischen uns sind vielleicht noch zehn Zentimeter Platz, ich muss zu ihm hochsehen.
War er schon immer knapp einen Kopf größer als ich? Wie riesig ist er dann erst vor 400 Jahren gewesen? Oder wachsen Vampire mit der Zeit mit? Atmet er überhaupt?
Ich möchte auf seinen Brustkorb sehen, um zu checken, ob der sich hebt und senkt, aber ich kann nicht, denn ich starre wie gebannt in seine Augen.
Wie lebendig die sind. Als würde das Blut in ihnen pulsieren.
Das Blut von angezapften Jungfrauen!
„Wenn Sie jedoch diese hier meinen...“ Seine Hand streicht über meinen Arm und ich spüre ein feines Kribbeln unter dem Pulli auf meiner Haut, „dann nehme ich Ihr Angebot gerne an.“
Schluck.
Welches Angebot? Was hatte ich noch gleich gesagt?
Ich blinzele und starre auf die Muffins.
„Äh, ja, gerne...“
Gerne was...?
Muffins essen.
„Sie können...“
...können sich zwei nehmen und dann tschüs.
Das kann ich irgendwie nicht sagen.
„Sie können Ihre Hand jetzt von meinem Arm nehmen“, hauche ich stattdessen.
Er lässt von mir ab und geht einen Schritt zur Seite. „Was haben Sie mit dem Knoblauch vor?“
Vampire verscheuchen.
„Knoblauchbaguette.“
„Mit welchem Baguette?“ Sein eindringlicher Blick ruht weiterhin auf mir, er deutet nur kurz an, an mir vorbei zu sehen auf meine Arme, in denen sich alles, nur kein Baguette befindet.
„Hab’ ich oben.“ Er wird es ja hoffentlich nicht überprüfen wollen.
„Oh, waren Sie einmal tagsüber einkaufen?“
Ich starre ihn verwirrt an.
„Man könnte meinen, Sie seien ein Vampir, so nachtaktiv, wie Sie sind.“
„Ich?“ Will er etwa checken, ob es sich lohnt, mich anzuknabbern? Sollte ich jetzt vielleicht lieber ‚ja’ sagen?
„Aber dann würden Sie keinen Knoblauch essen“, fügt er amüsiert hinzu.
Ich nicke. Mehr fällt mir beim besten Willen im Moment nicht ein.
Woher weiß er, was ich einkaufe? Beobachtet er mich?
„Wollen wir jetzt hochgehen? Es ist ein bisschen kalt hier unten...“ Er tritt seitlich neben mich, macht wieder eine dieser Steh-auf-Verbeugungen und legt dabei andeutungsweise seine Hand auf meinen Rücken, um mich vorzuschieben.
Mir läuft es heiß und kalt den Rücken runter.
„Klar doch“, presse ich statt dessen hervor, in der Hoffnung, dass er nicht merkt, wie es in mir aussieht.
Mein Gott, er denkt vermutlich, ich sei in ihn verliebt!
Bei dem Gedanken laufe ich gleich noch einmal rot an.
Reiß dich zusammen, Emmi. Du gehst gerade mit einem Vampir die Treppe rauf. Konzentrier dich!
Auf was?
Dass er dir nicht zu nah an den Hals kommt.
Okay, krieg ich hin. Noch was?
Weiß ich jetzt auch nicht.
Wie, du bist meine bessere Stimme und weißt nicht, was ich jetzt tun soll?
Alles klar, einen Moment...
Christopher und ich gehen um die erste Kurve und ich presse meine Arme so sehr an meinen Körper, dass mir die Lasagne herunter fällt.
Scheiße.
Er bückt sich und hebt sie auf.
„Toter Fisch“, sagt er und reicht mir galant die kalte Packung.
„Besser als lebender“, sage ich und konzentriere mich darauf, nicht auf den Treppenstufen zu stolpern, so dass ich nicht sehe, wie er reagiert.
Konzentrier dich!
Mach ich ja. Dumme Treppen. Waren die schon immer so schwer zu erklimmen?
Sieh das mal so – wenn ihr in deine Wohnung geht, kannst du ihm die Tür vor der Nase zuknallen oder...
Nein, das geht nicht.
„Wie bitte?“
Habe ich das etwa gerade laut gesagt?
„Äh, nichts, ich habe nur laut gedacht.“
Die zweite Kurve ist geschafft. Ich sehe, wie er wieder eine Augenbraue hochzieht.
Mein Gott, was denkt er jetzt von mir? Dass ich an das Eine denke und eine verklemmte Braut bin? Oh sch...
„Vorsicht!“
Ein starker Arm packt mich am Oberarm, so dass mir mein kompletter Einkauf aus der Hand fällt.
Dritte Kurve, erste Treppenstufe nicht gesehen.
Wir sind gleich da!
Ich atme einmal tief ein und aus, schließe die Augen, öffne sie wieder.
Hoffentlich hat er sich jetzt nicht nach den Sachen gebückt, das ist ja peinlich.
Aber Christopher steht nur ruhig neben mir und sieht mich an.
„Geht es Ihnen nicht gut?“
„Äh... Ich hab’ noch nichts gegessen.“ Das stimmt zwar, wirft mich aber nicht so von den Füßen.
Er nickt, lässt meinen Arm los und macht Anstalten, sich zu bücken, um meinen Einkauf aufzuheben.
Ich knalle ihm den linken Arm vor die Brust. „Nicht.“ Dann, weil mir meine Schlagkraft bewusst wird: „Ich mache das selber.“
Er richtet sich wieder auf und ich beuge mich runter.
Zum Glück sind wir nicht gerade unter der Dusche und er schwul.
„Sie haben mal Karate gemacht oder etwas in der Art?“
Ich komme mit knallrotem Kopf vom Bücken wieder hoch und grinse. Ich liebe es, über mein Lieblingsthema zu sprechen. „Ja“, verkünde ich mit stolzer Brust.
Er nickt. „Sie haben einen harten Schlag.“
„Sie weichen keinen Millimeter zurück“, erwidere ich.
Seine Mundwinkel zucken und er sieht mir unverblümt direkt in die Augen. „Karate, Taekwondo, Kung-Fu... Sowohl Kämpfer als auch Pratze gewesen.”
Beeindruckend. Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich mich jetzt mit ihm über unsere gemeinsamen Kampfkunstinteressen unterhalten möchte oder nicht doch lieber das Weite suchen, weil ich gegen ihn offensichtlich keine Chance haben werde.
„... und Sie?“, redet er weiter und mir fällt auf, dass er da gerade offensichtlich eine längere Zeit geredet hat, während ich meinen Gedanken nachgehangen habe.
Ich nicke. „Ha-“
Haben Sie auch irgendwo den schwarzen Gürtel, will ich eigentlich fragen, doch ich komme nicht weiter, weil er mich an sich zieht. Mein offener Mund landet direkt an seinem Kinn, sein Arm hält mich fest umschlungen und ich habe den Eindruck, dass er mich gleich – küssen will!
Küssen Vampire? Das tun sie doch nur in Twilight, oder?
Egal, das ist die Gelegenheit!, ruft mir meine Vampirjäger-Stimme zu.
Bin ich bescheuert?
Nein, es ist die Gelegenheit zu testen, ob er lange Eckzähne hat!
Na klar, ich lecke einem Vampir über die Fänge.
Mir wird schwindelig.
Christophers Lippen berühren meine.
Heiß oder kalt?
Weiß ich nicht, ich schwitze aus allen Poren.
Und stöhne unter der sanften Berührung auf.
Mein Gott, ist das peinlich!
Aufpassen, dass er nicht an deinem Hals runterrutscht!, ruft die eine Stimme.
Weglaufen!, ruft die andere Stimme.
Weiterküssen, denke ich und schließe die Augen, lasse zu, dass sich unsere Zungenspitzen berühren.
Jetzt, seine Zähne abtasten!, brüllt wieder die Vampirjägerstimme.
Ich will nicht, will gerade nur küssen, meine Sinne sind vernebelt.
Tasten!
Na gut.
Ich fahre langsam mit der Zunge über seine Schneidezähne nach außen.
Was er jetzt von mir denkt. Ob ich nicht küssen kann?
Ich halte inne. So will ich ja nicht rüber kommen.
Christopher drückt mich ein Stück von sich weg, sieht mich wieder mit diesen hochgezogenen Augenbrauen an.
Gott ist mir das unangenehm!
Egal jetzt, die Chance!
Halt die Klappe.
Küssen! Tasten!
„Vielleicht sollten wir es bei den Muffins belassen“, sagt er und tritt einen halben Schritt zurück.
„Nein, auf keinen Fall!“
Ich werfe mich gegen ihn und presse meine Lippen an seine.
Okay, das ist jetzt peinlich.
Hungrig schiebe ich meine Zunge durch seine Lippen, fahre seine Schneidezähne entlang, rutsche bis zu seinen Eckzähnen.
Plötzlich tropft es mir wie Blut auf heißes Öl: Meine Zunge!
Er wird mich in die Zunge beißen. Wenn ich ihm mit der Zunge über seine Fänge fahre! Von wegen küssen. Der ist intelligent. Wunden am Hals, die würde jeder sofort sehen und identifizieren. Aber an der Zunge? Niemand käme auf die Idee, bei einer toten Frau mit blutender Zunge einen Vampirüberfall zu vermuten. Allenfalls würde man denken, dass sie sich im Todeskrampf noch auf die Zunge gebissen hat.
Meine Lust ist sofort verflogen. An 1000 Jahren Vampirbraut habe ich derzeit kein Interesse. Ich will noch Pizza. Und Kaffee. Und Muffins. In Mengen.
Hastig reiße ich mich von ihm los, stolpere die letzten Treppenstufen nach oben bis zu meiner Wohnung, schließe auf und schlage die Tür hinter mir zu.
Das war knapp. Eine Sekunde später und er hätte mich ausgesaugt. Garantiert.
Ich rutsche die Tür hinunter und atme tief aus.
Nie wieder werde ich im Dunkeln einkaufen gehen. Morgen stehe ich mit der Sonne auf und bin um neun Uhr im Geschäft, ganz sicher. Und die Sache mit dem Klo muss warten. Bis morgen. Oder übermorgen. Und bis dahin...
Mein Essen. Es liegt auf dem Flur.
Verdammt.
Auf keinen Fall gehe ich heute Nacht noch einmal raus.
Und bis dahin esse ich Blumenkohl mit Mohrrüben. Im Bad. Vielleicht höre ich seine Klospülung ja doch noch.
Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Coverfoto: Jens Bredehorn / PIXELIO, www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2014
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